In wenigen Worten viel zu sagen, wär schon Kunst genug. Aber Lukas Holliger reisst mit wenigen Sätzen Horizonte auf, schlägt wilde Kapriolen, untergräbt die Realität mit Witz und Schalk.
Thommy ist hingefallen. Die Füsse unpraktisch verdreht. Hätte das Nachdenken nicht gefehlt, wäre er nicht hingefallen. Aber hätte das Nachdenken gefehlt, wäre das das Hinfallen gewesen. „Mensch mit Senf“ ist nach „Glas im Bauch“ und „Unruhen“ der dritte Band in einer Reihe, die mit Zeichnungen des Autors bei der Edition Meerauge erscheint. Einer Reihe mit einer kleinen kreisrunden Öffnung im Cover mit Blick auf das rote Vorsatzpapier des Buches. Ein Auge, ein Meerauge, vielleicht sogar ein Mehrauge, denn Lukas Holliger scheint genau dieses zu besitzen. Ein Auge mehr, den Blick durch und über die Realität hinaus. Den Protagonist*innen in seinen Miniaturen geschieht genau das, was den Figuren in seinen Zeichnungen geschieht; sie lösen sich auf, sie verweigern sich der Wirklichkeit und zeigen Linien darüber hinaus. Sie zwingen mich zu einem zweiten Blick, sperren sich der Logik. Sie tun in ihrer erfrischenden Art genau das, was sich der Zwang zur Authentizität verbaut. Weder seine Miniaturen noch seine Zeichnungen sind Abbilder dessen, was überall sonst abgebildet wird.
Franz wurde befohlen, was er ohnehin hätte tun wollen. Nach Jahren verwechselte selbst er diese Zufälligkeit mit Unterwürfigkeit. Ich spüre die Lust des Autors. Er missachtet jede Grenze, jedes Mass. Beides, Geschichten und Zeichnungen zwingen mich zur Reflexion, spielen mit Gedanken. Spuren eines Nachdenkers, eines Beobachters, der sich nicht begnügt, nachzuerzählen, abzubilden, aufzuzeigen. „Mensch mit Senf“ ist eine Sammlung von Aufforderungen, die Welt nicht todernst zu nehmen. Miniaturen mit wenigen Strichen hinein ins Surreale und darüber hinaus. Bei seinen Zeichnungen ist man an Tomi Ungerer erinnert. Nichts ist zu viel, bei Texten und Zeichnungen alles bis zu absolut Minimalen reduziert. Fast alles liegt beim Betrachter.
Zufällig, beim Kleiderkauf, bewegt sich in Gabis Augenwinkel eine andere Kundin synchron. Als sich das Spiegelbild verselbstständigt, erschrickt Gabi zu Tode.
Lukas Holliger «Mensch mit Senf», Edition Meerauge, 2025, Prosaminiaturen und Zeichungen, 160 Seiten, CHF 23.00, ISBN 978-3-7084-0710-4
Lukas Holliger, geboren 1971, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte, lebt und arbeitet in Basel als Kultur- respektive Satireredaktor beim Radio SRF sowie als Autor von Prosa, zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Libretti. 2015 erschien Holligers Prosadebüt Glas im Bauch (Edition Meerauge) mit Kurz- und Kürzestgeschichten, 2017 sein erster Roman Das kürzere Leben des Klaus Halm (Zytglogge), der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. 2021 folgte der Erzählband Unruhen (Edition Meerauge), 2024 der Roman 1983 – Verfluchte Hitze (Rotpunktverlag).
Wenn Amir auf seine Uhr schaut, möchte er nie wissen, wie spät es ist, sondern wie lange sein Leben noch dauert. Webseite des Autors
„Lorna“ ist eine berührende Novelle über eine junge Frau, die ihr Leben an die Wand fährt, die Unfähigkeit einer Gesellschaft, auf die Krankheit dieser jungen Frau zu reagieren und eine erste Liebe, die daran erstickt. Paul Maar hat ein zartes Buch geschrieben, dessen Tiefe einem während der Lektüre mehr und mehr in die Knochen fährt.
Generationen kennen den Schriftsteller Paul Maar wegen seiner „Sams“-Bücher. Eine Kinderbuchreihe über ein eigenwilliges Wesen mit Rüsselnase, blauen Wunschpunkten im Gesicht und wild abstehenden, borstenähnlichen Haaren. Geschichten, aus denen Theaterstücke und Spielfilme entstanden, die im Kino zu Erfolgen wurden. Ein Kinderbuchklassiker, der in jede Kinderbibliothek gehört.
Dass Paul Maar aber auch in ganz anderer Tonalität erzählen kann, beweist er mit seinen Romanen für Erwachsene – ganz eindrücklich mit seiner Novelle „Lorna“. Ganz offensichtlich hat Paul Maar den Stoff lange mit sich herumgetragen. Auch wenn es scheint, als würde der Autor eine Geschichte aus seiner Jugend erzählen, in der Biographie der Protagonisten gibt es einige Parallelen zum Leben des Schriftstellers, spiegelt Paul Maar die Geschichte seiner Schwester, die an einer bipolaren Störung litt, wegen mehrer Bandstiftungen in der Klinik landete. Erfahrungen, die den jungen Bruder damals ratlos machten und verunsicherten. Erfahrungen, die nach einer literarischen Verarbeitung riefen und dem Buch eine Feinheit geben, eine Tiefe, die als reine Fiktion wohl niemals so „funktioniert“ hätte.
Paul Maar «Lorna», S. Fischer, 2025, 112 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397700-4
Lorna und Markus, der junge Erzähler, wachsen im gleichen Quartier auf. Fast alle in der Clique um Lorna waren in das Mädchen verliebt. Vielleicht wegen ihrer roten Haare, vielleicht wegen ihrer grünen Augen, aber vielleicht auch deshalb, weil sich Lorna so ganz anders gebärdete wie die anderen Mädchen aus der Siedlung. Lorna und er wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus, auf der selben Etage, beides Familien ohne Väter. Lornas Haarfarbe wohl ein Teil ihres Vaters, einem britischen Soldaten, der sich vor der Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Markus verliebt sich schleichend in das Mädchen, über die Jahre immer mehr, weil Lorna zu einem Fixstern in seinem Leben wird, auch wenn dieser Fixstern keine feste Umlaufbahn zu haben scheint, und Lornas Erwiderungen von voller Zuwendung bis totaler Abweisung eiern.
Erst recht, als sich die beiden selbstständig zu machen versuchen, zusammen mit einer Freundin eine WG gründen. Markus studiert, wie der Autor in seiner Jugend auch, an der Kunstakademie, Lorna Psychologie und Sozialpädagogik. Lorna und Markus werden immer mehr zu Gegenpolen. Während Lornas Leben unstet von Mann zu Mann, von Zustand zu Zustand pendelt, versucht Markus alles, um indirekt auch seiner Freundin eine Richtung zu geben. Markus nennt Lornas Zustände „Manie“, schon deshalb, weil ihm niemand helfen kann, die Kapriolen seiner Freundin einzuordnen. Erst recht, als man Lorna nach einem ersten Versuch, in der WG ein Feuer zu legen, in die Geschlossene einliefert und Markus bei seinen Besuchen feststellen muss, dass die sedierte Lorna nur noch ein Schatten ihrer selbst geworden ist. Sie war wirklich nicht mehr die Lorna, in die ich mich verliebt hatte. Mir schien es, als hätte sie ihr Gehirn umgestülpt und damit einer anderen Persönlichkeit Zutritt zu ihrem Körper verschafft. Ein Zustand, der in Zeiten, in denen sie auf verschiedste Weisen aus der Klinik freikommt, mit Euphorie und maximaler Zuwendung kippt. Bis die absehbare Katastrophe eintritt.
Was zu Beginn der Novelle wie eine leichte Sommer-Liebesgeschichte beginnt, wird im Laufe der Lektüre immer mehr zu einer Erzählung, in der permanter Schmerz und unlösbare Verzweiflung mitschwingen. Da ist nicht nur Schmerz und Verzweiflung in einer jungen Liebe, sondern mehr und mehr jene im Zustand der absoluten Hilflosigkeit. Schon der rudimentäre Versuch, mit dem Begriff „Manie“ Lornas Zuständen einen Namen zu geben! Da ist auch der Schmerz darüber, dass weder er noch die Medizin der jungen Frau helfen können, dass man sie von der Polizei abholen lassen muss und mit Medikamenten ruhigstellt. Dass man all die Brandstiftungen nicht zu lesen weiss.
Paul Maar hat sich mir tief in die Seele geschrieben.
Paul Maar ist einer der beliebtesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren. Geboren 1937 in Schweinfurt, arbeitete er nach einem Studium der Malerei und Kunstgeschichte zunächst als Lehrer an einem Gymnasium, bevor er sich als freier Autor und Illustrator ganz auf seine künstlerische Arbeit konzentrierte. Nach rund vierzig Büchern und Theaterstücken für junge Leserinnen und Leser erschienen bei S. Fischer seine «Erwachsenenbücher» «Wie alles kam. Roman meiner Kindheit» und «Ein Hund mit Flügeln». Maars Werk wurde vielfach gewürdigt, unter anderem mit dem E. T. A.-Hoffmann-Preis und dem Friedrich-Rückert-Preis. Etliche Schulen tragen seinen Namen.
Manchmal erbt man „Dinge“, die man nicht verweigern kann. Von Generation zu Generation. Und wenn es nur die Angst davor ist, Opfer zu werden von etwas, was sich in der Abfolge der Generationen wie eine genetische Unverückbarkeit festgesetzt hat. Leon Engler erzählt in seinem Romandebüt von einen jungen Mann und seiner Angst, verrückt werden zu müssen.
Als seine Mutter stirbt, bleiben sieben Kartons in einem Lagerabteil in Wien. Die falschen Kartons, denn alles, womit man die Schulden seiner Mutter noch hätte begleichen können, wanderte in die Müllverbrennung. Übrig blieben sieben Kartons mit Dingen, die seine Mutter aussortiert hatte; alte Rechnungen, Steuererklärungen, ungeöffnete Briefe, Müll. Als er seine Mutter zum letzten Mal in der Wohnung besuchte, bevor sie nach der Zwangsräumung in die Klinik kam, war die Mutter nicht nur aus ihrer Wohnung, sondern auch aus ihrem Leben ausgezogen. Einem Leben, das nie zur Ruhe gekommen war, einem Leben mit wenigen Höhen und einer langen Kette von Tiefen. Schon die Mutter seiner Mutter war wie Wasser, ständig in Bewegung, ständig den Zustand wechselnd. Bipolar, zwölf Suizidversuche. Der Vater depressiv und dem Alkohol verfallen, schon lange von seiner Frau getrennt, war schon lange nicht mehr der Fels, der er hätte sein wollen und müssen.
Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit.
Dass er als Junge in ein Internat kam, war eine Befreiung. Und das Studium in den Staaten ein einzig grosser Versuch, um sich aus den festgeschriebenen Mechanismen einer zum Wahnsinn verurteilten Familie zu befreien. Er studiert Psychologie. Nicht zuletzt darum, um eben jene Mechanismen zu verstehen, seine Angst vor dem Wahnsinn zu zähmen. Bis er als Arzt zurückkehrt, in der Psychiatrie arbeitet, dort, wie man alle nach Diagnosen sortiert, um sich selber von seiner Angst zu heilen. Ich leide unter Agateophobie, der Angst, verrückt zu werden. Was bei der Mutter zu einer Selbstverständlichkeit wurde, war es schon bei der Grossmutter. Sie schluckte Pillen mit sedierender, hypnotischer und narkotischer Wirkung wie Bonbons. Zwölf Mal verkündete sie ihren Glauben, dass es sich nicht lohne zu leben. Immer wieder verschwand die Grossmutter in der Psychiatrie. Ein Muster, dass sich in seiner Mutter fortsetzte.
Leon Engler «Botanik des Wahnsinns», DuMont, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-7558-0053-8
Er studierte, schloss das Studium ab, von dem er überzeugt war, dass es ihn zu nichts qualifizierte. Er beginnt eine Stelle in der Psychatrie, wird mehr hineingestossen, als dass er die Aufgaben in Angriff genommen hätte – und er liest. Er liest viel. Weil das Lesen das einzige ist, das ihn vor dem Verrücktwerden zu schützen scheint. Lesen, um nicht nachzudenken. Er schickt sich in den riesigen Apparat einer Klinik, von Abteilung zu Abteilung „weiterbefördert“, immer unsicher darüber, auf welcher Seite er wirklich steht. Wir versuchen hier, schreckliches Elend in ganz normales Unglück zu verwandeln.
Entweder passen wir den Patienten der Therapie an. Oder wir passen unsere Theorie an den Patienten an.
Was ist normal? Wer ist normal? Warum gibt es so vieles, dass nie dieser Norm entspricht? Warum fallen jene, die dieser Norm nicht entsprechen durch alle Netze, die sich eine Gesellschaft zum täglichen Überleben eingerichtet hat? Warum hat unsere Gesellschaft keinen Platz für jene Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen? „Botanik des Wahnsinns“ hat nichts, gar nichts von einer Abrechnung. Es ist auch kein Hadern mit der Geschichte, der Herkunft, der Familie. Der Roman ist in aller Offenbarung und Ehrlichkeit eine Liebeserklärung, ein liebvoller Erklärungs- und Ordnungsversuch. Da erzählt jemand, der sich beinahe schämt, übergelaufen zu sein. Der Roman ist aber auch eine stille und gleichermassen subtile Kritik am Umgang mit den „Verrückten“ in den dazu eingerichteten Institutionen, ohne damit pampig oder besserwisserisch zu klingen. Neben der Liebeserklärung an seine Familie, den Bildern, die mit so viel Respekt geschrieben sind, ist es auch eine Liebeserklärung an all die Gestrandeten, die Gesellschaft die «Kranken» nennt.
Das schreibt einer, der die Menschen ernst nimmt, erst recht jene, die durch die Maschen fallen. Ein Buch, in dem ich Sätze lese, die hängen bleiben, die sich tief eingraben. Ein Buch, das zu verstehen hilft!
Leon Engler wuchs in München auf und studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten und wurde 2022 mit dem 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben. «Botanik des Wahnsinns» ist sein Debütroman.
Menschen über 60 sind zwar jene die lesen, aber nicht unbedingt jene, die das Personal in Büchern ausmachen. Menschen über 60 – ein Alter im dazwischen. Dort, wo sich meistens ein letztes Mal eine grosse Umwälzung abspielt – oder auch nicht. Sabine Peters beschreibt in ihrem eigenwillig erzählten Roman von einer Handvoll Menschen, die den Sprung in die Freiheit nicht schaffen.
Hermann Dik ist 66 und Allgemeinmediziner in Hamburg St. Georg. Die meisten nennen ihn bloss Doc, nicht zuletzt deshalb, weil er mit jeder Faser in seiner Praxis bleibt, ein Fixstern in einer Maschinerie, aus der er sich nicht schälen will und kann. Obwohl ihn die Knochen schmerzen und der Schlaf nachts ein selterner Gast ist. Obwohl oder gerade weil es seit dem Tod seiner Frau Lucy ruhig in seinem Leben, seiner Wohnung geworden ist. Eine Ruhe, die nur dann und wann gestört wird. Wenn seine Nachbarin Mechthild wie jede Woche einmal zum Filmabend mit Nachtessen erscheint. Oder Brummer, ein Studienfreund, pensionierter Kunsthistoriker, der sich nicht damit abfinden kann, dass seine akademische Karriere sang- und klanglos vorübergegangen ist.
Sabine Peters «Die dritte Hälfte», Wallstein, 2025, 231 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-8353-5760-0
Doc, von früh bis spät in seiner Praxis, dirigiert und eingeteilt von seiner Praxishilfe Christine, einer Frau mit sechs Armen, meistert sein Dasein als Arzt durchaus. Aber wenn er nachts wach in seiner Wohnung herumgeistert, frisst die Einsamkeit an ihm, seine Ruhelosigkeit. Und wenn ihn dann der Schlaf trotzdem einlässt, dann plagen ihn Alpträume, denen er in seiner kleinen blauen Kladde, einem Notizbuch, möglichst gereimt und mit demonstrativer Leichtigkeit etwas entgegenzustemmen versucht. Manchmal besucht ihn Brummer, der in Bonn ein ruhiges Leben führt, in Hamburg, nistet sich für ein paar Tage in Docs Wohnung ein, raucht wie ein Schlot, und bringt mit seinen hypochondren Gesprächen die sonst so ruhige Zeit neben seiner Praxis aus dem Gleichgewicht.
Auch Docs Schwester Kerstin versucht an der Existenz ihres Bruders zu rütteln, wo doch alle andern, zumal Docs Patienten, ganz froh sind, dass sich die Welt nicht allzusehr in eine andere Richtung zu drehen beginnt. Doc ist einer jener Ärzte, die noch Hausbesuche machen, deren Leben fast nur aus Arbeit besteht, die gefangen sind im Hamsterrad, denen nicht gelingen will, was der Begriff „Ruhestand“ verspricht.
Sabine Peters erzählt kaum Geschichten. Ihr Roman ist ein grosser Teppich, zusammengefügt aus Episoden, Gedanken, Briefentwürfen, Traumsequenzen und Selbstgesprächen. Die Handlung springt zwischen Personal und Erzählebenen. Ein Roman wie ein grosses Gemälde, ein Bild mit lauter kleinen Szenen, ein Bild, das sich weder in Wehleidigkeit suhlt, noch dem Alter über 60 einen Bleimantel überstreift. Sabine Peters Roman ist ein Sittenbild der Moderne, ein entlarvender Roman über eine auf Hochleistung getrimmte Gesellschaft, über Menschen, die trotz Beziehungen einsam bleiben, für sich. Und trotzdem sprüht Sabine Peters Erzählen vor Sprachlust und Sprachwitz.
Zugegeben, „Die dritte Hälfte“ ist kein Buch mit episch, filmischer Erzählspur. Dafür der Beweis, wie vielfältig, bunt, wendig und verspielt Literatur sein kann. Ein Buch für Feinschmecker*innen!
Sabine Peters, geb. 1961, studierte Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie in Hamburg. Nach einigen Jahren im Rheiderland lebt sie seit 2004 wieder in Hamburg. Neben Romanen, Erzählungen, Hörspielen schreibt Sabine Peters auch Essays und Kritiken. Sie wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Clemens-Brentano-Preis, dem Evangelischen Buchpreis und dem Georg-K.-Glaser-Preis. 2016 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.
Thomas Korsgaard gilt als eine Art wildes Wunderkind der jungen dänischen Literatur. Was entschieden an seiner autofiktionalen Familientrilogie liegt. Ein Sprung in den zweiten Band: „Stadt“, so der schnörkellose wie passende deutsche Titel.
Ob das eine gute Idee ist, das Wohnzimmer schwarz zu streichen? Wäre nicht ein simples weiß oder vielleicht ein helles blau passender und besser? Selbst an ein zunächst aufdringliches flieder-lila könnte man sich gewöhnen oder an ein ländliches grün. Aber schwarz? Nur schwarz … Da muss man schon über einen besonderen Humor verfügen.
Oder man hat ernsthafte Probleme, wie Tues Mutter, die mal artig ihre Tabletten nimmt, nachdem sie aufgestanden ist, die Pillen gegen Migräne, später die, um besser zu schlafen zu können oder die anderen, die sie in der Familie ‚die Glückspillen‘ nennen und die sie immer mal wieder absetzt, um bald darauf tagelang im Bett gefangen zu liegen, einerseits. Andererseits waren die zwei Eimer schwarzer Farbe in dem Geschäft in der Stadt nun wirklich günstig. Und sie fangen an zu malern, Mutter und Sohn, sie legen den Fußboden mit alten Werbeprospekten aus, sollten sie kleckern, müssen sie nichts wegwischen, das ist doch praktisch gedacht, sie streiten sich bald, um Geld geht es nebenher, doch mehr darum, das Tue doch gestört ist, so wie Tue findet, dass seine Mutter gestört sei, draussen an der Fahnenstange hängt statt des obligatorischen rot-weissen Danebrog ein Gartenstuhl aus Plastik.
Wir sind nicht in Kopenhagen (in einem der angesagten, einst proletarisch-kleinbürgerlichen und nun gentrifizierten und damit unbezahlbaren Vierteln oder am Rande der Stadt, wo sie langsam ins Gesichtslose ausläuft). Wir sind auch nicht in Aarhus. Nicht mal in Odense sind wir oder in Aalborg oder in Esbjerg, wo der Hund seit langem begraben ist. Wir sind auf dem Lande, abseits von allem, wir sind in der Provinz, wo sich die Schweineställe aneinanderreihen, wie man weithin riecht, besonders in der Nacht; wo der Regen von der Seite her weht und das tagelang, wo morgens und mittags der Schulbus fährt, und dann war es das. Also hat man ein Auto, irgendeine Blechkiste, die doch anspringt, wenn man ihr gut zu redet, was manchmal Zeit braucht, die man hat. Der Tag zerrinnt einem ohnehin zwischen den Fingern. Es wird überhaupt viel Auto-gefahren in diesen Romanen, das Auto ist ein eigener Ort, ein Rückzugsparadies: Tues Mutter etwa fährt manchmal scheinbar kopflos durch die Gegend, Kilometer für Kilometer und beruhigt sich dabei oder versucht es wenigstens und schon das zählt; ins Auto flüchtet man, wenn man nicht weiterweiss vor Streit und vor Verzweiflung und vor Hoffnungslosigkeit, und selbstverständlich wird in diesen Autos geraucht. Warum denn auch nicht.
Thomas Korsgaard „Stadt“, Kanon Verlag, 2025, aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps, 280 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-98568-141-9
Wer hier aufwächst und wer hier ist, wo Tue mit seinen Eltern lebt und seinem jüngeren Bruder Morten und der noch jüngeren Schwester Nina, auf einem heruntergekommenen Hof, den sich kaum zu bewirtschaften lohnt, der will – weg. Und das möglichst früh und dann möglichst schnell, eher vorgestern, denn übermorgen will er seine ohnehin wenigen Sachen gepackt haben und sein Glück woanders suchen und daher finden, in der nächsten Stadt, wo sonst. Erst recht, wenn man als junger Kerl merkt, dass Mädchen ganz okay sind, manchmal mehr als das (Tues bester Freund ist eine Freundin, Iben heißt sie, sie kennen sich seit der Schule, und sie werden viel zusammen erleben, weil sie sich aufeinander verlassen können), aber dass es nicht um sie geht, am Ende, lässt sich schließlich nicht mehr ausblenden, um es mal so zu umschreiben. Was Tues robust-brachialer Vater (der die Zeitung Buchstabe für Buchstabe liest, den Zeigefinger auf der Zeile) besser nicht wissen sollte und der doch ahnt, was er nicht wahrhaben will.
Als Thomas Korsgaard mit zarten 21 Lebensjahren mit dem ersten Band seiner Familientrilogie die literarische Bühne seines Heimatlandes Dänemark betrat, ging ein Raunen durch dessen Feuilletons. Das sich nicht legte, als Band zwei erschien und dann Band drei. Die im ersten Schwung verkaufte Auflage: 300.000 Exemplare. Das ist für ein Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern keine kleine Nummer; dazu gesellten sich literarische Auszeichnungen. Was besonders gefiel: wie aufrichtig schonungslos und zugleich emphatisch ehrlich Korsgaard ein Familienleben weit abseits der gediegenen, wohlreflektierten (nicht nur) dänischen Mittelschicht schilderte, was einem vielleicht nur als jungem und entsprechend unbefangenen Autoren gelingt; wo also die Fliehkräfte der Relativierungen und der Erklärungen mit ihrem Rechtfertigungsgehalt noch nicht greifen. Stattdessen ist hier nix hyggelig. Hier wird es auch nicht gemütlich. Hier wird es schwer, sich seiner Haut zu erwehren und zugleich seine Herkunft nicht leichtfertig zu verraten (man hat ja keine andere, woher sollte die auch kommen), und mit Gelassenheit kommt man schon gar nicht weit. Und so führt „Stadt“ (der dänische Titel lautet ‚En dag vil grine af det‘, also ‚Eines Tages werden wir darüber lachen‘) uns in die Zwischenwelt des Helden Tue, der längst kein Kind mehr ist, aber für den der Weg in eine aufbauende Schule, möglicherweise weiterführend zu einem Studium noch Langstrecke bedeutet.
„Stadt“ vorausgegangen ist „Hof“, auch dies ein Deutsch prägnant-verkürzter Titel (im Dänischen heißt es etwas gelassener ‚Hvis der skulle komme et menneske forbi‘, also ‚Falls da ein Mensch vorbekommen sollte‘), wo wir Tue kennenlernen, wo wir eintauchen in seine Welt. Wie es wohl wäre, wenn der Vater morgen sterben würde, was für eine Rede würde sein noch so junger, gerade mal 12jähriger Sohn in der Kirche halten vor den Trauergästen (weisse, langstielige Lilien schmücken den Kirchenraum, der Leichenwagen des Bestatters ist unterwegs liegengeblieben, die Dänische Pannenhilfe hilft eben aus), nur mal ausgedacht, nur mal taggeträumt, in der Kirche eines Ortes namens Nørre Ørum, wo in der Ferne der Fernzug Hamburg – Kopenhagen vorbeifährt, einen „Vorort der Finsternis“, wie Tue es für sich beschreibt, so geht es los, so steigen wir ein und sind froh, von nun an dabeibleiben zu dürfen. Tag nach Tag, Woche für Woche, bis es in die Monate und dann Jahre geht, die spurenreich vorbeiziehen.
Und dieser Sog, er wird nicht aufhören. Was vor allem an der wunderbaren Erzählkunst von Thomas Korsgaard liegt (und an den Übersetzungskünsten seiner ÜbersetzerInnen) über den eigentlichen Stoff hinaus; an seiner Art, die scheinbar alltäglichen Erlebnisse vom Aufwachsen in einer – sagen wir mal – eher nicht so glücklichen Familie mit den grundsätzlichen Fragen von Herkunft, Selbstbestimmung und Identität zu verknüpfen und daraus eine eigene Welt des Großen wie Kleinen zu erschaffen, in die man sich hineinliest wie in einen Rausch. Was noch mal unterstützt wird durch die klare Erzählstruktur: kurze, knappe und aufeinander aufbauende und in sich geschlossene Kapitel reihen sich aneinander zu einem Reigen des familiären Stillstandes und der überraschenden Wendungen. 53 Kapitel sind es bei „Hof“, 67 Kapitel sind es bei „Stadt“.
Noch ein Kapitel lesen, denkt man sich, es ist ja nicht so lang; zwei, drei Seiten, auch mal fünf, sehr selten mehr. Und dann noch das nächste und das nächste Kapitel lesen, ach, das übernächste passt auch noch, man will ja auch ganz klassisch wissen, wie es weitergeht, was nun passiert, hat Tues Mutter wirklich einen Liebhaber oder was ist das für ein Mann, mit dem sie da ständig chattet und wird sie deswegen die Familie verlassen, was so unvorstellbar ist wie möglich, eine Rettung oder eine Katastrophe oder beides zugleich, und schon hat man die nächste Seite umgeschlagen, und fängt das nächste Kapitel an zu lesen.
Der dritte Band „Paradies“ ist in deutscher Übersetzung für das Jahr 2026 angekündigt. Und dann werden wir erfahren, wie es Tue in Kopenhagen ergehen wird, dort im Westen, im Stadtteil Valby, wo die Busse den ganzen Tag über fahren, auch am Abend, bis in die Nacht, man muss sich nur an eine Haltestelle stellen und dann kommt einer vorbei und nimmt einen mit.
Thomas Korsgaard «Hof»,Kanon Verlag, Berlin, 2024, ebenfalls von Justus Carl und Kerstin Schöps aus dem Dänischen übersetzt
Thomas Korsgaard, geb. 1995, schrieb seinen Debütroman «Hof» mit gerade mal 21 Jahren. Band 2 und 3 der Trilogie folgten wenige Jahre später. Seine Romane haben sich in Dänemark mehr als 300.000 Mal verkauft. Für seinen letzten Roman wurde Thomas Korsgaard mit dem Literaturpreis Goldene Lorbeer ausgezeichnet und ist damit der jüngste Preisträger aller Zeiten. Bei Kanon erscheinen Band 2 »Stadt« im Frühjahr 25 und Band 3 »Paradies« im Herbst 26.
Wir sind mehr als die Summe unserer Teile, müsste man der Autorin entgegenhalten, wenn der Titel nicht Programm und Provokation gleichzeitig wäre. Paola Lopez Debüt ist eine Familiensaga, die Geschichte dreier Generationen aus der Sicht ihrer Frauen. Ein Roman darüber, dass unser Leben immer auch auf ganz vielen Leerstellen gebaut ist. Eine Tatsache, die mit einem Mal alles aus scheinbarem Gleichgewicht bringen kann.
Grossmutter Lyudmiła war in Beirut angesehene Chemikerin, ihre Tochter Diara ist Kinderärztin in München und die Enkelin Lucy, Informatikstudentin in Berlin. Ihre Geschichten, die Geschichten ihrer Familie werden aus der Sicht dieser drei Frauen erzählt, starker Frauen, die alle in ihrem Leben, ihren Ansprüchen einer ordentlichen Portion Kompromislosigkeit „unterworfen“ sind.
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Sommer 2014. Lucy hofft auf einen angenehmen Sommer und dass sie es endlich schafft, zusammen mit Phil, ihrer WG-Mitbewohnerin ihr Computerspiel fertigzustellen. Aber als sie nach Hause kommt, steht da ein schwarzer Steinway-Konzertflügel in ihrem Zimmer, ein glänzendes Ungetüm, das alles zu verdrängen scheint, zugeschickt von ihrer Mutter, mit der sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr hat. Mit einem Mal zwingt dieses Ungetüm Lucy, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen, all dem Unausgesprochenen, den Geheimnissen, von denen sie Ahnungen mit sich herumträgt, die aber nie zu Gewissheiten wurden. So sehr der Konzertflügel das schwarze Loch in ihrer Familie symbolisiert, so sehr treibt dieser Flügel Lucy auf eine Reise, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise ins polnische Sopot, wohin ihre Grossmutter einst als zwölfjähriges Mädchen „abhaute“.
Ihr ganzes Leben hat sie in einem Raum verbracht, den zu kennen sie geglaubt hat. Und jetzt entdeckt sie eine geheime Tür, die die ganze Zeit über da gewesen ist.
Paola Lopez «Die Summe unserer Teile», Tropen, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-608-50272-5
Grossmutter Lyudmiła stammt aus Polen und wollte nichts anderes werden als Chemikerin. Marie Curie war ihr grosses Vorbild. Nichts und niemand sollte diesem Ziel im Weg stehen. Der Krieg vertreibt sie aus ihrer Heimat. Lyudmiła wird in Beirut zu einer gefragten Wissenschaftlerin, heiratet einen Kollegen und ist wegen einer Schwangerschaft gezwungen, ihrem Mann nach Deutschland nachzureisen. Daria, ihre Tochter, wächst auf mit dem Gefühl, stets nur Nebensache zu sein, wird von einer Nanny grossgezogen und lässt die Beziehung zu ihrer Mutter erkalten. Als sie mit Lucy schwanger ist, schwört sie sich nicht nur selbst, dass sie ihre Tochter nicht in fremde Obhut geben werde. Ein Entschluss, den sie vor der dominanten Mutter immer und immer wieder verteidigen muss.
Lyudmiła wuchs in Polen auf, studierte in den USA und forschte in Beirut. Ihre Tochter eröffnet in München eine Gemeinschaftspraxis. Lucy, die Abkürzung von Lyudmiła, sagt von sich selbst, sie sei halb Deutsche, ein Viertel Libanesin, ein Viertel Polin. Alle drei Frauen erzählen ein Stück Leben, das von Unruhe geprägt ist, von der Unfähigkeit, die Geschichte der Familie von Generation zu Generation weiterzugeben, im Schweigen stecken zu bleiben, keine Sprache für die ganz eigene Vergangenheit zu finden – und sie nie teilen zu können.
Lucy lernt auf ihrem Tripp nach Sopot im Zug Władek kennen, einen jungen Mann der tagsüber sein Geld als Schaffner verdient und nachts Platten auflegt und Musik produziert. Lucy ist fasziniert und lässt sich nur zu gerne von dem jungen Mann aus der Reserve locken. Er ist der, der die Fragen stellt, die sie sich nicht einmal selbser zu stellen traut. Sie ruft dann doch ihre Mutter an. Und mit einem Mal ist Diara in der Stadt, dort, wo Lucy sie niemals erwartet hätte. Und es beginnt das, was Krusten aufreisst und Lucy ihre Familie zurückgibt.
Eine umfassende Grammatik der Familie bekommt man nicht geliefert. Man muss selber danach suchen und die unvollständigen Brocken, die man findet, zu einem Gesamtbild zusammenkratzen.
„Die Summe unserer Teile“ ist Familien- und Mutter-Tochtergeschichte. Geschickt verwoben drei vehemente Frauengeschichten, die sich auszuschliessen drohen, denen die Stimme zu versagen droht, wenn es um das geht, was die Ungleichung Familie ausmacht. Ein Buch darüber, dass der Versuch einer Gleichung nur aufgehen kann, wenn alle Variablen sichtbar sind. Ein Buch darüber, dass das Wohin erst sichtbar wird, wenn das Woher sich zeigt. Ein Roman, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf raffinerte Weise ineinanderschieben.
Paola Lopez, geboren 1988 in Wien, ist Mathematikerin und promoviert interdisziplinär über Künstliche Intelligenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen und schreibt für den Merkur eine Kolumne zu KI. Für die Arbeit an ihrem Debütroman «Die Summe unserer Teile» wurde sie mit dem Theodor Körner Preis 2023 gefördert. Paola Lopez lebt in Berlin.
Empathie ist wirklich eine komplizierte Charaktereigenschaft. Man kann immer Argumente dafür und dagegen finden und auf dieser feinen weissen Linie stehen bleiben, die das eine vom anderen trennt.
Lieber Gallus
Die weissrussische Autorin Volha Hapeyeva war für mich ein Glanzlicht an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen. Ihr neuestes Buch «Samota» ist ein faszinierendes Werk über Einsamkeit, Alleinsein und Empathie. Für mich ein Buch voller Liebe zur Schöpfung und ein Hoffnungsschimmer in einer Welt voller Kriege und Umweltproblemen. Geschrieben in einer lyrischen Sprache, bei der wissenschaftliches auf magisches Denken trifft, Orte und Zeiten in der Schwebe gehalten werden.
Ich begegne zwei Frauen und drei Männern als Hauptfiguren in einer Welt von Tieren, Menschen und Vulkanen. Neben dem eigenen Überleben geht es ums Überleben von Werten, für eine Welt, in der Empathie eine wichtige Rolle spielt.
Nur wenige Menschen wissen, wie man sich an dem freut, was einen umgibt, was man bereits hat. Wobei die grössere Freude nicht davon kommt, was du hast, sondern vom Sein.
Das Frühstück im Hotel als Miniaturbild der Gesellschaft, der Besuch in der Apotheke als Auseinandersetzung mit Kranksein oder die gefährliche Befreiung eines zur Verarbeitung gefangenen Wolfswelpen als Ausdruck von Empathie; ich werde zum Nachdenken über unsere Gesellschaft, unsere Beziehung zur Umwelt und unsere Werte angeregt. Dies in einer poetischen Sprache und mit Tiefgang. Es geht um unsere Existenz auf der Erde.
Traurigkeit samt Melancholie, Stille und Heiterkeit, das Gefühl der Zugehörigkeit zum Universum, zu den Bäumen, den Vögeln, Insekten und Kräutern, das Aufgehen im Abendlicht, sodass man nichts und niemanden mehr braucht, erfüllte Existenz. Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.
Wie haben die Begegnung mit der Autorin und dieses Buch auf dich gewirkt?
Herzlich
Bär
***
Lieber Bär
Er hat lange gedauert. Es ist schon einige Monate her seit den Solothurner Literaturtagen. «Samota», das Buch von Volha Hapeyeva, lag lange auf meinem Schreibtisch. Hättest Du nicht derart begeistert auf dieses Buch reagiert, hätte ich es vielleicht irgendwann ungelesen ins Regal geschoben. Nun habe ich es doch gelesen. Ganz langsam und in kleinen Häppchen, ganz gegen meine sonstigen Lesegewohnheiten.
Der Roman «Samota» trägt eine Art Untertitel: «Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber». Ein programmatischer Untertitel. Volha Hapeyeva lebt seit den Unruhen in ihrer belarussischen Heimat «unterwegs», «im Zimmer gegenüber». «Samota» ist ein Roman über Einsamkeit, geschrieben während Corona, eingesperrt in ein Zimmer als Stadtschreiberin in Graz. Aber «Samota» ist kein Corona-Buch, sondern ein Buch über eine grosse Sehnsucht.
Volha Hapeyeva «Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber», Droschl, 2024, aus dem Belarusischen übersetzt von Tina Wünschmann und Matthias Göritz, 192 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-99059-151-2
Maya, Vulkanforscherin, nimmt an einem Kongress über Vulkanologie irgendwo in der japanischen Provinz teil. Die Kleinstadt liegt an einem grossen Wald, der von Wölfen bewohnt wird. Sie besucht die städtische Bibliothek auf der Suche nach einem Buch, das sie wohl findet, bei dem aber genau jene Seiten fehlen, die ihr für ihre Forschung wichtig erscheinen. Sie liebt die Bibliothek. Sie traut den Büchern mehr als den Menschen. Im gleichen Hotel, in dem Maya wohnt, findet auch ein Kongress von Tierpräparatoren statt, die ihre Arbeit als Konsequenz einer Schöpfung sehen, in der der Mensch die Krone bedeutet und über alle anderen Lebewesen nach Belieben verfügen kann.
Helga-Maria, eine Tiertherapeutin und Mayas Freundin, behandelt Angststörungen von Hunden und wartet auf Liebesbriefe von Sebastian, der in einer Pension zusammen mit ganz eigenartigen Menschen wohnt. Allen voran ein Jäger, der sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche Wölfe des Waldes zur Strecke zu bringen.
Manchmal denke ich, das beste Mittel gegen Konflikte und Kriege wäre die Entwicklung eines Empathieserums.
Ein geheimnisvolles Buch mit Ebenen, auf die man nur tastend vorzudringen vermag. Ein Roman voller Anspielungen, Bildern und Szenerien, die sich in ihrer Chronologie, in Zeitebenen übereinanderschieben. Ein Buch einer Lyrikerin, die in Prosa nachzuforschen versucht, was eine Haltung ohne Empathie anrichten kann. Ich hatte während der Lektüre dauernd das Gefühl, Anspielungen auf ihre eigene Lebenssituation zu lesen, mal verschlüsselt, mal offen, mal verpackt in ein Bild. «Samota» ist kein politischer Roman, aber ein Roman, der erzählt, was das «Herausgerissensein» bewirkt. Dass wir in einer Zeit schwindender Empathie leben. Wie schnell Allein-sein zu Einsamkeit werden kann. Ein metaphysischer Roman, bei dem unterschwellig Dinge miterzählt werden, von denen ich nur eine Ahnung habe, die sich im Laufe des Buches entschlüsseln, lange unerklärlich bleiben. Was passiert mit empfindsamen Menschen, die in einer Welt der schwindenden Empathie sich immer mehr weggesperrt fühlen?
Volha Hapeyeva, geboren in Minsk, Belarus (1982), ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin, Künstlerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den English PEN Translates Award für das Buch «In My Garden of Mutants» (2021), den Wortmeldungen-Literaturpreis 2022, Rotahorn-Preis 2021 und den manuskripte-Preis 2025. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen.Ihr Debütroman «Camel Travel» erschien 2021. Seit 2020 schreibt Volha Hapeyeva auch auf Deutsch und wohnt als Nomadin in Österreich und Deutschland.
Tina Wünschmann wurde 1980 in Freital geboren. Sie studierte Slavistik, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Technischen Universität Dresden.
Matthias Göritz, geb. 1969, ist ein vielfach ausgezeichneter Lyriker, Theaterautor, Übersetzer und Romancier. Er veröffentlichte auch Gedichtbände und Romane.
Was bedeutet Heimat, Zuhause, wenn man zwei Kulturen in sich trägt? Was passiert, wenn sich diese zwei Kulturen streiten, obwohl man ein ganzes Leben beiden Seiten gerecht zu werden versucht? Was ist, wenn die Mutter mehr und mehr von Demenz zerfressen wird und unwiederbringlich zu schwinden beginnt, was bei allem Kampf Familie bedeutet. „Onigiri“ ist ein fein gesponnener Familienroman, ein berührendes Debüt.
Im Vorsatz des Buches steht Für meine Mutter. Akis Mutter wanderte einst nach Deutschland aus, in einer Zeit, in der es unüblich war, dass Japanerinnen ihr Glück in Deuschland suchen. Sie lernt einen Mann kennen, heiratet und bekommt zwei Kinder. Die Tochter, Aki, erzählt die Geschichte. Nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, sondern die Geschichte zweier Familien, zweier Kulturen, die in ihrer Familie das Zusammenleben zu einem Schmelztiegel werden lassen.
Es ist mir unbegreiflich, wie meine Mutter es als junge Frau geschafft hat, hier in Deutschlad Fuss zu fassen. Sie hatte nur zwei Koffer, ein bisschen Geld und ihre Stimme.
Yasuko, Akis Grossmutter, ist in Japan uralt gestorben. Aki war immer wieder einmal in Japan, erfuhr ihre Grossmutter als Fixstern einer ganzen Familie. Yasuko bekam trotz ihrer Gebrechen noch mit, das Aki beim letzten Besuch ihre Urenkelin in den Armen trug, eine alte Frau, bis zum letzten Atemzug wach. Ganz im Gegenzeit zu ihrer Mutter, die mehr und mehr in ihrer Demenz abtaucht, für den letzten Teil ihres Lebens in einem Wohnstift lebt und die meiste Zeit des Tages ruhend, mit den Händen vor ihrem Gesicht, verbringt. Das Leben einer Katze sagt Felix, ihr Mann. Eine Frau, die trotz grösster Anstrengungen dem Leben in Deutschland immer fremd blieb, die ganz offen immer und immer wieder latente und direkte Fremdenfeindlichkeit erfahren musste, die sich mit ausbreitender Demenz mehr und mehr in ihrer Einsamkeit verliert, einer Einsamkeit, die ihre Tochter auch mit Zuwendung und Liebe nicht heilen kann.
Yuko Kuhn «Onigiri», Hanser Berlin, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28311-4
Aki kauft zwei Flugtikets nach Japan, eines für sich, eines für ihre Mutter. Will ein letztes Mal zusammen mit ihrer Mutter das Land ihrer Herkunft, ihre Heimat besuchen. Nicht zuletzt in der Hoffnung, die Verlorenheit ihrer Mutter für ein paar Augenblicke aufzuhellen, ihr die Chance zu geben, sich zu erinnern. Für Aki keine leichte Reise, denn ihr Japanisch ist das, was übrig geblieben ist, das Japanisch, das zwischen ihr und ihrer Mutter gesprochen wurde, eine Zweitsprache. Japan, ein Land, das die Heimat ihrer Mutter und für Aki in Vielem fremd geblieben ist. Eine Reise, von der Aki genau weiss, dass es die letzte zusammen mit ihrer Mutter sein wird, denn diese muss jeden Tag immer und immer wieder daran erinnert werden, dass sie ihre Tochter und dies das Land ihrer Herkunft ist. Eine Reise, bei der Aki feststellen muss, dass ihre Mutter keine Chance mehr hat, wirklich anzukommen. Eine Reise, die auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Eine Reise zu einer Frau, die ihr als Mutter schon lange fremd geworden war.
Ich frage mich, warum meine Mutter so geworden ist, wie sie ist, ob ihr Unglück schon in ihr war, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.
Auf der anderen Seite die Eltern ihres Vaters, Gesine und Ludwig, die in einem grossen Haus mit Personal leben, einem Haus, dass alles repräsentiert, was deutscher Wohl- und Anstand zeigen kann, die nie mit Überzeugung akzeptierten, dass ihr Sohn eine Japanerin zur Frau genommen hatte. Akis Mutter hatte an allen Fronten zu kämpfen, obwohl sie eine weltoffene, zugewandte Person war, der man aber immer wieder Grenzen zeigte. Eine Frau, der Musik alles bedeutete, die schon in Japan als junge Frau mit ihrer Singstimme in einem Chor die halbe Welt bereisen konnte. Und Akis Vater, der es nicht schafft, das zu werden, was die Eltern von ihm erhofften, der die Ehe scheitern lässt und sich mehr und mehr in sein Schneckenheus zurückzog.
„Onigiri“ ist unzweifelhaft ein sehr autobiographisches Buch, erst recht, weil es in der Ich-Perspektive erzählt und einem die verschiedenen Zustänge des Gespalten-Seins auf ganz eindringliche Weise nahekommen, ohne dass die Autorin unangebracht in Emotionen rührt. „Onigiri“ sind dreieckige „Reisbällchen“, von Hand geformt. Sie sehen aus wie kleine weisse Häuschen. Vielleicht ist dieses Buch der Versuch der Autorin, sich selbst und ihrer Mutter ein Stück Zuhause zurückzugeben. Eine literarische Liebeserklärung, die sanfte Suche nach einem verlorenen Stück Paradies.
Yuko Kuhn wurde 1983 in München geboren. Sie studierte Kulturwirtschaft in Passau und Aix-en-Provence. 2019 fand sie über ihre Tätigkeit an der HFF / Hochschule für Fernsehen und Film München zum Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in München.
Yasmina Reza ist eine der bedeutendsten französischen Autorinnen der Gegenwart, spätestens seit ihren Theaterstücken „Kunst“ oder „Gott des Gemetzels“. Rezas Kunst ist mit Sicherheit die Dramaturgie. Aber in ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Die Rückseite des Lebens“ kann man sich ganz und gar in die Sprache der Schriftstellerin verlieben, die klare Gestalt ihrer Sätze.
„Die Rückseite des Lebens“ ist keine Sammlung von Erzählungen. Es sind auch keine Betrachtungen. In den über fünfzig mehrheitlich sehr kurzen Texten mäandert Yasmina Reza zwischen Tagebucheinträgen einer Beobachterin und literarischen Kurzreportagen. Über längere Zeit besuchte die Schriftstellerin immer wieder Gerichtsprozesse, solche von Promenenten wie jenen gegen den ehemaligen französischen Präsidenten Sarkosy, aber auch solche, bei denen jene Verbrechen verhandelt werden, die es nie wegen der Personen, aber sehr wohl wegen der Art des Verbrechens in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen. „Die Rückseite des Lebens“ ist aber nicht einfach eine Sammlung menschlicher Abgründe. Immer wieder sind ganz kleine Beobachtungen eingefügt, Momente der Freude, Begegnungen mit Bekannten und Freunden. Normalitäten, die im Kontrast mit den Ungeheuerlichkeiten, die vor Gericht verhandelt werden, in ein ganz eigenes Licht getaucht sind.
Was die Autorin an all diesen Gerichtsfällen, diesen Schicksalen, der Nähe zum Bösen interessiert, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Sehnsucht der meisten Menschen nach Harmonie, Sonnenuntergängen, Kitsch und romantischen Gefühlen steht in krassem Widerspruch zu einer Autorin, die sich genau dorthin begibt, wo die Staatsgewalt mit den Mitteln der Justiz dem entgegentritt, was sich auf der Rückseite des Lebens zu befinden scheint. Aber was die Rückseite ausmacht, ist eine Frage des Standpunkts, der Perspektive. Dort, in den Gerichten, vor den Richtern, werden Leben ausgerollt, die kippten, die zur Gefahr für Leib und Leben wurden. Leben, die durch Fehlentscheidungen aus der Bahn liefen, aber auch Leben, die gar nie eine Chance hatten, auf die „Vorderseite“, die Sonnenseite des Lebens zu treten.
Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser, 2025, aus dem Französischen von Claudia Hamm, 200 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28275-9
Vielleicht sind diese literarischen Kurzreportagen, die sich nur skizzenhaft um Vollständigkeit bemühen, einen Eindruck, nie genug Zeit, um wirklich in die Untiefen menschlicher Existenzen abzutauchen, genau jene Welt, aus der Yasmina Reza sonst ihre Romane, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Diese Spanne zwischen scheinbarer Normalität, dem kleinen Glück bis hin zu blutgetränkten Abgründen. Als wäre dieses Buch eine literarische Bilder-, Fotoausstellung. Wer die Texte liest und sich auf das Gelesene einlässt, macht sich unweigerlich die Geschichten, die inneren Bilder selbst.
Wenn Yasmina Reza im Gerichtssaal sitzt, ist das, was sie schreibt weder Erklärungsversuch noch Sozialstudie. Yasmina Reza zeichnet literarische Miniaturen. Was den besonderen Reiz dieser Kontraste ausmacht; Reza schildert mit vollendeter Sprache das Kleine, Traurige, Abgründige, Schmerzhafte. All das, was ich als Betrachter unweigerlich mit dem Maximum an Emotionen verbinde. Nicht das Yasmina Reza ohne Empathie schreiben würde, ganz im Gegenteil. Aber sie entzieht sich jedem Urteil, jeder Erklärung. Alles, was sie schreibt, bleibt in der Sprache, in der gekonnten Schilderung all dieser Szenen, jenen im Gericht und jenen, die den Ursprung der Verhandlungen ausmachen.
Fragen wie; Was bringt ein Leben zum Kippen? Wann ist ein Leben verloren? Warum können wir nicht aufhalten, was unweigerlich auf den Abgrund zusteuert? Warum vergiftet eine Mutter ihre Kinder mit Insulin? Warum wird die Tochter von Einwanderern zur rasenden Rassistin?, interessieren die Autorin ganz offensichtlich. Aber Yasmina Reza überlässt mich beim Lesen mit den Antworten mir selbst – mit Absicht.
Manchmal sind es auch rührende Miniaturen. Wenn sie vom letzten Besuch beim grossen Schriftsteller Imre Kertész und seiner Frau erzählt, kurz vor seinem Tod. Begegnungen, die von der Verbundenheit zweier Herzen erzählen. Oder vom Schauspieler Bruno Ganz, mit dem sie öfters zusammenarbeitete, der in seinen letzten Jahren in Venedig lebte, den sie manchmal «zufällig» in den Gassen der Lagunenstadt traf. „Geschichten“ wie Tagebuchblätter, getragen von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach Nähe.
Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021, dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 und dem Prix Mondial Cino del Duca 2024 ausgezeichnet. Das Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.
Claudia Hamm ist Autorin, Theatermacherin und Übersetzerin von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Mathias Énard, Nathalie Quintane, Joseph Ponthus und Joseph Andras. Sie ist Herausgeberin des Akzente-Doppelhefts Automatensprache (Hanser, 2024).
Jo Graber ist ein stiller Mann, unauffällig. Niemand im Quartier weiss mehr als das, was Gerüchte und Vermutungen in die Welt setzen. Auch bei der Arbeit bleibt er ein Geist. Bis er mit einem Mal verschwindet und man sich fragen muss, was geschehen ist. Gina Buchers literarisches Debüt ist ein Roman über Einsamkeit und die Macht des Gerüchts.
Schon eigenartig. Da schreibt jemand ein Buch, in dem die Hauptperson von einem Nachbarn in der Siedlung „Schattengänger“ genannt wird und auch genau das im Roman selbst bleibt; ein Schattengänger. Man sieht von ihm nur die Kontur eines Schattens. Jo Graber, Einzelgänger in einem Wohnquartier mit tausend Augen, Angestellter im Bauamt der Stadtverwaltung, Abteilung Aufzugsanlagen. So unkonventionell die Erzählperspektive, so eindringlich die Stimmen, die fast alle aus ihrer eigenen Isolation erzählen. Ein Roman über die Gegenwart, über Grenzüberschreitungen, Dichtestress, Gerüchte, Fehlinterpretationen, Distanz und Ängste. Und ein Roman über das Scheitern.
Noch eine Spezialität dieses Romans ist die Erzählstrategie. Wenn sich in vielen Romanen nach und nach die Schichten einer Zwiebel lösen bis man auf den Kern gelangt, fügt sich bei diesem Roman Schicht an Schicht. Auch wenn die Zwiebel dann nicht mehr geschlossen ist, sondern offen wie eine Rose. Es dauerte, bis ich mich bei der Lektüre traute, fixe Rückschlüsse aufs Ganze zu ziehen. Gina Buchers Erzählweise provoziert meine eigenen Spekulationen, genau das, was mit den Stimmen im Buch passiert.
„Schattengänger“ ist nicht nur der Titel, sondern Programm des Romans. Wer das Buch nach der Lektüre zur Seite legt, weiss nur wenig über jenen Jo Graber, über den ein ganzes Quartier und ich als Leser spekuliere. Genau das, was in Wirklichkeit passiert. Was wissen wir von den Menschen, die uns umgeben? Was wissen wir von unseren Nächsten?
Gina Bucher «Schattengänger», edition bücherlese, 2025, 200 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-03981-011-6
Fast ein Dutzend Stimmen erzählen; Aurel, ein etwa zehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, ein kindlicher Forscher und genauer Beobachter. Kris, der Nachbar, der „Verpuppte“, der Jo Graber den Schattengänger nennt, traumatisiert von seiner Familie, Kiffer, arbeitsunfähig, permatherapiert. Esmé, eigentlich Frau Kordik, Jo Grabers Ärztin, ängstlich, auch sie in gewisser Weise traumatisiert. Remigio, ein älterer Nachbar aus der Siedlung, verheiratet mit Marta, mit der Angst vor drohender Demenz seiner Frau. Renée, Grabers Chefin im Büro, durchdrungen vom Wunsch, eine gute Chefin zu sein, dauernd im Ungewissen über Nähe und Distanz. Tom, sein ahnungsloser Arbeitskollege, der mit ihm ein Büro teilt. Dennis, der ausländische Pfleger im Altenheim von Jo Grabers Mutter, der ihn bei Besuchen schätzen lernt und ihn fast zärtlich Herr Jo nennt…
Fast alle Erzählstimmen hätten das Zeug für einen eigenen Roman. Aber es wurde ein Spiegelroman. Die Geschichten der Erzählstimmen spiegeln sich im Erzählen über diesen geheimnisvollen Jo Graber. Und die Interprationen der Erzählstimmen verraten viel überdie Erzählstimmen selbst.
Jo Graber ist ein Geist. So wie viele, denen es nicht darum geht, eine möglichst breite Schneise der Publizität hinter sich herzuziehen. Irgendwo im Buch steht die Wendung „das Recht auf Verschwinden“. Wie viel Gewicht legen wir auf die Präsentation dessen, was das Bild von uns sein soll? Gibt es die Freiheit, sich zu verweigern, gibt es sie vor seiner Familie, seiner Umgebung, bei der Arbeit, vor dem Staat, der Polizei?
Wir machen uns ein Bild des anderen. Wie sehr dieses Bild immer wieder durchbrochen wird, erfahren wir immer wieder, wie sehr wir uns irren, verspekulieren. Genau dort steckt eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik in diesem Roman.
Gina Bucher, geboren 1978, aufgewachsen in Luzern, ist Autorin, freie Journalistin und Dozentin. In Zürich und Hamburg studierte sie Filmwissenschaften, Publizistik und Kunstgeschichte. Heute lebt Gina Bucher mit ihrer Familie in Zürich und schreibt Kolumnen und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschienen Geschichten über das Scheitern: «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (2018) und Geschichten über die Liebe: «Ich trug das grüne Kleid, der Rest war Schicksal» (2016). Als Herausgeberin verantwortete sie verschiedene Bücher im Kunstbereich. Seit 2021 arbeitet Gina Bucher auch als Dozentin an der F+F Kunst- und Designschule, Zürich, und seit 2017 als Schreibtrainerin am Jungen Literaturlabor JULL in Zürich.