Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird!

„Verschiebung im Gestein“ ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Roman besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, weiter die Sprache, die sich einer ganz feinen Beschreibung zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie und mit fein ziselierten Schilderungen glänzt und einer maximalen Nähe zum Geschehen. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen!

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Eingangstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit die Kraft nicht mehr hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zu seiner wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Einem kleinen Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen wie tektonische Platten. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben. 

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht. 

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen. 

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen. 

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen. 

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege. 

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Teresa Präauer «Wie man einen Apfel isst» Rede zum Bremer Literaturpreis 2024, Wallstein

Teresa Präauer gehört mit ihren 45 Jahren zu den Grossen der österreichischen Literatur, zur dortigen Kulturszene überhaupt. Sie schreibt Romane, Essays und Kunstbetrachtungen, illustriert und malt. Sie gewinnt Preise und macht sich in ganz eigener Art und Weise Gedanken darüber, wie wir etwas tun – auch in ihrer Preisrede zum Literaturpreis der Stadt Bremen für ihren Roman „Kochen im falschen Jahrhundert“.

Was Teresa Präauer in den vergangenen 20 Jahren schuf und dafür Preise gewann, ist beachtlich. Nicht nur die Vielfalt ihrer Kunst, auch die Kraft, mit der sie zu einer der wichtigsten Exponentinnen der österreichischen Literatur zählt, einer Szene, die wie in kaum einem anderen deutschsprachigen Land derart viel Originalität ausstrahlt.

Teresa Präauer schaut hin, ob sie es schreibend, malend oder zeichnend tut. In ihrer Preisrede zum Literaturpreis der Stadt Bremen, in einem wunderschön edierten Büchlein bei Wallstein herausgekommen, beobachtet sie ihren Grossvater beim Essen eines Apfels und lässt sich verunsichern durch die Fragen ihres Neffen. Wer nicht beobachten kann, wer sich keine Fragen stellen lässt und sich durch diese nicht verunsichern lässt, schreibt auch keine interessanten Bücher, zumindest keine, die ich lesen möchte. Wer mir nur Antworten aufdrängt und mir zu verstehen gibt, dass ich nicht verstehe, wer mir mit seinem Schreiben keine Türen aufreisst und mich zum Nachdenken zwingt, wer mich nicht überrascht und verblüfft, dem bin ich schlicht nicht bereit, meine Lebenszeit zu schenken.

Zugegeben, das Büchelein ist schmal und mit seinen 30 Seiten wahrhaft kein Schwergewicht. Aber was die vielbegabte Künstlerin darin ausbreitet, ist ein Manifest in Sachen Genauigkeit, Hingabe und Bescheidenheit. Teresa Präauer verrät etwas von den Prämissen ihrer Kunst, was ihren Blick auf die Dinge ausmacht. In „Wie man einen Apfel isst“ sind zwei Texte vereint, die etwas davon erzählen, wie ihr Blick sie prägt, woher sie nimmt, was sie später erschafft.

Teresa Präauer «Wie man einen Apfel isst» Rede zum Bremer Literaturpreis, Wallstein, 2024, 32 Seiten, CHF ca. 19.80, ISBN 978-3-8353-5758-7

Wie essen sie einen Apfel? Mit Stumpf und Stil oder akkurat in Schnitze geschnitten? Teresa Präauer erinnert sich an ihren Grossvater. Der ass nicht einfach einen Apfel. Das Verspeisen der Frucht war Teil eines Rituals, logische Folge einer Lebenseinstellung, einer Haltung. Er setzte sich an einen Tisch, mit Teller und Frucht vor sich auf dem Tischtuch, hatte ein Küchentuhh auf dem Oberschenkel und ein eigens für dieses Zeremoniell dienendes Taschenmesser. Wie er den Apfel verspeist erinnert an ein japanisches Zeremoniell, sei dies nun zur Teezubereitung oder der Herstellung von Speisen. Das Tun an sich ist schon Teil der Handlung, ein Teil des Genusses. Die Hinwendung und Hingabe an ein Tun. Nicht das Sättigungsgefühl, der volle Bauch ist das Ziel, sondern all die Schritte zuvor. Und all diese Schritte entspringen einer Haltung, einem Bewusstsein, einem tiefen Respekt vor dem Objekt und seiner Verwandlung. Weit weg von Bedürfnisbefriedigung.

Aber was hat das Verspiesen eines Apfels mit dem Schreiben zu tun? Oder was hat die Frage eines Neffen „Kennst du den Zufall“ mit dem Schreiben zu tun? Das Schreiben selbst entspringt einer Haltung, ist Teil einer Haltung. Schreiben als eine demütige Form der Entgegnung? Schreiben als langsame Verinnerlichung. Als ritualisierte Handlung, bei der nicht die Sättigung das Ziel ist. Eine behutsame Auseinandersetzung mit Objekt und Subjekt, ein Tun voller Respekt.

Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken einladen. Und „Wie man einen Apfel isst“ lädt ein, die Bücher Teresa Präauers noch einmal aus dem Regal zu nehmen.

Teresa Präauer geb. 1979, studierte Germanistik und bildende Kunst. Im Wallstein Verlag erschienen die Romane «Für den Herrscher aus Übersee», «Johnny und Jean» und «Oh Schimmi» sowie der Großessay «Tier werden», das Geschichtenbuch «Das Glück ist eine Bohne» und der Erzählband «Mädchen», dessen theoretischen Unterbau Präauers Ende 2021 gehaltenen Zürcher Poetikvorlesungen bilden. Sie wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis (2012), dem Erich-Fried-Preis (2017), dem Ben-Witter-Preis (2022) und dem Bremer Literaturpreis (2024) ausgezeichnet. Teresa Präauer lebt in Wien.

Beitragsbild © Martin Stöbich

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz

Statistisch wurden 2023 in Deutschland über 18000 sexuelle Übergriffe an Kindern polizeilich erfasst. Über eine Million Deutsche erlebten im Laufe ihres Kindseins einen sexuellen Übergriff. Wie kaum eine andere Kunstgattung nimmt sich die Literatur dieser heiklen Thematik an – und Katharina Winkler mit unsäglich tiefgreifender Empathie!

Nicht auszudenken, wie hoch die Dunkelziffer sein wird. In der Schweiz erlebt rund jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt durch Erwachsene oder ältere Kinder. Ungeheuerliche Zahlen, von denen niemand gerne spricht, am wenigsten die Politik, werden doch die meisten Übergriffe von Familienmitgliedern begangen. Monströse Zahlen und ebensolche Vorstellungen, wie all die Kinder und all die Erwachsenen, die solches als Kinder über sich ergehen lassen mussten, mit dem umgehen sollen. Ein Alp, bei dem weder Justiz, Medizin noch Psychologie heilen können, weil die Betroffenen mit dem Erlebten weitgehend alleine bleiben und sich die offenen Wunden über Jahre und Jahrzehnte tief in die Seelen fressen.

«Hast du Papa lieb?
Ja»

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7518-0961-0

Einen Roman darüber schreiben? Schon alleine das Risiko, nach der Veröffentlichung permanent der Neugier der Leserinnen und Leser ausgesetzt zu sein, ob das Erzählte autobiografisch sei, könnte abschrecken. Nicht weniger der potenzielle Vorwurf, doch gar nicht in der Lage zu sein, ohne eigene Erfahrung solches glaubhaft erzählen zu können. Literarischer Treibsand! Aber Katharina Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ entzieht sich diesen Risiken, weil seine sprachlichen Qualitäten alle Risiken überstrahlen. Weil er in seiner Form so geschrieben ist, dass er sich so weit wie möglich von Betroffenheitsliteratur unterscheidet. Wer das Buch aufschlägt, glaubt in einem Gedichtband zu lesen, was in gewisser Weise auch stimmt, denn „Siebenmeilenherz“ erzählt lyrisch, manchmal in ganz kurzen Zeilen, manchmal repetitiv, wie ein Lied, ein Aufzählvers, ein Gebet.

«Ich bin vom Erdboden verschluckt.
Niemand sieht mich.
Niemand weiss.
Ich hoffe, ich bleibe für immer verborgen.»

Ganz zu Beginn des Buches ist die Erzählstimme die eines kleinen Mädchens, das ganz und gar nicht versteht, wie ihr geschieht, das verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit sucht, sei es bei ihrem Vater, der sie zu seiner Prinzessin erhebt, einen Geheimbund mit ihr schliesst, nachts am Bett jede erdenkliche Grenze überschreitet – und einer Mutter, die in kalter Distanz und Abweisung wohl einfach nicht wissen und sehen will. Im Laufe des Buches wird die Stimme älter, reifer, wissender, aber auch verzweifelter, weil die junge Frau keine Möglichkeit sieht, ihrem Alp zu entfliehen, obwohl da immer wieder einmal eine Hand wäre, die sich ihr anbietet. Aber wer verrät schon seine Nächsten. Woher die Kraft, vom Opfer zur Anklägerin zu werden, sich zu erheben und den Vater zu konfrontieren. Sie ist alleine, erst recht, als da ein Mann ist, eine Liebe, irgendwann gar ein Kind in ihrem offenen Bauch. Wird man irgendwann sehen, was sie erdulden, über sich ergehen lassen musste.

«Widerhaken, die sich im Kopf verfangen
und sich nicht verflüchtigen.»

Die suchende Sprache des Kindes im ersten Teil des Buches, die Unfähigkeit des Benennens, des Nicht-Einordnen-Könnens schmerzt förmlich bei der Lektüre, ebenso die Ausweglosigkeit, die alles einnehmende Einsamkeit der jungen Frau, die scheinbar unrettbar verloren ist im Gefängnis ihrer Erinnerungen, ihres Schmerzes, ihrer Versehrtheit. «Siebenmeilenherz» ist ein buchlanges Selbstgespräch, der verzweifelte Versuch eines Auf- und Ausbruchs.

Ich las „Siebenmeilenherz“ mit angehaltenen Atem, voller Scham, voller Angst, auch in meiner Umgebung Zeichen nicht zu sehen, unangemessen zu reagieren.

Phantastisch ist Katharina Winklers Sprache, die Form, mit der sie auf ganz eigenwillige Weise dem Schrecken nicht bloss begegnet, sondern sich ihm mit einer ungeheuren Direktheit aussetzt. Da hat sich eine Autorin ein Herz genommen, um mit Siebenmeilenstiefeln ins Herz dieses Sturmes, ins windstille Auge der Tornados zu rennen.

Interview

Was dem Mädchen in seiner Familie widerfährt, sei es die Übergiffigkeit ihres Vaters oder die Kälte ihrer Mutter, was sie als Jugendliche, als Liebende, als werdende Mutter, als Verwundete und Gezeichnete ausstehen muss, ist höllisch. Und dieser Schwarm an Fragen, Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, ein Trommelfeuer, dem sie nicht entfliehen kann. Ich selbst bin auch Vater. Was der Protagonistin geschieht, ist hunderttausendfach erlittenes Schicksal. Warum tut sich die Gesellschaft derart schwer hinzuschauen? Warum spüre ich selbst bei mir diesen Schauer, wenn ich darüber lese, schreibe oder spreche?
Diese Wirksamkeit ist das Wesen des Tabus. 
Sexueller Missbrauch in der Familie ist eines der letzten grossen Tabus. 
Der Tabubruch stösst naturgemäss auf Widerstand und ist schmerzhaft.
Ein Tabu entsteht, um Schmerz und Überforderung von der Gesellschaft abzuspalten. 
Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein stillschweigend praktiziertes Regelwerk, unhinterfragt, strikt, bedingungslos, universell und ubiquitär. Wir sind darauf konditioniert. Ein Tabubruch fällt uns entsprechend schwer. Wir handeln gegen die Regeln des Kollektivs, gegen unsere eigene Konditionierung. Und wenn wir das Tabu brechen, bricht auch der darin gebundene Schmerz auf und die akute Überforderung.
Aber wenn wir das Tabu unangetastet lassen, manifestieren wir es – und damit auch den entsprechenden gesellschaftlichen Status quo. In unserer Gesellschaft bleibt sexueller Missbrauch in der Familie dann unangetastet und unverändert. 

Sie hätten einfach eine Geschichte erzählen können. Aber ganz offensichtlich reichte das nicht. Sie wählten eine ganz spezielle Form. Eine Art innerer Monolog, gespickt mit Textstellen, die an Lieder, Gebete, Märchen… erinnern. Wie kamen Sie zu dieser Form? War die Form schon von Beginn weg klar? Musste sie es sein, um darüber schreiben zu können?
Ich musste diese Geschichte aus der Innenperspektive erzählen. Ich wollte keinen Blick von aussen, jeden voyeuristischen Blick verhindern. Das Buch soll dem Leser ausschliesslich das Erleben aus dem Inneren der Figur ermöglichen. Denn ich wollte eine intensive Empathie des Lesers mit der betroffenen Figur, dafür musste ich den Leser so nah wie möglich an die Figur heranführen.  
Die gedicht-, lied- und märchenhaften Elemente in der Sprache sind der kindlichen Figur im ersten Teil geschuldet, in dem man erlebt, wie ein Kind in das von den Eltern dargebotene Weltbild wächst – ohne Möglichkeit zu hinterfragen oder zu relativieren. 
Dass diese Kindersprachenelemente auch im zweiten Teil präsent sind, in dem die junge Erwachsene geschildert wird, verdeutlicht, wie die kindliche Erfahrung das weitere Leben prägt. 

Auch die Zeichensetzung setzen Sie manchmal ausser Kraft. Warum?
Der Umgang mit der Zeichensetzung ist für mich eine ständige Gratwanderung. 
Meine Sprache ist sehr musikalisch gedacht. Leider ist das System zur Verschriftlichung von Sprache aber nicht so präzise wie die Notenschrift. Die Melodie, die ein Satz in meinem Kopf hat, ist manchmal gegenläufig zu der Melodie, die die grammatikalisch korrekten Interpunktionszeichen dem Leser nahelegen. 
Die Melodie der Sprache prägt die gedankliche Dynamik. Ein Punkt provoziert zum Beispiel den Abschluss einer Melodie und damit den Abschluss eines Gedankens, obwohl ich es oft wichtig finde, Melodie und Gedanke offen ausklingen zu lassen, damit sie weiter wirken und sich weiter entwickeln können. An entscheidenden Stellen verzichte ich deshalb manchmal auf den Punkt. 

Nichts ist so diffizil wie der Kosmos Familie. In keinem Gefüge ist so viel Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Nähe wichtig und Teil dieses Kosmos. Ausgerechnet in dieser ultimativen Intimität geschehen Übergriffe, die Wunden verursachen, die nie vernarben. Als ich das Abenteuer „Familie“ startete, war ich 23, meine Frau 21. Aus heutiger Sicht erscheint das beinahe fahrlässig, denn fast alles, was wir taten, geschah aus Intuition. In der Schweiz gibt es Ehevorbereitungskurse. Müsste es nicht viel mehr Familienvorbereitungskurse geben?
Eine optimale Vorbereitung auf das Leben ist eine schöne Idee und unbedingt zu verfolgen! Aber das Leben ist zu gross, zu kräftig, zu unberechenbar, um es in seiner Vielfältigkeit zu erfassen, geschweige denn zu antizipieren. Und Erfahrungen sind schwer vermittelbar. So stolpern wir im Grunde alle mehr oder minder unvorbereitet und oft auch stümperhaft durchs Leben. Als Individuum wie als Gesellschaft. Wir sind alle nicht vorbereitet auf ein Leben im 21. Jhdt.

Beklemmend bei der Lektüre ist die Einsamkeit der Protagonistin. Ich nehme an, dass sie in der Recherche mit vielen Betroffenen gesprochen haben. Wie schafften diese es, aus dem Bannkreis des Schweigens herauszutreten?
Durch die Tabuisierung des Themas spalten wir auch die Betroffenen von der Gesellschaft ab. 
Verschwiegene Geschichten trennen. Erzählte Geschichten verbinden. 
Die Erzählung ist der Weg aus der Isolation. 

Die Liebe zwischen Kindern und Eltern, Eltern und Kindern ist eine ganz eigene. Kinder überhöhen ihre Eltern, Eltern kompensieren durch ihre Kinder. Würde man in ihrem Buch alle unguten Szenen schwärzen, käme erst im zweiten Teil ein kritischer Blick zum Vorschein. Kinder lieben bedingungslos. Und ausgerechnet diese kindliche Bedingungslosigkeit wirkt bis ins Erwachsensein. Die Vertreibung aus dem Paradies?
Im Laufe des Individuationsprozesses muss jeder reflektierte Mensch sicher gehen, nicht nur ein Märchen zu sein, das die eigenen Eltern ihm erzählt haben. Und er muss die Welt auf dasselbe überprüfen. 
In Fällen glücklicher Kindheiten mag dies einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. 
Eine Desillusionierung ist es jedenfalls. 
Aber in vielen Fällen ist es wohl auch die Eröffnung neuer, besserer Welten. 

Katharina Winkler, 1979 in Wien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Mit «Blauschmuck» (Suhrkamp) erschien 2016 ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Das Buch wurde in sechs Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den baskischen Buchpreis Premio Euskadi de Plata für den besten deutschsprachigen Roman sowie den französischen Prix du premier roman étranger 2017, den Preis für das beste fremdsprachige Debüt. 

Beitragsbild © Bernhard Schir

Annie Ernaux „Eine Leidenschaft“, Suhrkamp

Sie hat es wieder getan, tut es immer wieder und reisst mich mit. Diesmal mit einer Leidenschaft, die für einmal ganz wörtlich zu nehmen ist. Annie Ernaux erzählt vom langen Erwarten, von leidenschaftlicher Hingabe an kurze Momente und von den Sturmschäden, die diese Leidenschaft hinterlässt.

Es war wohl nicht jene Liebe, von der wir uns so gerne erzählen, von Zweisamkeit, Treue und echter Zuwendung. Sie lernt einen Mann kennen, gibt ihm in ihrer Erzählung nur die Initiale A. Vielleicht weil der Mann ersetzbar wäre und es nicht er selbst ist, der sie erzählen lässt. Er sieht gut aus, ein bisschen wie Alain Delon. Aber er ist kein Franzose, immer wieder unterwegs wegen seiner Arbeit, verheiratet und ohne Absicht, sich in jener Zeit wegen dieser Leidenschaft von seiner Frau zu trennen. Und er trinkt. Oft riecht sein Atem bei ihren hitzigen Treffen von Alkoholischem. Aber sie nimmt alles in Kauf, weil es nicht der Mann ist, der der Leidenschaft den Boden gibt. Es sind ihre Gefühle selbst, dieses Eintauchen in einen Rausch, der sie ausfüllt und einnimmt, ihr ganzes Sein durchsetzt, ihr Tun ausrichtet, den Alltag überstrahlt.

Annie Ernaux «Eine Leidenschaft», Bibliothek Suhrkamp 1553, 2024, aus dem Französischen von Sonja Finck, 80 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-518-22553-0

Die Erzählperspektive ist es, die mich bei der Lektüre fasziniert. Annie Ernaux schreibt nur rudimentär über jenen Mann. Selbst die Beschreibungen seines Körpers bleiben seltsam sachlich, genauso die Beschreibungen dessen, was in jenen aufgeheizten Momenten der körperlichen Leidenschaft in Hotelzimmern oder sonst wo passiert. Es ist diese Ratlosigkeit über sich selbst, die Erkenntnis, dass mit Ratio nichts zu erreichen ist, dass Leidenschaft einem passiert, dass sie wegreisst, die Vernunft auf der Strecke lässt. Deshalb ist ihr Erzählen auch in keiner Weise exhibitionistisch. „Eine Leidenschaft“ ist ein Erklärungsversuch, keine Analyse, aber der Versuch einer Einordnung.

Annie Ernauxs damalige Leidenschaft bestand fast nur aus Warten und Erwarten. Ein überlanges Vorspiel auf einen ekstatischen Höhepunkt. Mag sein, dass der beschriebene Sex damals, als das Buch vor 30 Jahren in Frankreich erschien, als obszön und pornografisch empfunden wurde. Heute lesen sich jene Szenen seltsam distanziert und sachlich. Annie Ernaux baut ihren Text nicht um jene Szenerien, sondern um die Auswirkungen dessen, was das Warten und Erwarten mit ihr macht. Den tatsächlichen Wunsch nach Erfüllung scheint es nicht zu geben. Ernaux spürt dieser Entrückung nach, diesem Zustand, der sich fast ganz von der Vernunft abkoppeln kann, der ebenso viel Erfüllung erreichen kann wie die Entladung, der Orgasmus selbst.

Annie Ernaux ist ein Phänomen, nicht nur sie selbst, ihr Schreiben, sondern auch das Verhalten all jener, die ihre Bücher kaufen und die Schriftstellerin durch ein Leben begleiten, dass die Autorin offenherzig, ehrlich ausbreitet. Nicht das Leben einer Heldin, sondern das einer Frau, die in ihrem Leben genug Anlass gehabt hätte zu resignieren. Wer einmal in den Sog dieser Autorin geraten ist, kann sich dem nur schwer entziehen, wenn wieder ein schmucker Band aus der Bibliothek Suhrkamp erschienen ist.

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Rezensionen auf literaturblatt.ch: «Das Ereignis» (2021), «Eine Frau» (2019), «Der Platz» (2022)

Beitragsbild © Heike Steinweg

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt

Schauspielerinnen und Schauspieler, die irgendwann mit dem Schreiben beginnen, gibt es viele. Aber nur ganz selten genügt das Buch auch einem literarischen Anspruch. Auch wenn der überaus erfolgreiche Schauspieler Jörg Hartmann „noch mitten im Leben steht“, ist sein Romandebüt „Der Lärm des Lebens“ zum einen ein Resümee, zum andern eine durchaus pointierte Auseinandersetzung mit den letzten fünf Jahrzehnten deutscher Geschichte.

Mitten in der endlosen Diskussion darüber, wie sehr sich in der Literatur die Fiktion der Geschichte, den (scheinbaren) Fakten bedienen kann, ist eine Auseinandersetzung eines Mannes mit seinem Leben, seinen Nächsten, ganz erfrischend. Auch wenn da im Schreiben ganz unweigerlich die eine oder andere Portion Fiktion in sein Buch hineinrutscht (Das tun alle, wenn sie ihre Geschichte nacherzählen), dreht sich der Roman ganz persönlich um die Frage, was denn wirklich wichtig ist im Leben. Bin ich der, der ich sein soll? Bin ich so, wie ich sein soll? Und bin ich dort, wo ich sein soll?

Jörg Hartmann wächst im Ruhrpott auf, in der Kleinstadt Herdecke, unweit von Dortmund. Und genau davon erzählt Jörg Hartmann in seinem Buch. Ursprung seines Schreibens war die Demenz und der Tod seines Vaters. Das erlebte Wissen darum, wie viele Erinnerungen mit dem Tod eines Menschen unwiederbringlich verloren gehen. Nicht nur jene des Vaters, sondern all jene in der langen Kette davor. Was man alles versäumt hat oder hätte anders machen müssen oder sollen. „Der Lärm des Lebens“ ist eine Reise, jene durch die Kindheit des Erzählers, vom drängenden Wunsch, Schauspieler zu werden, von den vielen Versuchen, sich als Schauspielschüler genau dorthin zu begeben, wo die Epizentren des deutschen Schauspiels zu erobern sind, von den Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, stets dort zu fehlen, wo es als Mann, Vater oder Sohn nötig wäre, wirklich da zu sein.

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0198-1

Man rät ihm, dem Schauspieler: „Tu immer nur das, was du verantworten kannst.“ Ein Rat, der ihm in der Art und Weise seines künstlerischen Schaffens zur Maxime wird. Ein Rat, der ihm in seinem Familienleben seine Grenzen zeigt. Eine Tatsache, die all jene kennen, die ihre Lebenszeit an mehrere Pflichten aufzuteilen haben; Familie, Ehe, Beruf, Gesellschaftliches.

Der Erzähler wächst im biederen kleinstädtischen Deutschland auf, geprägt von einem Vater, der als Handballer eine Karriere hinter sich hat, fest verankert im gesellschaftlichen Leben der Kleinstadt ist und nichts mehr erhofft, als dass der Sohn in seine (sportlichen) Fussstapfen tritt. Ein väterlicher Wunsch, den der Sohn durchaus zu erfüllen versucht, aber schon in seinen Anfängen kläglich scheitert. Es muss eine andere Rolle sein, am liebsten die Rolle eines Schauspielers. Und diese Rolle findet der Erzähler nicht in seiner kleinen Stadt. Eine Reise beginnt, eine Reise, in der er sich aber auch von seinem Ursprung entfernt. Auch eine Reise weg von seiner Familie.

Jörg Hartmann nimmt die gesellschaftlichen und politischen Beben Deutschlands mit in seinen Roman; vom Mauerfall bis zur Pandemie. „Der Lärm des Lebens“ ist mit Nichten ein sentimentaler Blick auf die Vergangenheit, ganz im Gegenteil. Jörg Hartmanns Blick ist ein kritischer, zuweilen emotional auch ein ziemlich aufgeladener. Der Blick auf ein lärmiges Leben, dessen Takt mit zunehmendem Alter immer weniger dem eigenen entspricht.

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Beitragsbild © Silvia Medina

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz

Tarjei Vesaas ist einer der Grossen der norwegischen Literatur. Aber vielleicht ist Tarjei Vesaas mehr. Karl Ove Knausgård bezeichnete „Die Vögel“ einmal als den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Dass der Guggolz Verlag die Romane Tarjei Vesaas in so wunderbaren Ausgaben, meisterhaft übersetzt und wunderschön als Buch, verdienstvoll herausbringt, ist ein grosses Glück – und „Die Vögel“ eine Offenbarung.

Nach seinem Tod 1970 geriet Tarjei Vesaas international in Vergessenheit, obwohl man ihn zu Lebzeiten immer wieder als Anwärter für den Nobelpreis machte. Vielleicht liegt unser Glück darin, dass Karl Ove Knausgård den Autor immer und immer wieder auf einen Sockel stellte, oder in der Tatsache, dass sich seine Romane um das Archaische drehen, so gar nichts mit dem flirrenden Zeitgeist zu tun haben und sich doch um urmenschliche Gefühle und grundlegende Fragen drehen. Vielleicht liegt die Faszination dieser Romane auch in der Nähe zur Natur, in einer Sehnsucht, die angesichts der menschgemachten, klimatischen Bedrohungen immer deutlicher nach Nahrung sucht. Aber vielleicht ist es auch ganz einfach die unbestreitbare Fähigkeit des Autors, in unnachahmlicher Weise Beziehungen, Szenerien und Innenwelten zu beschreiben.
„Die Vögel“ schreibt sich in die Welt eines noch jungen Mannes, der sich in seiner begrenzen Welt mehr und mehr an den Rand, an den Abgrund gedrängt fühlt. Ein Mann, dessen Welt abdriftet, eine Welt, die sich mit der aller anderen streitet, nichts Gemeinsames mehr findet. Tarjei Vesaas beschreibt einen Zustand, der seit der Pandemie auch in der Gesellschaft grassiert.

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz, 2020, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Judith Hermann, 275 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-945370-28-5

Mattis lebt mit seiner älteren Schwester Hege allein in einem kleinen Haus irgendwo in Norwegen, über einem See, nicht weit vom Wald, aber abgeschottet vom nahen Dorf. Mattis ist anders. Seine Welt ist klein. Im Dorf schimpft man ihn einen Dussel. Einer festen Arbeit geht er nicht nach. Vielmehr versinkt er immer wieder in stillen Versuchen, eine Antwort auf seine ganz eigenen Fragen zu finden. Hege, nach dem frühen Tod ihrer Eltern, sorgt für ihn, verdient das wenige Geld, das sie über Wasser hält mit Strickarbeiten. Hege ist hängen geblieben; das kleine Haus, die Abgeschiedenheit, die tägliche Sorge um ein Auskommen und Mattis. Manchmal taucht Mattis im Dorf auf, kauft sich im Kaufhaus Bonbons oder sucht nach den Ermahnungen seiner Schwester Arbeit, die ihn aber meist überfordert, auch wenn ihn der eine oder andere Bauer ein paar Stunden gewähren lässt.

Dafür sitzt Mattis viel am See oder in seinem alten Ruderboot und denkt nach, versucht seine Welt zu ergründen und jene seiner Schwester Hege – eine kleine Welt mit grossen Fragen. Mattis sieht und hört aber auch die Stimmen und Zeichen der Natur. Zuallererst die Vögel, Schnepfen, die in diesem Jahr viel früher ihre Bahnen übers Haus ziehen. Er versteht den jungen Jäger aus dem Dorf nicht, der eine dieser Schnepfen vom Himmel schiesst. Mattis fürchtet sich vor Gewittern, dem Blitz, der eines Tages einen der beiden verdorrten Bäume nicht weit vom Haus zerschlägt, zwei Bäume, die man bis ins Dorf Mattis-und-Hege nennt. Mattis ist überzeugt, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass sich die Dinge verändern werden. Und es wächst die Angst, dass alles, was sich verändert, zu seinen Ungunsten sein könnte, allein schon deshalb, weil niemand verstehen will, nicht einmal Hege.

Nach seinem Entschluss, nun doch Fährmann über See zu werden, auch wenn niemand darauf gewartet hat, und tatsächlich ein erster Gast auftaucht, der nach seinen Diensten fragt und nach nasser Überfahrt nach einer Unterkunft fragt, nachdem ihn zwei junge Mädchen von der Insel retten und diese Rettung zur triumphalen Einfahrt in den Dorfhafen wird, scheint sich für Mattis alles zum Guten zu wenden. Wenn nur Jørgen, der Holzfäller, den er über den See brachte, sich nicht im Zimmer unter dem Dach einquartiert hätte.
Mit einem Mal glaubt Mattis, die Zeichen stehen gegen ihn, Hege würde sich von ihm abwenden, gegen ihn entscheiden.

Was Tarjei Vesaas an Atmosphäre in diesen Roman hineinbringt, wie gut er sich in Mattis, einen Dussel, seine Welt, seine Sicht, seine Gefühle hineinversetzen kann, wie nah er sich in diesen Dussel hineinversetzt, ohne nur in einem Nebensatz einen solchen aus ihm zu machen, wie perfekt er die Dramatik in seiner Geschichte wachsen lässt, ist ausserordentlich. Mattis versucht seine Welt zu lesen, er sucht nach Erklärungen. Hege, seine Schwester, lebt unter dem gleichen Dach, auf der Schwelle zu einer ganz anderen Welt. Und die Tatsache, dass sie die Welt ganz anders liest, schmerzt Mattis bis aufs Mark.

Ein aussergewöhnliches Buch eines aussergewöhnlichen Dichters!

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten «Das Eis-Schloss», für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und «Die Vögel», das Karl-Ove Knausgård als «besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde» bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Rolf Chr. Ulrichsen

Caroline Wahl «Windstärke 17», DuMont

Stürme toben nicht nur auf See und Land. In „Windstärke 17“ erzählt Caroline Wahl von einem nicht enden wollenden Sturm in einer jungen Frau. Einem Sturm, den sie überall hin mit sich trägt, dem nicht zu entfliehen ist. Ein eindringlicher Roman über das Gewicht einer vermeintlichen Schuld und vergeblichen Fluchtversuchen, am wenigsten vor der Familie.

Man muss Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ nicht gelesen haben, um „Windstärke 27“ geniessen zu können, auch wenn das Personal das gleiche ist. War die Protagonistin in „22 Bahnen“ Tilda, die ältere der beiden Schwestern, so ist es in „Windstärke 17“ Ida. Ida haut ab, hat ihre Sachen gepackt, zumindest das, was sie in den marineblauen Hartschalenkoffer ihrer Mutter packen kann. Wichtigstes Gepäckstück im Koffer ist Ida MacBook, denn Ida möchte schreiben, auch wenn es damit nur noch zäh voranging. So wie alles in einer zähflüssigen Suppe zu versinken drohte und Ida sich nur noch mit Flucht zu helfen weiss.

Seit ein paar Tagen ist Tildas und Idas Mutter tot. Ida war nicht einmal mehr fähig, zur Beisetzung ihrer Mutter zu erscheinen, obwohl sie bis zum bitteren Ende ihrer alkoholkranken Mutter an ihrer Seite war, wenn auch im allerletzten Moment doch nicht. Ihre Mutter hatte alles aufgeräumt und sich zum Sterben hingelegt, als sie alleine war. Auch dies eine Flucht. Und weil Ida spürt, dass ihr die Stadt, die sie mit ihrer Mutter teilte, wie ein schwerer Stein am Hals zieht, muss sie weg. Eigentlich war ausgemacht, dass sie zu ihrer verheirateten Schwester Tilda nach Hamburg fährt. Aber weil da ein anderer Zug stand und Ida nichts zu ihrer Schwester zog, stieg sie ein und fuhr über Hamburg hinaus bis auf Rügen, wo sie in einem kleinen Kaff am Meer eine Stelle in der Robbe findet, einer schummrigen Kneipe. Der Laden gehört Knut, der eigentlich nie spontan Fremde einstellt. Aber da ist etwas zwischen Ida und Knut, etwas, dass aus Knut bald Opa Knut macht.

Caroline Wahl «Windstärke 17», DuMont, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8321-6841-4

Nach einem Schwächeanfall von Ida lädt Knut die junge Frau zu sich nach Hause ein, in ein Zimmer, das mit ‚Mandy‘ angeschrieben ist. Bald stellt sich heraus, dass auch im Haus von Knut ein Sturm wütet, wenn auch ein ganz anderer. Knuts Frau Marianne ist totkrank, voller Methastasen, vorbereitet darauf, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird. Unweigerlich gerät Ida in ein Gefüge, das sie erneut vor die Frage stellt, ob sie bleiben kann oder fliehen muss. Sie lernt Leif kennen, der sich bis vor ein paar Wochen noch als DJ sein Geld verdiente, der sich wie Ida auf der Insel neu zu finden versucht. Idas Stürme reissen an ihr; ihre Mutter, die sich nicht erst mit ihrem Sterben von ihr entfernt, ihre Schwester, die Ida permanent mit schlechtem Gewissen füttert, Knut und Marianne, die sich in ihrer Endlichkeit zurechtfinden müssen und diese Gefühle, die sie für Leif empfindet, die nur zuzudecken scheinen.

Caroline Wahl beschreibt diesen Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, den Kloss aus Wut und Zorn und den nagenden Schmerz, jenen entscheidenden Moment im Leben versäumt zu haben, jene Momente mit der Mutter, jene Momente mit ihrem Traum vom Schreiben, dem drohenden Moment mit Marianne, die ihr etwas schenkt, was sie von ihrer Mutter nie bekommen hatte.

Manchmal schwimmt Ida weit hinaus. Manchmal gar über eine Grenze hinaus. Wo sind die Momente, von denen es kein Zurück mehr gibt? Wie schafft man es, den immer wieder aufflammenden Sturm in seinem Innern unter Kontrolle zu bringen? Schafft man das alleine? Wie befreit man sich vom äzenden Schmerz vermeindlicher Schuld? Caroline Wahls Roman ist die intensive Auseinandersetzung mit der gebeutelten Innenwelt einer jungen Frau. Dabei inszeniert die junge Autorin stilsicher und gekonnt und überzeugt nicht zuletzt durch treffende Dialoge und einen erstaunlich ruhigen Fluss des Erzählens.

Nachdem «22 Bahnen» im Rahmen der Frankfurter Buchmesse bereits zum «Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023» gekürt wurde, ist Caroline Wahls Debütroman nun auch «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2024».

Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman «22 Bahnen» bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ausserdem wurde «22 Bahnen» Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.

Beitragsbild © Frederike Wetzels

Dacia Maraini «Tage im August», Folio

Als Grande Dame der Italienischen Literatur 1962 als 26jährige ihr Debüt „La vacanza“ auf den Markt brachte, schlug das Buch ein wie eine Bombe und löste einen Skandal aus. Über 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat dieser Roman nichts von seinem Glanz, seiner Einzigartigkeit verloren.

Dacia Maraini ist auch mit ihren 87 Jahren noch immer eine Kämpferin für die Sache der Frau, auch wenn sie sich von gewissen Strömungen der Gegenwart distanziert. Sie stellt Frauen ins Zentrum, die sich aus ihren vorgeschriebenen Rollen befreien wollen. Dacia Marainis erster Roman „Tage im August“ stellt eine junge Frau ins Zentrum, die ihr Leben, ihre Entdeckungsreise des Lebens, ihre Sexualität selbstbestimmt und eigenständig erobern will. „Tage im August» spielt in den Sommerferien 1943 am Meer. Die Welt ist im Umbruch. Die Alliierten haben sich im Süden Italiens festgesetzt. Mussolini tut alles, um an der Macht zu bleiben, aber die Allianz mit Nazideutschland bröckelt, auch wenn noch immer italienische Soldaten an die Fronten im Norden entsandt werden. Immer wieder dröhnen amrikanische Bomber über den Strand Richtung Rom.

Dacia Maraini «Tage im August», Folio, 2024, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 235 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-894-2

Für die Sommerferien darf Anna das Internat in der Stadt verlassen. Sie wird mit dem Motorrad von ihrem Vater abgeholt, der ihr unterwegs nach Hause befiehlt, mit der neuen Mutter freundlich zu sein. Wenn sie nicht zuhause ist, erkundet sie den Strand, hängt mit Gleichaltrigen herum und probiert die Wirkung ihrer Erscheinung auf all die gierigen Blicke vieler älterer Männer aus. Anna ist 14 und will wissen, was aus den Momenten am Strand zu holen ist. Sie ist alles andere als vorsichtig und zurückhaltend. Ich begleite Anna in Situationen, die mehr als nur knistern und jederzeit entgleiten könnten. Und doch bleibt Anna passiv, ihrer Wirkung aber voll bewusst. Nichts von der damals noch weitverbreiteten Vorstellung, ein junges Mädchen hätte die schiere Pflicht, vorsichtig und zurückhaltend, brav und anständig zu sein. Ihre Selbstbestimmtheit ist ihr Privileg. So ganz anders, als das, was man(n) damals wie heute noch vom Frausein erwartet.

In Dacia Marainis Roman scheint es kein Morgen zu geben. Weil man im tiefsten Innern weiss, dass bald kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wiederholt man mantraartig, dass der Krieg nicht mehr lange dauern wird. Was auf den italienischen Faschismus folgen wird, auf die drohende Niederlage, den Zusammenbruch des momentanen Machtgefüges, damit will man sich nicht auseinandersetzen. Nicht einmal Annas Vater, der als Werkstattchef in der Wohnung unter seinem Chef lebt und seine neue Frau regelrecht bändigen muss, weil diese den Umsturz auch in der kleinen Firma wittert, ein Umsturz zu ihren Gunsten. Man lebt mit permanenter Angst, die jungen Männer mit der, doch noch eingezogen zu werden, die Einwohner vor den drohenden Bomben und viele mit dem Untergang der aktuell Mächtigen die zu erwartenden Konsequenzen.

Dacia Maraini erzählt in „Tage im August“ konsequent aus der Sicht einer ganz jungen Frau, (Ganz hinten im Buch steht: Auf Wunsch der Autorin wurde für diese deutsche Ausgabe das Alter der Protagonistin von elf auf vierzehn Jahre geändert.) eines Mädchens, dass sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst ist und die wissen will, was sie damit auslösen kann. Ich las den Roman mit grossem Erstaunen, denn in keiner Zeile, nicht einmal in der Art des Erzählens verrät der Roman sein Alter. Er ist so jung und frech wie damals, auch wenn er heute keinen Skandal mehr auslöst. „Tage im August“ ist unbedingt lesenswert. Man riecht ihn!

Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin, Moderatorin und Yogalehrerin.

Beitragsbild © Mauro Ruffini

Franziska Gänsler «Wie Inseln im Licht», Kein & Aber

Woran hält man sich, wenn einem der Boden unter den Füssen weggerissen wird? Was passiert, wenn alle Sicherheiten wegbrechen? Wie schon bei Franszika Gänslers Debüt „Ewig Sommer“ geht es in ihrem neuen Roman um Existenzielles. Eine junge Frau sucht nach Erklärungen und muss feststellen, dass ihr Leben auf Sand gebaut ist.

Nichts von früher hätte sich in „behütete Kindheit“ einordnen lassen. Vielleicht die innigen Momente zusammen mit ihrer kleinen Schwester Oda. Die Jahre damals im umgebauten Bauwagen am Meer in den Dünen, als Zoeys Welt aus der Zweisamkeit mit ihrer Schwester bestand, der kleinen Welt an der Küste.
Aber als vor zwanzig Jahren ihre kleine Schwester verschwand, sich das ruhige Leben am Meer mit einem Mal umstülpte, alles und jeder eine Antwort verweigerte, als sie zusammen mit ihrer Mutter zurück nach Berlin reiste in eine ihr fremde Stadt und sich das Verschwinden ihrer kleinen Schwester wie ein Alp an ihr Innerstes klebte, löschte ihre Mutter die Vergangenheit. Oda schien nicht einmal mehr in Erinnerungen zu existieren. Aber das Gefühl einer Mitschuld blieb.

„Wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf.“

Zwanzig Jahre später ist Zoey zurück an jenem Ort am Meer. Sie wartet auf die sterblichen Überreste ihrer Mutter, die sie in den vergangenen Jahren bis zur Selbstaufgabe gepflegt hatte. Ihre Freundin Ari organisiert alles, während Zoey in diesen Tagen spürt, wie sehr sie die Pflege ihrer Mutter von der Welt entfernt hatte. Aber nicht nur von der Welt. Auch von ihren Erinnerungen an die Jahre am Meer, ihren Erinnerungen an ihre kleine, verschwundene Schwester Oda. Die letzten Jahre galten ihrer Mutter und ihrer Arbeit, schlossen alles andere aus, selbst das Wissen, dass da doch eigentlich viel mehr sein müsste, nicht zuletzt ein Vater, eine Familie, ein Leben hinein in die Welt.

Franziska Gänsler «Wie Inseln im Licht», Kein & Aber, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5034-1

In den Tagen des Wartens macht sich Zoey auf die Spuren in ihren Erinnerungen. Den Campingplatz gibt es noch, auch die umgebauten Bauwagen ganz hinten vor dem Wald. Der Wagen, den sie mit ihrer Mutter und Oda bewohnte, zerfällt. Nicht so die Bilder, die wieder aufsteigen auf ihren Streifzügen durch den Ort. Sie lernt Menschen kennen, die Zweifel auslösen. Sie wagt nach zwanzig Jahren den Gang zur Polizei und muss feststellen, dass damals keine Vermisstenmeldung aufgegeben wurde. Im Archiv der örtlichen Zeitung findet sie keine Meldung, als hätte es die Katastrophe damals nicht gegeben. Das, was sie sich in den zwei Jahrzehnten des Schweigens, der Verdrängung zurechtgelegt hatte, beginnt nach und nach zu bröckeln.

„Die Mutter, Oda und ich. Wir waren ein Körper mit drei Köpfen, und der Wagen war unsere Höhle.“

Oda war fünf, Zoey sieben. Als Oda verschwand, waren sie beide allein. In Zoeys Erinnerung gingen sie zusammen in den Wald. Und Zoey kehrte allein zurück. Warum waren sie damals allein? Wer waren die Menschen, die damals im Wald waren und zumindest in ihrer Erinnerung Deutsch sprachen? Warum verliessen sie fluchtartig den Campingplatz am Meer, um nach Deutschland zurückzukehren? Warum wartete man nicht? Warum suchte man nicht? Fragen, die jetzt zu brennen beginnen. Fragen, die sich erst jetzt, nachdem Zoey sich aus der allumfassenden Umklammerung ihrer Mutter lösen kann, mit aller Vehemenz aufdrängen und Antworten fordern, Antworten, um ihr Leben wieder aufnehmen zu können.

„Ich versuche irgendwie, nicht zu ertrinken.“

„Wie Inseln im Licht“ lebt von dieser Vehemenz. Zoey spürt erst jetzt, wie sehr sich das Schweigen, das Verschweigen, das Verleugnen wie ein Gewitter über ihr zusammenzieht. Dass sie erst dann in ihr Leben zurückkehren kann, wenn Fragen beantwortet sind und sie sich an Gewissheiten festhalten kann. „Wie Inseln im Licht“ ist die Entladung dieses einen Gewitters. Ein Sturm, der durch ein Haus aus Ahnungen und Interpretationen fegt. „Wie Inseln im Licht“ ist ein Buch der Befreiung, das sich aber nicht in erster Linie auf die Auflösung bohrender Fragen fokussiert, sondern auf die Auswirkungen jenes Sturms in der gebeutelten Seele einer jungen Frau. Franziska Gänslers Roman folgt einer verschlungenen Spur nach Innen und Aussen, in einer Sprache, die von Verletzlichkeit und Sehnsucht erzählt.

Ein Buch, das man nicht so einfach zurück ins Regal schiebt!

Franziska Gänsler hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 war sie Finalistin des 28. open mike. Ihr Debütroman «Ewig Sommer» erschien 2022, er wurde ins Französische übersetzt, für diverse Preise nominiert und 2023 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur sowie mit dem Literaturförderpreis der Stadt Augsburg ausgezeichnet. Sie lebt in Augsburg und Berlin.

Beitragsbild © Bahar Kaygusuz

Maxim Leo «Wir werden jung sein», Kiepenheuer & Witsch

Weil die Kosmetikbranche alles tut, um uns glauben zu lassen, Alterungsprozesse liessen sich aufhalten oder wenigstens verzögern und die Pharmaindustrie mit Hochdruck und gewaltigen Budgets an Anti-Aging-Mitteln arbeitet, ist der gedankliche Versuch, was passieren würde, wenn ein solches Medikament kurz vor dem Durchbruch stünde, absolut dringlich. Maxim Leo tut dies mit „Wir werden jung sein“ mit viel Spannung und grosser Leidenschaft.

Manchmal überfällt mich der Gedanke an meine eigene Endlichkeit, mein Sterben, meinen Tod wie ein Gewitter, das sich direkt über mir mit aller Wucht entlädt. Je nach Alter und gesundheitlicher Situation beschäftigen wir uns mehr oder weniger, oder auch gar nicht damit. Aber wer sich durch Krankheit oder das Schicksal mit einem Mal mit seinem baldigen Ende konfrontiert sieht, dem stellen sich existenzielle Fragen. Wie keine andere Kunstform kann es die Literatur, ein Gedankenexperiment durchzuspielen; Was wäre wenn? Was wäre, wenn man mich totkrank anfragen würde, als Proband bei einer wissenschaftlichen Erprobung eines Medikaments mitzumachen, das Heilung verspricht, mein Leben verlängern könnte, aber mit noch unbekannten Nebenwirkungen einhergehen würde? Was wäre, wenn ein solches Medikament mit genau diesen Nebenwirkungen nicht nur eine Stärkung der Abwehr bewirken würde, sondern eine eigentliche Verjüngung? Was würde mit der Industrie, der Politik, unserer Gesellschaft passieren, wenn wir die Dauer unseres Lebens fast beliebig verlängern könnten? Wenn man nur ein bisschen im Internet recherchiert, scheint man nicht weit weg von der Entwicklung eines solchen Wundermittels zu sein. Maxim Leos Roman „Wir werden jung sein“ ist ein genau solches Gedankenexperiment, fein durchdacht, mit einem erstaunlich milden Ausgang.

Professor Doktor Martin Mosländer arbeitet seit Jahren in seinem Labor im Institut für Biowissenschaften an der Berliner Charité an einem Medikament, das kranke Herzmuskelzellen regenerieren und sogar in der Lage sein soll, das Wachstum neuer Zellen anzuregen. Sein Ziel; chronische Herzmuskelschwächen, die bisher als nicht behandelbar galten, zu kurieren. Für einen ersten „Feldversuch“ im kleinen verabreicht Mosländer sein vielversprechendes Medikament fünf Proband*innen: dem Teenager Jakob, der eben zum ersten Mal sein Herz verlor, Jenny, die seit vielen Jahren alles daran setzt, schwanger zu werden, Verena, einer ehemaligen Schwimm-Olympiasiegerin, Wenger, einem schwerreichen Immobilienmogul, der es gewohnt ist, sein Tun zum Gesetz zu erklären und sich selbst, weil er fand, ein echter Forscher dürfe nicht anderen unerprobte Mittel verabreichen, ohne sie selbst einzunehmen. Selbst seinen in die Jahre gekommenen Collie Charles hat er von dem Medikament unter das Futter gemischt.

Das mit der Jugend (…) funktioniert leider nicht. (…) Weil Jugend vor allem im Kopf stattfindet. Man bekommt die Begeisterung nicht zurück, die Naivität, die Neugier. Und diese ständigen ersten Male.

Maxim Leo «Wir werden jung sein», Kiepenheuer & Witsch, 2024, 304, CHF ca. 35.90, ISBN: 978-3-462-00375-8

Was auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt und nicht nur bei Mosländer und seinen Proband*innen Euphorie und Hoffnung weckt, wächst sich schnell durch seine unvorhersehbaren Konsequenzen ins Unberechenbare aus. Was für den herzkranken Wenger, der bereits sein Ableben akribisch vorbereitete, wie ein Geschenk erscheint, dem jungen Jakob mit einem Mal seine erst erwachende Manneskraft raubt, der Schwimmerin ganz unerwartet zu sportlichen Höhenflügen verhilft, stürzt die noch junge Jenny in ihrem Wunsch nach Familienglück in eine existentielle Zwickmühle und Mosländer vor fast unlösbare Probleme, nicht nur medizinischer Art. Der vermeindliche Erfolg des Medikaments lässt sich nicht geheim halten und löst eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus. Nicht nur, dass sich die Pharmaindustrie, die Wissenschaft global dafür zu interessieren beginnt. Auch zwielichtige Organisationen wittern das grosse Geschäft. Aus den Proband*innen voller Hoffnungen werden Gejagte. Die Situation kollabiert.

„Es war so, als hätte man einen Motor in ein Auto eingebaut, ohne zu wissen, wo sich das Gaspedal und die Bremse befanden.“

Was geschieht, wenn Menschen ihre Lebensdauer aktiv in die Länge ziehen können? Wenn ein Medikament berechenbaren Aufschub verspricht? Wenn Zeit mit einem Mal nur noch eine untergeordnet Rolle spielt? Wenn die Menschheit sich nicht mehr durch Geburten erneuern muss? Immer wieder kam es in der Wissenschaft zu Entdeckungen, die Kolossales versprachen, in ihren „Nebenwirkungen“ aber katastrophale Wirkungen erzielten. Warum tickt der Mensch aus, wenn er Licht am Ende eines Tunnels sieht? Maxim Leo stellt sich diesen Fragen, hängt sie ganz unmittelbar an das Leben seiner Proband*innen. Auch wenn ich dem Buch einen etwas weniger schlacksigen Ton gewünscht hätte und ich dem Ende etwas mehr Pepp, ist „Wir werden jung sein“ eine Fragestellung, die sich aufdrängt!

Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sven Görlich