Es ist heiss. Flüsse trocknen aus, der Gestank von Verwesung hängt über der Stadt. Es ist überall heiss; in den Köpfen, in den Herzen, in Beziehungen, bei der Arbeit oder ganz privat. In Anja Schmitters Debüt kocht es über und eine junge Frau wird zum Tier.
Kleo Frei ist junge Lehrerin. Aber schon nach kurzer Zeit hat sich Begeisterung, Enthusiasmus und Euphorie in ihrem Beruf abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo steckt auch mit Ernst, ihrem Lebenspartner in einer Sackgasse. Und als sie ihn um mehr Raum bittet, die Vorzüge einer offenen Beziehung anpreist und wenigstens Türen schaffen will, „erwischt“ sie Ernst bei ihm zuhause im Bett mit einer anderen. Ausgerechnet ihn, von dem sie das Gefühl hatte, es gäbe für ihn nur sie. Auch in der Beziehung mit ihren Eltern, beide im Schuldienst, weiss sie sich seit ihrer Trennung von Ernst nicht mehr zu helfen. Da sind Erwartungen, die sie nicht abschütteln kann. Da spielt ein Schmierentheater, das nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Da wabern Beteuerungen, denen sie nicht mehr glauben kann. Und irgendwann ist das Mass voll.
Mit Sicherheit kennen sie solche Situationen. Solche, in denen ihnen alles über den Kopf wächst, in denen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, es keine Alternativen mehr zu geben scheint. Man will aus der Haut fahren. Man spürt das Tier in sich. Man würde am liebsten in die Nacht hinausschreien, oder fauchen wie ein zorniges Raubtier.
Kleo heisst eigentlich Kleopatra. Eine Laune ihrer Eltern. Das Resultat einer Reise ins Land der Pharaonin. Aber Kleo ist keine Prinzessin mehr. Ernst hat sie entthront, vom Sockel gestossen. Den Kindern im Klassenzimmer fehlt es nicht nur am Respekt. Und die Eltern verkriechen sich hinter einer Fassade, die nichts von dem erzählt, was wirklich geschieht. Einziger Halt ist Feli, Kleos Therapeutin, die längst zur Freundin geworden ist, sich aber in einer ganz anderen Welt befindet wie sie selbst; gebraucht in Beruf und Beziehung, offensichtlich verankert.
Bis in Kleo etwas zu wachsen beginnt. Bis sich nach einem Sonnenbrand die alte Haut in Fetzen zu lösen beginnt. Bis die Amaryllis, die ihr Ernst wie jedes Jahr zu jedem Geburtstag schenkt, die jedes Jahr jämmerlich verreckt, wie Unkraut in die Höhe schiesst. Bis sie den Beruf mit Getöse an den Nagel hängt. Bis über der Haut ein Flaum wächst. Bis sie beim Friseur auch noch in ihre Haare ein Leopardenmuster legt. Bis es in ihrer Wohnung zu müffeln beginnt und aus der jungen Frau der Zorn, die Verzweiflung, Archaisches hervorbricht und Kleo die Reste einer heilen Welt mit ihren Krallen, ihrem Fauchen und ihrer Jagd zu demontieren beginnt.
„Leoparda“ ist eine Verwandlungsgeschichte, eine Metamorphose, die Geschichte eines Ausbruchs. Was im ersten Teil ihres Romans ganz eng an die Realität und mit Sicherheit auch aus der Welt der jungen Autorin geschrieben ist, nimmt im zweiten Teil immer surrealere Formen an. Als würde Anja Schmitter mit den Augen jenes Mischwesens, halb Frau, halb Leopardin sehen. Eine Wahrnehmung, die sich verschoben hat, nicht nur optisch. „Leoparda“ beschreibt nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit einer Generation, die man mit einer ganzen Breitseite unlösbar scheinender Probleme konfrontiert, vom globalen bis ins ganz private Klima. „Leoparda“ liest sich im ersten Teil wie eine Dystopie, im zweiten Teil wie ein Alptraum, von der Verletzlichkeit einer ganzen Generation. Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. «Leoparda» ist ihr erster Roman.
Ein alter Mann, eine Kaninchenpistole, ein Polizist und doch kein Krimi. Thomas Röthlisberger beweist, dass man mit sämtlichen Ingredienzen eines Krimis nicht unweigerlich einen solchen daraus entstehen lassen muss. „Steine zählen“ ist ein Roman über das Erstarren in Sackgassen.
Matti wohnt in einer in Schräglage geratenen Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees im Süden Finnlands, weit ab vom Schuss. Ausser einem Hund gibt es keine Tiere mehr auf dem Hof. Die letzten waren ein paar Hühner, die der Fuchs holte. Der Maschendrahtzaun ist niedergerissen und rostig. Matti sitzt in der Küche mit seinem besten Freund, dem Alkohol und zerdrückt die toten Fliegen auf seinem zugestellten Küchentisch. Irgendwie ist auch er eine der Fliegen, die das Leben zerquetschte. Von seiner Kraft ist nichts geblieben. Und seit seine Frau Märta den Hof verliess, ihn selbst hatte sie schon lange verlassen, sind nicht nur die Flaschen auf dem Küchentisch stehen geblieben. Und weil er, der kaum mehr etwas ohne seine Brille sieht, das Gewehr in die Hand nahm, als sich Märta davonmachte, das Gewehr, das eigentlich bloss auf den Fuchs wartete, der sich auch ohne Hühner noch immer auf dem Gelände herumtrieb, und sich ein Schuss löste, von dem Märta nicht wissen konnte, wie nah die Kugel an ihr vorbeisauste, taucht auch noch die Polizei auf. Henrik, der lokale Polizeibeamte.
Von Matti Nieminen ist nicht viel geblieben. Ein verkorktes Leben, ein Körper, der zu nichts mehr taugt, eine Frau, die ihn verliess, ein Sohn, der nur auftaucht, wenn er Geld braucht und die Gewissheit, dem verkrusteten Panzer nie mehr entfliehen zu können. Selbst der Hund zieht vor ihm den Schwanz ein.
Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese, 2022, 176 Seiten, CHR 30.90, ISBN 978-3-906907-55-0
Aber auch für Märta, die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite aushielt, ist die Flucht vom Hof keine Befreiung. Die hätte Jahrzehnte früher stattfinden sollen, wahrscheinlich schon vor der überstürzten Heirat mit Matti, der ihr Jahre nachgestiegen war, den sie nicht wollte, dann aber haben musste, weil in ihr etwas wuchs, das nicht sein durfte. Sie ist im Gästezimmer ihrer Schwester gestrandet, die ihr die Katastrophe schon immer prophezeite und nie an die Redlichkeit jenes Mannes glaubte, der schon damals dem Alkohol näher stand als den Menschen. Eigentlich hätte es Pekka sein sollen, damals. Aber Martas Eltern, ihr Vater polterten unmissverständlich. Und als sich Pekka mit dem ganzen Dorf anlegte und mit Protz und Pomp im Dorf auftauchte, als man ihn in seiner Bank unlauterer Geschäfte überführte, war die Sache gelaufen, aller Versprechen zum Trotz.
Und da ist noch Olli, Märtas Sohn, das Kind, mit dem sie schon bei der Trauung mit Matti schwanger war, von dem niemand wissen durfte, nur der Arzt, der ihr eine „Frühgeburt“ diagnostizierte. Auch Olli schaffte es nicht. Vierzig und im Elend, manchmal bekifft, machmal nur betrunken, ohne Arbeit, von seiner Freundin sitzen gelassen. Matti wusste immer, dass Olli nicht das Resultat seiner Manneskraft war. Olli lebt von der Sozialhilfe und wenn das Geld zu gar nichts mehr reicht, macht er sich zum Hof in der Nähe des Vehkajärvi-Sees auf, in der Hoffnung, dass ihm seine Mutter etwas zusteckt. Von Matti gibt es nichts, schon gar kein Geld.
Am Schluss des Romans liegt Matti in einer Blutlache vor seinem Haus im Dreck. Er lebt noch. Und Hendrik, der Polizist, muss herausfinden, ob es wirklich ein Suizidversuch war.
Thomas Röthlisbergers Roman „Steine zählen“ ist hartes Brot. Wer wie Matti alt ist und ahnt, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, resümiert. Aber in Mattis Leben gibt es bloss Steine. Die auf dem Hof kickt er weg, wenn er nicht mit dem Stock nicht hängen bleibt. Aber eigentlich bleibt jeder Stein. Steine in der Erinnerung, Steine im Herzen, Steine im Bauch. Als ob nie mehr richtig Licht in das Leben jenes Mannes dringen würde. Ein finnischer Winter. Irgendwann bleiben die Chancen aus, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Irgendwann hat die Ödnis einem im Würgegriff. Thomas Röthlisberger schreibt sich in ein Setting hinein, dass sich wie eine Seelen-Dystopie liest. Und Thomas Röthlisberger kann es!!!
Interview
Hätte Ihr Roman nicht auch im Toggenburg oder im Kandertal spielen können? Warum der finnische Süden? Was verbindet Sie mit Finnland? Eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme (Schliesslich habe ich bisher bereits vier Romane geschrieben, die «dort oben» spielen, der letzte liegt über 15 Jahre zurück). Aber die Frage ist sicher berechtigt – ich habe gerade bei «Steine zählen» nach der ersten Niederschrift versucht, die Geschichte aus dem Norden herauszulösen. Naheliegend wäre für mich aus familiärer Hinsicht das Emmental gewesen. Ich machte mir eine Liste mit den Namen der finnischen Protagonisten und der Örtlichkeiten und gab ihnen hiesige Namen. Aber die Landschaft funktionierte als Hintergrund und Kulisse nicht, und die Menschen, die plötzlich wie bei Gotthelf hiessen und sich durch eine enge Voralpenlandschaft bewegten, erinnerten mich an eine Art Heimatliteratur, mit der ich mich nie wirklich anfreunden konnte. Die Charaktere, die ich in den (engen) Weiten Finnlands angetroffen hatte, liessen sich weder mit ihrem Naturell, noch mit der Landschaft hierher verpflanzen. Die Liste, die ich angefertigt hatte, öffnete mir die Augen und räumte radikal mit den eigenen Zweifeln auf (ich vernichtete die Liste deshalb sehr rasch wieder). Schon nach dem ersten Aufenthalt in Finnland wusste ich, dass da noch mehrere folgen würden. Was mich mit Finnland verbindet? Sibelius, Alvar Aalto, Kaurismäki, die Leningrad Cowboys und Nightwish. Aber ganz abgesehen davon reicht ein Blick auf den Buchumschlag an, diese einmalige Stimmung an den Sommerabenden, das reicht, um eine seltsame, melancholische Sehnsucht auszulösen. Aber dann gibt es auf der anderen Seite des Sees das dunkle Ufer, den Wald, der das Licht verschluckt und wo, wie man ahnt, Menschen wohnen, die nicht nur wegen diesem Sonnenuntergang hier leben. Trotzdem figuriert Finnland an der Spitze, wenn es darum geht, welche Staatsbürger im eigenen Land am glücklichsten sind …
Matti ist ein Gespenst seiner selbst geworden. Einsam, eingeschlossen, ausgeschlossen. Wenn er über den Platz vor seinem Haus schlurft, kickt er Steine weg, Steine, die aber irgendwie immer wieder da sind. Die Steine in seinem Leben sind zu unverrückbaren Felsbrocken geworden. Ist Schreiben nicht auch eine Form von Steine zählen? Literatur ist häufig Arbeit im Steinbruch, ein Suchen nach dem optimalen Stein, ein Darstellen und Verschieben von eigenen und fremden Steinen und Klötzen. Verbunden mit Frust nach längerer Schinderei, aber auch mit Freude über den unerwarteten Fund eines Edelsteins.
Ihr Roman spielt im ungleichseitigen Viereck Matti-Märta-Olli-Henrik. Eine Familie, die nie wirklich eine Familie ist, toxisch – und ein Polizist, der nichts lieber als zu seiner Familie möchte, der genau weiss, wie zerbrechlich Familienglück sein kann. „Steine zählen“ ist ein Familienroman, eine Geschichte darüber wie sehr Konventionen, Traditionen und Ängste das Leben bedrängen, einen Menschen in unumkehrbar Enge treiben können. Kratzen Sie mit Strategie am „Idyll Familie“? Beim Schreiben zeichnet man ja häufig gewisse Vorfälle und Charaktere überspitzt. Und man benötigt üblicherweise auch eine grössere Anzahl selber gelebter Jahre, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Aber Strategie? Eher nein. Oder unbewusst. Einflüsse aus der eigenen Familie, Aufgeschnapptes aus der Umgebung – es muss sehr vieles zusammenkommen, bis das Rezept stimmt. Und ja: Wer vom Leben erzählt, kann nicht nur Gutes berichten.
Bei einem Krimi wären das Verbrechen und die Motive, das Rätsel um die Ermittlung im Zentrum. In „Steine zählen“ sind es Innenwelten, die menschlichen Abgründe, die Unumkehrbarkeit der Zeit. Matti erscheint böse, Olli unrettbar und Märta verbrüht. Wann wird Verwundung unheilbar? Eine schwierige und individuell sehr unterschiedlich zu beantwortende Frage: Wahrscheinlich wenn der Urheber der Verwundung selber infolge Verwundung agiert, wenn Grenzen überschritten werden und Verzeihung keine Option ist.
Es gibt das Leben in den Köpfen und Herzen. Und es gibt das „richtige Leben“, wie Märta es bezeichnet, jenes, das sich einem entgegenstellt, das Pläne zunichte macht. Warum ist Märta 40 Jahre lang geblieben? Ist das die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Oder passiert das auch heute noch? Konventionen als Ursache waren über Jahrhunderte hinweg Hemmnisse. Dass man wider Willen ein vorgeschriebenes Leben akzeptieren muss, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne wirkliche Zukunft, ist nach wie vor aktuell. Und ich nehme da unser eigenes Land nicht aus … Da kann der Rückzug in ein inneres (Kopf- und/oder Herz-) Leben Ausweg oder Kraftort sein.
Thomas Röthlisberger, geboren 1954, lebt in Bern, hat seit 1991 mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind «nur die haut schützt den schläfer» (Gedichte, 2009), «Zuckerglück» (Roman, 2010) und «Die letzten Inseln vor dem Nordpol» (Erzählungen, 2014) und «Das Licht hinter den Bergen» (Roman, 2021). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.
Man könnte auf den Roman „Die Wut, die bleibt“ mit einem Aufkleber „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie BuchhänderInnen oder RezensentInnen“ warnen. Drei Frauen; eine, die sich in die Tiefe stürzt, eine, die sich aufgibt und eine, die die Faust ballt. Mareike Fallwickls neuer Roman strotzt!
Meist muss ich mich für eine Besprechung, eine Rezension eines Buches gleich nach der Lektüre an die Tasten setzen, damit meine Eindrücke nicht durch neue Leseeindrücke verwischt werden. Bei Mareike Fallwickls neuem Roman „Die Wut, die bleibt“ fiel mir das schwer, weil mir die Autorin mit ihrem Roman einen ordentlichen Schlag versetzte. Nicht nur mit der Einstiegsszene, die auch nach fast 400 Seiten Lektüre nicht verrauchte, sondern mit der Thematik, die unter allen Szenen und Erzählsträngen des Buches liegt: Emanzipation.
Zum einen ist da der noch lange nicht zu Ende ausgefochtene Kampf um gleiche Rechte, ebenbürtige Chancen und eine Gesellschaft, die noch immer nicht alles daran setzt, dass Familienarbeit nicht automatisch zu Ungunsten der Mütter verteilt wird. Zum andern sind es die Zusammenhänge einer noch immer männlich dominierten Sicht auf die Dinge, dass man Weiblichkeit automatisch mit Provokation gleichsetzt und junge Männer weit davon weg sind, ihre Aggressionen, Hormone und Dominanzansprüche in den Griff zu bekommen. Beispiele dafür gibt es in der Politik, in der sogenannte Staatsmänner ihr Machtgehabe auf dem Rücken von Millionen austragen oder in Diskussionen um Genderfragen, wo Aggressionen und Argumente aufkochen, die beweisen, wie unsensibel man(n) noch immer ist, wenn es darum geht Fehler, Schwächen und Missstände einzugestehen.
Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowoldt, 2022, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00296-1
Lockdown. Zu Hunderttausenden sind Mütter gezwungen, ihre Kinder zuhause zu lassen, ihnen gar das Spielen auf dem Spielplatz zu verweigern, während die einen Väter Schlafzimmertüren zusperren mit dem Argument, sie hätten zu arbeiten und andere das Weite suchen als Finanzierer der Familie. Helene sitzt mit ihrer Familie beim Abendessen. „Haben wir kein Salz?“ Nicht einmal eine Bitte. Helene steht auf, geht die drei Schritte bis zur Balkontür und stürzt sich in den Abgrund. Johannes, ihr Mann, Lola, Helenes älteste Tochter und die Kleinen Maxi und Lucius bleiben zurück, geschockt, traumatisiert und aus sämtlichen Selbstverständlichkeiten gerissen.
Weil Helenes Freundin Sarah vom schlechten Gewissen und der Sorge um die drei Kinder getrieben wird, nimmt sie sich ihrer an und verbringt die meiste Zeit an der Seite der Kinder, kocht, putzt, wäscht, streicht Pausenbrote, bringt die Kinder ins Bett, wickelt und tröstet. Sarah und Helene waren Freundinnen seit Kindertagen. Aber im Gegensatz zu Sarah, die sich eine eigenständige Existenz aufbauen konnte, erfolgreiche Krimiautorin wurde, ein Haus kaufte und den Wunsch nach einer eigenen Familie mit zunehmender Ernüchterung schwinden sah, musste Helene ihr Studium schwanger aufgeben, heiratete Johannes und tauchte mit zwei weiteren Kindern in scheinbares Familienglück. Und Johannes, der Witwer? Er nimmt hin, was ist, lebt sein Leben weiter wie in Trance. Vergisst, dass da jemand in der Wohnung hilft, ohne die die Familie zerfallen würde. Akzeptiert mit aller Selbstverständlichkeit, dass sich eine Frau hingibt für eine Frau, die sich hingegeben hat. Und während die Tochter Lola aus der Trauer erwacht, ihre Stimme genauso findet, wie ihre Kraft gegen jegliche Unterdrückung zu rebellieren, selbst im Rudel und hinter schwarzen Masken, wird aus dem aufgeladenen Nebeneinander zwischen Sarah und Helenes Tochter Lola eine Allianz.
Mareike Fallwickl zeichnet starke Frauenfiguren, auch wenn Helene ihren Kampf verloren hat. Johannes der Wittwer und Leon, Sarahs Lebenspartner, der sich mit aller dazugehörigen Selbstverständlichkeit in Sarahs Haus eingenistet hat, sind Prototypen jener Sorte Mann, die sich hinter scheinbaren Zwängen verstecken, die erst erwachen, wenn man sie schüttelt und prügelt. Mag sein, dass man als Mann bei der Lektüre stutzt, dass die Lektüre schmerzt, weil Selbsterkenntnis mitmischt. „Die Wut, die bleibt“ ist nicht nur in seinem Titel kämpferisch. Alles an diesem Roman ist ausgeführt bis zur letzten Konsequenz und macht mit der Keule bewusst, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht ist, wo sie sein sollte.
„Die Wut, die bleibt“ ist tatsächlich ein wütendes Buch. Ein Roman, der mir in die Magengrube schlägt. Und doch ein Buch, vor dem ich mich tief verneige!
Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das für den Österreichischen Buchpreis sowie für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert wurde. 2019 folgte der Roman «Das Licht ist hier viel heller«, dessen Filmrechte optioniert wurden. Sie setzt sich auf diversen Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.
Er war Maler und Messias. Er glaubte an eine bessere Welt, ein Neben- und Miteinander von Mensch und Natur, an die Erneuerung von Gesellschaft und Kultur. Karl Wilhelm Diefenbach, Kulturrebell, Vegetarier und Anhänger der freien Liebe, Sozialreformer und Pazifist – Kohlrabiapostel! „Vegetarianer“ von Felix Kucher ist Zeitgeschichte, damals und jetzt!
Im späten 19. Jahrhundert bis in das nächste Jahrhundert hinein gediehen überall in Europa Zellen, in denen neue Lebens-, Gemeinschafts- und Sozialformen entstanden. Die einen wurden gross, andere blieben klein. So kann man den Kommunismus als Bewegung definieren, die aus feudalen Macht- und Ohnmachtsstrukturen ausbrechen wollte, sich in einer Neuorientierung Befreiung versprach. Aber auch kleine und Kleinstbewegungen blühten für kurze Zeit auf, wie jene auf dem Monte Verità im Süden der Schweiz, wo sich IdealistInnen und Weltverbesserer neu auszuprobieren versuchten als alternative Lebensgemeinschaft. Namen wie Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, D.H. Lawrence, Hugo Ball oder Hans Arp suchten dort ihr Glück.
Von der Geschichte fast vergessen ist der deutsche Maler Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 in der hessischen Stadt Hadamar geboren, zum Maler ausgebildet an die Akademie der bildenden Künste in München. Ein Mann, der schon mit dreissig Jahren nicht nur mit seiner Malerei die Welt auf den Kopf stellen wollte, sondern mit einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft. Er verkündete die Rettung der Menschheit, wenn sie dem Fleischkonsum entsage, keine Tiere mehr sinnlos morde, sooft als möglich „nackig wandle“, sich dem heilenden Sonnenlicht ausliefere und sich fortan den Versprechungen der modernen Medizin, ihren Pillen und Impfungen entgegenstelle und ganz und gar der heilenden Kraft der Natur vertraue. So wie er sich als Maler zu etablieren versuchte, endlich über die braven Auftragsarbeiten eines Portätisten hinauswachsen wollte, so war er ganz und gar von seinem Sendungsbewusstsein überzeugt, der Welt jene Antworten zu geben, die den Wandel zum Guten hervorrufen würden.
Felix Kucher «Vegetarianer», Picus, 2022, 230 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2120-4
Felix Kucher erzählt in seinem Roman „Vegetarianer“ die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mannes. Dabei will Felix Kucher aber nicht einfach nacherzählen, ein Leben aus dem Vergessen zurückholen. Karl Wilhelm Diefenbach starb 1913 vergessen und gescheitert auf der Insel Capri. Diefenbach ist Beispiel dafür, was ungebrochenes Sendungsbewusstsein, egozentrischer Drang aus seiner Existenz Bedeutung zu generieren und nur selten aufblitzenden Empathie bewirken können. Beispiele in der Gegenwart gibt es viele. Was sich in Zeiten der Pandemie und darüber hinaus an Heilbringern und Besserwissern in digitalen Foren tummelte, kann schwindlig machen. Nicht das Felix Kucher die Kritik gegen ungebremsten Fleischkonsum ins Lächerliche ziehen würde, nicht einmal Diefenbachs unbeirrbareren Widerstand gegen die Errungenschaften der modernen Medizin. Kucher geht es um die Person, um diesen einen Mann, der alles und jede(n) zu instrumentalisieren versuchte, der unumstösslich an seine eigene Unfehlbarkeit glaubte und alles Scheitern dem Unbill der Zeit in die Schuhe schob. Diefenbach hatte Kinder mehrerer Frauen, die ihn liebten, hatte Freunde, die für ihn während Jahren durch dick und dünn gingen, Zugewandte, die an ihn glaubten, sowohl als Maler wie als Weltverbesserer. Immer wieder kam er durch den Verkauf seiner Bilder zu Geld, fand Menschen, die ihn finanziell unterstützten. Immer wieder öffneten sich Türen, boten sich Chancen. Aber statt sich mit dem Erreichten anzufreunden, richtete sich der Blick in immer neue Sphären, schienen Grenzen für Karl Wilhelm Diefenbach nicht zu gelten. Schlussendlich starb Diefenbach allein.
Felix Kuchers Roman „Vegetarianer“ ist ein Sittenbild einer Zeit des Aufbruchs. Was im 19. Jahrhundert durch die aufbrechende Industrialisierung und Technisierung Elend und Armut, Entfremdung und Sehnsüchte nach einem Aufbruch verursachte, lässt sich spielend in die Gegenwart transformieren. „Vergetarianer“ ist sorgfältig erzählt, das Abenteuer eines Unbeirrbaren, das Zeugnis eines stillen Scheiterns. Felix Kuchers Roman ist aber keine Künstlerbiographie und will weder Wirken noch Leben Diefenbachs rekapitulieren. Ein Roman ist ein Roman. Und Romane sind stets Fiktion. Selbst dann, wenn sich Autoren an Fakten orientieren.
Neue Gesellschaftsformen suchte man im ausgehenden 19. Jahrhundert an vielen Orten. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Hier die Industrialisierung und Technisierung, dort die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, der Nähe zur Natur. Wie kamen sie zur Figur dieses Weltverbesserers? In einem Reiseführer zur Insel Capri fand ich schon Ende der 1980er Jahre den Hinweis auf seltsame dunkle und depressive Bilder eines deutschen Malers, die in der Certosa San Giacomo auf Capri hängen. Ich war ein paar Mal auf Capri, aber erst 2017 schaffte ich es in die Certosa und nahm die Bilder in Augenschein. Daraufhin begann ich mich mit der Person Diefenbachs zu beschäftigen und habe dann sehr viel recherchiert.
Es gibt vielerlei Verbindungen, Parallelen zur Gegenwart. Man sieht sie auch heute, die Weltverbesserer, die Besserwisser, die Instrumentalisierer, die Suggestiven. Entspricht das nicht der schlichten Sehnsucht nach dem Messianischen? Darüber mag ich kein Urteil sprechen. Sicher sind in Zeiten, wo die Technik die menschliche Lebenswelt zu bestimmen droht, die Sehnsüchte nach naturnahen Zuständen grösser und Menschen mit lebensreformerischen Ansätzen, die ein „Zurück zur Natur“ predigen, sind womöglich erfolgreicher. Parallelen zur Gegenwart gibt es tatsächlich sehr viele. Tatsächlich wurden damals Nahrungsmittel wie Hafermilch, Bircher-Müsli oder Heilmethoden wie Schüssler-Salze erfunden und beworben.
Hinter Karl Wilhelm Diefenbach zieht sich eine Spur mit Verwerfungen. Seien sie personell oder wirtschaftlich. Was hätte Karl Wilhelm Diefenbach an seinem Sterbebett wohl geflüstert (Ich weiss, die Frage ist rein rhetorisch, denn ausgerechnet er, der sich stets an einer gesunden Ernährung orientierte, starb an einem Darmverschluss!) hätte man ihn gefragt, wie er über sein Leben denke? Diefenbach war ein Visionär, der durchaus wusste, wie man Dinge effektvoll inszeniert und vermarktet. Finanziell war er bei seinen Unternehmungen nicht immer erfolgreich und auch Frauen hat er eher ausgenutzt. Ich denke, er wäre auch am Sterbebett überzeugt davon gewesen, das Richtige vertreten zu haben, auch wenn er seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügen konnte.
Wir leben wie damals in einer Zeit der Orientierungssuche. Man stellt die Medizin wie damals unter Generalverdacht, wettert gegen Zügellosigkeit und kritisiert zu recht die Folgen eines absolut unkritischen Fleischkonsums. Aber Einsicht und Korrektur kann niemals von aussen erreicht werden, auch wenn uns das Bildungswesen anderes verspricht. Karl Wilhelm Diefenbach agierte absolut patriarchisch und hierarchisch. Warum? Einerseits liegt es in der Zeit begründet: Es handelt sich bei seinen Kommunen schliesslich nicht um hierarchielose Hippie-Gemeinschaften, sondern eher um eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit einer starken Führerfigur. Lebensreform, Veganismus und Naturheilkunde tragen deutlich religöse Züge, Diefenbach tritt oft wie ein alttestamentlicher Prophet auf. Anders war das in dieser Zeit eben nicht denkbar. Andererseits funktionieren solche Gemeinschaften wahrscheinlich nicht anti-autoritär, man denke an die Sekten der 60er Jahre wie Mun oder Children of God.
Betrachtet man heute die Bilder des Malers Karl Wilhelm Diefenbach, dann wirken seine Arbeiten verklärt, aufgeladen und entrückt. Etwas, was der Bildenden Kunst heute völlig fremd zu sein scheint. Heute will und muss man provozieren. Ihr Buch hält sich ganz eng an die Geschichte dieses Mannes. Sie haben als Schriftsteller weder verklärt, noch aufgeladen oder entrückt. Was reizt sie an dieser Form des Erzählens? Ich denke nicht, dass Diefenbach mit seinen symbolistischen Bildern unbedingt provozieren wollte. Ganz sicher wollte er den Betrachter beeindrucken, überwältigen, ja, zu seiner Lehre bekehren. Die Bilder künden nach seiner Meinung von einem neuen Zeitalter, das gerade anbricht. Betreffend die Form des Erzählens habe ich einerseits eine Kunstsprache verwendet, die bewusst etwas altertümlich klingen soll und dem Ton nachempfunden ist, in dem Diefenbach seine Briefe schrieb. Ob ich neutral erzählt habe, schwer zu sagen. Verklärt habe ich Diefenbach sicher nicht, da er ja auch unangenehme Seiten hat. Versucht habe ich eine leise Ironie, die – so hoffe ich – nie ins Lächerlichmachen abgleitet.
Ist man sich als Autor der zu gewärtigen Reaktionen auf ein Buch bewusst, die ein solcher Roman auslösen kann, wenn die einen Seiten eines Lebens im Licht stehen und andere in den Augen anderer unterbelichtet bleiben? Es gibt kaum etwas, was einen als Autor noch überraschen kann.Einerseits gibt es immer abweichende Meinungen von Lesern, wenn historische Persönlichkeiten behandelt werden, andererseits gibt es Leser, die sich des Unterschieds zwischen Historie und Fiktion nicht bewusst sind. Das passiert mir bei meinen Romanen immer wieder.
Felix Kucher, geboren 1965 in Klagenfurt, studierte Klassische Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Er lebt und arbeitet in Klagenfurt und Wien. Im Picus Verlag erschienen seine Romane «Malcontenta», «Kamnik» und «Sie haben mich nicht gekriegt».
Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.
Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.
Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6
Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.
«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»
In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche.
Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.
Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.
Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.
Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt.
Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.
nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages
Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf.
Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4
«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.
atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht
Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.
Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!
Interview mit Michael Stavarič:
Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe? Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.
itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen
Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte? Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!
Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schlafen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt
Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen? Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.
kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahnmal vor sich herträgt
Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion? Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.
An guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin
Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen? Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …
Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.
In „Wellen“ will der Erzähler glücklich sein, nie gelangweilt und immerzu anwesend. Ein Mann, der eben zum zweiten Mal Vater geworden ist und sich zwischen Momenten des Glücks und Überforderungen zurecht finden will, als Vater, Ehemann, Schriftsteller und Beobachter einer Welt, die ihn prüft.
Dass man es als Vater zweier kleiner Kinder, nimmt man denn seine Rolle als Vater in einer Gegenwart, die die Abwesenheit eines solchen nicht mehr so einfach akzeptiert, schwer haben kann, einen Roman zu schreiben, versteht sich leicht. Umso erstaunlicher, dass es Heinz Helle als Vater zweier kleiner Kinder geschafft hat, sich nicht in Fiktionen aus dem Alltäglichen wegtragen zu lassen, sondern mit „Wellen“ ein Buch präsentiert, das sich in absoluter Unmittelbarkeit mit seiner eigenen Welt auseinandersetzt. „Wellen“ ist ein Buch übers Vater-, Mann- und Schriftstellersein. Nicht wirklich ein Roman, auch wenn das Buch als solcher angeschrieben ist. Viel mehr ein Tagebuch, ein Simultankommentar zu einem Leben mitten in der Familie, zwischen Windeln, Spielzeug, Volvo, Wäscheleinen und Milchfläschchen.
Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: „Weil du so riechst, wie du riechst.“
Auch wenn man „Wellen“ als Nabelschau bezeichnen kann, eine Gattung Buch, die mich mit wenigen Ausnahmen nicht fasziniert, ist Heinz Helles neustes Buch weit mehr. Mit Sicherheit eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an seine Frau, seine beiden Kinder, seine Familie, seine Aufgaben, sein Leben, jenen Lauf der Zeit, der mit zwei kleinen Kindern so sehr von Alltäglichkeiten dominiert wird, dass sich mein verklärter Blick in die Vergangenheit und Heinz Helles Blick in seine Gegenwart mitunter heftigst streiten. „Wellen“ schildert das Leben eines Mannes in der Brandung seiner Pflichten. Kein weinerliches Reflektieren eines Mühlsteinträgers, kein Suhlen in den Niederungen menschlicher Abgründe. Der Erzähler liebt seine Welt, auch wenn sie ihn zuweilen einengt, nicht loslässt. Der Erzähler liebt seine Kinder, auch wenn sie ihn nachts vom Schlafen abhalten und die Kleine erst in den Armen der Mutter zu schreien aufhört. Der Erzähler liebt seine Frau, die ihren Kopf noch immer an seine Brust legt, die ihn an der Hand nimmt. Und der Erzähler liebt sein Schreiben, sein schreibendes Nachdenken, auch wenn er in seinem kleinen Arbeitszimmer abseits seiner Wohnung manchmal einfach zuerst zur Ruhe kommen muss.
„Und dann merke ich, dass ich darum so gerne darüber schreibe, wie ich lebe, weil ich Frieden finde in der Anordnung der Zeichen, mit denen ich versuche, nachzubilden.“
Heinz Helles Buch sind Aufzeichnungen eines Nachdenkens. Der Erzähler denkt vom Kleinen ins Grosse, vom Grossen ins Kleine. Er weiss genau, dass das, was er als Vater tut, wenn er nachts die verstopfte Nase seines neugeborenen Kindes tröpfchenweise zu befreien versucht, keine Nichtigkeiten sind, sondern die kleinen Schritte zum Grossen. Jenes Grosse, das man im Sog der Alltäglichkeiten leicht aus den Augen verliert. Jenes Grosse, das verloren gegangen ist, wenn man in den Medien von Eltern liest, die die Kontrolle verlieren. Der Erzähler ist einem Geheimnis auf der Spur. Dass der Erzähler oft und gerne philosophische Abschweifungen unternimmt und diese mit Alltäglichkeiten, Träumereien und Beobachtungen vermengt, macht das Buch auch für mich zu einem Quell vieler Überraschungen. Und dass die einzelnen Kleinkapitel fast immer mit „Und dann“, „Und als“ „Und dass“ beginnen, gibt dem Text eine Unmittelbarkeit, als würde der Erzähler sein Leben im O-Ton kommentieren.
Als ich 1985 zum ersten Mal und zehn Jahre später zum letzten Mal Vater wurde, waren viele Selbstverständlichkeiten mit denen von heute identisch. Und doch unterscheidet sich die Rolle eines Vaters, eines Mannes, eines Ehemannes in vielem diametral von der damals, auch wenn nur 40 Jahre dazwischenliegen. Vielleicht war das meine grösste Herausforderung bei der Lektüre; die Erkenntnis, wie gedankenlos ich damals meine Rolle lebte, auch wenn die Zeichen der Zeit damals Grund genug gegeben hätten, gewisse Selbstverständlichkeiten mit Schamröte aufzugeben.
Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in München und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen letzten Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», wurde er mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen Töchtern in Zürich.
Benjamin Berton, Julia Deck, Doris Dörrie, Tomás González, Luke Haines, Christoph Höhtker, Barbara Hundegger, Kim Hye-jin, Boris Kerenski, Ana Marwan, Hanspeter Müller-Drossaart, Andreas Niedermann, Paul Renner, Edgar Selge, Lea Streisand, Paulina Stulin – und ein nach Literatur dürstendes Publikum.
Nach zwei Jahren, während derer man gezwungen war, die Veranstaltungen bloss digital durchzuführen, wurde die 20. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals „Sprachsalz“ zu einem Fest weit über das Jubiläum hinaus. Wer weiss denn schon, wie lange und wie befreit man solche Veranstaltungen geniessen kann, bevor sich wieder eine Welle der Angst über den Globus ergiesst.
„Sprachsalz“ ist ein Festival der Nähe. Es gibt keine Tische, an denen sich nur Eingeweihte, Eingeladene, LiteratInnen treffen und man sich als Besucher kaum in die Nähe traut, keine VIP-Zonen, obwohl grosse Namen neben Geheimtipps auftreten, nirgends Gehabe, auch wenn wie vor drei Jahren eine Nobelpreisträgerin an der Festivalbar sitzt und an einem Glas Wasser nippt (Herta Müller). „Sprachsalz“ ist ein Festival der Grosszügigkeit. Getragen von einem breiten Feld von Sponsoren ist der Eintritt frei, die Festivalleitung unkompliziert und ganz offensichtlich auch für die Eingeladenen eine „Bereicherung“.
Wer regelmässig solche Festivals besucht, ist neugierig auf Begegnungen, auch auf die Chance, ein Leseerlebnis mit einer realen Auseinandersetzung zu verbinden; einem Gesicht, einer Stimme, einem kurzen oder längeren Gespräch, Augenblicken, die sich einbrennen. Unvergessen bleiben werden mir jene mit der Slowenin Ana Marwan und mit dem Kolumbianer Tomás Gonzáles. Ich werde ihre Bücher nach Hause tragen, in meiner Bibliothek einordnen – und wenn meine Blicke in Zukunft auf ihren Buchrücken hängen bleiben, wird etwas von dem aufblitzen, was mich am „Sprachsalz“ in Verzückung brachte.
Als ich Ana Marwans Debüt „Der Kreis des Weberknechts“ im Herbst 2019 über den Sonderling Karl Lipitsch las, war die Lektüre eine Offenbarung, als hätte sich ganz unerwartet ein Tor zu einem grossen Geheimnis geöffnet. Ein Lesegefühl, das sich nur ganz selten einstellt. Da schrieb jemand ganz sanft, fein beobachtend, mit schneidendem Witz und höchster Präzision. Als Ana Marwan im Sommer 2022 am Bachmannpreislesen den mit 25000 Euro dotierten Hauptpreis gewann, war das mehr Bestätigung als Überraschung. „Die Autorin führt die deutsche Sprache, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt das Deutsche vor sich her“, meinte Klaus Kastenberger, Jurymitglied, bei der in Klagenfurt gehaltenen Laudatio.
Dass Ana Marwan mit ihrem zweiten Roman im März 2023 Gast, mein Gast im Literaturhaus Thurgau sein wird, freut mich nach der Begegnung in Hall noch viel mehr. Sie liest und diskutiert am Donnerstag, den 23. März im schmucken Literaturhaus in Gottlieben TG!
Ein zweites Highlight mit viel Vorfreude war die Begegnung mit Tomás Gonzáles. Einem Grossen, der trotz vieler Fürsprecher ein Geheimtipp geblieben ist. Ein Schriftsteller, der mit seinem Schreiben nicht in die „Kategorie“ Magischer Realismus verortet werden kann, denn seine Themen, sein Personal, seine Kulissen sind immer ganz nahe an der Realität, oft im Spannungsfeld zwischen Schmerz und Schönheit. Deshalb darf der Tiel seines aktuellen Erzählbandes „Die stachelige Schönheit der Welt“ durchaus als Programm seines Schreibens gesehen werden.
Ich lernte die Bücher des Autors 2012 schätzen, als ich ihn mit „Das spröde Licht“ zu lesen begann, einer Geschichte, mit der er das langsame Sterben seiner an MS erkrankten Frau literarisch verarbeitete. Doch Tomás Gonzáles rapportiert nicht einfach den Leidensweg seiner Frau, sondern transformiert sein Erleben in eine fiktive Familie, in der der älteste Sohn nach einem Unfall, der ihn vom Hals abwärts lähmt, in seinen Schmerzen eine ganze Familie, die Liebe an einen Abgrund reisst.
„Glühwürmchen“, eine der dreizehn Erzählungen aus 30 Jahren in „Die stachelige Schönheit der Welt“, erzählt von Atilano und Jesús, einem Paar, zweier Männer, zweier Künstler, der eine weg, wegen eines Stipendiums in Florenz, der andere in Queens. Beide entfernen sich, Jesús nach Italien in die Fremde, eine andere Welt, Atilano in die Wut, den Schmerz, die Enttäuschung und Verzweiflung eines Zurückgelassenen. Die Sprache ist glasklar. Es sind keine Geschichtchen. So nah der Schriftsteller seinen Personen kommt, so fern ist ihm jegliches Moralisieren.
Schreiben sei keine Schmerztherapie, sondern die Erschaffung von etwas Neuem, eine Umwandlung, die den Schmerz vielleicht leichter machen kann, meinte Tomás Gonzáles im Gespräch mit seinem Übersetzer und Mentor Peter Schultze-Kraft. Tomás Gonzáles lebte fast zwei Jahrzehnte im freiwilligen Exil in Florida und New York. Seine Sprache war damals das einzige, was er aus seiner Heimat mitnehmen konnte, aus jener Welt, die er zurücklassen musste. Schreiben wurde zu einer Art Wiedererschaffung seiner Heimat, ein Weg, seine Sehnsucht zu überwinden.
Peter Stamm sagte über ihn: «González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen.» „Die stachelige Schönheit der Welt“ von Tomás Gonzáles ist ein wunderbares Tor in den Kosmos eines Grossen!
Waren Sie schon einmal in der Eifel? Weil ich alle Bücher Norbert Scheuers gelesen habe und der Autor eine meiner Lieben ist, die mich niemals enttäuschte, war ich schon so oft in der Eifel, wenn auch noch nie physisch. Norbert Scheuer schafft etwas mit seinem Erzählen, was nur wenigen gelingt: Unmittelbarkeit.
„Mutabor“, heisst das Zauberwort, mit dem sich der Kalif Chasid und sein Grosswesir Mansor in Wilhelm Hauffs Märchen von Störchen zurück zu Menschen verwandeln können, wenn die beiden nicht lachen. Das lateinische „Mutabor“ heisst „Ich werde verwandelt werden“.
Norbert Scheuer «Mutabor», illustriert mit Zeichnungen von Erasmus Scheuer, C. H. Beck, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-406-78152-0
Nina lebt in Kall im Urftland, einem kleinen Ort in der Eifel. Nina möchte verwandelt werden, sucht nach dem Zauberwort Mutabor, das sie endlich dorthin bringt, wo sie sein möchte. Weg aus der Ungewissheit, woher sie kommt, wer ihr Vater ist, wo ihre Mutter geblieben ist, weg vom Geheimnis, das sie erahnt, über das sie aber niemand aufklärt. Weg vom Ausgesperrtsein, weg von Getuschel, weg vom Makel, weg von allem, was sie an Kall kettet. Weg nach Byzanz zum Palast der Störche, eine Reise, die sie mit ihrem Grossvater, als er noch lebte, unzählige Male mit seinem durchgerosteten hellblauen Opel Kapitän angetreten und nie über die Hügel des Urftlands gekommen war. Weg auf eine der vielen Inseln Griechenlands, von der Evros, der griechische Gastwirt im Ort, immer wieder erzählte, bei dem sie nach dem morgendlichen Zeitungsaustragen ihr Geld verdient.
Nina ist allein. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Warum taucht eine Mutter plötzlich weg? Wie kann man ein Kind alleine zurücklassen? Als Ninas Mutter verschwand, war Nina noch nicht volljährig, wohnte zwar schon in einer winzigen Mansardenwohnung, stand aber stets unter der Kontrolle eines Vormunds. Ihr neuster, der „Krapfen“, eine Frau, die Nina zu viel mehr zwingt, als sie geben möchte und dabei ihren Hunger nach echter Liebe und Zuneigung nur noch potenziert, ist eine der vielen, die Nina mit jeder Geste zeigen, dass sie Aussenseiterin und Randständige ist und bleibt. Die einzige im Ort, bei der sie so etwas wie Geborgenheit, ein warmes Nest findet, ist die ehemalige Lehrerin Sophia Molitor, eine Frau, die als Witwe alleine in einem grossen Haus lebt und Nina jenes Tor zur Welt öffnet, weil sie das Mädchen das lehrt, was die Schule nicht vermochte. Aber auch bei „Tante“, wie Nina Sophia liebevoll nennt, sind Fragen nach der Mutter ungeliebt. Nina spürt, dass selbst Sophia nicht mit offenen Karten spielt, Geheimnisse unter Verschluss hält. So wie Tante Sophia von ihrem Mann Eugen heimgesucht wird, so ist es der Geist Ninas Mutter, der sie nie zur Ruhe kommen lässt.
«Jeden Moment verändert sich alles und alles verändert jeden Moment.»
Einzig Paul lässt Nina hoffen. Als Nina Mädchen war, hatte Paul kein Auge für sie. Aber nun, Paul kehrte als Versehrter aus einem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zurück, hofft Nina auf Paul. Sie spürt, dass sich da etwas öffnen kann, dass sie in und mit Paul etwas finden kann, was ihr bisher verwehrt blieb. Und tatsächlich kommt es zu einer zaghaften Annäherung und irgendwann zu jener einen Nacht, die die Tür aber auch gleich wieder verschliesst. Paul entzieht sich Nina. Und Nina weiss einmal mehr nicht, wie ihr geschieht, was die Gründe sind, warum sie wie eine Leprakranke gemieden wird.
Norbert Scheuer Roman ist ungemein facettenreich und von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kann sein, dass man sich einschüchtern lässt von der Vielstimmigkeit des Personals, von der Veielstimmigkeit des Lesegefühls, einmal dunkel, einmal hell, von den mit kryptischen Texten beschriebenen Bierdeckeln in der Schublade des griechischen Wirts, die zusammen mit Ninas Traumzeichnungen den Roman illustrieren, von Traum- und Wahnbildern, die die Geschichte permanent kippen lassen. Aber wer sich gerne von wirklicher Schreib- und Erzählkunst, von Sprachmagie fesseln lassen will, ist mit dem neusten Roman aus der Feder Norbert Scheuer wunderbar bedient.
Norbert Scheuer erzählt zwar von der kleinen Welt in Kall im Urftland, aber eigentlich von den grossen Themen des Menschseins. Von Liebe und Tod, von der Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Auf nicht einmal 200 Seiten macht Norbert Scheuer das Kleine zur grossen Bühne. Und wer in Norbert Scheuers Roman- und Erzählwelt zuhause ist, trifft sie alle wieder, die in seinen bisherigen Romanen grosse und kleine Auftritte hatten.
Nach der Lektüre schiebe ich „Mutabor“ zu all meinen Norbert-Scheuer-Schätzen in meinem Bücherregal, mit Wehmut darum, weil Norbert Scheuer so sehr mein Herz bewegte.
Norbert Scheuer liest am Dienstag, den 20. September 2022 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman «Mutabor», obwohl im gedruckten Programm der Roman «Winterbienen» angekündigt wird.
Illustration von Erasmus Scheuer aus dem Roman «Mutabor» von Norbert Scheuer – mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben
Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums» (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie ausserdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.
„Erfüllung“ ist der beklemmende Roman einer Frau, die sich in ihren verzweifelten Lieben verliert. In der Liebe zu ihrem Sohn, der Liebe zu ihrem Mann, der Liebe zu einem Land. So sehr sie um die Liebe ihres Sohnes kämpft, so sehr verliert sie die Liebe zu sich selbst.
Algier Ende der 70er Jahre; Die Französin Michèle Akli lebt mit ihrem Mann Brahim und ihrem Sohn Erwan in der algerischen Hauptstadt. Sie ist eingesperrt in ihrem Leben. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr verloren gegangen. Sie ist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Frankreich ist weit weg und Land und Leute in Algier zeigen ihr mehr als deutlich, dass sie keine der ihrigen ist, nie eine sein wird. In ihrer Flucht in sich selbst hat sie sich zurückgezogen in das grosse Haus mit Garten und ihre alles beherrschende Liebe zu ihrem zehnjährigen Sohn. Eine Liebe, die durch eine neue Freundschaft ihres Sohnes bedroht scheint, denn Erwan hat sich mit Bruce zusammengeschlossen, einem Mädchen, gleich alt wie er, androgyn, kumpelhaft und ihr gegenüber seltsam distanziert. Michèle beobachtet und interpretiert, ist längst gefesselt in einem Strudel eingebildeter Bedrohungen, dieses kleine Mädchen, dass sich im Leben ihres Sohnes festsetzt, würde sie ausschliessen, sie die Mutter.
„Die Haut ist ein Hafen für die, die keine Heimat mehr haben.“
Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis, 2022, aus dem Französischen von Nathalie Rouanet, 232 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-906903-19-4
„Erfüllung“ sind sieben Hefte, die Michèlein den Jahren 1977 und 1978 schreibt, Tagebücher, denen sie anvertraut, was sie niemandem sonst anvertrauen kann, von dem sie spürt, dass es sie in ihrer Existenz bedroht. Stumme Hilfeschreie einer Frau, die sich nach nichts als Liebe sehnt, deren Reste sie an allen Fronten bedroht sieht. Was zwischen ihr und ihrem Mann geblieben ist, ist Trott und Alltag. Mit ihm zog sie in dieses Land, weil es Aufbruch und Zukunft versprach, sei es als Familie oder wirtschaftlich. Aber ihr Mann ist oft unterwegs. Ist er nicht da, wünscht sie sich in seine Arme, deren Wärme sie sich erinnert. Ist er da, fürchtet sie sich vor ihm, weil das, was geblieben ist nur noch eine brüchig gewordene Insel auf brodelndem Untergrund ist.
„Sie hat meinen Sohn ausgewählt, ich kann nichts dagegen ausrichten.“
Michèle ist verzweifelt. Ihre Verzweiflung füllt diese Hefte, das Wissen, dass nichts so bleiben wird wie im Moment der Niederschrift, diese absoluten Momente der Zweisamkeit mit ihrem Sohn, diese Geborgenheit, diese Vertrautheit. Michèle lernt die Mutter von Bruce kennen, dem Mädchen, das sich mit ihrem Sohn im Zimmer zurückzieht, das all jene Nähe zu gewinnen scheint, die ihr als Mutter weggenommen wird. Ein Mann, der ihr fremd geworden ist, ein Land, das nie das ihrige geworden ist und ein Sohn, der ihr „genommen“ wird.
„Das Gewicht der algerischen Erde lastet auf den Schultern der französischen Frauen. Es ist ein Tunnel, in dem wir herumirren und vergeblich nach einem Ausweg suchen.“
„Erfüllung“ ist beklemmend. Der Roman ist nicht einfach die Summe vieler Tagebuchaufzeichnungen, ein verzweifeltes Wühlen in Emotionen, der Sturm einer enttäuschten, bedrohten Frau. Eigentlich liebt Michèle dieses Land, das ihr verwehrt bleibt, die raue Landschaft, das Meer, die Düfte, die Farben. Eigentlich liebt Michèle ihren Mann, die Erinnerung an all das Gemeinsame, die Sehnsucht nach jener Wärme, in der sie sich geborgen fühlte, jenes Abenteuer Algerien in Angriff nahm. Sie liebt ihr Haus, den opulenten Garten. Aber nicht nur die verzweifelte Liebe zu ihrem Sohn, auch die wollüstigen Gefühle zu Catherine, der Mutter von Bruce, der Freundin ihres Sohnes, bringt sie ins Straucheln. Es ist die Orientierungslosigkeit einer Existenz, der die letzte Aufgabe genommen wird, die sich immer mehr an den Rand gedrängt fühlt, die nicht weiss, wie ihr geschieht, die nicht weiss, woran sie sich halten soll.
„Erfüllung“ ist nicht das verzweifelte Tagebuch einer Losgelassenen. „Erfüllung“ ist ein Beispiel für all jene, die sich in den Wirren ihres Lebens nach Erfüllung sehnen, die nicht akzeptieren wollen, dass jenes Bild, dass sie sich von erfüllender Liebe machten, nur Schall und Rauch sein soll. „Erfüllung“ ist in irisierenden Farben geschrieben, von überwältigender Intensität mit Sätzen, die sich in die Haut einbrennen, atmosphärisch dicht, obsessiv, in siedender Hitze geschrieben. „Erfüllung“ ist ein Buch über eine Frau, die sich verloren hat, über enttäuschte Lieben.
Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet und für den Prix des Cinq Continents nominiert. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».
Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren. Lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin, Veröffentlichungen in französischen und österreichischen Zeitschriften.