Der Supergau in jeder Familie; ein Kind stirbt. Nichts ist mehr so wie zuvor. Es gibt das Leben davor und ein Restleben danach. Daniela Krien beschreibt ein Paar, das nach dem Tod der 17jährigen Tochter feststellen muss, dass da viel mehr ist, als bloss eine Lücke, ein Verlust. Linda und Richard fallen aus ihrem Leben, aber nicht als Paar, sondern in die Einzelteile.
Linda hat sich in ein altes Haus zurückgezogen, in einem Strassenkaff unter einer Anflugschneise zu einem Flughafen, in vier Wände, in denen nichts an Sonja spiegelt, weit weg von den Menschen, die sie an sie erinnern, von den Strassen und Plätzen, auf denen sich das Leben ihrer Tochter abspielte. Linda erträgt weder sich selbst, noch ihren Mann, der so ganz anders mit der Trauer und dem Schmerz umgeht wie sie selbst. Der nach ihr blossem Aktionismus verfällt. Noch viel weniger erträgt sie die Ermahnungen ihrer Mutter, nach vorne zu schauen, sich dem Leben nicht zu verschliessen, sich zusammenzureissen, ihre Aufsässigkeit am Telefon. Aber am allerwenigsten erträgt sie sich selbst, das Treten am Ort, den Blick in den Spiegel, dass sich die Welt einfach so weiterdreht. Sie hadert mit sich, fühlt sich schuldig, ihre Tochter nicht wirklich gekannt, sie missverstanden zu haben, Erinnerungen an sie zu verlieren. Es gibt keine Normalität mehr, weder in ihrer Gefühlswelt, nicht im Blick auf das, was übrig geblieben ist.
Richard, ihr Mann, der zu Beginn noch im gemeinsamen Haus geblieben ist, besucht sie immer wieder, bringt ungefragt, was er glaubt, brauche sie, bleibt, in der Hoffnung, es würde ein Gespräch entstehen, wieder ein Miteinander. In den Tagen und Wochen nach dem Tod funktionierte man noch gemeinsam, stellte sich den Aufgaben und Pflichten, bis zusammenbrach, was nur noch als Gerippe übriggeblieben war. Mittlerweile ist da neben dem Schmerz um die Tochter ein ebenso grosser um den Verlust einer Liebe. Es scheint nichts geblieben zu sein. Nicht dass die Liebe verschwunden wäre. Aber sie hat das Gegenüber verloren. Da hilft auch sein Flehen nicht, schon gar nicht sein Bitten und Drängen.
Daniela Krien «Mein drittes Leben», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07305-8
Selbst in dem Dorf, in dem sie das Haus einer Mitpatientin bewohnt, einer Frau, die wie sie an Krebs erkrankte, aber im Gegensatz zu ihr sterben musste, begegnet man Linda mit respektvoller Distanz. Sieht, dass sich da eine Frau um Haus und Garten kümmert, sogar um den Hund und die Hühner, die von den einstigen Tieren geblieben sind. Im Haus hängen die Fotos jener Frau, eines Lebens, das nicht das ihre ist. Linda ist aus der Haut gefahren, während ihr Mann sich mit einem neuen Leben, irgendwann gar mit einer neuen Frau an seiner Seite, zurechtzufinden versucht.
Einzige Bezugsperson ist Natascha und ihre authistische Tochter. Eine Frau, die es schafft, in ihrer ganz direkten, ungeschönten Art, die Linda die Tür zur Welt doch immer wieder aufzureissen, eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt und alles versucht, ihrer Tochter die Mutter zu sein, die sie braucht.
Durch den Verkauf des gemeinsamen Hauses zu Geld gekommen, eröffnet sich für Linda mit einem Mal die Möglichkeit, Menschen aus der Enge zu befreien. Der selbstzerstörerische Blick auf sie selbst wird herumgerissen oder weicht zumindest auf. Obwohl der Schmerz bleibt, der Verlust noch immer nagt, beginnt Linda zaghaft ein neues Leben.
Obwohl „Mein drittes Leben“ ein Roman über Verlust ist, ist dieses Buch vor allem eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte eines Paares, aus deren Liebe eine Tochter wurde, der man die Tochter genommen hatte und das verzweifelt versucht, das Leben irgendwie zurückzugewinnen. Obwohl sich Linda in ihrem Schmerz einigelt, sind die zaghaft vorsichtigen Besuche ihres Mannes im Restleben seiner Frau etwas vom Ergreifendsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe. Sie schildern derart viel Zartheit, Geduld, Menschlichkeit und Trauer darüber, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, dass man das Buch an solchen Stellen für einige Momente ablegen muss.
Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane «Die Liebe im Ernstfall» und «Der Brand» standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.
Die ganze Erde schien zu duften und still zu liegen wie ein schlafendes Mädchen. Das grosse dunkle Rund des nächtlichen Himmels breitete sich über alle Augen aus, über die Berge und die Lichter. Der See hatte etwas Raumloses bekommen und der Himmel etwas den See Umspannendes, Einschliessendes und Überwölbendes.
Lieber Bär
Ich weiss, Du liest „Geschwister Tanner“ von Robert Walser. Keine Ahnung, ob zum ersten oder zum wiederholten Mal.
Grab Carl Seelig auf dem Friedhof Sihlfeld, Zürich
Robert Walser zählt heute zu den wichtigsten, deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl es schon zu Lebzeiten in absolute Vergessenheit geriet und nur Dank der Anstrengungen des Publizisten Carl Seelig zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet. Ein grosses Glück, denn selbst Franz Kafka schätzte den stillen Dichter.
Heute ist Robert Walser ein Stück Schweizer Kulturgut. Seit 1973 kümmert sich das Robert-Walser-Zentrum um den Nachlass, die Forschung, Ausstellungen und Editionen zum Werk des Dichters. Kaum zu glauben, dass er in seinen letzten Jahren entmündigt und fast ohne jegliche Kontakte sein Leben in einer Nervenheilanstalt fristete. Selbst Carl Seelig musste sich das Vertrauen des Stillgewordenen verdienen.
Das langsame Verschwinden Robert Walsers begann schon lange vor seinem Tod am Weihnachtstag 1956. Nach seiner letzten Veröffentlichung in Buchform («Die Rose») 1925 schreibt Robert Walser nur noch kürzere Prosastücke für Zeitungen und seine mittlerweile berühmt gewordenen Mikrogramme mit Bleistift. Texte, die erst Jahrzehnte nach Walsers Tod von den Publizisten Bernd Echte und Werner Morlang detektivisch entziffert und zum grössten Teil auch veröffentlicht wurden.
Parallel zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, jenem Land, in dem seine Bücher Beachtung und eine kleine, aber nicht unbedeutende Leserschaft fanden, verschlechterte sich der psychische Zustand Robert Walsers. Irgendwann so sehr, dass sich seine Schwester Lisa, zu der Robert grosses Vertrauen hatte, gezwungen sah, ihren Bruder zum Psychiater zu bringen. 1929 tritt Walser in die Klinik Waldau unweit von Bern ein. Diagnose Schizophrenie. Und nachdem man ihn vier Jahre später gegen seinen Willen in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau verlegte, gab es sein Schreiben vollständig auf, kapselte sich mehr und mehr ein. Ein Rückzug, der schon mit der geringen Resonanz seiner Bucher zwei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte.
Warum Robert Walser lesen? Weil die Stimme, der Walser-Kosmos ganz eigen ist. Weil sich Robert Walser Zeit seines Lebens nie vereinnahmen liess. Weil Robert Walsers Stimme etwas Rebellisches hatte, ohne aufbegehren zu wollen. Weil er sich ganz gegen das stemmte, wonach heute eine ganze Generation lechzt; Aufmerksamkeit, Scheinwerferlicht. Weil Robert Walsers Stimme trotz seiner Einsamkeit eine nach Aussen gewandte, eine naturnahe, elementare, äusserst sinnliche war und man auch heute bei der Lektüre von der Musikalität und Intensität der Sprache ergriffen ist, einem Erzählen, das vollkommen plotabgewandt ist.
Robert Walser «Geschwister Tanner», erste Seite der Handschrift. Das 192 Seiten umfassende Manuskript zeigt über weite Strecken keinerlei Korrekturen. Für sie Makellosigkeit seiner Manuskripte war Walser, der einstige Commis, schon früh berühmt.
Heute ist man sich sicher, dass Robert Walser noch weit mehr geschrieben haben muss, weit über das, was im Nachlass des Dichters verfügbar geblieben ist. Aber weil Robert Walser sehr oft seinen Wohnort wechselte und man bei Hinterlassenschaften des immer schrulliger werdenden Mannes nichts von seiner Bedeutung ahnen konnte, gingen mit Sicherheit etliche Manuskripte verloren. Auch deshalb, weil Robert Walser selbst kein Interesse zu haben schien, sein eigenes Schreiben in irgend einer Weise zu dokumentieren.
Umso bedeutender ist die Tatsache, dass sich sowohl das Robert Walser Zentrum wie der Suhrkamp Verlag darum bemühen, das Werk des Dichters zugänglich und kommentiert zu erhalten.
Nachdem sein erstes Prosawerk «Fritz Kochers Aufsätze» ein grosser wirtschaftlicher Misserfolg war und nur ganz wenige Bücher verkauft wurden schreibt Walser seinen zweiten Roman «Geschwister Tanner» in Berlin in der Obhut seines Bruders Karl in wenigen Monaten, ein Roman, der selbst bei seinem Lektor Christian Morgenstern gemischte Gefühle hervorrief. Wenn ich „Geschwister Tanner“ lese, in die Welt des „Taugenichts“ Simon trete, mit ihm all die Wirrungen und Begegnungen mitmache, die das Leben eines Menschen ausmacht, der sich ganz dem Jetzt zuwendet, der sich nicht um Kariere, Sicherheit und Besitz kümmert, und das derart unbekümmert erzählt, dann wird aus der Lektüre beinahe Meditation.
Ich bin gespannt, was Dir bei der Begegnung mit dem walser’schen Kosmos durch den Kopf geht. Sei freundschaftlich gegrüsst.
Gallus
***
Lieber Gallus
Die «Geschwister Tanner» sind ein Märchen, und sie sind für mich das erstaunlichste Märchen, das je geschrieben wurde, weil es kein anderes gibt, das so nahe an der Realität spielt. Peter Bichsel
Der Walser`sche Kosmos in diesem Buch beglückt, bedrückt, begeistert, berührt, belehrt und bereichert mich auf rätselhafte Weise. Einzigartige Naturschilderungen von unglaublicher Schönheit umhüllen in poetischen Worten geschilderte menschliche Abgründe und Sorgen. Wie Peter Bichsel in meiner Ausgabe anmerkt, ist es ein Märchen sehr nahe an der biografischen Realität, ein Text in einer einzigartigen Sprache, der sich kaum einer Analyse unterziehen lässt. Ich habe das Buch mit Genuss (zum zweiten Mal nach fast zwanzig Jahren) gelesen und finde, es hat eine unfassbare Ausstrahlung.
Es gibt keine echten Dialoge zwischen den Geschwistern, für mich beleuchten ihre Aussagen verschiedene Seiten des Protagonisten Simon (=Robert Walser) aus ihrer Perspektive, geschrieben alle im Walser`schen Stil. Aus Sätzen, die Alltägliches beschreiben, leuchten plötzlich Weisheiten und philosophische Gedanken auf. Was denkt Robert Walser wirklich, was will er uns sagen? Leidet er? Liebt er? Kämpft er? Es bleibt auf wunderbare Weise offen. Mir gefällt dieses Meditative und Mystische sehr, voller Naivität und Unbekümmertheit.
Es lohnt sich, langsam und nicht zu viel auf einmal zu lesen. Wie Werner Hegglin («Menschsein ist schon ein Beruf») mir einmal sagte: «Walser ist konzentriert in homöopathischen Dosen zu geniessen.»
Hier ein paar eindrückliche Mosaiksteinchen aus diesem Buch:
Sie haben mich enttäuscht, machen Sie nur nicht ein so verwundertes Gesicht, es lässt sich nicht ändern, ich trete heute aus ihrem Geschäft wieder aus und bitte Sie, mir meinen Lohn auszubezahlen.
Das Rechnervolk: Sie hatten alle langen Nasen von dem vielen Rechnen und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und zerknickten Kleidern.
Gott ist das Nachgiebigste, was es im Weltraum gibt. Er besteht auf nichts, will nichts, bedarf nichts.
Ich bin demütig, nicht geknickt, nicht etwa gebrochen, aber voll flammender, bittender, flehender Demut. Ich will mit Demut gut machen, was ich mit Liebe verbrochen habe.
Wie kann ich länger zusehen, dass ich mich zu einem solchen Leben verdamme, das nur Achtung einbringt und nur Achtung von anderen, die einen immer so haben wollen, wie es ihnen am besten passt.
Simon hatte den Sommer noch nie so sehr als Wunder empfunden, wie dieses Jahr, wo er vielfach auf der Strasse arbeitssuchend lebte. Es kam nichts dabei heraus, trotz den Bemühungen, aber es war wenigstens schön.
Wahrlich ein Kosmos von grosser literarischer und menschlicher Qualität. Unfassbar, aber beglückend! Walser lesen entschleunigt und wirkt lange nach.
Das Einfachste von der Welt: Alle mit Freundlichkeit zu behandeln! Sind wir nicht alle zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten, Geschwister?
Mit diesem Satz Robert Walser’s wünsche ich dir und uns allen ein angenehmes friedliches 2025.
Herzlich
Bär
Robert Walser wurde 1878 in Biel, Schweiz, geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, liessen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches «Fritz Kochers Aufsätze» im Insel-Verlag folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehilfe» und «Jakob von Gunten». Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Robert Walser starb 1956 auf einem Spaziergang im Schnee.
Romane über Demenz oder Alzheimer sind kein leichtes Terrain. Und doch gelingt es der Literatur immer wieder, dieser Erkrankung nicht nur mit viel Verständnis und Respekt zu begegnen, sondern auch mit Humor. Der Vorarlbergerin Petra Pellini gelingt es ausnehmend gut, mit Humor über einen Zustand zu berichten, der den Schrecken nicht nimmt, aber so viel Empathie zeigt, dass man sich vor dem Feingefühl der Schriftstellerin verbeugt.
Linda, das Mädchen, das erzählt, ist fünfzehn. Schon auf der ersten Seite des Romans droht sie, sich vor ein fahrendes Auto zu werfen. Linda braucht Hilfe. Und Linda bekommt Hilfe. Nur nicht von dort, wo Hilfe herkommen müsste. Nicht von ihrer Mutter, schon gar nicht von deren neuem Freund Jürgen, dem Bestatter, und auch nicht von ihren Freundinnen. Aber von Hubert und Kevin. Hubert ist ihr Nachbar, pensionierter Bademeister aber in fortgeschrittenem Stadium an Demenz erkrankt. Dass ihm in den vierzig Jahren Bademeister nicht einmal ein Kind ertrunken ist, trägt Hubert wie einen Orden mit sich. Aber dass seine Frau Rosalie vor fast zehn Jahren gestorben ist und vom Einkaufen nicht mehr nach Hause kommt, das hat Hubert vergessen.
Linda hat sich von Huberts Tochter überreden lassen, dreimal die Woche auf Hubert aufzupassen, nachbarschaftliche Hilfe. Huberts Tochter hat dafür keine Zeit, wohnt zu weit weg. Auch zur Entlastung der polnischen Haushaltshilfe Ewa, die das Tun und Lassen ihres Patienten immer wieder mit Skepsis und einer ordentlichen Portion Unverstand kommentiert, zwar tatkräftig zupackt, aber lieber die Augen verschliesst, wenn Hubert von seiner Krankheit ins Abseits gestellt wird. Wenn er Karotten toastet und sich mit der Zahnbürste die Haare kämmen will. Linda begegnet Hubert unvoreingenommen. Hubert ist nicht jener, der er einmal war, wie für seine Tochter. Hubert ist für Linda der, der er ist.
Aus mir soll etwas werden, dabei interessiert niemanden, wer ich wirklich bin.
Petra Pellini «Der Bademeister ohne Himmel», Kindler, 2024, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN: 978-3-463-00068-8
Kevin, mit dem sie sich manchmal trifft, ist wie Linda des öftern in seiner Ausweglosigkeit gefangen. Nicht nur, dass er als Nerd viel lieber in seiner abgedunkelten Höhle zuhause vor seinen Bildschirmen sitzt. Kevin sieht wenig Hoffnung für eine Welt, die längst aus den Fügen geraten ist, die irgendwann droht, die Menschheit dafür zu bestrafen. Hubert, Linda und Kevin, ein Dreigespann, dass sich lieber nicht allzu sehr mit der Zukunft beschäftigt, das genug mit sich selbst zu tun hat, das alleine gelassen wird.
Zwischen Hubert und Linda entwickelt sich eine ganz eigene Freundschaft, eine Beziehung, in der man sich weniger offenbart als in seinem Gegenüber vertraut fühlt. Zusammen mit Ewa, zu der Linda viel leichter einen Zugang findet als zu ihrer eigenen Mutter oder gar zu ihrem neuen Freund, einem weiteren in einer langen Reihe, helfen sie Hubert, sich zurechtzufinden, sei es durch den Duft aus der Küche oder ganz eigene „Spiele“, die Linda für Hubert inszeniert, Spiele, die für Hubert zu seiner Welt werden.
Nicht nur weil Ewa für ein paar Tage weg muss und eine hygienebesessene Aushilfe Huberts Pflege übernehmen soll, beginnen sich die Ereignisse um Hubert zu überstürzen. Linda spürt, dass etwas unwiederbringlich verloren geht, dass sich eine Vertrautheit und ein Stück Zuhause mit zunehmender Demenz verabschiedet.
«Hubert bist du zuhause?“, frage ich ihn und klopfe ihm auf die Schulter.
Nicht nur dass Petra Pellini als Pflegefachfrau genau weiss, wovon sie schreibt und was fortschreitende Demenz für alle Betroffenen bedeutet, die Autorin erzählt mit ungeheurer Leichtigkeit und grösstmöglichem Einfühlungsvermögen. Nicht dass sie der Krankheit den Schrecken nimmt, aber durch die Erzählperspektive einer 15jährigen, die in einer Mischung aus kindlicher Naivität und erwachsener Fürsoge instinktiv zu verstehen scheint, was ein alter Mann, der sich in seiner alten Welt mehr und mehr verliert, sucht und braucht. Gleichzeitig liegt in ihrem Erzählen so viel Leichtigkeit, Witz, Humor und Lebensweisheit, dass man sich mit der Lektüre bis zur letzten Seite diesem schleichenden Schrecken gerne aussetzt.
Petra Pellini, geboren 1970 in Vorarlberg, lebt und arbeitet in Bregenz. Sie war lange in der Pflege demenzkranker Menschen tätig. Für einen Auszug aus ihrem Roman «Der Bademeister ohne Himmel» wurde sie 2021 mit dem Vorarlberger Literaturpreis ausgezeichnet.
Ein Zug fährt von Westen nach Osten, quer durch ganz Russland. Der Zug der Transsibirischen ist vollbesetzt, Rekruten auf dem Weg in die Ausbildung, Menschen auf der Reise, eine junge Französin, eine Touristin auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Aber unter den zukünftigen Soldaten sinnt auch Aljoscha auf Flucht, jedes Mal, wenn der Zug hält.
Hélène fährt in ihrem Abteil erster Klasse. Sie ist aus einer spontanen Eingebung eingestiegen, war mit Anton in Moskau unterwegs, als Begleitung, um dann plötzlich alles in eine Tasche zu stopfen, um Distanz zu dem Leben zu bekommen, in dem sie sich festgefahren fühlte. Sie spricht nicht einmal Russisch, hat keine Vorstellung davon, was dort, irgendwo im Osten sein wird, nur weg. Aljoscha wurde zwangsrekrutiert, sitzt mit vielen anderen in diesem Zug, Rekruten zur Ausbildung, Männern, die er nicht kennt, zu denen er nicht gehören will, weil er nicht sein will, wozu man ihn machen will. Aljoscha wollte nicht weg und schon gar nicht zu einem Soldaten ausgebildet, Kanonenfutter werden. Jede Haltestelle auf der tagelangen Bahnfahrt ist Aufforderung genug, die Flucht zu ergreifen, abzuhauen, auch wenn er weiss, dass es kein Zurück geben wird.
Am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen und die dedowschtschina, das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein, niemand wird ihm helfen können.
Der Zug rattert gen Osten, Kilometer für Kilometer, Stunde für Stunde. Für Hélène genauso in eine ungewisse Zukunft, wie für Aljoscha. An den Haltestellen, an denen sich die Reisenden die Füsse vertreten, auch die angehenden Soldaten dem Zug entlang von ihren Vorgesetzten beobachtet werden, schnuppert Aljoscha nach der einen Chance, die ihn aus dem Würgegriff eines Alps entlassen soll. Aber bei jedem Versuch fehlt der Mut, die letzte Entschlossenheit, aber auch das Glück.
Maylis de Kerangal «Weiter nach Osten», Suhrkamp, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 90 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-518-43212-9
Hélène spürt die Not des jungen Mannes, sieht seinen Blick, die Augen, die das Weite suchen. Sie begegnen sich immer wieder auf den schmalen Gängen des Zuges, wenn er seine Stirn an die Scheibe drückt. Zwischen den beiden wächst ganz zaghaft eine Verbundenheit, eine Mischung aus Mitleid und Verliebtheit, aus Faszination und Hilflosigkeit. Bis Aljoscha alles auf eine Karte setzt und ein weiterer Fluchtversuch zu scheitern droht. Es gibt keine Versuche, nur Scheitern oder Gelingen. Hélène zieht den jungen Mann in ihre Kabine und versteckt ihn dort, wo man sonst die Koffer in einen Zwischeraum schiebt. Die körperliche Nähe wird zur Notwendigkeit, nicht nur in seinem Versuch, sich vor seinen Vorgesetzen und dem Personal des Zuges unsichtbar zu machen, sondern weil der Raum zwischen und um die beiden mit einem Mal auf das reduziert wird, was eine Kabine mit zwei Pritschen hergibt.
Das Hemd verlangt er, weil es um seine Freiheit geht.
Aus Hélène und Aljoscha werden Verbündete ohne gemeinsame Sprache. Aljoscha braucht seine Verbündete und Hélène hat sich an ein Schicksal gehängt, dem auch sie nicht mehr entfliehen kann. Während der Zug unaufhaltsam Richtung Osten rollt, spinnt sich ein Verhältnis, dass die beiden mehr und mehr aneinander fesselt. Werden sie es schaffen? Gibt es ein Danach?
Maylis de Kerangal schafft einen klaustrophobischen Raum, einen Zug in die Verdammnis, einen Weg, den es nur in der einen Richtung gibt. „Weiter nach Osten“ ist ein schmales Buch mit erstaunlichem Tiefgang. Ob in seiner Dramatik oder in seiner Sprache. Lange, mäandernde Sätze, die das Rattern der Räder aufnehmen, die den Zug imitieren, den Zug des Geschehens, den Zug auf Rädern. Maylis de Kerangal schafft Erstaunliches. Es ist das Psychogramm einer Not. Man riecht den Schweiss der Angst, den Zwang des Kollektivs, das lauernde Misstrauen, das Reissen der Verzweiflung.
Irgendwie Liebesgeschichte und doch nicht. Irgendwie Antikriegsgeschichte und doch nicht. Irgendwie Thriller und doch nicht. Aber ein absolut beklemmendes Kammerspiel!
Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.
Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.
Die 70er irgendwo im fränkischen Süddeutschland. Roberta kehrt nach einer ernüchternden Lehre in der Stadt zurück in ihr Heimatdorf. Obwohl da einmal der Plan war, in die Welt hinauszuziehen, als Modistin ihr Glück zu finden, arbeitet sie wieder auf dem Hof ihrer Eltern und nimmt einen Faden auf, den sie nie ganz losliess.
Ewald Arenz ist ein Phänomen. Obwohl er seit fast vierzig Jahren als Schriftsteller veröffentlicht, wurde er erst mit „Alte Sorten“, seinem ersten Roman bei Dumont, einem breiten Publikum zum Fixstern. Dabei trugen bis zum Verlagswechsel schon mehr als ein Dutzend Titel seinen Namen, änderte sich eigentlich bloss der Verlag. Ewald Arenz blieb seiner Herkunftsgegend treu, dem Leben auf dem Land, einer Welt zwischen Idylle und harter Realität. Schon sein Bestseller „Alte Sorten“ ist ein Roman darüber, wie sehr uns Leben weggenommen wird und wie schwer es ist, zurückzufinden, wie sehr sich Tradition und Aufbruch reiben.
In „Zwei Leben“ versucht Roberta einen Neustart auf dem Hof ihrer Eltern. Roberta ist das einzige Kind. Sie weiss um die Verpflichtung, die unausgesprochen auf ihren Schultern liegt, erst recht jetzt, wo der eine Versuch des Ausbrechens gescheitert ist. Man macht zuhause kein grosses Aufhebens über ihre Rückkehr. Sie ist wieder da und packt an. Roberta spürt, dass der Traum, ihr ganz eigenes Leben zu finden, nicht ausgeträumt ist, dereinst selbst zu schneidern, Kleider zu entwerfen, dort zu wirken, wo Kleidung nicht bloss Mittel zum Zweck ist. Über die gebändigte Sehnsucht hilft ihr Wilhelm, mit dem sie schon eine Kindheit lang Freundschaft verbindet. Wilhelm, der Sohn des Pfarrers. Aber weil sie weiss, dass Wilhelm bald wegziehen wird, um in der fernen Stadt zu studieren, wehrt sie sich gegen ein Gefühl im Bauch, das mehr und mehr zum Elexier wird.
Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2
Die Pfarrersleute sind unmittelbare Nachbarn. Man kennt sich, obwohl kein Zaun, sondern eine Mauer das Pfarrhaus umgibt, obwohl die Mutter Wilhelms einst in fernen Hamburg aufwuchs und jeder im Dorf spürt, dass die Frau, die immer die Frau Pfarrer ist, von der man nicht einmal den Vornamen kennt, nie eine Hiesige werden wird. Das spürt auch Heinrich, ihr Mann, dem der Kampf gegen das Schweigen und der latente Trotz im Dorf längst zur Lebensaufgabe geworden ist. Getrud, die Frau Pfarrer, will weg, auch wenn ausser ihrem Bruder, der in der Ferne als Wissenschaftler Erfolge feiert, niemand etwas von ihrem tiefsitzenden Schmerz erfährt. Selbst Heinrich, ihr Mann, der das Unglück seiner Frau spürt, sitzt den Schmerz aus.
Zwischen Roberta und Wilhelm entwickelt sich eine vorsichtige Liebe. Roberta weiss, dass sie ihr Herz nicht an einen zukünftigen Studenten verlieren sollte und Wilhelm drängt nicht. Robertas Eltern blenden die Bedürnisse ihrer Tochter aus und Wilhelms Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ausser Robertas Grossvater niemand merkt, was sich zwischen den beiden anbahnt. In ihrer Not erbittet Wilhelms Mutter ihren Gatten um eine Auszeit, als Begleitung einer Vortragsreise ihres Bruders. Eine Reise, die in den letzten Tagen eine ganz unerwartete Wendung bekommt und das Leben Wilhelms Mutter arg ins Wanken bringt. Aber auch im Dorf überstürzen sich die Ereignisse. Der Tod zieht wie eine schwarze Wolke über das Dorf.
Mag sein, dass die Geschichte selbst in Sachen Melodramatik etwas dick aufträgt, dass auch etwas weniger Schmerz gezeigt hätte, dass sich unter kleinen Schritten grosse Kluften aufreissen können. Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.
Die Fans werden den neuen Arenz lieben!
Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren und studierte nach einigen Semestern Rechtswissenschaft englische und amerikanische Literatur sowie Geschichte. Er ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands, dessen Gesamtauflage bei über einer Million verkaufter Bücher liegt. „Alte Sorten“, „Der große Sommer“ und „Die Liebe an miesen Tagen“ waren mehrfach Jahresbestseller auf der SPIEGEL Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Arenz ist mit vielen Kulturpreisen ausgezeichnet worden.
«Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen.»
Gastbeitrag von Urs Abt
Die syrische Autorin, die seit 2011 im Exil lebt, hat eine wunderbare poetische, universelle Geschichte mit grosser Tiefe geschrieben. Das Buch ist dieses Jahr auf Deutsch im Unionsverlag erschienen und hat mich an den diesjährigen Weihnachtstagen vor dem Hintergrund der vielen Kriege auf dieser Welt bereichert.
Samar Yazbek «Wo der Wind wohnt», Unionsverlag, 2024, aus dem Arabischen von Larissa Bender, 192 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-293-00608-9
Ein von einem Bombenangriff verletzter junger Soldat liegt auf einem Berg neben einem Baum. Zwischen seinem Leben und Sterben, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit erleben wir schwebend in Erinnerungsfetzen von Ali wie nebenbei die Schrecken des Assad Regimes nach der Revolution. Der verwundete Körper ist von Schmutz und Laub bedeckt, schmerzhaft und unbeweglich auf der Erde fixiert und in wechselndem Bewusstseinszustand. Wind, Mond, Bäume und die Morgendämmerung bereichern die Szenen.
«Würde der Baum doch zu ihm kommen! Aber Bäume stehen fest, es sind die Menschen, die gehen müssen, um zu ihnen zu gelangen. Aber er kann nicht gehen.»
«Sie wussten, welche Strafe jene erwartete, die sich ihm und seiner Macht entgegenstellten, hier oder in der Hauptstadt. Die Angst war Teil ihres Lebens, eine komplizierte und komplexe Angst, die er nicht verstand. Aber an diesem Tag sollte er sie kennenlernen.»
Aus dem arabischen von Larissa Bender ausgezeichnet übersetzt beeindruckt die poetische, klare und traumartige Sprache, die trotz des traurigen Geschehens Hoffnung zulässt. Die Kraft der Poesie bezwingt die Sprachlosigkeit des Kriegs. Ein unbedingt lesenswertes Buch dieser engagierten syrischen Autorin.
Samar Yazbek, geb. 1970 in Syrien, studierte arabische Literatur, engagiert sich für Bürgerrechte und arbeitet als Fernsehreporterin, Journalistin und Schriftstellerin. 2011 floh sie zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Für ihr Werk erhielt Yazbek mehrere Auszeichnungen, darunter den PEN Pinter Preis, den Tucholsky Preis, den PEN Oxfam Novib Preis und den Prix du Meilleur Livre Étranger. Ihre Romane waren außerdem nominiert für den Prix Médicis, den Prix Femina und den National Book Award 2021.
Larissa Bender (1958) studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie in Köln und Berlin sowie Arabisch in Damaskus. Sie ist Literaturübersetzerin, Journalistin und Dozentin für Arabisch und hat zwei Anthologien über Syrien herausgebracht. Bender ist Moderatorin und berät Verlage und Kulturveranstalter. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören Abdalrachman Munif, Mustafa Khalifa, Dima Wannous und Khaled Khalifa. 2018 erhielt sie für ihr Engagement als Brückenbauerin in die arabische Welt das Bundesverdienstkreuz.
Wenn Literatur fiktional erzählt, ist alles möglich. Dabei spielt auch die Frage, wie raelistisch eine solche Fiktion sein könnte, keine Rolle. Literatur darf alles, fast alles. Hans Augustin hat sich in „Als ich mit Z zu Abend aß“ keine Grenzen gesetzt, keine räumlichen, schon gar keine, die sich an der Realität messen müssten. Sein Roman ist köstlich!
Einen Tarnmantel nutzte schon Siegfried im Nibelungenlied, als er einen solchen vom Zwerg Alberich erringt. Die Vorstellung, was man mit einem solchen alles tun könnte, hat den Schriftsteller Hans Augustin so sehr fasziniert, dass er seinen Protagonisten etwas tun lässt, was sonst undenkbar wäre.
Noah Greenfield ist Regisseur einer Theatertruppe, die ganz überraschend eine Einladung ins russische W (Wladiwostok?) bekommt, um dort Shakespeares Sommernachtstraum aufzuführen. Man entschliesst sich hinzufliegen, obwohl ausgerechnet während der Hinreise der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine beginnt, Putins „militärische Spezialoperation“. Noah Greenfield spricht leidlich russisch und findet wegen einer zerrissenen Hose in der Maxim-Gorki-Ulica eine Änderungsschneiderei, Shlomo Stoff, wo ihm ein Sakko auffällt, das er anprobiert, obwohl ihn der Schneider darauf hinweist, es wäre für einen ganz bestimmten Kunden, der das Kleidungsstück aber erst noch abholen werde. Zu Greenfields Überraschung verspricht ihm der Schneider ein ganz exklusives Abenteuer, in jenem Sakko eine Begegnung mit Z, dem Präsidenten, dem Mann im Kreml. Greenfield, der die Inszenierung ungewöhnlicher Situationen liebt, lässt sich auf das Angebot ein und findet sich mit einem Mal, das Sakko angezogen, in den Räumen des russischen Präsidenten in Moskau.
Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin, 2024, 104 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903539-42-6
Schon als Greenfield die Schneiderei verlässt, merkt er, dass sein Spiegelbild in den Schaufenstern fehlt, dass man ihn im Supermarkt nicht bemerkt. Und als er sich am Empfang in den Regierungsräumen des Diktators unter den geladenen Gästen bewegt, bemerkt den unsichtbaren Gast niemand. Man wundert sich höchstens, dass immer wieder ein Häppchen auf einem Teller verschwindet oder der eine oder andere Gast einen ziemlich ungeschminkten Kommentar hinter seinem Rücken hören muss, Bemerkungen, die man nicht einmal auf den Strassen Moskaus ungestraft aussprechen könnte, nachdem mit dem Einmarsch der russischen Truppen ein Gesetz verabschiedet wurde, dass nur schon die Verwendung des Wortes Krieg mit 15 Jahren Gefängnis bestraft.
Greenfield kümmert das wenig. Er pirscht sich gar an den kleinen, gedrungenen Mann, dem ergebene Gefolgsleute und Speichellecker den Hof machen, flüstert auch dort, bis im Saal Unruhe ausbricht und der eine oder andere glaubt, dem Wahnsinn verfallen zu sein. Nach dieser ersten Konfrontation mit dem Präsidenten Z (auch wenn diese mit einem Unsichtbaren ungleich ist), einer eigentümlichen Nacht in einem Hotel und der Begegnung mit der Künstlerin Daria Bulak, schleicht sich Greenfield am nächsten Tag in Putins Privatvilla in der Rubljowka-Chaussee, vorbei am Wachpersonal, bis er im stillen Obergeschoss auf den einsamen kleinen Mann trifft, den ehemaligen Geheimdienstoffizier, der sich an einem kleinen Tisch an sein Abendessen macht. Greenfield nimmt sich ein zweites Gedeck und setzt sich dazu, ganz zur Verwunderung der Bediensteten Alissa, die sonst mit keinen Gästen in den Privatgemächern ihres Präsidenten rechnet.
So sitzen sich Greenfield und Z gegenüber. Greenfield zieht sein Sakko aus und konfrontiert den perplexen Mann mit Wahrheiten und Forderungen, die dem russischen Präsidenten sonst niemand zu formulieren traut, nicht zuletzt einem Ausweg, sich ungesehen zum Verschwinden zu bringen, um in seiner mehr und mehr verfahrenen Lage nicht irgendwann ein Ende mit Schrecken zu finden.
Was Hans Augustin auf seiner kleinen Bühne inszeniert, ist köstlich und befriedigt einem bei der Lesung wenigstens in der Fantasie, auch wenn die Realität damit nicht beschönigt werden kann. Hans Augustin beschreibt das Groteske, sowohl das Groteske der Realität, wie auch das Groteske des Fantastischen. So sehr die Argumentationen, das Gehabe und die Inszenierung einer alternativen Wahrheit aus offizieller russischer Perspektive eine Groteske ist, ein inszeniertes Theater mit Zehntausenden von Statisten, die ihren Einsatz am Rand der Bühne mit dem Leben bezahlen müssen und im Hintergrund, an der Front dieser „militärischen Spezialoperation“ für Generationen kein Stein auf dem anderen bleibt, so sehr ist die kleine Bühne in den Privatgemächern des Präsidenten eine Groteske. Der Mann, der Greenfield gegenübersitzt, ist bloss ein Mann.
Interview
Ich amüsierte mich köstlich, auch wenn mich bei meinem Spass ein beklemmendes Gefühl beschlich, ist doch Z der Kopf einer Maschinerie, der bisher Tausende zum Opfer fielen, unsägliche Grausamkeiten mit sich brachte und einen Landstrich so gross wie die Schweiz in Schutt und Asche legte. Aber einen Stellvertreter zu begleiten, der dem Mann in Moskau ungeschönt die Meinung sagt, das allein war die Fantasie wert. Und doch scheint in diesem Roman auch viel Ratlosigkeit zu stecken. Wie soll man angesichts der Ausweglosigkeit Hoffnung aufrecht erhalten?
Ratlosigkeit, insofern, als diese Geschichte mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden wird. Risiko, daß Greenfield im Moment des Sichtbarwerdens, eliminiert wird. Das habe ich – literarisch – ausgeschlossen.
Die Frage nach der Aufrechterhaltung von Hoffnung, rührt stark an die Frage, warum ist mit dem Leben überhaupt die Erfahrung von Leiden verknüpft? Wie viele unserer Handlungen dienen der Vermeidung von Leiden und Schmerz? Selbst in der Erfahrung der Freude ist eine Ahnung von Schmerz verborgen, denn Freude ist oft nur von kurzer Dauer. Lao Tse äußert sich dahingehend, daß der Sieger (nach einer Schlacht) die Feier eher einer Totenklage ähnlich sein soll. Dieses Thema ist Kern der Theodizee: wie ist Leiden mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren? Falls Gott ein Thema ist.
Mit der Dauer unerfüllter Hoffnung, wird Ausweglosigkeit oder Hoffnungslosigkeit deutlicher. (Wie sieht der Widerstandswille in der Ukraine nach fünf Jahren Krieg aus?) Ist Ausweglosigkeit eine Koordinate des Schicksals? Wer oder was trägt Schuld daran? Sie beschäftigt die Menschen von jeher. Sind Leid und Hoffnung (vom Leiden befreit zu werden) der Schöpfung immanent? Muß man – als Hoffender – religiös sein? Hoffen Tiere auch? Bisweilen könnte man das durchaus in Betracht ziehen. Die Treue eines Hundes, der jahrelang auf die Rückkehr seines Besitzers am Bahnhof wartet, hofft. (Film: „Das Leben von Hachiko“)
Woran denken Menschen oder was empfinden sie, wenn sie von Hoffnung sprechen? Von der Beendigung einer un(aus)haltbaren Situation? Manche verwechseln Hoffnung mit der Erfüllung eines Wunsches (Lotto-Gewinn). Was passiert, wenn Hoffnung enttäuscht wird? oder man nicht (mehr) hoffen kann? Es gibt in der Literatur nicht wenige Charaktere, an deren Schicksal Hoffnung – trotz allem – deutlich wird (Hiob); Hoffnung beinhaltet auch das Unerwartete.
Ist Hoffnung ausschließlich das Gefühl, daß etwas gut werden wird? Aber wie groß ist die Gewißheit? Die Frage nach dem Aufrechterhalten von Hoffnung angesichts einer ausweglosen Situation ist individuell, und allgemein schwer zu beantworten.
Und man darf die Fähigkeit des Menschen, sich etwas wünschen zu dürfen, nicht unterschätzen; auch wenn Wunschdenken bisweilen belächelt wird. Unter Umständen ist der Wunsch der Bruder der Hoffnung.
Die Idee einer Tarnkappe, eines Tarnmantels ist alt und bis in die moderne Kriegsführung Ziel vieler Anstrengungen. Selbst bei Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es Elbenmäntel, mit denen man vor Blicken unliebsamer Augen bewahrt wird. Es gäbe auch in der hiesigen Politik Machtmenschen genug, denen ich beim Blick in den Spiegel gerne unsichtbar etwas ins Ohr flüstern würde. In ihrem Roman lese ich viel Vergnügen ihrerseits. Aber auch die Lust, den Machthaber in Moskau in seiner eigentlichen Normalität zu zeigen?
Ich habe beim Schreiben des Romans (eigentlich eine Art Märchen) sehr große Lust verspürt, jemandem, dem man unter normalen Umständen nie nahe kommen kann, mitzuteilen, was Sache ist.
Normalität ist ein schwieriger Begriff; ist Normalität der „Standard“? Ist das Adjektiv “normal“ normal? Was bedeutet es, “abnormal“ zu sein? Wo verläuft hier die Grenze? Waren Nero, Stalin, Pol Pot, Pinochet etc. normal? War Bonhoeffer – angesichts der Kenntnis der Folgen seines Widerstandes – normal? Wäre es nicht besser gewesen, in den USA zu bleiben; aber nein, er geht zurück nach Deutschland, in den „Widerstand“. War die Rückkehr des Alexej Nawalny „normal“? Was läßt diese Menschen eine Entscheidung treffen, die in uns Befremden und Unverständnis auslöst? Z in seinem „normalen“ Umfeld zu zeigen, was realiter nicht möglich ist, war ein starkes Motiv; ich habe mir die Freiheit genommen, ein Abendessen mit Z – durch den Trick der Unsichtbarkeit – zu erzwingen. Es hat Z ratlos gemacht. (Auf so etwas sind Geheimdienstleute nicht vorbereitet).
Wir haben diplomatisch, politisch, wirtschaftlich (bis jetzt) keinen Erfolg erzielt; vielleicht gelingt es einer literarischen Herangehensweise; das „Entzaubern“ eines Präsidenten, der alle Anzeichen eines Diktators hat; Z ißt und trinkt wie jeder andere Mensch, er lebt abgeschirmt von der Öffentlichkeit, verfügt über mehrere Adressen, die nicht aufscheinen, um Attentaten aus dem Weg zu gehen, d.h. er hat auch Angst; er verfügt über eine große Anzahl an Geheimdienstleuten, und dennoch gelingt es einem Theaterregisseur, an seinem Tisch zu sitzen. Rein fiktiv, aber der Fiktion haftet eine gewisse Dimension realer Umsetzung an – es könnte sein, daß …
Der Konflikt rund um den kriegerischen Einmarsch der Russen in die Ukraine ist derart verfahren, dass pragmatische Lösungen kaum mehr möglich sind. Wie sollte Putin, ohne sein Gesicht zu verlieren, das Begonnene stoppen? Er führt einen „heiligen“ Krieg mit dem Segen seiner Vertauten, all jener, die wirtschaftlich und machtpolitisch von der Nähe zu Putin profitieren, die mit ihm untergehen werden, wenn sein Stern dereinst sinken oder gar fallen sollte. Die Stimme Greenfields könnte auch das Gewissen sein. Auch Putin wird eines haben. Kann man sich derart taub stellen?
Offenbar gibt es so etwas wie einen „Mechanismus“, der Mitgefühl ausblendet; dafür muß man ausgebildet sein; für mich ist das Verhalten von Z Beweis der Ausbildung zum KGB Offizier. Sie belegt ihre Faktizität, ihre Funktionalität. Was immer die Inhalte dieser Ausbildung gewesen sind, das Ergebnis beweist es. Z ist ein Geheimdienstoffizier (das übersehen Gesprächspartner ausländischer Regierungen ständig; Z ist als Präsident nicht vergleichbar mit dem Präsidenten von Norwegen oder Portugal).
Sich „taub-stellen“ wäre ein Hinweis auf eine bewußte Entscheidung, in bestimmten Momenten, bei Ereignissen taub zu sein; Taubheit und Blindheit sind physische Defekte, Einschränkungen, die (teilweise) medizinisch therapierbar sind; in diesem Fall ist die Medizin (mit Ausnahme der Psycho-Pathologie) außen vor. Wer sich taub stellt, hat ein Motiv. Und das ist auch antrainiert, um etwas zu erreichen. Und um gegen Empathie immun zu sein. Diese Fähigkeit außer Betrieb zu nehmen, ist eine bewußte Entscheidung.
Sie schicken Greenfield ihren Protagonisten als friedsamen Menschen in die Höhle des Löwen. Dieser nennt den Diktator bei seinen Einflüsterungen gar „Wobitschka“, wohl eine Art Kosewort. Hätten Sie den Mann mit einer Waffe geschickt, wäre das Buch ein ganz anderes geworden. Aber eines, das man auch schreiben könnte und das wahrscheinlich viel mehr Aufmerksamkeit und Leser*innen generieren könnte. Greenfield ist Theaterregisseur. Er inszeniert. Und mit einem Mal ist er mitten in einer ganz speziellen Inszenierung. Glaubt er tatsächlich, oder glauben Sie an die Macht der Vernunft?
Die Theaterliteratur oszilliert immer zwischen Sein und Schein; am Ende einer Tragödie stehen die Toten auf und gehen nach Hause (nach dem Applaus), in der Realität werden sie begraben.
Am Beginn des Interviews war die Frage nach der Hoffnung; Vernunft beinhaltet meistens die Sehnsucht nach Hoffnung einer Veränderung, ob sie erfüllt wird, ist ein anderes Thema. Ob die Vernunft siegt, ebenso. Vernunft hat Macht, solange Vernunft anerkannt ist; solange keine Begehrlichkeiten als „Vernunft“ vorgeschoben werden; Greenfield glaubt als Mensch und Regisseur, daß über Vernunft etwas erreicht werden, was am Theater (oder Film) gezeigt werden kann, auch wenn das Ende nicht nach Vernunft aussieht; man darf nicht übersehen, daß Kunst eine Ersatz-Funktion hat; die Darstellung einer Realität, bedient sich der „Übersetzung“ und wirkt mehr als das direkte Erleben. Die griechische Tragödie hat den Politikern vor Augen geführt, was passiert, wenn z.B. die Perser Athen angreifen. Zwischen „an die Vernunft glauben“ und sie umsetzen liegen bisweilen Kriege und Katastrophen.
In der Literatur scheint reine Fiktion aus der Mode gekommen zu sein. Man misstraut ihr. Dabei ist Literatur, Kunst doch genau der Ort, wo alles möglich sein sollte. Es geht Ihnen doch auch nicht nur darum, Ihrer Fantasie Platz zu geben. Ihr Roman soll doch auch zur Selbstreflexion animieren. Oder darf Literatur bloss noch unterhalten?
Es ist gar nicht die Frage des Dürfens; Literatur unterhält, das ist ihr immanent. Literatur bildet auch. Bereits der Titel eines Werkes ist Unterhaltung; das Problem scheint mir zu sein, daß der Begriff „Unterhaltung“ eine Bedeutung der Oberflächlichkeit hat. Als ob man Unterhaltung vermeiden sollte, weil der Inhalt viel zu ernst ist. Bei manchen Werken ist die Wirkung, die als Unterhaltung gesehen wird, peinlich, unangenehm. Manchmal wirkt der erhobene Zeigefinger, aber die elegantere Form einer Kritik ist die Unterhaltung (mit Augenzwinkern).
Unterhaltung ist Mittel zur Selbstreflexion (s. z.B. Nestroy u.a.) Man darf das Lachen (bis in das Restaurant) und die „Unterhaltung“ danach, nicht unterschätzen; denn das auf der Bühne Erlebte wirkt lange nach. Je nach Ereignis (Theater, Oper, Lektüre): manche bringt eine Szene in einem Buch oder im Film zum Weinen; eine sterbende Desdemona ist im Moment ihrer Arie tragisch, aber mit dem Tod ist das Schicksal beendet; das Motiv (Eifersucht) der Ermordung weckt Abscheu. Und kommt trotzdem immer wieder vor. Über menschliche Schwächen der Anderen läßt sich vortrefflich lachen (und unterhält sich darüber), und lacht dabei mitunter über sich selbst.
Hans Augustin, 1949 in Salzburg geboren, Studium der Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Salzburg, Medizin- und Italienischstudium in Innsbruck, 1981 Gründung der Handpresse, lebt seit 1976 in Tirol, zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Auszeichnungen, zuletzt Salzburger Lyrikpreis 2006.
Von Katzenhaltung zu sprechen, wird den meisten Beziehungen zwischen Katze und Mensch nicht gerecht. Wie kein anderes Tier schaffte es die Katze, trotz ihrer Eigenwilligkeit, Synonym für Wohlbefinden, Nähe und Zweisamkeit zu werden. Dass sich die Begegnung mit einer Katze aber auch zum Alptraum auswachsen kann, davon erzählt Monika Maron, eine der ganz Grossen der Deuschen Literatur.
Vielleicht ist es genau diese Eigenwilligkeit, die die Katze zu einem Kuscheltier macht. Man muss sich ihre Zuwendung verdienen. Katzen haben nichts von hündischer Ergebenheit. Und weil Katzen ihre Reinlichkeit ganz offen demonstrieren und damit ihren Jagdinstinkt zu kaschieren verstehen, wird die Katze, obwohl ursprünglich Raubtier, zum Kuschelprototypen. Dass Monika Maron keine Katzenhalterin ist, sondern seit Jahren begleitet von einem Hund, verwundert mich nicht. Zwei prägnante, eigenwillige Individuen unter gleichem Dach? Aber weil Monika Maron, oder zumindest die Erzählerin in diesem schmalen, schmucken Buch, ein Herz für Tiere hat, erweicht sie der Anblick einer räudigen Katze am Strassenrand, kurz vor einer Reise nach Budapest. Die nimmt sie mit nach Hause, tut alles, dass es der Katze wieder besser geht, unterschätzt aber die Eifersucht ihres Hundes. Und so kommt es, wie es kommen muss. Nur dass der Biss weder die Katze noch den Hund erwischt, sondern die Erzählerin.
Monika MAron «Die Katze», Hoffmann und Campe, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-455-01884-4
Wird man so für seine Fürsorge, seine Hingabe, die Hilfe, die Liebe belohnt? Ob dieses Buch auch eine Zustandsbeschreibung für die Trennung des ehemaligen „Heimatverlags“ S. Fischer nach 40 Jahren Veröffentlichungen mit der Autorin ist, weil sie bei einem rechtsnahen Verlag ein Essay veröffentlichte, weiss ich nicht, lässt dies aber im Hintergrund vermuten. Monika Maron war und ist eine eigenwillige Schriftstellerin, eine die polarisiert und sich mit ihrer eigenen Meinung nicht zurückhält, einer Meinung, die durchaus kontrovers und sperrig ist. Aber man kann die Erzählung auch einfach als Parabel lesen, wie schnell sich eine gute Absicht gegen einem selbst wenden kann. Raubtier bleibt Raubtier.
Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest, auch wenn sie schon auf dem Flughafen und noch mehr im Flugzeug spürt, dass sich die Entscheidung, den Biss auf die leichte Schulter zu nehmen, rächt. In Budapest angekommen, eingespannt in Termine, beginnt ein Amoklauf der Bakterien im Körper der Autorin. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Und obwohl ihr eine fürsogliche Begleitung zur Seite steht, wird aus dem Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen ein Kampf bis ganz nahe an die Katastrophe.
Klar liest man jedes neue Bücher dieser Autorin nach Zeichen jener Trennung, nach Ursachen und Wirkungen. Monika Maron wollte vielleicht auch bloss eine gute Geschichte erzählen, was ihr unzweifelhaft gelungen ist, sowohl handwerklich wie sprachlich. Ob ich als Leser dieser Geschichte nun die eine oder andere Bedeutungsebene unterschiebe, bleibt Leserinnen und Lesern überlassen. Aber ich traue der Autorin viel mehr zu. Auf jeden Fall hat die Erzählung Biss!
Interview
Man kann ihre Erzählung einfach als gute Geschichte lesen, weil jeder weiss, wie schnell sich eine gute Absicht in eine verfahrene Geschichte auswachsen kann. Das sind Geschichten, die Resonanz, durch eigene Erfahrung genügend Bestätigung finden. Dass die eigenwillige Schriftstellerin beinahe durch eine eigenwillige Katze ausgebremst wird, ist Stoff genug. Was entscheidet, ob ein Text zu einem Buch wird? Geschichten mit katastrophalem Potenzial, die aber gut ausgehen, offenbaren nachträglich ja auch ihre Komik. Man erzählt sie natürlich seinen Freunden, und mit dem wiederholten Erzählen verdichten sie sich und man selbst entdeckt dahinter Zusammenhänge und Zeichen, an die man, während man es erlebt hat, gar nicht gedacht hat. Und irgendwann sagt dann jemand: die Geschichte solltest du eigentlich schreiben. Und dann schreibe ich sie, so war das mit Bonnie Propeller und mit der Katze auch.
Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest. Es beginnt ein Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen bis zur drohenden Katastrophe. Bei uns in der Schweiz nennt man eine Katze „Büsi“, noch etwas niedlicher als in Deutschland „Schmusekatze“. Die Verkörperung der scheinbaren Harmlosigkeit beisst. Eine Metapher? Nein, bestimmt nicht. Außerdem war diese Katze ja überhaupt nicht bösartig. Das war einfach ein Unfall. Die Katze wollte sich gegen den wütenden Hund verteidigen und traf versehentlich meine Hand.
Vor ein paar Jahren veröffentlichten Sie die Erzählung „Bonnie Propeller“, eine Liebeserklärung an den verstorbenen Hund und die Erklärung dafür, einen „Neuen“ anzuschaffen. So gross die Liebeserklärung an Bonnie Propeller, so gross die Ernüchterung darüber, was die Eifersucht seines Nachfolgers auslösen kann. Sie zählen zu den bedeutensten Schriftstellerinnen der Deutschen Gegenwartsliteratur, seit bald 45 Jahre, seit ihrem Debüt „Flugasche“. Die beiden Erzählungen sind aber nicht einfach die Hinwendung zum Kleinräumigen. Wir leben in einem Klima des überhöhten Harmoniebedarfs. Streiten ist keine Fähigkeit mehr. Die Katze beisst, das wars. Wie weit steckt Gesellschaftskritik in dieser Erzählung? Das hieße, dieser Erzählung zu viel aufzuladen. Natürlich spielt sie nicht im luftleeren Raum, ich war nicht nur einfach in Budapest, sondern war eingeladen vom Matthias-Corvinus-Collegium, das oft als Orbans Kaderschmiede bezeichnet wird, das ich aber als eine großzügige Bildungsstätte mit offenem Meinungsstreit erlebt habe, was in der Geschichte auch vorkommt wie kleine Erinnerungen an Vergangenes oder Beobachtungen am Rande. Einen überhöhten Harmoniebedarf in der Gesellschaft erkenne ich eigentlich nicht, eher das Bedürfnis nach ergebnisoffenem Streit ohne Diffamierungen und Verdächtigungen. Die Katze hat damit nichts zu tun. Sie wollte sich verteidigen, das ist ihr Recht.
Nach 40 Jahren kündigte S. Fischer die Partnerschaft mit ihnen, weil sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Steckt in dieser Erzählung auch der Schmerz über jenen Biss? Oh Gott, nein. Ich fühle mich bei Hoffmann und Campe gut aufgehoben.
Sie schreiben Den Katzenbiss interpretiere ich als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine möglich Zukunft und nahm mir vor, mich in Sanftmut und Freundlichkeit zu üben. Beobachtet man die aktuellen Debatten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, wären das doch durchaus allgemeingültige Tugenden, die man sich vornehmen müsste. Gelingt es ihnen? Sanftmut und Freundlichkeit in politischen Debatten halte ich für unangemessen. Da geht es eher um die Bereitschaft, andere Meinungen ernst zu nehmen und zu ertragen, auch wenn sie scharf und provozierend geäußert werden und den eigenen Positionen extrem widersprechen. Mir ging es um die Demut gegenüber der eigenen Sterblichkeit und ihren kränkenden Vorboten, womit ich zum ersten Mal leibhaftig konfrontiert war.
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit zahlreichen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992) und der Deutsche Nationalpreis (2009).
Manchmal gibt es das eine nicht ohne das andere, selbst in der Liebe. In „Der blinde König und sein Narr“ verliebt sich der Erzähler, ein Schriftsteller, in eine Antiquarin. Beide lieben die Sprache, Bücher. Wenn Mara nur diesen Papagei nicht hätte, ein Tier, das sich mehr und mehr nicht nur zwischen die beiden stellt, sondern dem Schriftsteller all die lieben Gewohnheiten nimmt.
Jürg Beeler ist kein Plotschreiber. Seine Geschichten sind die Träger seiner Sprache. Seine Sprache ist sein Instrument. Welches Stück er spielt, ist sekundär. Wichtig ist, dass er spielt, dass ich Gelegenheit habe, seiner Sprachmusik zuzuhören. Es ist der Klang, die Melodie, es sind die leisen Töne, das Dazwischen, das mich an Jürg Beelers Schreiben fasziniert. Da sind die Störungen eines krächzenden Papageien sinnbildlich, eigentlich kaum zu übertreffen. Vor allem dann, wenn es der blinde König (Maras Papagei ist auf einem Auge blind und auch das andere trübt mehr und mehr ein.) schafft, seinen Narr zu seinem getreuen Untergebenen macht, wenn aus der unliebsamen Begleiterscheinung über die Zeit eine manchmal fast grotesk erscheinende Zweisamkeit wird, auf die der König nicht verzichten kann und sein Narr nicht verzichten darf.
Der Erzähler lebt als Schriftsteller schon einige Jahre im Norden Deutschlands, blieb wegen einer Frau hängen. Weil der Süden, das Meer, die lauen Winde, die mediterane Landschaft aber Sehnsuchtsort geblieben sind, setzt der Erzähler alles daran, seinen damals verlassenen Schreibort wieder zurückzugewinnen. Er kauft sich aus der Ferne ein Haus, an dem Ort, wo er die Stille wiederfindet, die Cafés, Bistros und Bars, die ihm zu Schreib- und Lebensorten wurden, weg aus der feuchten Kühle des Nordens.
Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann, 2024, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-03820-142-
Ausgerechnet in dieser Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung, verliebt sich der Erzähler in Mara, die in der Stadt ein Autiquariat führt. Und weil sie mit dem Gedanken spielt, ihr Antiquariat an einen Nachfolger, der bereits feststeht, weiterzugeben, ist der Gedanke, mit ihrem Liebsten in den Süden zu ziehen, ein durchaus reizvoller. Wenn da nur Friedolin nicht wäre. Ein gefiederter Schreihals, ein Krachmacher, ein Senegalpapagei, ein Tier, das an ihr hängengeblieben war und sich längst zum fixen Familienmitglied gemacht hatte. Friedolin mit ie strahlt so gar keinen Frieden aus. Da ist ein Tier, das durch sein besitzergreifendes Gehabe sehr schnell klar macht, dass mit keinerlei Entscheidungen an ihm vorbeigegangen werden kann. Friedolin schafft es mit Leichtigkeit, den Erzähler in seine Absichten einzubinden. Erst recht, als Mara ihn bittet, in der Zeit der Geschäftsübergabe für Fiedolin da zu sein. Noch viel mehr als Maras Nachfolger gesundheitliche Probleme bekommt und Maras Absenzen in der sich langsam auflösenden Wohnung immer länger werden.
Zwischen dem Tier und dem Erzähler entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Machtkampf, der bis zum Überlebenskampf wird. An Schreiben ist nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Der Erzähler wird mehr und mehr zum Narr des blinden Königs und als man sich mit dem Auto zu zweit unterwegs in den Süden macht, weil der Erzähler glaubt, seine Anwesenheit dort sei unbedingt erforderlich, wird aus dem ungleichen Miteinander in der Stadt ein wilder Roadtripp in den Süden. Was würden Sie sagen, wenn sie an einer Rezeption eines Hotels einem Mann mit einem Papagei auf der Schulter begegnen würden, einem sonst stillen Mann, dessen Vogel am Ohr seines „Herrchens“ knabbert und seinen Unwillen über dessen Entscheidungen mit lautem Krächzen quittiert.
So poetisch die Formulierungen, wenn es um das Daseins eines Schriftstellers geht, um die Ergebenheit in ein überstülptes Schicksal, in die Liebe zur Sprache, ebenso wie zur Stille, so witzig und grotesk sind die Szenerien mit dem Vogel. Es gab schon lange kein Lesevergnügen mehr, dass mir ein so nachhaltiges Lächeln schenkte, wie dieses Buch. „Der blinde König und sein Narr“ ist köstlich.
Und ganz nebenbei ist dieses Buch ein rührendes Porträt einer aussterbenden Gattung Mensch. Jürg Beelers Roman ist durchaus metaphorisch zu verstehen, wenn man die Präsenz der Gegenwart als aufsässiges Kreischen, besitzergreifendes Gehabe versteht.
Interview
Sie erzählen das Buch so, dass die Frage nach Fiktion schnell beantwortet werden kann, auch wenn man dieses Zugeständnis durchaus literarisch verstehen kann. Wie leben in einer Zeit, in der man der Fiktion nicht mehr zu trauen scheint, dabei ist Literatur doch die einzige Möglichkeit, stilvoll zu lügen. Aber im Zeitalter alternativer Fakten und Fakenews ist das Bedürfnis nach möglichst realem Erzählen gross, ob das nun autobiographisch oder autofiktional heisst. Mich ärgert diese Entwicklung. Nicht einmal die Bibel kann wörtlich genommen werden, auch wenn es welche gibt, die das versuchen. Darf Literatur, Kunst nicht viel, viel mehr, als bloss abzubilden?
Wer ist der König, wer der Narr? Der Ich-Erzähler oder der Autor? Eine schwierige Frage. Man setzt sich ein Krönchen auf, und bleibt doch ein Narr. Nun bin ich schon so alt geworden, und immer noch ist es mir nicht gelungen, mein durchsichtiges Krönchen abzulegen, das zum Glück niemandem auffällt.
Was ist fiktiv, was nicht? Das bleibt das Geheimnis des Autors. In diesem Sinne ist „Der blinde König und sein Narr“ ein zugleich offenes und verschlossenes Buch. Dichtung und Wahrheit zugleich, denn die eine ist nicht ohne die andere zu haben.
Natürlich verstehe ich mich mit meinem Ich-Erzähler gut. Aber da verstand ich mich auch mit den Protagonisten meiner früheren Romane. Trotzdem steht unzweifelhaft fest: hätte nicht auch ich mich mit einem Papagei angefreundet, wäre ich mit diesem Erzähler nicht so gnädig verfahren. Trotzdem ärgert er mich immer wieder, und ich erhebe Einspruch und sage ihm, nun, übertreib mal nicht. Natürlich hörte er nicht auf mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über ihn herziehe. Zum Glück führt er ein eigenständiges, anderes Leben als ich, das mildert mein Urteil ein wenig.
Der Erzähler ist wegen einer Beziehung im Norden Deutschlands, weit weg von den Orten, an denen er weiss, dass sie ihm beim Schreiben helfen, weit weg vom Süden. Es kommt zur Trennung, weil jene Frau ihn einen Schriftsteller schimpft, der nichts für seine Karriere tut, der noch von Hand schreibt, keine Homepage bewirtschaftet, ohne Facebook oder Twitter. Mir sind solche Menschen höchst sympathisch. Und ich weiss von vielen jungen Menschen, die sich gerne aus den Schlingen der Neuzeit befreien würden. Schwierig bloss, dass sich der Kultur- und Literaturbetrieb ganz stark diesem Intrumentarium bedient, der einsame, stille Schiftsteller ein auslaufendes Modell zu sein scheint. Gibt es eine Angst vor dem Verschwinden?
Das ist eine weitläufige Frage. Was heißt verschwinden? Man kann aus den Medien verschwinden oder in die Medien verschwinden, in beiden Fällen ist man auf unterschiedliche Weise nicht mehr existent. Wir leben in beiden, im privaten wie im öffentlichen Raum. Ist aber das Spiel entschieden, ist die Öffentlichkeit der Sieger, wie das heute der Fall zu sein scheint, so nehmen die Ängste naturgemäß zu: Die Angst, sich selbst zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, im öffentlichen Raum niemand mehr zu sein. Das führt, wie der Literaturbetrieb lehrt, zu einer eigentümlichen, mich immer wieder erheiternden Hektik: Jeder versucht sich panisch der eigenen Präsenz im medialen, virtuellen Raum zu versichern. In solchen Zeiten hat es die Literatur schwer, denn die Revolte (oder die existentielle Selbstversicherung) kommt nicht aus dem öffentlichen Raum, sondern aus dem privaten. Und dieser private Raum ist nicht medial verhandelbar. Für eine jüngere Generation ist das nicht einfach. Der öffentliche Raum bietet ihr immer weniger Möglichkeiten der existentiellen Selbstversicherung. Das stimmt mich traurig.
Die Liebe des Schriftstellers heisst Mara. Sie ist Antiquarin. Auch eine aussterbende Gattung Mensch. Auch Mara kannte die Stille. Die Stille der Bücherschluchten, die Stille der erzählenden Canyons. Still schon. Aber hinter all den Buchrücken rumort es ganz ordentlich. Alle, die lesen, befreien die aufgestauten Geschichten, Stimmen aus dem Papier. Bei mir zuhause ummanteln mich auch Bücher. Sie umarmen mich, betten mich und schützen mich vor der Oberflächlichkeit der Welt. Ob Jürg Beeler oder der Erzähler in ihrem Buch. Er sucht die Stille. Ist Schreiben die Spur durch diese Stille?
Schreiben kann die Spur durch diese Stille sein. Das hängt davon ab, was man unter Stille versteht. Stille ist kein akustisches Phänomen, nicht die Abwesenheit von Lärm. Darin bin ich mit dem Protagonisten einig. Sie ist auch kein Rückzug aus dem Leben. Mein Protagonist stellt fest, dass Stille in jedem Land anders wahrgenommen wird, so wie der Umgang mit der Zeit in verschiedenen Kulturen ein anderer ist. Er sucht, was ihm oft fehlt: die Stille. In diesem Sinne versetzt sie ihn immer wieder in Unruhe.
Die Spur, die der Erzähler durch die Zeit gelegt hat, ist seine eigene und die durch Jahrhunderte. Sie ist zugleich persönlich und unpersönlich. Auf seinem Weg scheint er etwas gefunden zu haben, das ihm Gelassenheit gibt. Dieses Phänomen versucht er immer wieder in Worte zu fassen. Ich glaube, dass „Der blinde König und sein Narr“ ein gelasseneres Buch ist als seine Vorgänger, dass der Ich-Erzähler den Autor in gewisser Weise angesteckt hat.
Eine Stille, die sich ausgerechnet in Cafés, Bistros oder Bars findet. Im gleichförmigen Teppich aus Stimmen und Geräuschen. Ein Teppich, der im Süden anders sein muss als im Norden. Warum?
Es ist weniger der Geräuschteppich, der den Norden vom Süden unterscheidet. Deutschland kennt die Tradition des Bistros und Cafés nicht. Es imitiert sie aus Modegründen, doch das Imitat ist immer etwas anderes als das Original. Dort, wo ich lebe, in Südfrankreich, in einer der ärmsten Gegenden des Landes, ist das Bistro oder das Café immer noch Treffpunkt für alle Generationen. Im Café oder Bistro sitzt die Oma mit der Enkelin, der Geschäftsmann, der Rentner und der Schüler. In Bremen oder Berlin war ich in einem Lokal oft nur von Rentnern umgeben oder von einer mehr oder weniger homogenen Altersklasse, die einer bestimmten Szene angehörte. In Berlin, viel schlimmer, gab es noch die Schriftstellercafés. Man ist gut sortiert in Deutschland.
Es ist nicht der Geräuschteppich, der eine Bar, ein Bistro oder Café im Süden zu einem anderen Ort macht, sondern die andere Lebensweise. Wenn ich nun von mir rede, von mir als Schriftsteller, nicht vom Protagonisten meines Romans: Nicht von Anfang an waren Cafés meine Schreiborte. Ich bewohnte als Student und auch später nie ruhige Zimmer. Also flüchtete ich ins Café, um arbeiten zu können. Ich gewöhnte mich daran, und diese Gewohnheit ist mir geblieben. Alle meine bisherigen Versuche, dies wieder zu ändern, scheiterten bisher.
Nicht immer ist der Geräuschteppich in einem Café angenehm oder dem Schreiben zuträglich. Doch das Café kann ich wechseln, meine Wohnung nicht. Diese Möglichkeit schafft eine ganz andere Leichtigkeit. Geräusche lullen ein, lenken ab, erlauben eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Man ist konzentriert und doch nicht, man läßt sich ablenken, und plötzlich schreibt sich der Text wie von selbst weiter. Menschen im Café sind meist friedlich, ich bin also an meinem kleinen Tisch von friedlichen Zeitgenossen umgeben. Ich sitze vor meinem kleinen Kaffee und denke, diese armen Teufel, die jetzt eingekerkert in ihrer Schreibstube sitzen, auf den Bildschirm starren und am nächsten Satz ihres Romans herumlaborieren.
Der Papgei, der sich ziemlich entschlossen und deftig ins Leben des Erzählers einmischt, heisst Friedolin. Mit ie! „Der Friedensreiche“. Ein ziemlicher Gegensatz zu seiner Lebensweise, seinen Geräuschen, seiner Aufsässigkeit. Und trotzdem wird aus dem genervten Erzähler ein Kämpfer und Streiter, ein Tierfreund. Müsste ich es mit meiner Hundephobie ähnlich angehen?
Die Literatur kennt keine Ratschläge, die findet man in den Buchhandlungen unter „Lebenshilfe“. Dort findet man alles, was im Leben nicht hilft.
Ihr Roman ist auch ein Roman über Ihr Schreiben. Eine Vergewisserung. Ein Sehnsuchtsroman?
Sehnsucht wonach? Nach einer Welt, wie sie war? Diese Art der Sehnsucht scheint mir ein Phänomen des Alterns zu sein. Es ist nicht mehr meine Generation, die das Sagen hat. Plötzlich entdeckt man, dass man alleine ist, immer alleine war. Schwierig, sehr schwierig, wenn einem das erst in vorgerücktem Alter aufgeht.
Meist halten wir die Welt für schlecht, weil sie sich beim Älterwerden immer mehr von uns entfernt. Wir wollen die Welt so alt, wie wir selber sind, wir nehmen in unserer Umgebung meist nur uns selber wahr, aber selten die andern. Der Welt ein faltiges Gesicht zu wünschen, nur weil man selber runzelig geworden ist, gehört zu einer verbreiteten Verhaltensweise, deren Egozentrik merkwürdigerweise kaum je auffällt.
Sehnsucht hat viele Farben. Sie ist und war auf jeden Fall eine literarische Triebkraft für viele Autoren. Augustinus und Rousseau, Stendhal, Baudelaire, Flaubert oder Joseph Roth kannten sie, auch Tolstoj und Turgenjew, ebenso viele japanische Autoren wie Tanizaki, Kawabata oder Soseki. Die Sehnsucht nach dem entschwundenen Paradies, von dem sie nur zu gut wußten, dass es auch eine Hölle war, schärfte ihren Blick für die Gegenwart und schürte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Die Welt des Handels und der Werbung ist eine Welt ohne Zukunft und Vergangenheit, eine Welt purer Gegenwart, sie produziert täglich das immer Neue und Aktuelle. Ihre Sprache ist identisch mit dem Produkt, das sie verkauft. In dieser Dialektik ist das Aktuelle und Neue immer schon der Schrott von morgen. Es ist die Dialektik der virtuellen und medialen Welten, in denen wir uns immer mehr einrichten. Sie kennt keine Scham und keine Sehnsucht.
Auch die Literatur und ihr Betrieb wird nicht davon verschont. Das weiß mein Protagonist natürlich. Nicht ohne Grund schreibt er noch von Hand, verzichtet auf Homepage und Handy, nicht ohne Grund ist er Nomade und schreibt in Cafés, Bistros oder Bars. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich kenne das Glück und den Rausch dieser Freiheit.
Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Reisejournalist, Magaziner, bei verschiedenen Institutionen, u.a. Aids-Hilfe-Schweiz. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis 2003 für «Die Liebe, sagte Stradivari». Bei Dörlemann erschienen Zuvor erschien 2022 «Die Zartheit der Stühle«.
Leo hat sich ausgeklinkt. Seit siebzehn Jahren haust und versteckt er sich in einem Bunker auf einer kleinen Insel in der Flensburger Förde an der deutsch-dänischen Grenze. Immer im Oktober sticht er aufs Festland, um seinen jährlichen Mord zu begehen. Er tötet jene, die der Welt Schaden zufügen.
Vorläufig blockieren die meisten nur Strassen oder demonstrieren sonst auf eine Art, Greenpeace schon seit Jahrzehnten. Aber wer weiss, zu welchen Massnahmen all die Verzweifelten greifen werden, wenn die Hoffnungslosigkeit die Massen ergreift, wenn aus Hoffnung- und Ratlosigkeit tödliche Radikalität wird?
Erstaunlich genug, dass die Menschheit die immer grösser werdende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Dahinsiechenden und unsäglich Privilegierten so einfach hinnimmt, dass man den Versprechen und Beschwichtigungen der Mächtigen noch immer glaubt, die die Massen zu betäuben wissen, damit sie, die in Objektive Lächelnden, weiterhin auf der Sonnenseite des Lebens ihren Luxus geniessen können.
Leo hat sich einer Aufgabe verschrieben, auch wenn ihm klar ist, dass er mit seinen Morden höchstens Verunsicherung erreicht, persönliche Genugtuung, der „Tropfen auf dem heissen Stein“ gleich wieder verdampft. Ich werde mich von keinem Kraken in die Tiefe ziehen lassen. Ich bin der Krake.
Einzig halbwegs Verbündete ist die todkranke Liv, die auf der grösseren Insel gleich daneben, die mit Bikes über eine schmale Holzbrücke befahren werden kann, eine Imbissbude betreibt. Bei Liv gibt es die besten Hotdogs der Welt. Aber Liv hat ALS, eine unheilbare Nervenkrankheit, Muskelschwund, der irgendwann unausweichlich zum Erstickungstod führt. Aber so wie Leo eine Strategie für seinen Rachefeldzug eingerichtet hat, wird es Liv tun, wenn es soweit sein wird. Die Dynamitstangen sind bereit; ein kurzes Ende mit Schrecken.
Christoph Keller «Blauer Sand», Limmat, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03926-077-5
Die Insel, auf der Leo sich seit Jahren versteckt, hat sich über die Jahre verändert, weil sich immer wieder Horden von Tagestouristen auf ihr breit machen, weil von dem einstmals rätselhaft blauen Sand nach den Posts eines Besuchers nichts geblieben ist. Leo, der durchs Jahr das Leben eines Eremiten führt, der sich mehr oder weniger selbst versorgt, spürt aber nicht nur das drohende Ende Livs und die trampelnden Touristen auf der Insel. Dass etwas da ist, was bisher fern blieb; eine junge Frau auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters. Thea ist wie Leo auf einer Mission. Obwohl sie ihren Vater nicht mochte.
Es kommt zum Showdown auf der kleinen Insel, ein Showdown, der aber so gar nicht jene Wendung einnimmt, die die Protagonisten gleichermassen überrascht wie mich als Leser. Eine Begegnung, mit der Leo schon viel früher rechnete. Thea und Leo stehen sich gegenüber, so wie Leo seinen Opfern jeweils gegenübersteht. Es muss mehr sein als eine blosse Auslöschung, ein simpler Rachemord. So wie Liv in ihrer Hotdogbude mit einem lauten Knall von der Insel verschwinden will, so will Leo mit jedem seiner Morde ein Statement abgeben. Es müssen kleine Siege sein. Wenn Leo einmal im Jahr in einem Flugzeug sitzt und sich in der Business Class einen Bourbon gönnt, hat er es wieder getan, jedes Jahr im Oktober. Wieder „einen Scheisskerl“ erledigt, von denen es auf der Welt genug gibt.
Leo sagt von sich selber, es sei nicht Rache, sein Motiv sei Schutz. Er sei der vernünftigste Mensch der Welt, einer, der die Typen ausschaltet, die am Ast sägen, auf dem wir alle sitzen.
Christoph Kellers Roman ist nicht blosse Versuchsanordnung. Wann wird aus Enttäuschung Radikalität? Kann man von einem eingeschlagenen Weg zurück, selbst auf einer Einbahnstrasse? Die Lektüre dieses Romans ist Auseinandersetzung. Nicht zuletzt die Literatur gewordene Reaktion eines Mannes, der seinen Zorn über die Gegenwart nicht verbergen kann. Ist das eine Töten amoralischer als das andere? Die Grenzen zwischen Heldentat und Verbrechen sind seit jeher fliessend und oft bloss Resultat einer eingenommenen Perspektive. Kellers Roman rüttelt auf und ist logische Konsequenz einer aus dem Ruder gelaufenen Gesellschaft. Womit sich Keller hier auseinandersetzt, wird über Kurz oder Lang Realität werden, wenn wir es nicht schaffen einer immer breiter werdenden Masse die Hoffnung zurückzugeben.
Ein wichtiges Buch!
Interview
Wir leben in einer Zeit, in der viele Leserinnen und Leser bei Büchern den Faktencheck machen. Ein Buch muss mit der Realität, mit dem Leben der Schreibenden fest verknüpft sein. Rein fiktionales Schreiben scheint regelrecht out zu sein. Dein Buch hat einen seltsamen Bezug zur Realtät, denn wir alle wissen, wie nah wir dem Szenario eines „Rächers“ gekommen sind, dass es wohl nicht mehr viel braucht, bis sich Klimaaktivist*innen noch ein paar Stufen mehr radikalisieren. Wie weit ist ein solcher Roman das Resultat Deiner eigenen Sorge, aber auch Deiner Wut? Ist das Buch Dein Versuch, Dich „zu retten“? Diesen Kurs verdanke ich John Berger, der meinem Roman ein bisschen Pate stand. Ich kehre immer wieder zu seinen Essays zurück und wundere mich jedes Mal mehr: Wie kann einer ein so rigoroser Warner in der Wüste sein, aber nie zur Tat schreiten? Ein vergleichbares Gefühl packt einen ja auch beim täglichen Nachrichten hören. So viel Negatives, dass immer mehr nicht mehr ertragen, Burn-out kriegen oder sich ausklinken. So einer ist mein Leo Cavor, der sich ausgeklinkt hat, aber eben jedes Jahr im frühen Oktober loszieht, um jemanden zu eliminieren, der dem Planeten und der Menschheit enormen Schaden zufügt. Nur eben: Gewalt gebiert Gewalt. Ich würde das nicht tun. Ich bin ein Schreibtischtäter.
„Nichts ist schwieriger, als die Menschen zur Vernunft zu bringen, selbst wenn es um das eigene Überleben geht“, sagt Thea irgendwann zu Leo. Das wissen wir alle selbst. Wir konsumieren grenzenlos. Wir lenken uns strategisch ab von den tatsächlichen Problemen dieses Planeten und seiner Bewohner. Leo hat sich irgendwann entschieden, das scheinbar Unverrückbare nicht mehr einfach hinzunehmen. Auch Liv nimmt nicht einfach hin, wie die Krankheit sie tötet. Und Thea nimmt auch nicht bloss hin, auch wenn ihr Tun eine seltsame Wendung einnimmt. Wie weit glaubst Du, muss Literatur Stellung beziehen? Das ist eine Paraphrase des berühmten Zitats von Bertrand Russell. Es ist schon schlimm zu sehen, wie die Menschen die Probleme ausblenden und weitermachen wie gehabt. Vor allem, wenn es um Reisen und Autos geht, setzt der Verstand aus. Nach mir die Sintflut, Tanz auf dem Vulkan. Ich kann mir keine andere Literatur vorstellen als eben jene, die zu den täglichen Schrecken Stellung bezieht. Das geht ja alles auf Tschechow zurück, der in «Onkel Wanja» den Arzt Astrow über das Abholzen der Wälder verzweifeln lässt. Das war visionär. Heute haben sich die Visionäre irgendwie erledigt, es ist ja alles offensichtlich, nur wollen wir es nicht wahrhaben. Mir hilft da die Fantasie – eine magische Insel zu schaffen oder einen sich mit jedem Schritt dehnenden Garten wie in «Der Boden unter den Füssen».
Wann ist Töten eine Heldentat? Ach, im Krieg wohl. Wir befinden uns im Krieg – mit der Natur, die doch unser Verbündeter sein sollte. Aber eigentlich nie.
Jene kleine Insel in der Flensburger Förde, die Insel mit dem einstmals blauen Sand, ist Stellvertreterin für all jene Orte, die durch den Fokus der Öffentlichkeit zerstört werden, ein Fokus, der mitunter auch ganz uneigennützige und respektable Ursachen hatte. Aber kaum im Fokus ergisst sich eine Horde fotografierender und filmender Wilder über jene letzten Reste unberührter Natur und zerstören. In einer Zeit, in der man sich alles in die eigene Stube holen kann doch eigentlich seltsam. Ist es die Sucht, an etwas Besonderem teilhaben zu wollen? Ja, das, und Rastlosigkeit. Der Mensch ist ein rastloses Wesen, muss immer in Bewegung sein. Aber weil wir immer mehr werden, stöhnt unser armer Planet auf. Da bin ich schon versucht, einen Zusammenhang mit den immer häufiger, immer stärker werdenden Unwettern zu sehen. Vielleicht will uns die Erde ja abschütteln. Kommt die Ironie dazu, dass unsere individuelle Sucht nach dem Besonderen immer mehr zum Massentourismus wird.
Leo ist nichts anderes als ein Umwelt- oder Klimaaktivist, wenn auch mit ganz radikalen Mitteln. Ich kann ihn durchaus verstehen. Und ich bin mir sicher, Du „spielst“ mit genau diesem Gefühl, diesem dauernden Kippen zwischen Moral und Schadenfreude. Das muss man aushalten können, wenn man Dein Buch liest. Wirst Du mit mahnenden Briefen zugedeckt? Gibt es Reaktionen? Nein, keine einzige Postkarte. Vielleicht eben, weil man das Thema meiden will.
Am 4. Dezember erschoss ein 26jähiger einen Chef des Versicherers UnitedHealthcare mitten in New York und wurde nach seiner Festnahme von vielen im Netz als Held gefeiert. Werden so Attentäter zu Helden? Genau davon erzählt ja mein Roman, habe ich als Erstes gedacht. Da schaltet einer den CEO einer wirklich üblen Krankenkasse aus. Eine Versicherung, die Ungezählte auf dem Gewissen hat, weil sie überall nur an Gewinnoptimierung denkt. Und der Mord wird auf Social Media gefeiert. Die USA sind, was Gewalt angeht, ein Pulverfass. Allzu viele stehen mit gezückten Streichhölzern bereit. Es wäre jetzt natürlich schön, mit meinem Serienmörder Leo Cavour davon zu träumen, das ein moralisch gerechtfertigter Mord – wenn es das denn gibt – das Leben Zahlloser rettet.
Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). «Jeder Krüppel ein Superheld» ist seit 2022 in Englisch (Penguin Random House UK, London) erhältlich. Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Sein Roman «Der Boden unter den Füssen» wurde mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.