Es hätte nur ganz wenig gebraucht und ich hätte den neuen Erzählband Peter Stamms nicht zur Hand genommen. Aber dann schnappte ich ihn mir doch, begann im Zug zu lesen und wäre schon beim ersten Eintauchen in Peter Stamms literarischen Tauchgang durch die Dunkelheit fast an meinem Ziel vorbeigefahren.
In seiner letzten Erzählung „Schiffbruch“ sitzt ein in den Bankrott geratener Spekulant in seiner Dolder-Suite hoch über Zürich in seinen Bademantel gehüllt. Die Tür zu seiner Suite ist verrammelt, das Abenteuer konnte beginnen. Robinson hatte es zwanzig Jahre durchgehalten. In allen Erzählungen erkennt man das stamm’sche Erzählmuster all jener Männer und Frauen, die an die Ränder ihrer Existenz geraten. Die einen springen, andere verharren. Eine Polizistin, die sich nach der Trennung von ihrem Lebenspartner in die Berge versetzen lässt, um sich auf der Suche nach ihrer „Verdoppelung“ einer Art Spiegelung in den Bergen beinahe zu verlieren. Oder Adrian, arbeitslos geworden, verliert sich in einer Parallelexistenz. Oder der Ehemann, den seine Frau mit seinen Kindern, ungeduldig und wütend geworden auf dem Weg in den Winterurlaub an einer Raststätte im Nirgendwo stehen lässt.
Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», Erzählungen, S. Fischer, 2020, 192 Seiten CHF 29.90, ISBN 978-3-10-002226-4
Peter Stamm erzählt von Kippmomenten, in denen sattes, in fixen Bahnen geschientes Leben aus den Fugen gerät oder zumindest zu entgleisen droht. Und Peter Stamm überrascht, wie plottorientiert er zu schreiben versteht, mich als Leser in Katastrophenfantasien hineinmanövriert, die mir selbst offenbaren, wie empfänglich ich für die schlechten Varianten des Lebens bin. Peter Stamm führt mich ganz nah an jene Momente, an denen sich das Leben öffnet, wenn auch nur in Spiegelungen. Es brechen die Grenzen des eigenen Seins auf, Grenzen werden transparent, Abgründe offenbar.
In der ersten seiner Erzählungen mit dem Titel „Nahtigal“ duckt sich ein junger Mann krank gemeldet während Tagen mit einer Maske in seiner Tasche vor einer Bankfiliale herum. Tun oder nicht. Jetzt oder nie. „Es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah“. Peter Stamms Erzählungen kreisen immer wieder um diesen einen Moment, von dem wir wissen, dass er überall lauert, dass wir ihn meist nicht wahrhaben wollen, um uns selbst vor möglichen Konsequenzen zu schützen.
Vielleicht spiegeln sich in Peter Stamms neuem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ aber auch Veränderungen seines Schreibens selbst. Denn wenn man ihm in diesen Erzählungen eines nicht nachsagen kann, dann ist es Unterkühlung. In seinem Buch werde ich als Leser ganz nah an den heissen Kern des Lebens geführt, dort hin, wo sich die Banalität des Alltags mit der drohenden Katastrophe zu reiben beginnt. Peter Stamms Erzählungen sind nicht einfach Kurzfutter fürs Nachttischchen, sondern tiefe Einblicke mit dem Brennglas eines feinen Beobachters.
Peter Stamm, (geboren 1963) aufgewachsen in Weinfelden im Kanton Thurgau. Nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Seit 1990 freier Autor und Journalist. Peter Stamm schrieb Reportagen und Satiren unter anderen für die Neue Zürcher Zeitung, den Nebelspalter und das Magazin des Tages-Anzeigers. Längere Auslandaufenthalte, u.a. in Paris, New York und Berlin. Lebt mit seiner Familie in Winterthur. Peter Stamm schrieb zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seither sind vier Erzählsammlungen und fünf weitere Romane erschienen, zuletzt 2016 «Weit über das Land». Werke von Peter Stamm wurden in 37 Sprachen übersetzt. Lesereisen in viele Länder, unter anderem nach China, Mexiko, Russland, in die arabischen Emirate, nach Kolumbien und in den Iran.
Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.
«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.
Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.
Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.
Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6
Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.
Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!
In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!
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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt. Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»
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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.
«Das schwarze Königreich» trifft mitten in die Weichteile. Szczepan Twardochs neuer Roman prügelt mich aus dem schummrigen Gefühl der Zufriedenheit und zeigt schonungslos, was in den Tiefen der menschlichen Abgründe lauert und jederzeit wie Magma zum Vorschein kommen kann.
Es muss während meiner Ausbildung gewesen sein, als mich «Mila 18», ein Wälzer von Leon Uris, in seinen Bann zog und mich die Geschichte des Warschauer Ghettos während des aussichtslosen Widerstands der jüdischen WiderstandskämpferInnen gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Gewaltapparats nicht mehr losliess. Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich» erzählt aus der gleichen Zeit. Aber mit dem grossen Unterschied, dass es bei ihm keine HeldInnen gibt. Und wenn es sie gibt, dann sind es verzweifelte, gebrochene und gequälte HeldInnen.
Was hält Menschen trotz all der Schrecken, all des Leidens, all der Ängste am Leben? Was ist wirklich stärker; die Liebe oder der Hass? Was taugt mehr zum blanken Überleben? Was passiert mit dem, was wir als Menschlichkeit erhöhen, wenn in den Schlachten eines Krieges alle Masken, alle Hemmungen fallen?
Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt, 2020, 416 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-7371-0073-1
Szczepan Twardochs „Das schwarze Königreich“ ist angesichts all der Vergleiche, der sich selbst ernannte Querdenker auf Demonstrationen und in ihren digitalen Kanälen bedienen, ein Mahnmal dafür, wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen, wie sehr man sich Zusammenhänge bedient, die gar nicht existieren und wie leicht sich Geschichte instrumentalisieren lässt. In einer Gegenwart, in der Kühlschränke noch immer voll sind, jeder seinen eigenen Mist als Wahrheit verkaufen kann, ein Gesundheitssystem alles tut, um jedem, der es braucht, zu helfen, Bankomaten jeden bedienen und die Arbeitslosigkeit erstaunlich tief bleibt, ist jeder Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit während der Hochblüte von Nationalsozialismus und Faschismus ein Hohn.
Szczepan Twardoch beschreibt jenes tiefe Loch, dass sich in jenen Jahren auftat, jenen dunklen, schwarzen Kontinent, der während Jahren alles Licht in Schwärze umzuwandeln schien. Szczepan Twardochs Roman gibt den Blick frei in die Tiefen der menschlichen Abgründe, ungeschönt, nie unterscheidend zwischen den Guten und den Bösen. Das Töten und Sterben, das Grauen und Vernichten ist überall. Und ganz bestimmt in seiner dunkelsten Konzentration an Orten wie dem Warschauer Ghetto 1943, als sich eine verhältnismässig kleine Gruppe aufständischer Juden gegen ihre Deportation in die staatlichen Konzentrationslager zur Wehr setzte und den Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen die Tötungsindustrie Wehrlose zu Abertausenden nach ihrem Hertransport in Viehwagons vergaste und verbrannte.
Die polnische Leuchtfigur der Gegenwartsliteratur will weder erklären noch beweisen, nicht einmal verstehen. Szczepan Twardochs Roman ist ein Versuch, jene Zeit und deren Geschehnisse nicht zu entfremden, sie nicht zu beschönigen. In jenem Königreich regiert der Wille zu überleben, die Macht des Stärkeren. Szczepan Twardoch erzählt von Jakub Shapiro, einem Warschauer Juden, König seiner Unterwelt. Von einem Mann, der sein Recht mit Fäusten und mit Geld zu zementieren wusste, einer Geschichte, die Szczepan Twardoch schon in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Boxer“ zu erzählen begann. „Der Boxer“ war der Aufstieg Jakub Shapiros, „Das schwarze Königreich“ sein ungebremster Niedergang. Aber Szczepan Twardochs neuer Roman ist viel mehr als eine Fortsetzung. Szczepan Twardoch erzählt von ganz vielen Leben. Von Ryfka, der Geliebten Jakubs, die ihn in den Trümmern des Ghettos in die Postapokalypse zu retten versucht. Von Jakubs Zwillingsöhnen Daniel und David, dem einen als engelhafter Begleiter in den sicheren Vernichtungstod, dem anderen als Retter und Kämpfer. Von Emilia, Jakubs betrogener und gedemütigter Ehefrau, die alles was ihr bleibt mit dem letzten Rest ihrer Liebe nackt und geschoren ins Gas trägt.
„Das schwarze Königreich“ ist wahrhaft schwarz, über weite Strecken nicht leicht zu lesen. Szczepan Twardoch verklärt nichts und beschreibt alles in seiner tiefsten Grausamkeit. Und doch ist die beschriebene Brutalität nicht Selbstzweck und genüssliche Inszenierung. Szczepan Twardoch peitscht mich durch Wahrheiten, die ich allzu leicht auszublenden versuche. Die Menschen in seinem Roman sind aller Sicherheiten beraubt, aus der Zeit gehoben, in höchstem Masse sich selbst überlassen. Zitate wie „Gerechtigkeit ist die lachhafteste aller Fiktionen, an die die Menschen glauben“ sind Speerspitzen, die sich in mein Herz bohren.
Dass sich ein Mann mit Jahrgang 1979 in jene Geschehnisse, die vor über 40 Jahren seiner Zeitrechnung den Beginn jenes „schwarzen Königreichs“ öffneten, derart tief hineinschreiben kann, ist mehr als Empathie, mehr als Recherche, mehr als Imagination. Szczepan Twardoch ist ein Grosser!
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer» sowie das Tagebuch «Wale und Nachtfalter». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.
Der Übersetzer Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Es steht geschrieben, dass der erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 dauerte, vier Jahre. Das mag für Politiker und Diplomaten stimmen, von Kriegserklärung bis bedingungsloser Kapitulation. Aber ein Krieg beginnt lange vorher und endet vielleicht erst dann, wenn sich niemand mehr mit eigenen Erinnerungen darauf besinnen kann. Wenn jene Generation gestorben ist, die die Narben des Krieges durch ein ganzes Leben zu schleppen hatte. Beatrix Kramlovsky macht Erinnerung weit auf!
Ein maschinengeschriebenes Manuskript eines ehemaligen Berufssoldaten der österreich-ungarischen Armee findet den Weg zu Beatrix Kramloswsky. Nicht bloss ein Aufhänger, um eine Geschichte zu erzählen, sondern die real niedergeschriebenen Erinnerungen eines Mannes, der während des ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft gerät, und erst sechs Jahre später den Weg bis zurück zu seiner Familie in Wien fand. Die Geschichte eines Mannes, den Freundschaft und seine besonderen Fähigkeiten mit Pinsel, Stift und Schnitzmesser davor bewahrten, eines der vielen namenlosen Opfer zu werden, deren Knochen man irgendwo in Sibirien verscharrte.
Was als Typoskript für Enkelinnen und Enkel gedacht war, ist als „Fanny oder Das weisse Land“ eine in einen Roman gewandelte Geschichte eines Mannes, die in Erinnerung ruft, was den Menschen angesichts hoffnungsloser Umstände und unüberwindbarer Distanzen aufrecht erhalten kann. Eine Geschichte, die sich mit jeder kriegerischen Auseinandersetzung wiederholt, weil es nicht die Politiker, nicht die Privilegierten sind, die die Folgen eines Krieges auszubaden haben, seien die Kriege weltumspannend oder regional und kaum im öffentlichen Interesse, sondern die „kleinen Leute“.
Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weisse Land», hanserblau, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26797-8
Karl und Fanny sind kleine Leute. Karl ist Berufssoldat. Nicht weil er Freude am Drill hätte oder als Held für die österreich-ungarische Monarchie aufsteigen möchte, sondern weil ihn sein Vater überredet, die Sicherheit einer militärischen Laufbahn zu wählen, statt jene eines brotlosen Künstlers. Und Fanny, die aus ganz einfachen Verhältnissen stammt, weiss ganz genau, dass man sie an der Seite eines Offiziers nie akzeptieren wird. Es reicht nicht einmal das Geld, um zu heiraten, obwohl mit dem kleinen Max die drei zu einer Familie werden. Doch Karl wird in den Krieg geschickt und findet sich als Kriegsgefangener wieder in Chabarowsk, nicht weit vom Japanischen Meer,am äussersten Zipfel Sibiriens, viele tausend Kilometer weg von Familie und Heimatstadt Wien.
Karl hat Glück im Unglück. Er ist unverletzt, zumindest äusserlich und kann im gleichen Lager seinen jüngeren Bruder Viktor in die Arme nehmen. Die beiden schliessen mit vier anderen Männern eine tiefe Freundschaft, eine Bande, die hoffen lässt, dass ein Fluchtversuch aus dem Lager erfolgreich werden kann. Chabarowsk liegt in den unsäglichen Weiten Sibiriens, eine Flucht quer durch den asiatischen Kontinent nur deshalb eine Option, weil das langsame Sterben im Lager mit seiner unstillbaren Sehnsucht hin zu seiner Familie nicht vereinbar ist. „Fanny oder Das weisse Land“ ist die Geschichte dieser endlos scheinenden Odyssee Richtung Westen. Die Geschichte von vier Männern, die durch Freundschaft zu einer Art Familie werden, trennbar nur durch den Tod und durch die Hoffnung unterwegs ein neues Zuhause zu finden. Eine Reise zu Fuss, mit dem Zug, auf Karren durch die endlosen Weiten und Wirren eines Kontinents, der sich alles andere als menschenfreundlich zeigen kann.
Vielleicht ist ein Grund, warum Beatrix Kramlovsky die Geschichte dieses Mannes zu ihrer Geschichte machte, der Umstand, dass sie beide malen. Karl, der einstige Soldat und die Autorin selbst, die ihre Bilder immer wieder in Ausstellungen präsentiert. Karl und seine Freunde hätten die Reise niemals überlebt, wenn ihnen ihre Fähigkeiten nicht immer wieder Sonderbehandlungen ermöglichten; im Lager mit dem Schnitzen von Spielzeugfiguren, in den Dörfern Sibiriens mit Karls Zeichnungen und einmal gar mit einem Wandgemälde bei einer Mennonitengemeinde oder in den Gefängnissen als Porträtist.
Mag sein, dass der Roman empfindlich nah an die Grenzen allzu pastellener Töne rutscht, dass der Roman das Gewicht einer Verantwortung mit sich trägt, jener eines „Erbes“ jener Familie gegenüber, die das Manuskript der Autorin anvertraute. Karl bleibt zu gut, scheint nie wirklich zu zweifeln, die Liebe zu seiner Fanny trotzt allem. Doch lohnt die Lektüre alleweil, denn sie provoziert die Frage, was denn wichtig sein muss im Leben, um dort zu überleben, wo der Tod zum allgegenwärtig sichtbaren Begleiter wird.
Beatrix Kramlovsky, geboren 1954 in Oberösterreich, lebt als Künstlerin und Autorin in Niederösterreich. Sie studierte Sprachen und veröffentlichte Kurzgeschichten, Gedichte und Romane. Ein Aufenthalt in Ostberlin (1987-1991) führt zu einem Publikationsverbot in der DDR. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2019 erschien ihr Roman «Die Lichtsammlerin» bei hanserblau.
Wer die Romane von Usama Al Shahmani liest, begegnet einem Mann, der in zwei Kulturen lebt. Einem deutsch schreibenden Iraker, dessen Herzund Erzählkunst ganz in der Tradition seines Landes pulst. Einem Thurgauer, der sein neues Zuhause wie nur wenige andere schreibend, wandernd, spazierend begeht und dabei eine Offenheit ausstrahlt, die mehr als nur ansteckt.
Die Veranstaltung muss leider auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.
Nach seinem ersten Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit dem er sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser nistete und dort ganz eng an seiner eigenen Biographie die Geschichte eines Ankommenden schildert, beschreibt sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ beide Bewegungen; jene der Flucht und jene der Rückkehr. Zwei Richtungen, die sich aber sehr oft nicht klar zuweisen lassen, denn mit einem Mal kann aus der Rückkehr Flucht werden, so wie die Flucht immer auch die Möglichkeit der Rückkehr in sich trägt.
Eine junge Familie flieht aus dem von Saddam Hussein regierten Irak über den Iran bis in die Schweiz. In einem Land, in der Schweiz, wo die Eltern nie wirklich ankommen, wachsen die beiden Töchter Aida und ihre ältere Schwester Nosche auf. Sie gehen zur Schule, bereiten sich vor auf ein Leben in Ausbildung und Beruf, eingebettet in Freundschaften und Beziehungen. Aber dem Vater der beiden Schwestern, ein konservativer Theologe und seiner in Traditionen eingebundenen Ehefrau will es nicht gelingen, sich in das Gefüge ihres Zufluchtsortes einzuleben. Eine Sprache, die sich quer stellt, keine Familie mehr, die einem trägt und eine Gesellschaft, deren Rituale nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind.
Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat, 2020, 240 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-002-7
Während Aida in der Schule ist und die ältere Tochter schon in der Ausbildung aber noch nicht volljährig, beschliesst der Vater, in den Irak zurückzukehren. Aber was eine Rückkehr werden sollte, wird zur grossen Ernüchterung. Zum einen für die Eltern, die in ein Land, in ein Dorf, in ein Haus zurückkehren, wo nichts mehr ist wie es einmal war, man nicht versteht, warum man aus dem paradiesischen Westen zurückkehrt in ein Land, das vom Hass zwischen Sunniten und Schiiten zerfressen wird. Aber noch viel mehr für Aida und Nosche, für die es dort keine Zukunft zu geben scheint, ausser jener einer gefügigen Ehefrau.
Aida und Nosche beschliessen, mit Hilfe aus der Schweiz erneut aus dem Irak zu fliehen. Zurück nach Frauenfeld. Dorthin, wo sich vor ihrer Flucht ihr Leben abspielte. Die Flucht gelingt. Aber zu einem hohen Preis. Als Aida Jahre später Daniel, einen Schweizer kennen lernt und mit ihm zusammenzieht, merkt dieser, dass Aida ihre Vergangenheit weggesperrt hat, ihre Erinnerung, ihre Herkunft, den Alp, der auf ihrer Seele lastet. Und weil Daniel keine Ruhe gibt und immer wieder darauf hofft, etwas aus dem Davor seiner Freundin zu erfahren, droht die Liebe durch Verweigerung zu zerbrechen. Während Daniel sich eine Auszeit nimmt und ungewiss bleibt, ob es für sie beide eine Zukunft gibt, beginnt Aida, zaghaft aufzuschreiben, was wie ein Monolith quer in ihrer Seele alles Licht schluckt.
Wer ankommen will, muss etwas wagen. Das tun all die, die fliehen, die ein Heimatland zurücklassen, eine Familie, Freunde, ein Zuhause. Das Ankommen an einem anderen Ort ist nicht zwingend ein neuer Ort, eine freundliche Umarmung. Die einen bleiben immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst, den Bildern aus der Vergangenheit und einer zuweilen feindlichen Gegenwart. Andere schliessen sich in einer Kapsel ein aus lauter Angst, jenen kleinen Rest zu verlieren, den sie wie einen Schatz mit sich herumtragen.
Usama Al Shahmani erzählt genau davon. Vom Ankommen. Vom Kampf gegen permanente Flucht. Und weil es Usama Al Shahmani gelingt, in seinen Romanen nicht nur erzählerisch, sondern auch sprachlich diesen permanenten Kippzustand zwischen Hier und Dort zu beschreiben, werde ich als Leser mit all dem Zauber seiner Sprache an der Hand genommen.
„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist Aidas Kampf mit sich selbst, ein Kampf in poetischer Kraft!
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.
Anna Prizkau ist jung und schreibt jung, schreibt Kurzgeschichten, weil sie es mag, da sie, so meint sie in einem Interview, von LeserInnen viel mehr abverlangen, weil man nicht einfach über eine Seite hinweglesen kann. «Fast ein neues Leben» ist das Buch einer jungen Frau, die anzukommen versucht; in einem Land, einer Sprache, bei den Menschen, in ihrem Schreiben.
Die Protagonistin, die in allen zwölf Geschichten im Zentrum steht, ist in einem fremden Land, weggegangen mit ihrer Familie aus einem alten Land, einer alten Stadt. Ein Mädchen und später eine junge Frau, die mit allen Mitteln versucht, eine Hiesige zu sein, und der man das Etikett der Ausländerin unvermeidlich und immer wieder auf die Stirn klebt. Ein Mädchen, das sich ihrer Familie, ihrer Eltern schämt, die nicht will, dass die Eltern bei Schulanlässen auftauchen und stets Bauarbeiten vorschiebt, um einen Grund zu haben, dass Freundinnen nicht bei ihr zuhause auftauchen. Ein Mädchen, das aber nur schwer verstehen kann, warum man abends bei andern bloss kalt isst und nicht gekocht wird, warum der Vater fehlt, warum alles so piekfein eingerichtet sein kann, dass man den Eindruck hat, es werde dort gar nicht gelebt. Ein Mädchen, eine junge Frau, die allein gelassen ist, weil sie sich alle Antworten selbst geben muss, weil sie sich hinausgestossen fühlt, nur geduldet. Ein Mädchen, eine junge Frau zwischen zwei Welten, die kaum etwas miteinander zu tun zu haben scheinen, von der Sprache bis zu den Gerüchen.
Anna Prizkau «Fast ein neues Leben», Friedenauer Presse, 2020, 111 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-7518-0600-8
Jeder fragt «Woher kommst du?», eine Frage die unweigerlich zur Ausländerin macht. Ein Frage, die stigmatisiert. Ein Frage, die permanent wegstösst. Die Protagonistin in den zwölf Geschichten ist nirgends zuhause, nicht im alten, nicht im neuen Land. Nicht einmal in den brüchigen Freundschaften, die sie mit kleinen und grossen Lügen aufrecht zu erhalten versucht. Nicht in der Wohnung zuhause, wo die Mutter hinter verschlossener Tür im Badezimmer weint. Nicht bei den Mitschülerinnen, bei denen sie in eine Rolle gezwängt wird, bei denen sie genau spürt, wie viele Abgründe sich hinter den Kulissen auftun. Sie will eigentlich nur am Leben teilnehmen, am Leben in dem neuen Land, in der Schule, in einer Freundschaft, in der man getragen wird. Und trotzdem wird sie immer und immer wieder zur Aussenseiterin, in eine Isolation gestossen, aus der sie sich nicht lösen kann.
«Fast ein neues Leben» ist aber auch ein Blick auf ein Land, auf Deutschland. Ein Land, das wie alle anderen von Ängsten zerrissen wird. «Fast ein neues Leben» sind die Geschichten einer Geschlagenen, einer Geschlagenen des Lebens, einer wirklich Geschlagenen, die man im Dunkeln niederknüppelt. Auch wenn das Buch nur wenig mehr als hundert Seiten hat, ist es tief und birgt ein grosses Versprechen für die Zukunft. Zwölf Geschichten mit langem Nachhall!
Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, seit 1994 in Deutschland. Sie studierte in Hamburg und Berlin und hat als Kellnerin, Barkeeperin, Zeitungsausträgerin, Hostess, Probandin und Kunsthändlerin gearbeitet, bevor sie Journalistin wurde. Seit 2012 schreibt sie als freie Autorin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin über Ausländer, über Deutschland und andere Länder und über Literatur. Seit 2016 ist sie Redakteurin der F.A.S.
Wovor fürchten sie sich? Vor den „grossen“ Katastrophen oder den kleinen? Jenen, deren Fangarme in den Medien nach uns greifen oder jene, die sich ganz still und leise in unser Bewusstsein schleichen und dort hartnäckig als Ängste und Bedrohungen haften bleiben? Urs Faes erzählt in seinem neuen Roman in seiner ganz eigenen, seismographisch empfindsamen Sprache von drohenden Abgründen, die sich hinter der Normalität verbergen.
Herta lernt in einem Frankfurter Flughafenterminal einen Mann kennen. Einen, der so gar nicht in ihr Schema zu passen scheint, einen mit Cowboystiefeln und Cowboyhut, einen, über dessen ausgestreckte Beine sie beinahe stolpert. Sie wartet auf ihren Flug nach Zürich, er auf den seinigen nach New York. Ein paar Monate später steht der Mann vor ihrer Haustüre, mit einem grossen, abgenutzten Seesack und der Absicht zu bleiben, obwohl Hertas Kinder Dorit und Eliane ihre Mutter nicht verstehen und sie für überdreht und bekloppt halten.
Jakov Blumental war vor Jahrzehnten in die Staaten ausgewandert, war in der Textilbranche erfolgreich, hatte Familie, Kinder drüben und einen Sohn, der viel zu früh gestorben war. Herta war mit einem Internisten verheiratet, aber immer nur die Ehefrau des Internisten geblieben. Und als dieser sich mit einer Jüngeren in einen zweiten Frühling absetzte, war Herta allein. Was sich zwischen Herta und Jakov anbahnt und sich schnell als dauerhaft abzeichnet, wird für die beiden zu einem zweiten Leben, wenn auch nicht mit gleichen Vorzeichen und Auswirkungen. Schon nach wenigen Jahren zeigt sich, dass Jakov, der nie viel von seiner Vergangenheit freigeben wollte, zuerst der Zerstreutheit und später dem grossen Vergessen zum Opfer fällt. Und als Jakov dann bei einer genauen Diagnose nicht nur einer allmählich wachsende Demenz zugeschrieben wird, sondern der Aussicht, dass sich aus dem schwindenden Gletscher des fest Eingeschlossenen Verfestigtes auftauen werde, das sich einer Zuordnung verweigere und bei Jakov Ungeahntes auslösen kann, wird das Zusammenleben der beiden auf eine harte Probe gestellt.
«Ich bin vergesslich geworden, aber ich vergesse nicht, dass ich vergesse.»
Herta weiss, dass es in Jakovs Vergangenheit Dinge gibt, die ihr immer verschlossen bleiben. Und als sich das Vergessen bei ihm immer mehr im Alltag bemerkbar macht, in seinen Absenzen, Krisen, seinen Träumen und Notizen, kommt auch noch die Angst, einen Menschen ganz allmählich zu verlieren, auf verschlossene Kammern zu stossen, deren konservierte Atmosphäre das zu vergiften droht, was ihr noch geblieben ist. Kenne ich jenen Menschen, der mir am nächsten ist? Sind die Nächsten jene, von denen ich mir Jahrzehnte lang ein unumstössliches Bild zu machen traute? Was bleibt, wenn man mir nimmt, was stets in Stein gemeisselt schien?
Urs Faes schreibt die Geschichte von Herta und Jakov in Rückblenden, aus der Sicht Elianes, der Tochter Hertas. Herta sitzt am Tisch in ihrem Haus, in dem sich nach den Ereignissen um das langsame Sterben Jakovs langsam die Stille und Gleichförmigkeit wieder einstellt. Vor ihr auf dem Tisch stehen zwei Urnen. Herta will nur den einen Teil Jakovs Asche durch die Firma Ash Logistics nach Übersee liefern lassen. Ein Teil soll bei ihr bleiben. Einen Teil will sie für sich behalten. Nicht nur die Asche, sondern auch jenen Jakov, der ihr eine zweite Liebe schenkte.
«Kann man einen Menschen lieben, der einem kaum noch kennt, der nur noch selten zu einem spricht? Der oft spricht, ohne etwas zu meinen?»
An seiner Buchtaufe im Literaturhaus Zürich betonte Urs Faes, wie wichtig es ihm gewesen sei, nicht einfach einen weiteren Demenz-Roman in eine lange Reihe stellen zu wollen. „Untertags“ erzählt von den Sedimenten unserer persönlichen Geschichte. Davon, dass wir uns mit Bedacht eine Gegenwart zurechtrücken, die wir wie einen Garten hegen und pflegen. Davon, dass unter diesem Garten Magma- und Methankammern lauern, die jederzeit aufbrechen können, erst recht dann, wenn uns Demenz, Alter und Erschöpfung die Schaufel aus der Hand nehmen.
Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta und Jakov durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. „Untertags“ ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.
Jakov ist untertags unterwegs, schreibst du. Er ist wohl noch da, aber eigentlich schon zum grössten Teil abgetaucht. Für Liebende muss es eine schreckliche Erfahrung sein. Ebenso schrecklich für jene, die langsam ins Vergessen einsinken. Steckt da auch eine Portion Angst von dir? Das Schwinden der Worte gehört zu den Verlusten, ein Abnehmen der Merkfähigkeit, also auch der Teilhabe an der Gegenwart, des Seins in der Gegenwart und der Rückkehr in Erinnerungen, jene Hallen des Gedächtnisses, in denen alles bewahrt ist, was ein Mensch erfahren hat. Für sein Gegenüber, das Du, ist das gewiss schmerzhaft, aber nicht nur schrecklich, denn es gibt darin auch tröstliche Momente. Sie finden andere Sprachen, immer wieder, noch spät, und darin die Fülle gelebter Augenblicke, Freude an dem, was schön ist. Der gemeinsame Blick auf eine Distel zum Beispiel, der Gang in Landschaften, sogar hoch zu Pferd. Es stimmt schon: die Erfahrung, wie bedürftig und gefährdet wir sind, die ich durch eigene Krankheit gemacht habe, diese Sicht auf unsere Hinfälligkeit, die war immer bewusst. So schwangen eigene Ängste im Erzählen unbewusst mit, auch wenn das Erzählte eine andere Geschichte ist.
Du erzählst die Geschichte von Herta, ohne sie auszuleuchten. Genauso die Geschichte Jakovs. Das scheint eine deiner Grundeinsichten in deinem Roman zu sein. Dass man weder sich selbst noch sein nächstes Gegenüber erkennen kann, auch wenn man den Begriff des „Erkennens“ beinahe mystifiziert. Du bist kein „Sezierer“, wohl eher ein Schriftsteller, der seinem Personal mit allem Respekt möglichst nahe zu kommen versucht. Gibt es Grenzen der Nähe? Im Schreiben und in der Liebe? Figuren sollen knapp und genau gezeichnet sein, aber immer so zurückhaltend, dass Ihnen auch ein Geheimnis bleibt, und das Portrait im Kopf des mündigen Lesenden entsteht (wie der letzte Vers eines Gedichtes auch erst im Kopf des Lesenden sich bilden soll). Der Erzähler hält sich zurück, das ist die halbe Kunst seines Handwerks: sich zurück – und die Geschichte von Erklärungen freizuhalten. Denn auch erzählte Figuren haben eine Aura von Würde, der man mit Respekt begegnen soll. Und wo sind neben dem Erzählen diese Grenzen von Nähe wichtiger als in der Liebe: Amo, volo ut sis, ich liebe dich, lautete ein Satz aus dem Mittelalter, damit du der sein kannst, der du bist. Dem andern seinen Raum lassen, damit er seine Autonomie wahren kann (vielleicht auch sein Geheimnis), die ebenso ein Grundbedürfnis ist wie jenes nach Liebe und der Verheissung auf Geborgenheit. Das Gebot von Nähe und Distanz ist wichtig.
Herta wagt noch eine Reise mit Jakov in die Staaten. In der Hoffnung, Jakov Anknüpfung zu bieten und sich selber Antworten auf all die Namen und Gesten ihres Mannes, die ihr Rätsel aufgeben. Eine Reise, die mehrfach nah am Fiasko vorbeischrammt. Drohen nicht in allen Beziehungen „Büchsen der Pandora“? Herta hofft mit ihren Reiseplänen auf jene Momente des Wiedererkennens von Menschen, Situationen, Orten, die ein Aufgehobensein in der Gegenwart noch einmal ermöglichen, erfüllte Augenblicke. Sie sind möglich, bis spät; es ist auch der Versuch, sich immer neu dem Leben zuzuwenden, zu leben, was noch möglich ist. Hier ist es allerdings schon sehr spät. Beziehungen müssen nicht eine Büchse der Pandora sein. Aber natürlich ist es so, dass Unvorhergesehenes zum Leben, zu Beziehungen gehört, die gefährdet sind, wie der Einzelne auch. Jede Form von Leben ist immer auch ein Weg ins Nichtversicherbare, so sehr wir das Ausblenden und hundert Versicherungen abschliessen. Aber diese Ambivalenz ist zu ertragen. Bei Jakov ist es ja auch nicht nur eine Büchse der Pandora, die sich öffnet, sondern aus der Vergangenheit taucht eine grosse Liebe auf, Ini, der dunkle Kern des Romans, und wird noch einmal, schon fast kindlich rein, Gegenwart. Traumatisch war allerdings ihr Ende. Auch das öffnet sich.
«Untertags» auf dem 54. analogen Literaturblatt
Du schreibst die Geschichte aus einer weiblichen Perspektive. Ist es leichter, damit Distanz zu wahren? Es geht im Buch, auf verschiedenen Ebenen, um das Erzählen. „Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück“, heisst es einmal. Erzählen antwortet oft auf einen Verlust (Wer sein Land oder seinen Partner verliert, erzählt davon). So geht es auch Herta. „Sie musste erzählen. Den andern. Und sich. Vor allem sich.“ Im Erzählen findet sie wieder zu sich, gewinnt Halt, Ich-Kohärenz. Sogar Patienten mit Diagnose gewinnen im Gedächtnistraining eine zumindest temporäre Identität. Ich habe das beim Recherchieren mit Erstaunen beobachtet. Es verweist auf einen Gedanken in der jüdischen Erzähltradition, dass Erzählen heilt. Ich selber kehre immer wieder zum Erzählen zurück, im eigenen Leben, im Schreiben. So ist «Untertags» ein Buch, das wohl von Verlusten berichtet, aber eben auch vom Erzählen, das Verluste aufhebt in Geschichten. Mag sein, dass ich der weiblichen Perspektive aufmerksamer, behutsamer folge, weil ich sie immer neu wahrnehmen muss. Das war schon in meinem Erstling «Webfehler» so. Und seither immer mal wieder.
„Wenn man Sprache auch als ein Haus begreife, worin der Mensch wohne, dann müsse doch einer, der die Worte verliere, ins Nichts geraten, unbehaust sein“, sagt Eliane zu ihrer Schwester Dorit. Ist das nicht eine reichlich optimistische Anschauung? Müsste man nicht feststellen, dass viele Erdbewohner Teilobdachlose sind? Ich wäre in der „Obdachlosenfrage“ nicht so skeptisch. Ich habe schon als Kind im Quartierladen meiner Mutter beobachtet, wie sehr Menschen ein Urbedürfnis haben, zu erzählen, also Worte zu finden, für das, was sie angeht, sie beschäftigt oder bedrückt. Das ist Sprechen und Sprache. Man kann sogar sagen, dass Menschen eine Tendenz haben, oder in ihrem Bewusstsein eine solche besteht, erzählend zu verarbeiten, zu gestalten, sich zu rechtfertigen. Erzählen gehört zu unserer Art in der Welt zu sein, Welt zu erfahren. Kinder wollen erzählen, was sie gesehen und erfahren haben, Reisende auch, Stammtisch- und Partybesucher eben auch. Und durch das Erzählen entsteht, schon fast nebenbei, so etwas wie Empathie, denn wer erzählt, versteht auch, ein Stück weit wenigstens. Vielleicht ist das heute seltener geworden, weil viele die Wirklichkeit und die Menschen gegenüber nicht mehr wahrnehmen, da sie nur auf das Smartphone blicken, Nachrichten aus zweiter Hand. Erzählen könnte überall stattfinden, spontan, sprudelnd, ungeformt. Manche finden für ihre Geschichten später eine feste Form, eine bestimmte, gestaltete Art des Erzählens. Hier beginnt dann die Literatur.
Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.
Frank Keil
„Menschen enttäuschen andere Menschen“ von Frank Keil, freier Journalist
Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.
„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“
Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.
Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.
„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“ Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie. „Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.
Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“
Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie. „Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt. Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.
Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?
Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“ Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.
Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat. Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“
Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.
Katharina J. Ferners Roman „Der Anbeginn“ ist ein starkes Stück über keimendes Leben und den Tod, über archetypische Figuren und fiebrige Innenwelten, über vermeintliche Realitäten und flirrende Zwischenwelten. Wer sich gerne von Literatur bezaubern lässt, ist mit diesem Roman reich beschenkt!
Ein Mädchen wächst auf in einem Dorf, das aus der Zeit gefallen ist. Die Szenerie des Romans erinnert an einen langen Traum, eine Zwischenwirklichkeit, an eine Welt, die immer gleich durch die Jahrhunderte getragen wird, in der Tote nicht verschwinden, Lebende umso mehr, wo der Fährmann der Grenzer ist, in der das Matriarchat zur Selbstverständlichkeit wird. Katharina J. Ferner zeichnet eine Welt, die keiner Zeit unterworfen ist, die aber in jedem von uns lebt, weil sie weit über den Traum hinaus in unsere Wirklichkeit hineinspielt. Eine archaische Welt, die sich der Logik, der Ratio lächelnd entzieht. Wer „Der Anbeginn“ liest, lässt sich ein in eine Welt, die in ihrer Gültigkeit in jedem von uns steckt, von der wir uns aber immer schneller und immer weiter entfernen. „Der Anbeginn“ ist märchenhaft aber kein Märchen. Der Roman erzählt von den Urkräften des Lebens, von Geburt und Tod, von Liebe und Leidenschaft, von der Suche und vom Finden.
„Nur weil ich tot bin, heisst das noch lange nicht, dass ich auch so aussehen muss.“
Katharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus, 2020, 192 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-9903918-4-6
Ein Dorf an einem Fluss, nicht weit vom Meer. Während eine Tochter geboren wird, stirbt die Grossmutter. Der Vater ist Maler. Das Kind wächst mit Farbe und Pinsel auf, weiss, dass jene Wirklichkeiten, die gemalt sind, ebenso wirklich sein können, wie jene ausserhalb des Ateliers ihres Vaters. So wie die Grossmutter Wirklichkeit bleibt, obwohl sie der Fährmann geholt hatte. Das Mädchen wächst auf mit Mutter und Vater, mit den zwei Schwestern der Mutter, Ida und Ada, in einem Dorf mit der Bäckerin Svenja, mit anderen Kindern unter denen sie schon bald eine Sonderstellung einnimmt. Man begegnet ihr mit Respekt, so wie sie selbst allem und jedem mit Respekt begegnet. So wie sie den Tieren, selbst den Spinnen in ihrem Zimmer mit Respekt begegnet, sie an ihrem Leben teilnehmen lässt. Die Wiese, der Wald, der Fluss ist genauso ihr Zuhause, wie das Zimmer im Haus ihrer Künstlereltern, das Dorf, die Menschen genauso ihr Körper wie der ihrige.
Das Leben im Dorf ist eines in den Traditionen, in Regeln, die das Zusammenleben geschaffen hat. Eine Welt, die in immer grösserem Kontrast zur Welt in der wir leben gesehen werden muss. Katharina J. Ferner malt auf grosse dreidimensionale Leinwände, schafft eine Tiefenwirkung, die mich einsaugt, die mich fasziniert. Sie schafft, was sonst nur Träume vermögen und tut dies mit traumwandlerischer Sicherheit, mit faszinierender Selbstverständlichkeit.
„Vater malte mir eine Sonnenblumeum den Nabel herum, die Blätter waren so gross, dass sie mir bis zu den Rippen hinauf reichten.“
Dieses Dorf ist eine Zwischenwelt. Ein Dorf, das mit der Natur eins ist. Menschen, die sich als Teil dieser Welt sehen und sie nicht unterwerfen. Hier manifestiert sich die Natur nicht als Gegenüber des Menschen. In „Der Anbeginn“ nistet sich die Natur bis in die Haare der Protagonistin ein. „Der Anbeginn“ ist so rätselhaft wie das Leben selbst, wie die Geburt und der Tod, das Leben und das Sterben. Wer diesen Roman liest, die Geschichte dieser jungen Frau, die Geschichte dieses Dorfes jenseits des grossen Flusses, der begibt sich in eine Art Tagtraum, eine von Farben und Gerüchen satte Welt.
Interview mit Katharina J. Ferner:
Was hat dich bewogen, deinen Roman in einer Art Zwischenwelt anzusiedeln Die Zwischenwelt hat mehrere Beweggründe. Einerseits bin ich selbst grosser Fan von Erzählkulturen, die eine Tradition des Mystischen, der Märchen und des Surrealismus in der Literatur pflegen. Im deutschsprachigen Raum wird oftmals nicht über vermeintliche Grenzen hinauserzählt, was ich persönlich schade finde. Die Fülle der Geschichten, die so gesponnen werden können und das Eintauchen ins Fantastische eröffnen mir so zusätzlich zur Handlung auch eine poetischere Sprache. Auf der anderen Seite hängt die Entscheidung mit der Figurenkonstellation zusammen. Ohne eine Zwischenwelt kann die klassisch angelegte Figur des Fährmanns nicht mit dieser Selbstverständlichkeit existieren. Und somit verlören auch die Figuren, die auf ihm aufbauen, an Glaubwürdigkeit und blieben bloss als Hirngespinste der Ich-Erzählerin vorhanden.
Ist es, als würden sich in deinem Roman die Frauen dem Leben zuwenden und die Männer dem Leben eher abwenden? Weder noch. Die Frauen halten die Fäden in der Hand. Sie begrüssen das Leben zur selben Zeit, wie sie einen Tod beklagen, insofern würde ich nicht sagen, dass sie sich dem Leben konkret zuwenden. Die Männer sind bei den Todesritualen nicht dabei, weder bei der Verabschiedung der Verstorbenen noch bei der alljährlichen Schlachtung. Sie weichen dem Tod eher aus. Er ist kein Thema, das sie ständig beschäftigt und begleitet, während er bei den Frauen andauernd präsent ist.
Dein Roman ist von einer tiefen Weiblichkeit durchsetzt. Nicht dass sie mich stört! Ganz im Gegenteil! Es ist nur, als ob so einen Roman in dieser Art nur eine Frau schreiben könnte. Ich bin von dieser Weiblichkeit ebenso fasziniert wie verunsichert. Faszination und Verunsicherung, die gepaart beinah Schwindel erzeugen. Schreibst du dich von der Realität weg? Ich nehme das durchaus als Kompliment und denke es ist mir gelungen, viele Themen anzusprechen, die natürlich mit dem Frausein unmittelbar zusammenhängen, wie beispielsweise der Zyklus. Es gibt zwar keine Aufklärung in diesem Dorf, dennoch gibt es ein strenges Gefüge zwischen Männern und Frauen, das auch mit der körperlichen Wandlung und dem Alter zu tun hat. Die Konsequenzen die daraus entstehen, funktionieren im Roman anders, vielleicht gewagter.
Dein Vater malt. Du malst auch, dichtend und erzählend. Das Mädchen, die junge Frau in deinem Roman, wächst auch in einem Künstlerhaus auf. Was hat der Duft von Terpentin mit dir gemacht? Der Terpentingeruch hat tatsächlich keinen Ursprung in meinem Elternhaus, sondern in meiner Schulzeit. Bevor ich zu Literatur wechselte, belegte ich dort Bildnerische Gestaltung als Hauptfach. Im Roman fällt der Künstlervater ziemlich aus der Reihe, in einem Dorf, das auf Selbstversorgung angewiesen ist. Aber er gibt seiner Tochter seine Farben mit auf den Weg, damit sie sich die Welt ausmalen kann – genau so, wie ich es ja vielleicht auch mache. Früher habe ich viel fotografiert auf Reisen, nun notiere ich, sammle und (ver-)dichte.
Ich lernte dich an einer Lesung von Michael Stavarič kennen. Auch ein Schriftsteller, der es eindrücklich versteht, auf grossen Leinwänden kolossale Bilder zu erzeugen. Was bedeutet es dir, mit anderen AutorInnen zusammen schöpferisch zu sein, wo doch viele deiner ArtgenossInnen als EinzelgängerInnen gelten? Da hast du mich natürlich bei einer Lesung kennengelernt, von dem Menschen, der mich textlich schon am längsten und intensivsten begleitet. Mittlerweile verfolge ich vermehrt Kooperationen sowohl mit AutorInnen, als auch mit KünstlerInnen anderer Genres. Für mich bringen sie Inspiration, Wertschätzung, stärken das Vertrauen in die eigene Arbeit, fundierte Kritik. Manchmal hart erarbeitete, manchmal beflügelnde Geschenke. Und in diesem Jahr speziell sichern sie mir das eigene psychische Überleben. Grundsätzlich pflege und schätze ich aber Alleingänge ebenso. Gerade deswegen liebe ich das Konzept von Aufenthaltsstipendien.
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019).
Manchmal macht Lesen richtig glücklich. Man legt sich nach der letzten gelesenen Seite das Buch auf die Brust, schliesst die Augen und lässt diesen einen magischen Moment noch eine Weile nachklingen, den Nachglanz, das wohlige Gefühl, dass die Lektüre eines solchen Buches hervorruft. Mit «Lied der Weite» von Kent Haruf passierte es! Und wie!
Letzthin besuchte ich zum allerersten Mal einen Freund in dessen Wohnung. Einen Leser! Was für ein Vergnügen, vor dessen Bücherregalen zu stehen. Viele meiner Lieblinge, Favoriten und Geheimtipps waren da, spiegelten sich im Regal meines Freundes. Aber es gab auch Namen, die ich gar nicht oder nur vage kannte. Einer von ihnen war Kent Haruf, ein amerikanischer Schriftsteller, der 2014 mit 71 Jahren starb.
Kent Haruf schrieb sechs Romane. Mittlerweile sind vier von ihnen bei Diogenes erhältlich. Ich fragte meinen Freund, mit welchem Buch ich in die Haruf’sche Welt eintauchen sollte. „Lied der Weite“, meinte er. Was ich dann auch tat und mit grösstem Lesevergnügen belohnt wurde. Ein Lesevergnügen, dass förmlich nach Vertiefung ruft und mich zwang, schon einmal auf Vorrat die anderen drei Romane anzuschaffen.
Kent Harufs Romane spielen alle in einer fiktiven nordamerikanischen Kleinstadt namens Holt, ein paar Autostunden entfernt von Denver. Ein Kaff. Haruf generiert Bilder, zumindest bei mir, die mich an solche des Malers Edward Hopper erinnern. Bilder, die sich nicht zu bewegen scheinen, Bilder, die nichts verklären, ganz im Gegenteil. Standbilder, die sich in die Erinnerung eingraben.
Victoria ist 17. Sie ist schwanger. Und als die Übelkeit und das Verlangen, das Geheimnis mit jemandem zu teilen, die junge Frau zwingen, es der Mutter erzählen, stellt die Mutter die Tochter vor die Tür. Ihr ging es damals genauso. Eigentlich hätte es ihre Tochter besser machen sollen. Der Ausschluss ist endgültig, die Tür bleibt zu. Auch jene zu dem nicht viel älteren Jungen, den sie beim Tanzen kennenlernte und sie irgendwann wie eine leergetrunkene Dose stehen liess.
Kent Haruf «Lied der Weite», Diogenes Taschenbuch, 2019, 384 Seiten CHF 17.90, ISBN 978-3-257-24503-5
Tom Guthrie ist Lehrer in Holt. Eigentlich ein guter, wohlgesonnener Lehrer, wenn da nur der eine Junge nicht wäre und seine renitenten Eltern. Eine Familie, die ihn aus der Reserve lockt, die ihn seine Ruhe vergessen lassen. Der eigentlich genug an den Sorgen um seine Familie hat, mit einer Frau, die in ihren Depressionen erstickt und den beiden Jungs Ike und Bobby, die nicht wissen wie ihnen geschieht, denen man keine Fragen mehr beantwortet, viel zu oft sich selbst überlassen werden. Tom Guthrie versucht alles, um seine Mitte nicht zu verlieren, etwas, was ihm genommen wird, als ihm vor seinem Schulzimmer einer seiner Schüler die Faust ins Gesicht schlägt.
Und die alten Brüder McPherons, die weit draussen seit Jahrzehnten eine Farm betreiben, mehr schlecht als recht, sich längst in ihrem Alleinsein eingerichtet haben, jeden Tag nehmen, wie er kommt. Es ist kalt in Holt. Im Haus der McPherons ist es auch kalt. Man spricht nicht viel, die Zeit ist liegen geblieben, wie alles andere auch, ausser das Vieh und die Kühe, die trächtig sein sollen, damit es einen Frühling geben kann. Eines Tages steht eine junge Schwangere vor der Tür, Victoria. Die beiden nehmen sie auf, richten ihr das Zimmer, in dem einst die Eltern schliefen. Victoria bleibt, auch wenn die McPherons nur zögerlich lernen, mit der jungen Frau umzugehen.
Das Leseglück, das sich einstellt, passiert nicht, weil die Geschichte wie Honig fliesst. In Kent Harufs Geschichte sitzen Stacheln! Er schmeichelt nicht. Keine Sonnenuntergänge, kein Kitsch, keine Romantik, dafür ganz viel Liebenswürdigkeit neben Abgründen. Kent Haruf lässt sein Personal nicht grundsätzlich scheitern. Es sind nicht die Katastrophen, die Kent Haruf zu einem Buch macht, sondern die Stimmungen, die er mit seinem Erzählen evoziert. Haruf schreibt seismographisch.
Kent Haruf, geboren 1943 in Colorado, war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award ausgezeichnet. Sein letzter Roman, «Unsere Seelen bei Nacht», wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Haruf starb 2014.
Rudolf Hermstein, geb. 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.