Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl

Dass ein dünnes Buch kein Gewicht vermitteln muss und dass Geschichten, dessen „Sammlung“ der Autor selbst lakonisch „Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ untertitelt, alles andere als bloss heiter sind, beweist der Sprachkünstler Thomas Stangl auf beeindruckende Art und Weise. Sein Band „Diverse Wunder“ ist wahrhaft wunderlich, sprachlich schillernd, voller Geheimnisse.

Thomas Stangl muss nichts beweisen. Und darum ist selbst der Titel seiner Geschichtensammlung, alles andere als eine Sammlung unwillkürlich zusammengestellter Kurztexte, Understatement und wie das ganze Buch eine literarische Schnitzeljagd in den Gedankenkosmos eines Künstlers, der sich nicht durch Grenzen der realen Wahrnehmung einschüchtern lässt. „Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ macht glauben, die Texte wären einfach so dahingestreut, ohne Absicht, schon gar nicht komponiert. Aber in den Geschichten tauchen immer wieder Namen und Motive auf, sei es nun Wittgenstein, der Hunde malende Kunstmaler Wu Daozi, die schöne Nichte Tamara, Fortsetzungsgeschichten wie Venedig ein, zwei und drei, eine Akrobatin, vom Neffen Tamaras geliebt, eine mehrteilige Vorschichte oder ein dreiteiliges Ende.

„Ziel der Literatur ist es, der Gurke den Weg aus dem Gurkenglas zu zeigen.“

Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-125-3

Thomas Stangls Geschichten kippen an der Realität, nähren sich aus Traumbildern, Geschichten von der anderen Seite. Weit weg von Erbauungsgeschichten, keine Nachttischchenlektüre, denn die Geschichten könnten sich, vermischt mit den eigenen Traumgeschichten, zu Kopfgewittern auswachsen, die kleben bleiben.

Wäre Thomas Stangl ein Maler, müsste man sich beim Betrachten seiner Bilder Zeit lassen, denn was sie auf die Schnelle zeigen, ist nicht das, worum es dem Bildermaler geht. Er spielt mit den Bildern, gibt ihnen Vieldeutigkeit. Seine Sprachbilder spielen mit Perspektiven, leuchten mal von vorne, mal von hinten, aus den Tiefen des Surrealen. Manchmal reisst Thomas Stangl auch das Bedeutungs- und Deutungsschwere herunter, so wie in der Geschichte vom Fisch, einem Symbol, einer Zeichnung, die viel zu oft mit Ideologie aufgeblasen wurde. Ein Fisch interessiert sich für nichts. Ein Fisch frisst seine Kinder, wenn das, was ihm entgegenschwimmt, zufällig seine Kinder sind. 

Skurriles gepaart mit genauer Betrachtung, seine Fantasie mit Geträumtem, die Lust am Formulieren und Fabulieren mit jener, die Bilder zu entfremden, der scheinbaren Wirklichkeit entgegenzustellen. Thomas Stangl schert sich nicht um Verständlichkeit, seine Geschichten sind Bilder, die sich überlappen, sich gegenseitig kommentieren. Sie besitzen einen ganz eigenen Witz, den Witz eines Sprachspielers. So wie Kinder, wenn sie zeichnen oder malen, sich nicht darum kümmern, eine Welt abzubilden, viel mehr Lust am Zeichnen selbst verspüren. Er folgt der Magie des Formulierens und Schreibens, seiner Lust, mit Sprache etwas entstehen zu lassen, was die reine Wiedergabe niemals schaffen kann.

Ausgerechnet in der Literatur verlangt man Verständnis, Klarheit und Lesbarkeit. In vielen anderen Kunstgattungen, sei es Musik, Malerei oder selbst dem Tanz, wird Widerspruch und Geheimnis akzeptiert. Aber weil Literatur auch noch unterhalten muss, für viele in erster Linie unterhalten muss, wird alles „Unverständliche“, Uneindeutige nur schwer akzeptiert.

Thomas Stangls Buch ist ein wundersames Bilderbuch der Geheimnisse!

Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, studierte Philosophie sowie Hispanistik und lebt in Wien. Bereits sein erster Roman «Der einzige Ort» brachte ihm den aspekte-Preis (2004) für das beste deutschsprachige Debüt ein. In den Folgejahren erhielt er u. a. den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Preis (2007), den Erich-Fried-Preis (2011) oder den Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2022) sowie den Bremer Literaturpreis (2023).

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Beitragsbild © Jessica Schaefer

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind

Die japanische Schriftstellerin Yōko Ogawa erschafft Welten von schimmernder Zeitlosigkeit. Ihr 2000 in Japan erschienener Roman „Das Museum der Stille“ erzählt in leicht entrückten Bildern von einem Museum der Erinnerungen, von einem vergessenen Ort, einer Frau, die sich im Sterben gegen die Auslöschung stemmt.

Was wir in einem Leben an Dingen mit uns herumtragen, was an Material unsere Wohnungen füllt und als Zierrat das Regal dort, die Ablage hier, ist eigentlich nur immer ein Musuem unseres eigenen Lebens, die Spur, die sich hinter dem Sein durchs Leben zieht. All die Dinge, ob wertlos oder Rarität, erzählen Geschichte und Geschichten. Meistens nur zu Lebzeiten ihrer BesitzerInnen. Das merken wir schmerzhaft dann, wenn wir die Wohnungen Verstorbener zu räumen haben und Dinge mit einem Mal ihre Geschichte verlieren – und nicht zuletzt ihren Wert.

In „Das Museum der Stille“ wird ein junger Mann in einen kleinen Ort weitab berufen, um unter Anleitung einer alten, eigenwilligen und launenhaften Dame ein Museum der besonderen Art einzurichten. Eine Sammlung aus lauter Dingen Verstorbener jenes Ortes. Dinge, zu denen die alte Frau Geschichten zu erzählen weiss, sehr oft banale oder vergängliche Überbleibsel von ganz unterschiedlichen Biographien, die sie über die Jahrzehnte sammelte, wenn auch der Akt der Beschaffung mehr an Diebstahl erinnert. Die Frau spürt sehr wohl, dass ihre Zeit langsam einem Ende zugeht und das, was sie über ein ganzes Leben als Idee mit sich herumtrug, Gestalt annehmen muss, wenn all das Gesammelte seine Geschichten, die gespeicherte Erinnerung nicht verlieren soll.

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind, 2023, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, 352 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-95438-160-9

Der junge Mann soll mit Hilfe der Tochter der alten Frau sämliche Objekte, die wild durcheinander in der grossen Villa der alten Frau lagern, katalogisieren, fotographieren, restaurieren und mit den Erinnerungen der alten Frau zu einem Museum gegen die Vergänglichkeit aufbereiten. Ein Ansinnen, das den jungen Mann zuerst befremdet, zumal er sich an seiner neuen Arbeitsstelle, wo er auch wohnt und zusammen mit dem Gärtnerehepaar und der Tochter stille und wenig abwechslungsreiche Tage erlebt, irgendwie unwohl fühlt, seltsam getrennt von der Welt, aus der er kam. Einzige Verbindung zur Aussenwelt sind die Briefe an seinen Bruder. Einzige Erinnerungen, die er selbst mit sich herumträgt; ein Mikroskop seines Bruders und das Tagebuch der Anne Frank, aus dem ihm seine Mutter vorlas, als sie noch lebte. Materialisierte Erinnerungen.

Doch eines Tages erschüttert ein Bombenanschlag den kleinen Ort in den Bergen und bald darauf eine Reihe seltsamer Verbrechen, in die sich der junge Mann unfreiwillig verstrickt fühlt, da er es ist, der immer wieder im Auftrag der alten Frau, einem Auftrag, der immer mehr zur eigenen Selbstverständlichkeit wird, in die Wohnung von Verstorbenen steigt, um etwas von dem zu „retten“, was die Verstorbenen ausmachte; das Skalpell eines Arztes, eine Schreibmaschinenseite einer Wahrsagerin, das Glasauge eines Organisten. So realistisch die baldige Eröffung des Museums der Stille näherrückt, so absehbarer wird das drohened Ende der alten Frau und das Ende seiner Zeit in jenem Dorf, in dem er all die Monate ein Fremdling geblieben war.

Der Roman erinnert an die seltsam eigenartigen Filme von Wes Anderson, die Szenerie an einen in sich geschlossenen Kosmos von kafkaesken Zügen. So wie sich der junge Mann mit jedem Objekt, dass er durch die Zusammenführung von Materie und Geschichte zu etwas Eigenem macht, so geht es mir als Leser. Da ist nicht nur diese selsame Geschichte, die bis zur letzten Seite geheimnisvoll bleibt, da ist auch ein Personal, das durch Seltsamkeiten Schatten wirft. Schweigende Mönche aus einem Kloster auf der anderen Seite eines Sees. Ein Gärtner, der Messer um Messer fertigt. Eine alte, schrullige Frau in einer riesigen, labyrinthischen Villa. „Das Museum der Stille“ ist ein Roman von mitreissender Spannung, wie ein zenbuddhistischer Garten, der das menschliche Grauen miteinschliesst.

Yōko Ogawa, geboren 1962, gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Akutagawa-Preis und dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman «Das Geheimnis der Eulerschen Formel» erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Mit der englischsprachigen Ausgabe des Romans «Insel der verlorenen Erinnerung» wurde Yōko Ogawa für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Provinz Hyogo.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.

Kimiko Nakayama-Ziegler ist eine literarische Übersetzerin und Universitätsdozentin. Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre übersetzte sie, zusammen mit Ursula Gräfe zahlreiche Texte der zeitgenössischen japanischen Literatur, meist von Yōko Ogawa und Hiromi Kawakami ins Deutsche. 

Yōko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Rezension auf literaturblatt.ch

Yōko Ogawa «Zärtliche Klagen», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert. 

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter.

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum. 
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives. 

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene  Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt. 
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt. 

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. 

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Beitragsbild © Stefan Dworak

Karl Ove Knausgård «Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit», Luchterhand

1050 Seiten sattes Leben voller Verzweiflung und voller Hoffnungen: Karl Ove Knausgård schickt uns in ein sympathisch-chaotisches Universum und switcht dabei zwischen dem Südnorwegen der mittleren 1980er-Jahre und dem heutigen Russland – ein Stern am Himmel inklusive. 

Gastrezension von Frank Keil

Er erwacht, als die Lautsprecherstimme den Landeanflug ankündigt. Ein wenig enttäuscht ist er von sich, dass er eingeschlafen ist, statt den Flug zu genießen, den Blick auf die russische Landschaft, auf langgestreckte Wälder und sich schlängelnde Flüsse, vielleicht zwischendurch eine kleine Stadt, die auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Syvert heißt unser Held, mit Nachnamen Løyning; verheiratet, die Kinder sind groß und also aus dem Haus, sein Bestattungsunternehmen läuft gut, sehr gut sogar, und nun ist er unterwegs zu seiner Schwester, die er noch nie gesehen hat. Er hat sich in Moskau in einem Hotel einquartiert, dass sich nicht weit vom Bolschoi Theater und vom Roten Platz entfernt befindet, das also recht zentral liegt. Er meldet sich via Facetime bei seiner Frau, gut angekommen sei er, vielleicht sollten sie sich ein Segelboot kaufen, wäre das nicht eine gute Idee? Er isst noch im Flughafen einen Hamburger, dazu Pommes und eine Cola. Dann lässt er sich zum Hotel fahren, checkt ein, schreibt seiner Schwester eine Nachricht, er sei jetzt in der Stadt, er freue ich auf das morgige Treffen, ein Zeichen soll es sein, mehr ist es nicht. Er nennt sie „little sister“. Wir sind auf Seite 924 angekommen, wir sind gespannt, was nun passieren wird.

In Südnorwegen beginnt alles zuvor, im Jahr 1986, in einer kleinen, vordergründig gesichtslosen Stadt an der Küste kommen wir hinzu, wo Syvert aufgewachsen ist: einerseits ist das lange her, in einer irgendwie anderen Zeit. Und andererseits ist alles wieder da, kaum hat er seine Tasche abgestellt, ist alles so wie neulich, weil sich in solchen Nestern mit Tankstelle und Videothek und der Schnellstraße und dem Fußballverein (Karl Ove Knausgård ist Fußballfan), wo er sofort wieder seinen Platz zugewiesen bekommt, dann doch wenig ändert, so wie auch die Kumpels von damals sich sofort umhören, wo er einen Job finden könnte, übergangsweise, bis er eine Idee hat, wie es weitergehen könnte mit seinem Leben (er hat keine Idee, gar keine), na ja, und da bietet sich der Job beim hiesigen Bestatter an, der immer Hilfe gebrauchen kann; besser als nichts, und im örtlichen Werk, wo sonst alle unterkommen ist gerade nichts frei, und seiner Mutter will er nicht länger auf der Tasche liegen, wie man so sagt, auch weil auf seine Mutter etwas zurollt, das sie zu verschlingen droht und sie hat doch schon ihr ganzes Leben so hart geackert, da will er sie unterstützen.

Syvert ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert, als Koch bei der Marine. Kochen also kann er, als er zurückkehrt in sein Elternhaus, dass genaugenommen sein Mutterhaus ist, denn sein Vater ist seit einigen Jahren tot, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, nur noch schwach kann er sich an ihn erinnern, was sich ändern wird. Weil er nun nach und nach manches erfährt, dass er nicht wusste und was seinen Blick auf die Welt und besonders auf seine Eltern neu ausrichten wird, ob er das will oder nicht (er will es nicht, aber das Leben fragt ihn nicht, sondern es geht seinen Weg und nimmt ihn entsprechend an die Hand, falls er stolpert, und das tut er).

Er muss sich nur irgendwas halbwegs Überzeugendes ausdenken, was er Lisa sagt, was er jetzt arbeitet, übergangweise; Bestatter-Gehilfe klingt und wirkt da vielleicht nicht ganz so gut, wenn er mit ihr ausgehen will, dabei hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er absolut nicht ihr Typ ist und er sich keinerlei Hoffnung machen soll, aber so wie sie ist, wenn sie sich treffen, kann das eigentlich nicht sein.

Karl Ove Knausgård „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand, 2023, 1056 Seiten, CHF ca. 39.00, ISBN 978-3-630-87635-1

Ach ja: Karl Ove Knausgård, das ist der norwegische Romancier, dessen autofiktionales Werk „Min Kamp“, auf Deutsch zu übersetzen mit „Mein Kampf“, die Literaturgemeinde so tief spaltete: Sechs je kiloschwere Bände erschienen zwischen 2009 und 2011: „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und dann „Kämpfen“, in denen er jeweils sein eigenes (Er)Leben zum Ausgangspunkt und noch mehr zum Fundus seiner Romane machte. Für die einen war das nicht mehr als manische und eitle Selbstbespiegelung von begrenztem Wert, für andere dagegen belebte er die Grundtechnik des Erzählens neu, gab er dem bis heute anhaltenden Siegeszug des autofiktionalen Erzählens den Grundimpuls. Nun hat sich Knausgård nach einer Art Zwischenschritt (einer Tetralogie von romanähnlichen Büchern, benannt nach den Jahreszeiten) dem rein fiktionalen Erzählen zugewandt und eine neue Reihe mit ebenfalls sechs Bänden angekündigt: der vorliegende ist nach „Der Morgenstern“ der zweite Band, so wie auch Syvert in Moskau einen Stern am Himmel sehen wird, der nicht weichen will und der die Millionenstadt in ein eigenes Licht tauchen wird.

Und dann ist damals noch etwas passiert, als wir Syvert als jungen Mann auf seinem Weg durch sein anfangs so zielloses Leben begleiten, in einem fernen, im mittleren Teil der Sowjetunion (mit dem Norwegen nordostwärts ein schmales Stück Grenze hat), in einem Krenkraftwerk in einem Ort bei Kiew mit Namen ‚Tschernobyl‘ und ist das nun beruhigend oder ist beunruhigend, was Syvert dazu im Radio hört, was die Experten sagen und was sind das zugleich für Briefe, die er beim Aufräumen in der Scheune bei den Sachen seines Vaters findet: Briefe auf Kyrillisch, Briefe offenbar von einer Frau, wer könnte die für ihn übersetzen und will er wirklich wissen, was dann da auf dem Papier vor ihm steht?

Und als wir wissen, was da zu lesen ist, so wie nun Syvert es weiß, eine Flasche Rotwein hat ihn dieses Wissen gekostet, verlassen wir ihn vorerst (keine Sorge: Wir treffen ihn wie schon erwähnt wieder, viele Jahre und eben einige Hundert Seiten später, die Sowjetunion gibt es entsprechend nicht mehr, und wir lernen Alevtina kennen, als desillusionierte Dozentin in der Post-Sowjetunion, doch Jahre vorher als aufgeweckte und vorwärtsstrebende Studentin, die zu Pilzen und ihren Verbindungen zu Bäumen forschte („Leben. Leben. Leben“, das sei der Sinn des Daseins, da ist sie sich sicher, als sie während einer Forschungs-Exkursion durch die einen nordkarelischen Wald taumelt und in Folge dieser Erkenntnis, wird sie sich bücken und einige der aus dem Boden ans Licht wachsenden Pilze essen), die nun gleichfalls in ihren Heimatort zurückkehren wird, um mit ihrem Vater dessen 80sten Geburtstag zu feiern, ein Geschenk hat sie nicht mit, dass muss sie noch besorgen (dringend!), am besten ein Buch (nur welches?), denn ihr Vater ist ein Büchermensch, ist es durch und durch, draußen liegt Schnee, es ist kalt, es ist richtig kalt, förmlich gefroren ist die Welt, und bei ihr ist es die Mutter, die schon lange tot ist, was nicht heißt, dass es auch zu ihr eine irgendwie magische Verbindung gibt, schwer zu erklären.  

Ein ganz spezielles Verhältnis haben entsprechend Tochter und Vater, dieser ein einstiger Komponist, wie in diesem Roman alle auftretenden Personen zu ihren Mitmenschen ein spezielles Verhältnis haben, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander leben, wie sie wieder auseinandergehen, zunächst oder vorübergehend oder endgültig.

Und das sind nur einige, wenige Handlungsfäden, die hier stellvertretend skizziert und ausgerollt werden sollen (man könnte auch andere nehmen, es sind genug da), denn kaum hat man angefangen zu lesen, die ersten 50, dann 100 Seiten, hat man einerseits die Übersicht über das sich vor einem ausbreitenden Geschehen verloren und es gleichzeitig absolut genau erfasst.
Wie Knausgård so seinen Helden vertraut, wie er sie in die Welt schickt, wo sie sich verlieren, wo sie sich wiederfinden (und umgekehrt), suchen sie in beiden Fällen nach Orientierung – entlang der großen Fragen: Wer bestimmt mein Leben? Wovon hängen meine Entscheidungen ab? Weiß ich, was ich tue? Und wenn nicht, wer dann?

Und was ist mit dem Tod? Wie lässt er sich erklären – und wie lässt er sich überwinden? ‚Komismus‘ ist ein Stichwort, das zwei-, dreimal fällt, eine zunächst philosophische und damit gedankliche Richtung, entstanden und auf den Weg gebracht im Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nichts Geringeres forderte (und fordert), als: Unsterblichkeit für alle! Dann in den praktischen Wissenschaften weitergeführt im sowjetischen Kommunismus, in der Biologie, der Physik, mal offiziell, mal im Verborgenen, je nach Stand der Kämpfe im innersowjetischen Machtgefüge. So dass dieser Roman in einer ganz eigenen Schwebe gehalten wird: Wir betreten die intime Alltagswelt unserer Helden, versuchen es uns dort wohnlich zu machen, was Seite für Seite immer besser gelingt – und zugleich wirkt und durchdringt all das ein so rätselhaftes wie magisches Denksystem, das verwirrt und angenehm verstört. 

Wunderbar geschrieben (übrigens), dramaturgisch hervorragend komponiert (dito), von einer sprachlichen Wucht getragen, die seinesgleichen sucht – und so sollte man sich vom Umfang dieses Werkes (!) so gar nicht beeindrucken oder gar einschüchtern lassen: Wenn es auf das Ende zugeht, möchte man nicht, dass es endet, möchte man, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht (dass auch die Geschichte(n) von Jewgenij und von Vasilisa weitererzählt werden und sich weitere Erzählfäden vernetzen) und welches Buch vermag das schon, einen in so einen nüchternen Rausch zu versetzen. Was ein Glück also, dass Karl Ove Knausgård weitere Bände angekündigt hat, die sicherlich je ganz andere Wege gehen, vielleicht begegnen wir den uns gerade liebgewonnen Helden wieder, vielleicht auch gerade nicht, wie auch immer, es wird ein Fest werden.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sølve Sundsbø

Tabea Steiner «Immer zwei und zwei», edition bücherlese

Tabea Steiner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Warum lässt man sich derart in Zwänge, Muster, Pflichten und Bedingungen einbinden, dass das alles die Luft zum Atmen nimmt. Tabea Steiner hat mit ihrem zweiten Roman „Immer zwei und zwei“ ein beklemmendes Buch darüber geschrieben, wie schwer es werden kann, wenn man aussteigen, sich befreien will.

Erinnern sie sich an ihre Zeit im Kindergarten, als man vom Schulhaus zur Turnhalle paarweise, immer zwei und zwei, gehen musste? War es nicht Noah, der immer zwei jeder Sorte Tier auf seine Arche mitnahm und vor der Sintflut rettete? Scheinbar liegt in dieser Ordnung die Rettung vor drohender Gefahr. Scheinbar braucht es die klare Ordnung, um sich nicht im Chaos zu verlieren. Ob das Gesetze sind, die uns vor Anachie und Willkür schützen oder Gemeinschaften, die uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Ob es eine Bubble ist, die einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit schenkt oder straffe Systeme wie Schule oder Militär. Immer zwei und zwei. Im Ausbruch, in der Freiheit liegt die Gefahr.

Natali ist ein junge Frau, verheiratet mit einem Mann, den sie liebt und Mutter zweier Kinder, berufstätig und mit einem Atelier, in dem sie in Stunden der Muse aus Stein und Ton Neues formt. Natali scheint alles zu haben, was eine glückliche Existenz braucht. Aber Natalis Glück ist brüchig geworden. So wie ihre Welt, in die sie sich eingebunden fühlt, ein Eingebundensein, das sich mehr und mehr wie Fesseln anfühlt. Ein Gefühl der Einsamkeit, das sie schon als Kind mit sich herumschleppte. Da wurde ihr klar, dass sie allein war, wirklich allein … auf der Welt, endgültig und nur sie. Ein panisches Gefühl, am falschen Ort, mit den falschen Menschen zu sein. 

Tabea Steiner «Immer sei und zwei», Edition Bücherlese, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-73-4

Natali gehört zu einer freikirchlichen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft mit klaren Regeln, Strukturen und Wertvorstellungen. Solchen, die ihr mehr und mehr aufstossen und eine innere Rebellion provozieren. Ihre Freundin Rosalie, wie sie fest eingebunden in jene Gemeinschaft, ist verheiratet mit Tobias, der Natalis Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet und dort Geschichten erzählt, die ihren Kindern den Schlaf rauben. Mit einem Magnet war er über Büroklammern aus Metall und Plastik gefahren und hatte erklärt, so werde es sein, wenn Jesus wiederkomme. Er nimmt nur diejenigen mit, die wirklich an ihn glauben. Die anderen bleiben auf der Erde zurück, wie die Plastikklammern.

Seien es gewünschte Schlagzeugstunden, die nicht erlaubt werden, weil man das Instrument im Gottesdienst nicht brauchen kann, sei es eine Reise nach Israel, zu der man sich verpflichtet fühlt und die völlig abgeschottet von der Aussenwelt durchexerziert wird, seien es Kleidervorschriften oder Kommentare ihrer eigenen Kinder – Natali schnappt nach Luft in der Umklammerung dieser scheinbaren Gemeinschaft. Und als sie sich bei einer Fortbildung in eine evangelische Pfarrerin verliebt und selbst ihre Familie ins Wanken gerät, mietet sich Natali eine eigene Wohnung. Ein Prozess der Distanzierung aus ihrer Welt, den ihr Mann und ihre Freundin Rosalie nicht nachvollziehen können. Natali begibt sich in ein Dazwischen, das sie einmal mehr mit ihrer Panik vor drohender Einsamkeit konfrontiert. Alles, was ihre Welt ausmacht, beginnt sich gegen sie zu wenden. Sie droht in einem Meer aus Schuldgefühlen zu versinken.

Tabea Steiners Roman erzählt behutsam und unspektakulär. Die Autorin hätte ihren Stoff, die Geschichte ganz leicht zur spektakulären Loslösungsgeschichte aufblasen können. Aber darum ging es der Autorin nicht. Tabea Steiner schildert einen Prozess, der alles andere als linear verläuft, ein permanentes Ringen mit Situationen, in denen sich die junge Frau nicht mehr zurechtfindet. „Immer zwei und zwei“ ist auch keine Anklage gegen freikirchliche Gemeinschaften, sondern die Geschichte einer jungen Frau, die ganz langsam ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung und innerer Freiheit folgen kann. Gemeinschaften, die einengen und bestimmen, mögen für die einen Wegweiser oder Leitplanke sein. Aber sie missachten, dass die Freiheit eines Menschen eben jene Selbstbestimmung, jene Freiheit ausmacht, die das Lebewesen Mensch zum Menschen macht.

„Immer zwei und zwei“ ist ein wichtiger Roman – eindringlich geschrieben, ganz offensichtlich voll mit persönlicher Erfahrung.

Tabea Steiner liest nicht nur am 6. Juli im Literaturhaus Thurgau! Vor der Lesung können all jene zusammen mit der Autorin diskutieren, die das Buch bereits gelesen haben. Das Format «Literatur am Tisch» lädt bei Speis und Trank zu einer ganz speziellen Vertiefung ein, einem Gespräch weit über den Roman hinaus. Sie sind herzlich eingeladen! Eine verbindliche Anmeldung ist unbedingt erforderlich.

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg«, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Antonia Baum «Siegfried», Claassen

Sie sitzt im Wartezimmer eines psychiatrischen Ambulatoriums auf einem roten Metallstuhl und wartet. Sie hat sich ausgeklinkt. Ausgeklinkt aus ihrer Ehe, ihrer Familie, ihrem Beruf als Schriftstellerin, ihrem Verhältnis mit ihrem Lektor, ihren Sorgen, ihren Ängsten. Nur aus ihrer Geschichte kann sie sich nicht ausgklinken. Antonia Baum erzählt kunstvoll vom Scheitern.

Alex liebte sie. Vielleicht liebt Sie ihn noch. Aber weil sie ihn mit Benjamin betrogen hatte und kein Geheimnis daraus machen wollte, sperrte er sie aus seinem Leben aus. Sie liebte Alex, weil Alex aus einem ganz anderen Stall kam wie sie, weil sich Alex kaum um Konventionen scherte. Weil Alex in einer Bar arbeitet, die nicht einmal ihm selber gehört und Geld schon irgendwie hereinkommen würde. Es gab eine Zeit, da hätte sie gerne noch zwei Kinder von ihm gehabt, neben ihrer Tochter Johnny. Wenn da alles andere nicht gewesen wäre: die ewigen Geldssorgen, das ewige Bedrängtwerden, am meisten von ihr selbst, weil nichts mehr funktionieren wollte, die Waschmaschine genauso wie das Schreiben an einem neuen Roman. Darum sitzt sie auf dem roten Metallstuhl. Weil sie nicht weiss, ob sie kurz davor ist, verrückt zu werden, die Kontrolle ganz zu verlieren, von all dem zugedeckt zu werden, vom Gegenwärtigen wie vom Vergangenen.

Antonia Baum «Siegfried», Claassen, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-546-10027-4

Sie erinnert sich an ihre Mutter, die lieber weg war als zuhause. An Hilde, ihre strenge Grossmutter, die eigentlich gar nicht ihre Grossmutter war. Denn Siegfried, ihr Sohn, kam erst in die Familie, nachdem sich ihr leiblicher Vater verdünnisiert hatte. Siegfried ist und war das einzig Konstante in ihrem Leben. Wenn auch seltsam distanziert, war er meistens da, versprach Hilfe, hatte es auch getan, als sie ihn letzthin um einige Tausend gebeten hatte, weil man ihnen drohte, die Wohnung zu kündigen, weil die Miete nicht mehr bezahlt wurde. Siegfried schien zu schaffen, was ihr nicht gelingen wollte. Sie bekam ihr Leben nicht in den Griff, schon gar nicht die Leben ihrer Familie. Die Zeiten bei Hilde waren das genaue Gegenteil von dem, was das fahrige Leben mit ihrer Mutter ausmachte. Bei Mutter das Ungefähre, Unbeständige, Unbestimmte, die Bedrohung. Bei Hilde die stramme Führung, das Schwimmtraining am hauseigenen Pool mit Hilde im Bademantel und mit Trillerpfeife.

Geschichten von Menschen, die die Kontrolle verlieren, die sich in den Schluchten der Grossstadt verlieren, gibt es viele. Geschichten von Frauen, die zerrissen werden im Spagat zwischen Pflichten als Mutter, Ehefrau, Ernährerin und Kreative ebenfalls. Was Antonia Baums Roman „Siegfried“ auszeichnet, ist die Art des Erzählens, ihre Sprache, das fein Ziselierte ihrer Schilderungen. Kaum je las ich derart genaue Beschreibungen von Zuständen oder Geschehnissen, die wegen ihrer Sprachkunst nie langweilen. Es war als wären Szenen in Slowmotion erzählt. Dabei wurden sie weder langfädig noch langweilig. Antonia Baum scheint eine tiefere Form der Wahrnehmung zu beherrschen. 

Ebenso köstlich sind ihre Figuren, vor allem Hilde und ihr Sohn Siegfried, der zu einem Vaterersatz der Erzählerin geworden ist. Hilde als Relikt einer vergangenen Zeit, die sich köstlich nervt an den Eigenheiten der Gegenwart. Als das Mädchen, das die Erzählerin damals war, in Hildes grossem Haus zu stöbern beginnt, findet sie Zeugnisse einer Zeit mit Bildern von ausgemergelten Menschen, Leichenhaufen und Männern in Uniformen. Da war auch Hildes Ehemann, Siegfrieds Vater, den man nicht nur beerdigt hatte, sondern in der Gegenwart totgeschwiegen. Und Siegfried, der wie der Drachentöter aus der nordischen Sagenwelt unverwundbar und unverwüstlich erscheint. So ganz anders wie die Erzählerin selbst. Sie, die sich nicht mehr aufrichten kann. Sie, die sich selbst betrogen fühlt.

„Siegfried“ ist ein Sprachkunstwerk. Hier glänzt die Sprache, denn sie erzählt viel mehr als das, was reines Nacherzählen wiedergibt!

Antonia Baum, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre Bücher – zuletzt der Roman «Tony Soprano stirbt nicht», das Memoir «Stillleben» und eine persönliche Bestandsaufnahmen des Werkes von Eminem – haben grosse Medienresonanz erhalten. «Siegfried» ist ihr erster Roman im Claassen-Verlag.

Beitragsbild © Urban Zintel

Urs Augstburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger

Würde man die Romane Urs Augstburgers mit „Bergroman“ etikettieren, würde man seinen Büchern ebenso wenig gerecht werden wie mit „Ökoroman“ oder „Unterhaltungsroman“. Urs Augstburgers Romane sind nahe an der Zeit, virtuos erzählt und zusammen mit seinen Auftritten der verschriftlichte Teil eines Gesamtkunstwerks.

Nach dem ersten Teil seiner Trilogie „Das Dorf der Nichtschwimmer“ erzählt Urs Augstburger in „Das Tal der Schmetterlinge“ wieder von einem Stück aktueller Geschichte, die beim Erzählen bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg greift. Von einem Dorf im Berner Oberland, von Althäusern, einem still gewordenen Dorf im Schatten einer mächtigen Felswand, die ein explosives Geheimnis birgt. Nach dem letzten Krieg wurden in weit verzweigten Kavernen im Innern des Felsmassivs, wie an verschienenen anderen Orten in der Schweiz, explosives Kriegsmaterial gelagert. Obwohl es kurz nach dem Krieg zu einer fatalen Explosion gekommen war, die Althäusern in Schutt und Asche legte und nicht nur Tote und Verwundete forderte, sondern Generationen traumatisierte, verschwieg man der Bevölkerung, dass selbst nach dem verheerenden Unglück noch immer hunderte Tonnen im Berg wie eine Zeitbombe ticken. Man baute das Dorf an gleicher Stelle wieder auf und demonstrierte mit der Anwesenheit von Soldaten im Wiederholungskurs Sicherheit. Bis kurzfristig eine Versammlung im Ort einberufen wird und eine Bundesrätin beruhigen soll.

Urs Augsburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger, 2023, 390 Seiten, ca. 39.00 CHF, ISBN 978-3-03762-103-5

Die Szenerie dieses Buches erinnert sehr an die Geschehnisse rund um die Katastrophe im Bernischen Mitholz, als im Dezember 1947 durch unkontrollierte und völlig überraschende Explsionen in einem Munitionslager im Fels tonnenschwere Felsbrocken durch die Luft geschleudert wurden und riesige Stichflammen eine Explosion begleiteten, die noch in über hundert Kilometern Entfernung registriert wurde. Die Detonationen brachten nicht nur Tod und Verletzungen und zerstörten grosse Teile des Dorfes Mitholz. Weil noch immer riesige Mengen hochexplosiven Materials im Berg lagern, wird man gezwungen sein, zumindest einen Teil der momentanen Bevölkerung des Dorfes umsiedeln zu müssen. Ein Prozess, bei dem Regierung und Verantwortliche über Jahrzehnte ein „Spiel mit offenen Karten“ verweigerten.

Urs Augstburger transformiert die Geschehnisse in ein fiktives Dorf, ein Dorf, das mit sofortiger Wirkung geräumt werden muss, in dem sich die Geschehnisse überstürzen und nichts darüber hinwegtäuschen kann, dass die Felswand hinter dem Dorf zum Inferno werden wird.

Meret Sager, eine inovative Wissenschaftlerin und Sartupgründerin, die sich um Nachhaltigkeit und zukunftsgerichtete Energiegewinnung bemüht, wird von einem geheimnisvollen Auftraggeber nach Althäusern gerufen. Sie soll in einem Seitental unweit des Dorfes ein ernergieautarkes Dorf planen und bauen. Meret Sager ist sich nicht sicher, ob sie nur für ein versponnenes Grossprojekt gelockt wurde, oder ob hier in den Bergen genau das umgesetzt wird, was in ihren Augen unumgänglich ist. Meret ist nicht gezwungen den Auftrag anzunehmen und weil der geheimnisvolle norwegische Geldgeber, der sich im Schloss unweit des Dorfes eingerichtet hatte, durch Corona unabkommlich ist, rutscht Meret in ein Dazwischen, in dem sich die nicht mehr ganz junge Frau klar werden muss, wie ihre eigene Zukunft aussehen soll.

„Im Tal der Schmettlinge“ erzählt in zwei Strängen, von den Geschehnissen damals, als in den Jahren nach dem Krieg Althäusern fast ganz zerstört wurde und das Leben vieler Familien aus der Bahn warf, vom noch fünfzehnjährigen Res, dem die Explosion nicht nur einen Grossteil seiner Familie wegriss, sondern jene Liebe, die die seines Lebens hätte werden können. Vom Wiederaufbau eines Dorfes und der scheinheiligen Sicherheit, die Militär und Regierung an den Tag legten, um die weiter drohende Katastrophe hinter dem Fels zu verbergen. Und in der unmittelbaren Gegenwart, in der immer wieder auftretenden Gewässerverschmutzungen und langsam durchsickernde Tatsachen nicht mehr verheimlichen lassen, dass eine erneute Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Von einer starken Frau mit einer Vision, von jahrzehnte langer Schuld, von versuchter Wiedergutmachung und einem Land, einem Staat, die sich schwer tun, sich nicht wieder gutzumachenden Fehlern zu stellen.

Mag sein, dass das eine oder andere des Romans reichlich konstruiert erscheint. Ich hätte dem Roman mehr Unaufgelöstes gegönnt, jene unfertige Dramatik, die die Realität ausmacht. Aber „Das Tal der Schmetterlinge“ ist sattes Kino, Spannung pur und in seiner Erzählweise erfischend unschweizerisch.

Interview

Die Bergwelt hat es Ihnen ganz offensichtlich angetan, längst nicht erst mit „Das Tal der Schmetterlinge“. Auf der Einen Seite suggeriert die Begwelt Ewigkeit, Beständigkeit, Festigkeit. Auf der anderen Seite demonstrieren Ihre Romane sehr oft, dass dieser Fels alles andere als ewig starr ist. Und dass das Starre etwas mit den Menschen dort macht. Ich als Unterländer kann nur schwer verstehen, dass man sein Haus unter einer steilen Felswand bauen kann, mit oder ohne Munition dahinter. Steckt in Urs Augstburger ein Bergler?
Oh ja, ich bin rund drei Monate im Jahr in Disentis und immer wieder in all den andern Bergregionen. In Disentis meist im Winter, dort entstanden viele meiner Bücher. Und tatsächlich, auch ich fühle mich am Fuss einer Wand immer wohl, eher beschützt als erdrückt. Früher zumindest. Wenn man Zeit in diesen Bergdörfern verbringt, kommt man bald mal hinter die Klischees. Im Klimawandel sind die Bergler derzeit die ersten, die bitter erfahren müssen, dass gerade bei ihnen nichts für ewig ist. Schon in meinem Roman Wässerwasser von 2009 sahen sich die Romanfiguren gezwungen, den alten Glauben vom Reich der armen Seelen im ewigen Eis neu zu denken, weil das ewige Eis bald verschwunden sein wird. Der sagenhafte Zug der armen Seelen den Berggräten entlang hinauf zu den Gletschern verliert so sein Ziel. Und zugleich beginnen diese scheinbar unerschütterlichen Berge auch noch zu bröckeln. Die Bergler sind die ersten von uns, die all diese Veränderungen am eigenen Leibe erfahren. Jetzt schon. Auch wenn sie es nicht immer zugeben. Aber sie leben zu sehr mit und von der Natur, als dass sie sich noch etwas vormachen können.

Ihr Roman führt ein Stück unrühmliche Geschichte zum Vorschein; die Fähigkeit von Regierung und Bürokratie, in diesem Land die Dinge im Verborgenen zu lassen. Kein speziell eidgnössisches Verhalten. Ob CS-Skandal, Fischenaffäre oder wie in ihrem Roman die Mitholz-Geschichte. Schönreden und Verschweigen – eine urmenschliche Fähigkeit? Eine Überlebensstrategie?
Das Munitionsdepot in Mitholz war tatsächlich eine der Inspirationen zum Tal der Schmetterlinge war. Und ja, dort ist für mich das grösste Rätsel, weshalb das Militär siebzig Jahre lang – siebzig! – verheimlicht hat, dass 3’000 Tonnen Munition im Berg liegen. Die Hälfte der ursprünglichen Gesamtmenge. Dass dem Militär damals niemand ernsthaft auf die Finger schaute, ist begreiflich, im und nach dem 2. Weltkrieg war das Militär allmächtig. Als hätten die Verantwortlichen damals das Unglück und ihre Verantwortung dafür schnellst möglichst verschleiern wollen, bauten sie das Dorf wieder auf, am alten Ort, direkt vor der Felswand. Als sei nichts geschehen. Eine unglaubliche Fahrlässigkeit, für die nun wieder die Opfer von damals oder ihre Nachkommen büssen müssen.

Die Katastrophe in Althäusern kündigte sich schon lange an, sei es mit dem Aussterben vieler Schmetterlingsarten, dem immer wieder auftretenden Fischsterben. Halvorsen, der norwegische Superreiche im Hintergrund plant ein Dorf zur Umsiedlung der Althäuser Bevölkerung, ein Musterdorf, den Prototypen zukünftiger Dörfer. Aber eigentlich ist doch auch das Augenwischerei, denn den Bedrohungen kann man sich nicht (mehr) durch Flucht entziehen. Nicht einmal mit der Flucht auf den Mars.
Doch was sollen wir tun? Was sollen wir in zehn, zwanzig Jahren unseren Kinder erzählen? Wir hätten aufgegeben, als es vielleicht noch Möglichkeiten gegeben hatte? Wir dürfen uns von denen nicht lähmen lassen, die den Klimawandel noch heute verleugnen, um ihre Partikularinteressen nicht zu gefährden und weiter ungestört Geschäfte zu machen. Wir müssen so viel wie möglich tun. Angenommen, alle Dörfer und vor allem die Städte würden ab sofort ökologisch umgebaut werden, sich dem beschriebenen Ökodorf annähern, dann wäre schon viel erreicht und der Temperaturanstieg könnte noch etwas begrenzt werden. Angenommen, es würden endlich genügend Anreize geschaffen, jedes Haus, jeden Wohnblock energiefreundlicher zu machen … Man darf sich ja nicht vorstellen, was man beispielsweise mit den CS-Milliarden im Energiebereich erreichen könnte. Das Militär wiederum spürt durch den Krieg in der Ukraine derzeit Rückenwind und will an allen Fronten aufrüsten, egal, wo es Sinn macht, und wo nicht. Gleichzeitig sorgen sich die Mitholzer, die wegen des Militärs ihre Heimat und ihr Heim verlassen müssen, noch immer, ob sie überhaupt zu ihren Entschädigungen kommen.

Meret Sager, die Protagonistin in der Gegenwart glaubt als Wissenschaftlerin an die Segnungen durch die Technik, glaubt an die Utopie einer Zukunft, die mittels technischer Errungenschaften den Kampf gegen das drohende Desaster aufnehmen kann. Es gibt nicht viele AutorInnen, die sich in der Literatur diesen Fragen stellen, zumindest nicht in der „ernsten“ Literatur. Ist doch eigentlich erstaunlich. (Ich pesönlich glaube, dass uns Wissenschaft und Technik helfen können. Aber vor allem wird er in Zukunft eine Frage des Verzichts werden.)
Diese Themen finden generell in der Schweiz und im ganzen deutschsprachigen Raum zu selten in literarische Stoffe. Schon gar nicht in spannende erzählte Stoffe. Ich wohl immer wieder versuchen, die perfekte literarische Parabel darauf zu finden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist das wichtigste Thema unserer Zeit und ich staune, wie wenige darüber schreiben. Zu Ihrer Anmerkung: Verzicht liegt leider nicht in der Natur des Menschen, schon gar nicht in der der Männer, muss ich zu unserer Schande sagen. Verzichten werden wir erst, wenn wir dazu gezwungen sind. Das wird schon bald der Fall sein. Doch Verzicht allein wird nicht nützen, deshalb brauchen wir zugleich visionäre WissenschaftlerInnen, die gerade in den Bereichen der Brennstoffzellen und der Wasserstoff-Technik die Innovation vorantreiben. Dort sehe ich grosse Chancen.

Meret, die junge, dynamische, lösungsorientierte, anpackende Frau. Halvorsen, der alte weisse, reiche Mann im Hintergrund. In Ihrem Roman finde ich viele starke Frauenfiguren und viele Männer, die nur am Rand, marginal in die Geschichte eingreifen. Hätte die Geschichte auch mit vertauschter Rollenverteilung geschrieben werden können?
Nein. Das hat mit dem zu tun, was ich vorher angetönt habe. Männer können nicht verzichten, sind selten selbstlos, ich nehme mich da gar nicht aus. Frauen überlegen sie viel intensiver, welche Welt sie ihren Kindern überlassen, sie handeln grundsätzlich nachhaltiger. Hoffnung habe ich nur dank ihnen. Halvorsen ist der alte, reiche Mann im Hintergrund, ja. Spät hat er seine Lektion gelernt, immerhin aber, er will eigentlich das Richtige tun. Weil er jetzt, am Ende seines Lebens sieht, dass er zu lange das Falsche getan hat. Dass er aus Norwegen kommt, ist nicht zufällig. Das hat mit meinen eigenen Geschichten zu tun, aber auch mit der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Dank des Erdöls ist es reich geworden, dank dieses Reichtums könnte es führend werden in der Greentech-Revolution. Im Grunde absurd! Aber wenn solche Länder wie Norwegen, wie die Schweiz auch, nicht voran gehen, wer soll es dann tun?

Der Schriftsteller Urs Augsburger zusammen mit Monika Schärer, Filmemacherin, Moderatorin und Journalistin, mitten in «Das Tal der Schmetterlinge – live!»

Urs Augstburger, geboren 1965 in Brugg, Journalist, lebt und schreibt in Ennetbaden und Disentis. 1997 erschien sein erster Roman «Für immer ist morgen». Mit «Graatzug» (2007) schrieb sich Urs Augstburger endgültig in die Herzen der Leserinnen und Leser. «Wässerwasser» schloss 2009 die Bergtrilogie ab und führte sie dreissig Jahre in die Zukunft. Nach einem Verlagswechsel 2012 erschien sein vielbeachteter Alzheimer-Roman «Als der Regen kam» bei Klett-Cotta. Ebenfalls dort 2015 der Roman «Kleine Fluchten» und 2017 der brandaktuelle Medienthriller «Helvetia 2.0», der den Griff der Rechtspopulisten nach der Medienmacht widerspiegelte. «Das Tal der Schmetterlinge» ist nach «Das Dorf der Nichtschwimmer» und der Rückkehr zu Bilger der zweite Teil einer Trilogie, die Schweizer Geschichte und Geschichten über sieben Jahrzehnte und drei Generationen erzählt.

Webseite des Autors

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer

Die Literaturhäuser St. Gallen und Thurgau laden ein:

In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“ steht der Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Was Judith Hermann in ihrem berührend ehrlichen Buch mir als Leser offenbart, sind Geheimnisse aus ihrem Leben, die die Formen ausmachen, in die die Autorin ihr Schreiben bisher gegossen hat.

Mir gefiel in der Verlagsvorschau schon der Titel, zumal er im Vergleich zu den anderen ihrer Bücher erstaunlich lang ist. Aber das muss so sein, denn mit diesem Buch umarmt Judith Hermann ihre bisherigen Bücher, ihr bisheriges Schreiben. Sie klärt und umkreist erzählend. Von ihren 1000 Stunden Psychoanalyse bei Dr. Dreehüs, der in den 10 Jahren, in denen sie sich in seiner Praxis auf die Couch legte, kaum je etwas kommentierte, selten eine Frage stellte, einfach nur zuhörte, selbst dann, wenn sie schwieg. Von Ada, ihrer Freundin, die sie aus den Augen verlor, die sie an einem Geburtstag überraschend besuchte und niemanden sonst antraf, nur Ada selbst mit einer warmen Flasche Sekt. Von ihrer Grossmutter, die ihr mehr Zuhause gab, als es die mit sich beschäftigten Eltern je hätten geben können. Von ihrem Grossvater, vor dem sie sich fürchtete, der mehr und mehr abrutschte, bis er wieder sich selber wurde. Von Marco, einem Freund, einem Künstler, der am Schluss im Altenheim vor sich hindämmerte.

Und dabei ist „Als hätten wir uns alles gesagt“ alles andere als eine Familienaufstellung, die Erklärung dafür, warum das Schreiben zu einer Welt wurde, in der sie sich selbst wiederfindet. Eine Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss. Judith Hermann schreibt, als würde sie ihr Leben offenbaren, macht aber klar, wie sehr das Geschriebene das Wirkliche verbirgt und das Ungeschriebene deutlich macht. Judith Hermann erzählt von der Auseinandersetzung, nicht so sehr von jener mit ihrer Umgebung, als mit der in ihrem Inneren. Wie sehr das Schreiben eine Linie zieht, die von allen anderen Möglichkeiten des Seins entfernt. Schreiben heisst auslöschen.

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397510-9

Judith Hermann entmystifiziert das Schreiben, dass das Schreiben sehr wohl aus dem Erlebten schöpft, aber nicht abbilden will, nicht einfach nur nacherzählen, ein Bild an eine leere Wand malen. Schreiben ist das Ausschliessen aller anderen Möglichkeiten.

Sie erzählt von ihrer Familie, einem Haus in dem vor allem geschwiegen wurde, von einem Leben, dass die Analyse zu brauchen schien, um aufzubrechen. Hier hörte jemand zu, so wie der Leser der Schreibenden zuhört. In ihrer Familie vergass man das Zuhören, auch wenn das Haus, in dem sie aufwuchs voll mit materialisierter Geschichte zu sein schien, zwischen Bücherregalen, Büchern in Stapeln.

Judth Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen sie glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.

Aus einer Laune heraus folgt sie auf der Strasse ihrem ehemaligen Psychoanalytiker, eigentlich nur, weil sie ihn fragen wollte, wie er die Beschreibung seiner selbst in einer ihrer Erzählungen gefunden habe, nachdem sie ihm ihr Buch („Lettipark“) mit der Erzählung «Träume» in den Briefkasten gelegt hatte. „Weshalb waren Sie sicher, dass ich klarkommen würde?“, fragt sie. „Weil ich Sie, trotz allem, immer als ein wenig wehleidig empfunden hatte.“ Weh und Leiden. Judith Hermann schreibt: ein Wort wie ein Talismann, ein Schutzwort. Vielleicht liegt genau darin der Schlüssel für Judith Hermanns Erfolg, für die Resonanz, die sie mit ihren Büchern erzielt. Jene Empfindsamkeit. Und mit Sicherheit sind es auch einzelne Sätze und Bilder, die bei der Lektüre ihrer Bücher unweigerlich zu eigenen Empfindungen werden, die sich einbrennen.

Judith Hermanns Sprache ist von grosser Zartheit. Es ist, als würde sie mit mir allein ein Geheimnis teilen.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Im Frühjahr 2021 erscheint der Roman «Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.  

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe», dtv

Helga Schubert schreibt über die ganz grossen Themen des Lebens; die Liebe, die Arbeit, die Gesundheit, das Sterben und den Tod. Helga Schubert tut dies auf eine dermassen feine, behutsame, ehrliche und zärtliche Art, dass ihr Buch mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ zu einer einzigen, grossen Liebeserklärung wird, eine an ihren Mann, eine an das Leben, an das Schreiben und die Schönheit des erlebten Moments.

Wahrscheinlich kann man gewisse Bücher erst schreiben, wenn man im Alter mit gewonnener Reife und Weisheit auf sein Leben zurückschaut. Schon allein das macht mir bei der Lektüre dieses Buches Mut, weil mit Lesen Hoffnung wächst. Nicht die Hoffnung, die Früchte meines Lebens im Alter geniessen zu können, aber mich über jeden Bissen in jene Früchte freuen zu können. Da schreibt eine Frau, die weiss, was sie am Leben hat, die weiss, wie viel sie von der Liebe geniessen durfte, die nicht verzagt, wenn die Quellen des Lebens nur mehr tröpfeln.

„Jede Sekunde mir dir ist ein Diamant.“

„Der heutige Tag“ ist kein Roman. Mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ verweist die Autorin auf das Stundenbuch als Gebets- und Andachtsbuch. Helga Schubert vergewissert sich ihres Schatzes, den sie mit sich trägt. Da liegt im Haus zwar ein kranker, müde und gebrechlich gewordener Ehemann, der alles abverlangt, fast alle Energie der über Achtzigjährigen absaugt, aber sie blickt zurück auf eine Liebe, die ihr während Jahrzehnten all das gab, was die Liebe am Leben hielt. Sie huldigt dieser Liebe, weil sie weiss, dass sie es war, die sie so werden liess, wie sie ist. Sie weiss, wie zerbrechlich dieses Gefüge sein kann. Sie weiss, wie sehr es zu einem Ungleichgewicht geworden ist. Sie weiss, wie schmal die Aussichten in eine gemeinsam erlebte Zukunft geworden sind.

Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe», dtv, 2023, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 78-3-423-28319-9

„Stundenbuch“ verweist aber auch auf den Tagebuchcharakter des Buches, auch wenn keine Daten über den Einträgen stehen. Nach vielfach unterbrochenen Nächten, den täglichen Verrichtungen, dem sich immer wiederholenden Alltags im Umgang mit einem Ehemann, der immer mehr in seiner Demenz eingesperrt ist, im immer kleiner werdenden Lebensradius muss sich die Autorin jene Zeit zum Schreiben nehmen, die ihr noch bleibt: Jenes Fenster am Abend, wenn sie ihren Mann in die Nacht verabschiedet hat, wenn sie noch Zeit und Kraft findet, sich an ihren Laptop zu setzen, um in ihrer ganz eigenen Welt zu versinken. Auch wenn sich in dieser Welt fast alles ausschliesslich um das dreht, was ihren Alltag ausmacht. Nur ist in ihrem Schreiben die Perspektive eine andere. Vielleicht sogar ihre Rettung.

„Manchmal trauere ich nur um mich. Diese Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Enttäuschung und Bitterkeit.“

So wie Helga Schubert schildert und schreibt, hätte sie allen Grund zu hadern und zu zweifeln. „Der heutige Tag“ ist weder ein Buch des Ordnens noch ein Buch der Verklärung. Die Autorin gibt vieles preis; erzählt von Momenten grosser Erschöpfung, tiefen Unverständnisses, lähmender Verzweiflung. Aber sie schreibt in einem Ton, dem stets Zuversicht und das Bewusstsein eines grossen Geschenks unterlegt ist. Ein Hohelied der Liebe. Sie weiss um die kleinen Geschenke des Lebens, die unsäglich wichtig werden können; die Momente der Ruhe, ein Blick in den verwilderten Garten, eine zärtliche Berührung, die all die Erinnerungen weckt, die das gemeinsame Leben mit ihrem Mann ausmachen. Einem Mann, der zuerst als Dozent, später als Maler stets seine Stimme nach aussen suchte, der in seiner Krankheit, seiner Demenz immer mehr verstummt und nur noch ein Schatten dessen ist, was er einst war.

„Der heutige Tag“ wächst einem ganz nah ans Herz!

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte «Vom Aufstehen» den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt