Polly Clark «Tiger», Eisele

Weit draussen in der sibirischen Taiga stirbt die Gräfin, ein mächtiges Tigerweibchen, deckt mit ihrem gewaltigen Leib und ihrem zerschundenen Schädel den ebenfalls toten Körper eine Frau zu, die ihr Gewehr kurz vor ihrem Tod durch die Wucht des Zusammenstosses mit dem wilden Tier in den Schnee geworfen hatte. Ein tödliches Duell zweier wilder Kreaturen. Der Gräfin, die ein Junges zurücklässt und Edit, die zehn Winter in den Wäldern der Taiga überlebt hatte und ihre Tochter Sina zurücklässt.

Der Amurtiger ist die grösste lebende Raubkatzenart der Welt und lebt in der russischen Taiga bis nach China und Nordkorea. Selbst für die Udehen, ein indigenes Volk im Südosten Sibiriens, bei denen der Tigerkult eine besonders wichtige Rolle in ihren Traditionen spielt, bedeutet eine Begegnung mit dem Tiger nichts Gutes. Und das absichtliche Töten eines Tigers gilt als grösstes Verbrechen.
Ausgerechnet Edit, eine Nachfahrin jener Udehen, muss im Kampf ums Überleben ein Tigerweibchen töten um ihre eigene Tochter vor dem Tod zu schützen. Sie, die von ihrem trinkenden Mann flüchtete und von ihrem Vater auf die Reise geschickt wurde. Sie, die zehn Jahre allein mit ihrem Mädchen in den unwirtlichen Wäldern Sibiriens überlebte und nur deshalb ein Opfer dieses Kampfes wurde, weil ihr eigenes Blut aus ihrem Unterleib floss. Weil sie aus Angst, zusammen mit ihrer Tochter an Hunger sterben zu müssen, sich an einem von der Tigerin gerissenen Bären gütlich tat. Sie beide kämpften um ihren Nachwuchs. Sie beide bezahlten mit ihrem Leben und liessen ihren Nachwuchs im eisigen Winter der Taiga zurück.

Frieda, eine englische Primatenforscherin, die das Verhalten der Bonobos studierte, verliert ihre Stelle, weil sie sich an den Vorräten von Morphin und anderen Substanzen an ihrem Arbeitsplatz bediente, um ihren Hunger nach alles durchdringender Ruhe zu stillen. Nur mit Hilfe eines Freundes findet sie einen Arbeitsplatz in einem privaten Zoo, wo ein ehrgeiziger Direktor durch den Zukauf eines Amurtigers hofft, Staatsgelder und Ruhm zu gewinnen. Sie, die sich eigentlich viel lieber den Bonobos widmen würde, wird vom Zoodirektor verknurrt, sich einem ausgezehrten und entkräfteten Amurtiger anzunehmen. Eine angezählte Wissenschaftlerin, eine angezählte Tigerdame. Was sich auf Augenhöhe zu einer Beziehung entwickeln könnte, wird im Geruch fliessenden Blutes zur Katastrophe.

Polly Clark «Tiger», Eisele, 2020, Deutsch von Ursula C. Sturm, 432 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-96161-099-0

Tomas, der in Diensten seines Vaters in der sibirischen Taiga eine Station betreibt, mit der die Population der Amurtiger gefördert werden soll, ein Reservat inmitten von Wäldern, die den Interessen von Profit und Privatwirtschaft preisgegeben sind, ist in den Wäldern unterwegs, um Fotofallen zu installieren und Informationen zu Tigerfährten zu sammeln. Im Camp seines Vaters hat sich ein General angekündigt, den man von der Wichtigkeit des Unternehmens überzeugen will, nicht zuletzt darum, weil man sich die Zuwendung Putins erhofft oder dereinst vielleicht sogar seinen Besuch von ihm im Camp. Nur weg von seinem Vater kann Tomas frei atmen. Und je weiter er sich vom Camp seines Vaters entfernt, desto öfter steigen Bilder in ihm empor, die von all dem erzählen, was Iwan, sein Vater vernichtete, allem voran eine Liebe und eine Familie. Bis Tomas die Fährte der Gräfin aufnimmt, einer Tigerin, die mit ihren zwei Jungen nach Nahrung sucht. Aber die Fährte des einen Jungen ist mit Blut getränkt. Und als Tomas mitten im sibirischen Nirgendwo den Kadaver des einen, bis auf die Knochen abgemagerten Jungen findet, ahnt er, dass sich nicht weit ein Drama abspielt.

Polly Clark erzählt von Beginn weg ganz unterschiedliche Geschichten, die alle um Tiger kreisen, jene königlichen Gestalten, die sich wie Geisterwesen durch die Tiefen der Tundra bewegen; Tiger in Freiheit, Tiger in Gefangenschaft, Tiger, die man allem beraubt, was sie als stolze Wesen in den Weiten Sibiriens ausmacht. Erst mit fortlaufender Lektüre erschliesst sich der Zusammenhang der verschiedenen Erzählstränge, klärt sich das Muster, mit dem Polly Clark ihren grossartigen Roman aufbaut. „Tiger“ packt mich von der ersten Seite weg. Ich spüre den heissen Atem des Tigers, die staubtrockene Winterkälte der sibirischen Tundra und rieche den Schweiss im Wams des Jägers. „Tiger“ ist betörend und erfüllt das reisserische Versprechen auf dem Cover!

© Polly Clark

Polly Clark wurde in Toronto geboren und lebt abwechselnd an der schottischen Westküste und auf einem Hausboot in London. Ihre Lyrik wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, und ihr erster Roman «Larchfield», für den sie den MsLexia Prize gewann, u.a. von Margaret Atwood, John Boyne und Richard Ford hochgelobt. Während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo begann sie sich für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen an «Tiger» reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35°C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. «Tiger» stand 2019 auf der Shortlist für den Scottish National Book Award.

«Tiger», übersetzt von Ursula C. Strum

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Polly Clark