Damiano Femfert «Rivenports Freund», Schöffling & Co.

Eine Kleinstadt im Norden Argentiniens. Perón regiert in Buenos Aires, die Welt erholt sich von den Schrecken des letzten Weltkriegs. Rodrigo Rivenport, Direktor des städtischen Krankenhauses schätzt die Gleichförmigkeit der Tage, dass in seinem etwas zu gross geratenen Krankenhauses nur nach Festen alle Betten belegt sind und ihn nach dem Tod seiner Frau Rosa seine Haushälterin in seinem Kellerrefugium mit seinen Schmetterlingen in Ruhe lässt.

Seit dem Tod seiner Frau liebt Rivenport seine stille Beschäftigung mit seiner Schmetterlingssammlung. Erst recht, seit ihr ein angemessener Platz im städtischen Museum versprochen ist und er seine Sammlung neu ordnen muss. Ordnung ist alles. Nicht nur in der Lepidopterologie, sondern im Leben überhaupt. Und die Tatsache, dass sich Marie, seine Haushälterin, die ihn seit seiner Kindheit begleitet, traut, an die Kellertüre zu klopfen, verspricht nichts Gutes. Ein Notfall. Man hat einen Verletzten in sein Krankenhaus gebracht, gar schwer verletzt, blutverkrustet, mit nichts als seinen Kleidern am Leib, apathisch. Kein Einheimischer, denn der Mann ist gross, blond und hat, nachdem er seine Augen öffnet, erkennbar blaue Augen. Nach erster Wundversorgung und Klarheit, dass die Verletzungen nicht lebensbedrohlich sind, wird offensichtlich, dass der Mann nicht spricht und an einer Amnesie leidet.

Rivenport findet in den kümmerlichen Habseligkeiten des Mannes bloss eine Nummer und muss feststellen, dass sich der Fall auch nicht mit Hilfe der örtlichen Polizei so schnell lösen lässt und er in den Rhythmus seines Alltags zurückkehren sollte. Erst als der Patient in seinem Stammeln seinen Namen preisgibt, man ihn zur Aktivierung seines Erinnerns mit in die Stadt nimmt, in einen Gottesdienst in der Stadtkirche und er mit einem Mal auf der Orgel zu spielen beginnt, gekonnt und virtuos, wird klar, dass „Kurt“ ein ganz spezieller Fall ist. Mit einem Mal interessiert sich nicht bloss das Krankenhauspersonal und die Polizei für den Fremden, sondern eine ganze Stadt und die örtliche Geistlichkeit. Auch die Nonnen aus dem Kloster der Allerheiligsten Jungfrau Maria von Guadalupe. Und während sich die Nonne bereit erklären, den gross gewachsenen Fremden bei sich im Gärtnerhäuschen des Klosters aufzunehmen, schiessen die Spekulationen über den Blondschopf ins Uferlose: Ein Engel ohne Flügel, ein geflohener Berufsmusiker oder gar einer, der aus Europa über Chile bis in den Norden Argentiniens gespült wurde? 

Was erst zu Rivenports Freude aussieht, als könnte er in seine gewohnte, geliebte Ordnung zurückkehren, lässt den Arzt ohne grosse Leidenschaft nicht mehr los. Wie kann ein Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, mit seiner Musik aber auch mit seiner Art, den Dingen und Menschen zu begegnen, derart faszinieren. „Kurt“ lernt zwar, sogar die Sprache, aber nicht den Zugang zu seiner verlorenen Vergangenheit. Und als klar wird, dass Kurt auch im Kloster nicht in seiner Direktheit zu kontrollieren ist, quartiert man ihn, ganz zur Freude seiner Haushälterin Maria, in Rivenports Haus ein. Rivenport nimmt ihn mit auf seine Schmetterlingsexkursionen, muss aber feststellen, dass sein Schützling nichts davon hält, dass man Schmetterlinge hinter Glas auf Nadeln aufspiesst.

Damiano Femferts leidenschaftlicher Roman erinnert an südamerikanische Erzählweise genauso wie an die Geschichten von Kaspar Hauser oder Schlafes Bruder. Leidenschaft in der südamerikanischen Provinz, ein Mann, der ganz langsam wie ein Kind die Welt neu zu entdecken beginnt, ein Genie, das mit seinem Orgelspiel eine ganze Stadt zu verzaubern vermag. Damiano Femfert öffnet mit jedem Kapitel eine philosophische Frage mehr; Darf die Wissenschaft zerstören? Was macht einem zu einem guten Menschen? Wann beginnt die Lüge? Rivenport wird durch den Fremden gezwungen, sein enges Korsett, seine Scheuklappen abzulegen. So sehr er zum Lehrer seines Schützlings wird, so sehr lehrt in dieser, was das Leben sein könnte.

Und hinter dem ganzen Romankonstrukt schwebt die Frage, wer der Mann ist, warum er schwer verletzt an einem Strassenrand gefunden wurde, warum ihn niemand zu vermissen scheint. „Rivenports Freund“ ist mit grosser Geste gemalt, in satten Farben, als hätte der noch junge Autor den Sound der Grossen verinnerlicht. Damiano Femfert legt mit seinem Debüt einen Roman vor, der viel, sehr viel für die Zukunft verspricht!

© Alexander Paul Englert

Damiano Femfert, geboren 1985, in Deutschland und Italien aufgewachsen, hat Theaterstücke, Drehbücher zu Kurzfilmen, Spielfilmen, einem Dokumentarfilm und mehrere Reise-Artikel geschrieben, die u. a. in der Frankfurter Rundschau und Neuen Zürcher Zeitungerschienen sind. Neben seiner Schreibtätigkeit ist er in der Kunstszene als Kurator aktiv und als Dozent in Rom, wo er auch lebt. «Rivenports Freund» ist sein erster Roman.

Beitragsbild © Sandra Kottonau