Kurt Oesterle «Die Stunde, in der Europa erwachte», klöpfer narr

Es ist ein Jahrhundert her, dass das lange Töten und Morden endete. In einem Krieg, der auf allen Kontinenten wütete und 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Ein Krieg, der tiefe Gräben und Krater in die Landschaft schoss, Wunden, die im Weltkrieg darauf wieder aufrissen und an denen die Welt bis heute leidet. Gräben und Krater, die zugeschüttet sind, Gräben und Krater, die einst den Sieg versprachen, die zu Massengräbern wurden.

In den Kinos lief 1917, ein Kriegsfilm von Sam Mendes, der in 110 Minuten Echtzeit die Mission zweier Soldaten zeigt, zweier Helden, die verhindern sollen, dass eine andere Einheit in den Hinterhalt des Feindes gerät. Das übliche Muster; Helden kämpfen für das Gute. Das Gute hier, das Böse dort und alles „zum Gedenken an die Opfer einer verlorenen Generation“. Der Mensch denkt in Kategorien.

Kurt Oesterle tut das nicht. In einem apokalyptischen Szenario finden sich in einem vom Krieg verwüsteten Landstrich in Frankreich, wo kein Stein mehr auf dem andern steht, das Land von Bomben umgepflügt ist und unter jedem Stein eine Mine droht, in der der Geruch des Todes über die offenen Wunden wabert und es eine Unendlichkeit dauern muss, bis die Gegend an das erinnert, was sie einmal war. Menschen, einst Feinde, auf der Suche nach einer Zukunft. Nur eine Hütte steht noch, ein kleines Haus, dahinter ein mobiler Backofen, ein „Gasthaus“ mit Namen À l’héroine des ruins – Zur Heldin der Ruinen.

Geführt wird es vom 16jährigen Minot, der eigentlich von seiner vom Krieg geflüchteten Familie geschickt wurde, um nachzusehen, was vom Hof geblieben ist, auf dem die Familie einst lebte. Minot bleibt am Haus hängen, weil die einstige Wirtin verschwand und irgendjemand den streunenden Seelen an diesem Ort die Oase sein muss.

Der erste Teil des Romans gibt sich wie ein Erzählband mit Kapiteln, die nichts miteinander zu tut zu haben scheinen. Kurt Oesterle erzählt vom jungen Minot, der einst in dieser Gegend auf einem Einödhof geboren wurde. Vom Ehepaar Max und Magda Krüger, deren Sohn Felix kein Feigling sein sollte, der sich dann mehr oder weniger freiwillig in Kriegsdienst gemeldet hatte, wie alle um ihn, die an einen schnellen und glorreichen Sieg glaubten. Von der Engländerin Elsie Norton, die einen traumatisierten Mann aus dem Krieg zurückbekommt, sich selbst und den Mann zu hassen beginnt, weil sie nicht verstehen kann, was geschah und geschieht. Von Franz, dem Kriegsgefangenen Nummer 2341, der den Krieg als Freiwilliger einst als Labor für den Fortschritt sah, denn was zerstört wird, kann „über kurz oder lang nachwachsen wie Haare und Fingernägel“. Und von Gorm, dem Hund, der von seinen kinderlosen Besitzern als ihr Beitrag im Dienste des Vaterlands als Sanität- und Meldehund in einer Kaserne abgeliefert wird.

Im zweiten Teil des Romans treffen sich all diese Gestalten, nachdem ihr Weg bis zur Heldin der Ruinen erzählt wurde. Minot wird zu einem Helden der Herzlichkeit, Max und Magda Krüger wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes zurück nach Hause holen, Elsie sucht das verlorene Leben ihres stumm gewordenen Ehemannes, Franz fristet das Dasein eines Kriegsgefangenen im nahen Lager und der Hund Gorm stomert einsam, vergessen und verwahrlost in der schrundigen Endzeitlandschaft herum.

Sie suchen alle, ernüchtert, desillusioniert. Genauso die Männer, die in der Heldin vom Metall ernten in den Schlachtfeldern ausruhen, die Meter für Meter absuchen, nach dem, was der Krieg liegen lässt, denen der Geruch frischgebackenen Brotes etwas von dem zurückgibt, was ihnen die vier Jahre Krieg genommen hat.
Der Krieg ist nicht vorbei, wie kein Krieg je vorbei ist mit dem Schweigen der Waffen. Der Ursprung allen Schmerzes ist aber nicht der ehemalige Feind, sondern der Verlust, der Verlust von Leben, Liebe und Vertrauen.

Die Idee Europa entspringt der Angst. Und der November 1918, das Ende des Krieges und die darauffolgenden Jahre der Ernüchterung, das kollektive Trauma, das auch einen weiteren weltweiten Krieg nicht verhindern konnte und die Angst von Generation zu Generation weiterfüttert, weckte Europa kurz, um gleich danach in den Versailler Verträgen den Grundstein zum nächsten grossen Schlachten zu legen.

Kurt Oesterle schrieb ein gewichtiges Buch, das sich ins Bewusstsein einfrisst. Keine actiongeladene Herogeschichte, sondern einen Roman mit epischer Tiefe über das, was übrig bleibt, wenn die Waffen schweigen. Grossartig geschrieben und inszeniert, Papier gewordenes Welttheater!

Ein Interview mit Kurt Oesterle:

Sie geben ihrem Roman einen durchaus positiven Titel. Erwacht Europa 1919 wirklich? Oder ist das, was sich heute Europäische Union nennt (Ich weiss, das ist nicht Europa!), nicht einfach das Konglomerat von Wirtschaftsinteressen, Angst und Verzweiflung darüber, das Nationalismus und Eigenbrötelei den Anfang eines weiteren Endes bescheren?

Ja, Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg erwacht … durchaus! Aber es hat sich nur kurz die Augen gerieben, um gleich wieder einzuschlafen – so tief, als wäre es tot. Niemand ahnte damals, dass die nicht genutzte Chance sich zu einer Katastrophe übelster Art auswachsen würde. Doch wichtiger scheint mir: Der Augenblick des Erwachens steht uns immer noch und immer wieder bevor – darum ist mein Roman auch kein historischer Roman, sondern ein ganz und gar gegenwärtiger. Auch und gerade heute sucht er eine Antwort auf die Frage, wie wir, die Europäer, WIR sagen könnten, oder anders: was uns eigentlich verbindet. Bisher ist es doch überwiegend der Wohlstand, der den Kontinent zusammenhält, doch wehe, dieser Wohlstand schwindet …

Herr und Frau Krüger wollen ihren toten Sohn in die Heimat zurückführen, weg von dem Ort, an dem die „Demokratenart“ keine Unterschiede macht, an dem „alle rücksichtslos miteinander gekreuzt, vermischt oder zusammengeworfen“ werden. Hundert Jahre später ist die Argumentation längst nicht gestorben auch wenn es meiner Meinung die einzige Art ist, dem Menschen das Überleben auf diesem Planeten zu sichern. Wie soll es der Mensch schaffen, Grenzen niederzureissen? Erst in Zeiten apokalyptischer Not?

Die Grenzen in Europa sind inzwischen zum Glück nahezu bedeutungslos geworden – dass ich ohne Passkontrolle nach Frankreich fahren, ja, mich dort sogar wie ein Inländer niederlassen kann, ist ein unerhörter Fortschritt, der noch in meiner Jugend undenkbar war. Ich vergesse nie, dass sowohl mein Vater als auch mein Grossvater gegen Frankreich Krieg geführt haben! Was jedoch auch ohne Grenzziehung weiterlebt, das ist der Egoismus der einzelnen Nationen und Personen. Darum erprobe ich in meinem Roman ja in zarten Ansätzen so etwas wie eine Wir-Erzählung, die es in Europa nach wie vor nicht gibt. Sie sollte basieren auf dem gefühlsgesättigten Wissen, dass wir als Menschen in grösseren Einheiten existieren als bloss in Familie, engerer Heimat oder Nation. Dafür habe ich mit meinem Buch einen ersten Entwurf geliefert – andere müssen fortfahren mit dieser Wir-Erzählung, solange bis man ihre Stimme hört.

Einer der Gäste in der Heldin nennt den Nationalstaat die Ursache allen Kriegs. Wo liegen die Ursachen für den ungebrochenen Glauben vieler Menschen, dass eine Gesellschaft in Frieden, ohne Krieg möglich wäre. Solange wir meterhohe Thujen um unsere Grundstücke ziehen, solange Reichtum geizig macht, die Angst vor dem Fremden um sich greift und man sich mit Vorliebe nicht für die eigenen Probleme interessiert, bleibt Krieg doch ideale Ersatzhandlung. Oder nicht?

Die „apokalyptische Not“, von der Sie sprechen, war der Krieg, der 1918 endete. Dringlicher als je zuvor konnte man damals sehen, dass eine europäische Lebensform nötig ist, wenn der Kontinent überleben will. Ich möchte ja gerade zeigen, dass das heutige Europa, die EU, eine Kriegs- und Notgeburt ist. Was selbst in Deutschland inzwischen wieder in Vergessenheit gerät, mitsamt der Rolle, die mein Land in beiden Weltkriegen gespielt hat. Ich halte es mit Paul Valéry, der schon nach dem Ersten, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht besass: „Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind. Wir fühlen, dass eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.“ Als Symbol steht dafür in meinem Buch insbesondere die geschändete und verstümmelte Natur, die Valéry zu seiner Zeit noch nicht auf der Rechnung hatte …

Wo lag der Ursprung ihres Romans?

Der Ursprung meines Romans lag in mir, in meiner Seele, wie ich gern sage. Und wie in einer europäischen Familienaufstellung hat sich die Konstellation ergeben, die ich dann in diesem verwüsteten französischen Landstrich zwischen Reims und Laon angesiedelt habe. Mein Roman ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine Schau, ein Traum, ein Film im Kopf, der unaufhaltsam ablief (und sich hoffentlich in Leserin und Leser wiederholt). Ich habe mich beim Schreiben oft gewundert, dass zuvor noch kein Autor auf die Idee gekommen ist, einen Nachkriegsroman mit gesamteuropäischem Personal zu verfassen – fast alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, handeln nur aus der nationalen Innenperspektive, die anderen bleiben eher Schatten.

Sie nennen den 16jährigen Minot ein aus der Zeit gefallener Philantrop, der sich vorgenommen hatte, in diesen Zeiten um jeden Preis gut zu sein und die Welt mit seiner Güte anzustecken. Meist versteht man Philantropie aber in Verbindung mit unermesslichem Reichtum. Aber Minot zeigt das Gegenteil. Ein Jugendlicher an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Ist ihr Roman „Die Stunde, in der Europa erwachte“ nicht auch eine Aufforderung, die Jugend ernst zu nehmen? Heute erst recht?

Philantropie bedeutet schlicht: Menschenliebe, sie ist keine Sache des Geldes! In meiner Stadt Tübingen wird der „philantropische Verein“ von griechischen Gastarbeitern getragen! Die Figur des Minot in meinem Roman wäre sozusagen mein Alter ego, auch ich konnte mit 16 oder 17 Jahren nach zwei Weltkriegen als nachgeborener Deutscher keine andere Rolle für mich entdecken, als die, gut zu sein und den Neubeginn in der eigenen Güte, in Bescheidenheit und Weltoffenheit zu suchen. Dabei war es mir nicht wichtig, ernst genommen zu werden, sondern mein Leben aus innerer Überzeugung zu führen. In der Hoffnung, dass diese Überzeugung wirkt, dass sie auf andere ausstrahlt … Und genau so ist es doch auch mit der Literatur: Sie folgt nicht einem politischen Programm, sondern generiert Energien, die in anderen weiterwirken … das ist die Eigenart des Ästhetischen. Übrigens, bei Lesungen muss ich meinen Minot stets verteidigen, eben weil er versucht, gut zu sein. Im Literaturbetrieb ist es offenkundig nach wie vor so, dass man fünf Schurken weitaus weniger verteidigen muss als einen einzigen Guten. Woher mag diese Vorliebe für die Bösen wohl kommen? Das Gute beunruhigt uns anscheinend viel mehr als das Böse …

© De Maddalena

Kurt Oesterle, 1955 in Oberrot/Nordwürttemberg geboren, studierte Literatur, Geschichte und Philosophie, Dr. phil., freier Autor und Journalist, insbesondere für die Süddeutsche Zeitung und das Schwäbische Tagblatt; auch für die »Frankfurter Anthologie« der FAZ. Monographien über Wolfgang Koeppen und Peter Weiss. Essays u. a. zu Schiller, Heine, Hebel, Hauff und Uhland («Ich hatt’ einen Kameraden»), wofür er 1997 den Theodor-Wolff-Preis erhielt. 2002 erschien bei Klöpfer & Meyer sein hoch gelobtes Romandebüt «Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen». Ausgezeichnet mit dem Berthold-Auerbach-Preis und von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats gewählt.

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