Shobha Rao «Mädchen brennen heller», Elster

Purnima und Savita, zwei junge Frauen aus einem Dorf im indischen Süden sind die ausgesperrten Heldinnen eines Romans, der nichts Neues erzählt; Menschenhandel, institutionalisierte Frauenverachtung, tief in der Gesellschaft verankerte und zementierte Armut, fehlende Menschenrechte und munter prosperierende Kriminalität. Aber Shobha Rao erzählt mit der genau richtigen Nähe und Distanz, mehrperspektivisch, nie mit dem Zorn der Entwaffneten, stets mit der Hoffnung der Unbesiegbaren.

Aus den Medien sind Meldungen über Gewalt an Frauen in Indien doppelt schmerzhaft. Nicht nur, weil Frauen männlicher Willkür ungebremst ausgesetzt sind, sondern weil ihnen selbst nach der Verhaftung ihrer Peiniger der Hass als drohende Lebensgefahr ins Gesicht schlägt. Verkauft, misshandelt, vergewaltigt, ausgenützt, eingesperrt, mit Öl übergossen und angezündet, gebrandmarkt, gezeichnet, zum Freiwild erklärt.

„Jeder Moment im Leben einer Frau ist ein Geschäft, ein Geschäft mit ihrem eigenen Körper.“

Für eine arme indische Familie sind Mädchen in der Familie kein Segen, sondern Strafe. Denn mit jedem Mädchen wächst der Druck auf die Familie, auf die Eltern dieser Mädchen, die ihre Töchter nur verheiraten können, wenn sie eine Mitgift zu bieten haben. Eine Mitgift, die wiederum der Willkür der Familien der zukünftigen Ehemänner ausgesetzt ist, die beliebig feilschen und den Weg bis zu einer Hochzeit zum Höllentripp werden lassen können.

„So ist das doch mit Mädchen. Wann immer sie am Rand von irgendwas stehen, kannst du einfach nicht anders. Du denkst: Ein Stoss. Mehr bräuchte es nicht. Nur ein kleiner Stoss.“

Purmina kommt aus einer Weberfamilie, die seit Generationen an Webstühlen Saris herstellt. Kein lukratives Geschäft, eingeklemmt zwischen Angebot und Nachfrage. Als Purminas Mutter stirbt, gerät das filigrane Familienglück in Schieflage, die bescheidene Existenz der Familie an den Rand. Purminas Vater stellt Savita ein, ein Mädchen, das etwas älter ist, als seine Tochter, aus einer noch viel ärmeren Familie, die durch die Alkoholkrankheit Savitas Vater nur durch den totalen Einsatz der ältesten Tochter errettet werden kann.

Allmählich werden Purmina und Savita Freundinnen. Purmina ruhig und zurückhaltend, Savita von einem ungestillten Lebenshunger getrieben. Was in Indien Kindheit und Jugend junger Frauen ist, ist aus westlicher Sicht ein Gefängnis; kaum Bildung, sklavische Anbindung an die wirtschaftlichen Pflichten innerhalb der Familie mit der einzigen Aussicht, dereinst sicher verheiratet zu werden, von einer Kette zur nächsten. Während Purmina verheiratet werden soll und sich die Familie wegen dieser Hochzeit mit einem unbekannten Mann, der sich bis zur Hochzeit nicht zeigt, in Schulden stürzt, wird Savita, die am Webstuhl von Purminas Vaters bis zum Umfallen arbeitet, von diesem vergewaltigt. Und weil Savita weiss, dass sie als Opfer immer Opfer bleibt, flieht sie in eine Welt, die sie nicht kennt, beginnt eine Odyssee bis nach Seattle.
Purmina, die dem Hass ihres Gatten und deren Familie ausgeliefert ist, die ausharrt mit der Sehnsucht nach ihrer verschwundenen Freundin, bis ihre Haut zu brennen beginnt und sich der Schmerz dieses Feuers bis in die Seele frisst, folgt Purmina, ihrer Freundin, sucht sie. Purmina, gezeichnet durch das Feuer übergossenen Öls, Savita, gezeichnet von einer amputierten Hand, weil sie als Krüppel mehr Umsatz verspricht für besondere Wünsche herrischer Macht.

„Wir waren einmal Kinder, dachte sie; wir waren einmal kleine Mädchen. Einst spielten wir auf der Erde im Schatten eines Baumes.“

„Mädchen brennen heller“ ist die Geschichte einer Freundschaft. Über die Kraft der Liebe und eines Versprechens, erzählt mit ungeheurer Kraft. Eine Odyssee der Gegenwart, in der die Monster nicht in der Unterwelt agieren, sondern selbst in der Familie lauern. Purmina und Savita suchen nicht nur einander, sondern sich selbst, den Rest Überlebenswillen, jenen Ort, der aller Heimat beraubt nur Freundschaft und Liebe zurückbringen kann. Man liest „Mädchen brennen heller“ atemlos, geschlagen von der Wirklichkeit und der trägen Sicherheit der eigenen Existenz.

Dieser Buch schmerzt und belohnt gleichermassen!

Shobha Rao emigrierte im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie aus Indien in die USA und lebt heute in San Francisco. Sie arbeitete lange als Rechtsanwältin im Bereich häuslicher Gewalt und vertrat insbesondere Opfer mit Migrationshintergrund. Raos Debütroman «Mädchen brennen heller» («Girls Burn Brighter», 2018) rangierte in den führenden Bestenlisten der USA. Zuvor erschien ihr Band mit Kurzgeschichten («An Unrestored Woman», 2016). Shobha Rao ist Preisträgerin des Katherine Anne Porter-Preises und wurde von T. C. Boyle für die Anthologie «The Best American Short Stories 2015» ausgewählt.

Sabine Wolf ist Übersetzerin von Sachbüchern, Reiseliteratur, Belletristik, journalistischen und wissenschaftlichen Texten (Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften). Sie ist tätig u. a. für ZEITmagazin, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Amnesty International, Goethe-Institut, Lonely Planet (MairDumont), Deutsches Institut für Menschenrechte, Friedrich-Ebert-Stiftung.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau (Ausschnitt)