J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt

Mit jeder Erfindung, jeder Erneuerung geht man davon aus, dass es zum Wohle der Menschheit, für den Fortschritt, zumindest zur Erleichterung des Lebens sein wird. Und selbstverständlich springt ein Grossteil der Menschheit dieser gebotenen Erleichterung auch euphorisch auf; Hauptsache neu, Hauptsache modern. Dass sich eine «bahnbrechende» Erfindung aber auch zum Gegenteil wenden kann, davon erzählt der Roman «Der Apparat» vom Schotten J. O. Morgan.

Sie erinnern sich an die Einführung des ersten Smartphones von Apple? Heute ein Apparat, der nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken ist. Zum Wohle der Menschheit? Ich weiss nicht. Ob die Strahlungen in den Hosentaschen die Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies fördern? Ob der kleine Bildschirm, das dauernde Glotzen in die Dinger die Kommunikation wirklich erleichtert? Was passiert, wenn man dereinst die Dinger nicht mehr an einer Steckdose aufladen kann?
Als das Auto die Strassen eroberte, begann das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Ein Gefährt, das einem zu jeder Zeit an jeden vorstellbaren Ort bringt. Heute kollabieren Städte. Jeder und jede, die sich ein Elektroauto ersteht, fährt mit dem irrigen Glauben, damit etwas für die Umwelt zu tun. Dabei ist jeder bisher gefundene Kraftstoff für Autos endlich. Nur tun wir so, als wären Silizium oder entsprechende Metalle unendlich verfügbar und der Abbau dieser Stoffe für die Umwelt problemlos.

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt, 2023, übersetzt von Jan Schönherr, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-498-00302-9

J. O. Morgans Roman spielt in nicht weiter Zukunft. Man erfindet einen Apparat, mit dem man zu Beginn Dinge, später Lebewesen, Menschen, schlussendlich alles zusammen von einem Ort zu einem andern «schicken» kann, anfangs durch ein dickes Kabel, später durch den Äther. Man erinnere sich an Mr. Spock und Captain Kirk, die sich in der TV-Serie «Raumschiff Enterprise» mittels Energie durch den Raum beamen konnten. Eine durchaus verlockende Vorstellung. Keine Vehikel mehr, die Räume verstopfen, keine Einschränkungen mehr in Sachen Distanz.
Zuerst stellt man Menschen kleinere kühlschrankartige Geräte in die Häuser, später werden Menschen von Apparat zu Apparat geschickt, zuerst zu Testzwecken, dann überall. Irgendwann verschwindet die einstige Transportinfrastruktur ganz, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Das Leben auf dem Planeten verändert sich durchschlagend. Alles, was sich bewegt, selbst die Beschaffung von Lebensmittel, ist auf diese Apparate angewiesen. Und kaum jemand zweifelt daran, dass es nicht irgendwann und irgendwo Pannen gibt. Was passiert, wenn sich nicht alle Atome und Moleküle in der richtigen Zusammensetzung formieren? Was passiert, wenn Hacker sich an den Apparaten und Verbindungen zu schaffen machen? Was passiert, wenn das System zusammenbricht? Welchen Mächten setzt man sich aus, wenn man sich jedem Fortschritt blindlings verschreibt?

Was sich wie eine Dystopie, ein Zukunftsroman liest, hat längst begonnen. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum immer mehr Menschen in ihrem Unwohlsein alle erdenklichen Theorien zusammenbauen, um sich den Zustand der Welt zu erklären. Wir bedienen uns Hilfsmittel, die ebenso undurchschaubar wie unverzichtbar geworden sind. Solange alles reibungslos zu funktionieren scheint, stellen wir uns keinen unbequemen Fragen, obwohl ein Grossteil der Menschen ahnt, dass der Fortschritt wohl nicht immer ein Schritt in eine bessere Welt ist. Um in einen endlosen Abgrund zu stürzen, braucht es auch einen Schritt fort.

«Der Apparat» ist aber nicht nur Schreckensszenario. J. O. Morgan schildert Vorgänge, Geschehnisse und Auswirkungen aus den verschiedensten Perspektiven, unabhängig von Zeit und Ort. Er zwingt mich in eine beklemmende Ausweglosigkeit und unweigerlich in Selbstreflexion darüber, wie weit ich mich schon knebeln und fesseln lasse von Apparaten aller Art. In klarer, bildhafter Sprache erzeugt er eine Stimmung, die mir nach und nach den Atem nimmt.

J. O. Morgan, geboren 1978, wurde für seine Lyrik mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Costa Poetry Award. «Der Apparat» ist sein zweiter Roman, der für den Orwell Prize for Political Fiction nominiert ist. J. O. Morgan lebt in Edinburgh, Schottland.

Jan Schönherr, 1979  geboren, absolvierte nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik und einem Auslandsjahr an der Université de Poitiers das Aufbaustudium »Literarisches Übersetzen aus dem Englischen« in München. Seit 2009 ist Schönherr als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen tätig. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Förderpreis der Kunststiftung NRW 2019.

Beitragsbild © Jack Rouncey

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp

Ein Mann kehrt an den Ort seiner Herkunft zurück. Nicht freiwillig, denn mit dem Tod seines alten Vaters kehren die Erinnerungen zurück, das, was er vor Jahren mit seinem Wegzug in die Stadt hinter sich lassen wollte. Florjan Lipuš schmaler Roman „Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein Sprachkunstwerk, ein literarischer Kristall, der das Licht auffächert!

Dass dieses Buch nach seiner deutschen Ersterscheinung 1989 im Residenz Verlag, die slowenische Erstausgabe unter dem Titel „Jalov Pelin“ erschien 1985 im Drava Verlag in Klagenfurt, nun in der gediegenen Bibliothek Suhrkamp erscheint, mag mit dem Gastland Slowenien an der Frankfurter Buchmesse 2023 zusammenhängen. Aber wahrscheinlich viel mehr mit der Tatsache, dass Florjan Lipuš längst zu einem Sprachgiganten geworden ist und die Bibliothek Suhrkamp jener Ort, dem dieser Text gebührt.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp 1533, 2023, aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22533-2

Als Florjan Lipuš 1981, vier Jahre zuvor, mit seinem Roman „Der Zögling Tjaž“, der von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt wurde, viel Aufmerksamkeit weckte, stieg ein Stern auf, der zum Fixstern wurde, auch wenn der Autor selbst sich nie in den Vordergrund rückte. Florjan Lipuš Roman hat nichts von seiner Sprachmächtigkeit verloren. Als würde man vor einem kolossalen Bild stehen, von dem man erahnt, dass es auch in ferner Zukunft Besucherinnen und Besucher demütig werden lässt. „Die Verweigerung der Wehmut“ zeigt alles, womit sich Florjan Lipuš bis heute beschäftigt; mit der Klarheit und dem Farbenreichtum einer Sprache und den Erinnerungen zwischen Trauma und Traum. Dieser Roman lässt mich staunen. Da schreibt jemand, dessen Sprachmacht taumelnd macht, der nicht nur mit einem Instrument spielt, sondern mit einem ganzen Orchester. Sprache, die mich zutiefst berührt und eine Erzählweise, die mit jedem Buch den Schmerz in schöpferische Kraft umzuwandeln weiss.

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein Mann, der in der Stadt ein neues Leben aufgebaut hat, kehrt ins Dorf seiner Herkunft, seiner Kindheit, seines Traumas, seines Urschmerzes zurück. Sein Vater ist gestorben, man trägt ihn zu Grabe. Schon im Zug dorthin drängt sich in Träumen und Gedanken der Alp der Vergangenheit auf; die Verschleppung der Mutter, die Strenge und Härte des Vaters und die Enge des Ortes tief in den Bergen Südkärntens. Er erreicht das Dorf und bleibt doch für sich. Er taucht ein in die Riten und Gebräuche eines Dorfes, den immer wiederkehrenden Totengesang eines Lebens, das von Traditionen und Geboten geprägt ist. Er bleibt aussenvor, ein Betrachter, der weniger durch das Geschehen, als durch das, was es auslöst, in die archaische Gegenwart hineingezogen wird. Es tauchen Bilder, Vergessenes, Vedrängtes auf, so intensiv, dass es den Erzähler hinaustreibt, weiter hinein ins Tal, bis an jenen Ort, wo von den Resten jenes Hauses, in dem das Urtrauma geschah, fast nichts mehr zu erkennen ist. Aber was sich die Natur zurückgenommen hat, bleibt in den Erinnerungen des Erzählers wie ein zäher, klebriger Brei.

„Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein lyrisch geschriebener Prosatext, der weit mehr als bloss nacherzählen will. In lange mäandernden Sätzen, farbig gezeichneten Bildern zwischen Groteske und Traumbildern, hyperrealistischen Szenarien und tiefsitzender Melancholie, beschreibt Florjan Lipuš einen Mann, der mit sich kämpft, der sich den Resten einer verlorenen Kindheit anzunähern versucht. Als ob der Autor die Sicht zurück mit den inneren Bildern einer Camera obscura beschreibt; über die Wirklichkeit hinausfliessend. Florjan Lipuš kann, was vielen verwehrt bleibt; Er braucht die Sprache nicht, er spielt auch nicht mit ihr – seine Sprache ist Musik!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter «Der Zögling Tjaž», übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.

Fabjan Hafner, geboren 1966 in Klagenfurt, studierte Deutsche Philologie und Slawistik (Slowenisch ) in Graz und war seit 1998 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt tätig. Für seine Übersetzungen, unter anderem von Florjan Lipuš und Tomaž Šalamun, wurde er vielfach ausgezeichnet. Hafner lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2016 in Feistritz im Rosental/Bistrica v Rozu (Südkärnten).

«Schotter» von Florjan Lipuš, Rezension

«Seelenruhig» von Florjan Lipuš, Rezension

Beitragsbild © Marco Lipuš

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», pudelundpinscher

Thomas Heimgartners Karl Koenig ist König, wenn auch das Reich, über das er regiert, ein kleines ist. Koenig ist es gewohnt, sein Leben nach seiner Fasson einzurichten, auch wenn ihm nicht bewusst ist, dass er die Bodenhaftung längst verloren hat.

Thomas Heimgartner schrieb einen Roman über eine Spezies Mensch, die sich schleichend auszubreiten scheint, versteckt hinter all den Errungenschaften der Moderne. Über all jene, die sich selbst genügen, in ihrem Leben eingerichtet haben, optimiert, sauber, reibungslos und stets auf gebührenden Abstand bedacht. Obwohl da in der Vergangenheit einmal der Plan war zu schreiben, ist Korrektur daraus geworden. In einem ehemaligen Kiosk, nicht gleich in der Innenstadt, betreibt Koenig sein Büro; Koenigs Korrektionsanstalt. Arbeit hat er genug, nicht weit weg eine schöne Wohnung, alles zweckmässig eingerichtet, seit 16 Monaten Single. Seine Arbeit genügt ihm, so wie die Art und Weise, die Welt aus der Distanz zu betrachten.

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», edition pudelundpinscher, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-906061-33-7

Bis ihn eine Kurznachricht seiner Ex erreicht: „Ich bin übermorgen wieder einmal in Deiner Stadt, falls Du Zeit hast.“ Eine Mitteilung, die er reflexartig zuerst mit seinem Korrekturblick scannt, bevor er den eigentlichen Inhalt an sich heranlässt. (Angesichts der weit verbreiteten Manie, hinter und unter allem ein lauerndes Etwas zu vermuten, eine durchaus verständliche Vorgehensweise) Mirela trennte sich von ihm, weil er sich ohne Rücksprache mit ihr unterbinden liess. Für ihn damals ein Akt der fürsorglichen Voraussicht. Für sie das letzte Puzzleteil einer Person, die sich die Welt nach eigenem Gusto formt, die sich selbst ins Zentrum setzt.

«Das Leben ist kein verdammter Text, den du am Schreibtisch verbessern kannst.»

Koenig sitzt zur ausgemachten Zeit in einem Café und wartet. Aber Mirela erscheint nicht, dafür beginnt ein wildes Hinundher im Netz mit einem Avatar, der sich Bosnamirela nennt, in Anlehnung an ihre Herkunft, eine Person, die behauptet, nicht „seine“ Mirela zu sein, bei der Koenig aber genau spürt, dass es nicht irgendwer sein kann.

Koenig lässt sich auf ein Spiel ein, das mehr und mehr zum Ernst wird. So sehr, dass es ihn aus seinen Gewohnheiten und Gewissheiten reisst, so sehr, dass er sich auf eine Reise begibt, ausgerechnet er, der sich so sauber und propper in einer selbstgemachten Welt eingerichtet hatte. Er schliesst sein Büro, verlässt seine Wohnung, seine sichere Welt und macht sich auf in jenes Land, aus dem Mirela einst in die Schweiz kam. Er macht sich auf nach Bosnien, auf eine Reise mit ungewissem Ausgang, in eine Welt, die ihm fremd ist, eine Welt, die ihn endlich spiegelt – den Mann ohne Eigenschaften.

„Koenigs Weg“ ist eine wirblige Geschichte über Kontrollverlust. Über einen Mann, der feststellen muss, dass die Wirklichkeit weit über das hinausgeht, was sich auf einem Blatt Papier mit Text korrigieren lässt. Über einen Mann, der existenziell aus der Reserve gelockt werden muss, um aus einer beinahe antiseptischen Lebenswirklichkeit ausgeklinkt zu werden. „Koenigs Weg“ liest sich vergnüglich, auch wenn der Roman in mir jene Seite offenlegt, die wie Koenig eine aus den Angeln gehobene Welt am liebsten nur noch hinter Panzerglas betrachten will.

am 30. November Lesung und Gespräch

Thomas Heimgartner, geboren 1975 in Zug, lebt in ­Luzern. Er hat Sprach- und Literaturwissenschaften stu­diert und unterrichtet Deutsch an der Kantonsschule Zug. Bei pudel­undpinscher sind die Bücher «Kaiser ruft nach» und «Koenigs Weg» erschienen. Zusammen bilden sie eine »kaiserlich-königliche« Dilogie.
Zuvor erschienen kürzere und längere Erzählungen als Book on Demand und in anderen Publikationen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Matthias Jurt

Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen»

Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es morgen».

Gastrezension von
Franco Supino

Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig

«Wir beginnen mit dem Anfang»: Dieses Bonmot von Karl Valentin entpuppt sich wie immer bei hintergründigem Humor als ambivalent. Sobald wir über etwas nachdenken, hat es schon begonnen – und ebenso gibt es kein Ende, denn die Instanz, die das Ende feststellt, kommt erst danach. Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im Inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es Morgen». Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig interessant. 

Wenn ich überlege, was mich am Text fasziniert, klingt es abgedroschen, etwa: Das Leben spielt sich in Augenblicken ab. Diese wahrzunehmen und formvollendet in Sprache zu giessen … Aber das ist Kathrin Burgers grosse Kunst. Wir erleben mit der Autorin den Moment im Theater, wenn «das Licht im Zuschauerraum langsam ausgeht, die Geräusche verebben, das Stimmengewirr verstummt, das Rascheln der Programm, das Klicken der Handtaschen, das Husten, Räuspern, Schnäuzen aufhört, wie es dunkel und still wird und alle Aufmerksamkeit sich nach vorne auf den Vorhang richtet.» Oder das Ritual, das die Protagonistin uns Leser:innen täglich vorführt: Sie sitzt am Morgen vor der Dämmerung am Fenster ihres Hauses und schaut, wie sich aus den «schattenhaften Konturen Farben entwickeln», und schliesst mit: «Es wird Zeit für den Tag.» 

Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen», Rotpunkt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-85869-978-7

Der Tag ist die erzählerische Einheit von Kathrin Burgers Roman, wie in Kinder-Bilderbüchern, die immer damit enden, dass die Protagonist:innen sich schlafen legen. Für Kathrin Burger ist der Morgen der Katalysator für ihren Text: Jeder Tag ist gleich und jeder Tag ist anders, das Dazwischen ist das Geheimnis der grossen Erzählerin Burger, das sie uns Kapitel für Kapitel enthüllt. Wenn es Zeit wird für den Tag, liegt vor uns nicht die Zukunft. Was wir sehen, ist ja längst entstanden, und also steckt darin die Vergangenheit. Nicht die einzelne Erinnerung ist wichtig, nicht was die Protagonistin in Paris oder im Gebärsaal erlebt hat, sondern was davon heute noch sichtbar ist. «Die Schatten der Nacht sind gewichen, die Schatten der Vergangenheit erwachen.» 

Der Reiz von Kathrin Burgers Prosa liegt darin, dass sie Poesie mit Weisheit verbindet, ohne aufzutrumpfen, einfach so. Sie ist eine Debütantin im fortgeschrittenen Alter, aber absolut keine Anfängerin. Man möchte manchen Satz immer und immer wieder lesen, und wenn es gälte, in Freundschaftsbücher zu schreiben, ihre Sätze unseren Liebsten für die Ewigkeit widmen. «Die Zukunft liegt nicht vor mir, sie wartet, für mich unsichtbar, hinter mir.»

Darum, zum Schluss, der keiner ist, noch dies: «Jeder Anfang ist leichtfüssig, jedes Ende wiegt klumpenschwer. Aber die eigentliche Herausforderung liegt dazwischen.» 

Kathrin Burger, geboren 1949 in Menziken, studierte Germanistik in Zürich und promovierte über Georg Trakl. Sie unterrichtete als Gymnasiallehrerin in Fribourg, in Baden und dreissig Jahre lang in Aarau. Daneben engagierte sie sich in verschiedenen kulturellen Institutionen sowie für die Frauenbewegung. Sie lebt mit ihrem Mann in Küttigen und hat drei erwachsene Kinder.

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer

Nina Jäckle ist eine absolut faszinierende Erzählerin. Ihre Art des Geschichtenerzählens richtet sich nach Innen, ohne den Blick auf das Darüberhinaus zu verlieren. „Verschlungen“ ist ein Tauchgang in die Psyche einer Frau, die sich verzweifelt zu befreien versucht.

Im Heute wünschen wir uns Nähe und verabscheuen Dichtestress. Ganz offensichtlich wird der Akt der menschlichen Annäherung ein immer problematischerer, gespickt mit Fallgruben und bösen Überraschungen. Im Zug aber suche ich lieber ein freies Abteil und pfropfe Kopfhörer in die Ohrmuscheln, um mehr als deutlich zu signalisieren: „Ich will nicht“.

In Nina Jäckles neuntem Roman „Verschlungen“ geht es um eine in die Jahre gekommene, namenlose Frau. Sie wohnt abgeschieden und völlig zurückgezogen in einem kleinen Haus im Wald. Ihre Mutter und ihre Schwester hat sie verloren, die einzigen Personen in ihrem Leben, die eine Rolle spielten. Seit zwei Jahren versucht sie sich zurechtzufinden. Sie sucht ihren Platz, ihren Stand, ihre Mitte, ein Selbstbildnis, das nicht ständig massregelt, schimpft und straft, denn Ewa, ihre eineiige Zwillingsschwester, hat sie alleine zurückgelassen. Sie, die in tausendfachen Schwüren versprach, stets zu teilen, sie nie zu verlassen, im absoluten Gleichschritt durchs Leben zu gehen, als wären sie in zwei Körpern geborene Siamesische Zwillinge.

Libelle, Zeichnung © Renata Jäckle

«Wie kannst du nur ablassen von mir, wie kannst du es wagen, unsere Verträge zu missachten, keiner wird uns je küssen, keiner wird uns je berühren. Das haben wir uns auf immer geschworen.»

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer, 2023, 160 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-520-77101-8

Sie und ihre Schwester Ewa blieben bis ins Erwachsenenalter bei ihrer Mutter und begleiteten sie bis in den Tod. Eine Art des Begleitens, die schon lange zuvor ein Distanzieren geworden war, denn je älter die Zwillinge geworden waren, desto unergründlicher und fremder wurden sie für eine Mutter, die sich mehr und mehr ausgeschlossen fühlen musste. Und weil es durch Erbschaften für die Zwillinge nie nötig wurde, sich mit anderen Menschen einzulassen und die beiden sich schworen, sich nie von Männern berühren zu lassen, weil diese nur zur Bedrohung ihrer Einheit werden würden, genügten sie sich selbst, auch wenn diese Genügsamkeit durch Schwüre, Drohungen und einem permanenten Hinundher zwischen Abstossung und maximaler Nähe verkettet werden musste.

«Das Zusammengehören also ist wie eine chronische Krankheit.»

Ewa, zwölf Minuten später zur Welt gekommen, schien die immer Stärkere, Dominantere, Herrschendere zu sein – die bessere Variante. Was sich ein Leben lang zwischen den beiden abspielte, war und ist eine Mischung aus Selbstzerstörung und Selbstzersetzung. Jedes noch so kleine Fünkchen Eigenständigkeit wurde zum Akt grösster Kraftaufwendung und selbst der Schnitt im Finger in Kindertagen, ein kleines Unterscheidungsmerkmal, wird zur offensichtlichen Bedrohung.

«Geborgenheit bezahlt man mit Enge.»

Nun, die Mutter gestorben und sie seit zwei Jahren von einem Teil ihrer selbst abgeschnitten, amputiert und unheilbar verwundet, versucht die Erzählerin mit Verbannungen sich selbst zurechtzufinden. In Rückblenden, die sich lesen, als würde die Protagonistin in ihr Spiegelbild erzählen und Einsprengsel aus ihrem geheim geführten Tagebuch, öffnet sich das Psychogramm einer Eingeschlossenen, die verzweifelt versucht zu verstehen. Es braucht genau jenes Verstehen, um aus dem Gefängnis, der allumfassenden Umklammerung ausbrechen zu können. Nina Jäckle schreibt meisterlich, fesselt nicht nur mit der Ungewissheit, was aus Ewa geworden ist, sondern mit der Intensität ihrer Sprachkunst und der Tiefenschärfe ihres Erzählens. In „Verschlungen“ liegt derart viel Verblüffendes, dass ich während der Lektüre im Staunen versank.

Ameise, Zeichnung © Renata Jäckle

Interview

Ich bin überwältigt von Deinem neuen Roman, von Deiner Sprache, der Konstruktion, der Erzählweise und Deinem Mut. Du beschreibst eine Innenwelt, einen verzweifelten, lebenslangen Ausbruchsversuch. Die Sprache deshalb, weil der Sound das Zerstörerische, die Hilflosigkeit, die Angst miteinschliesst. Die Konstruktion deshalb, weil du Deinen Erzählperspektiven absolut treu bleibst und all jenen Verlockungen, denen ich erlegen wäre, widerstanden hast. Die Erzählweise darum, weil Du in Tiefen abtauchst, die mich schwindeln lassen und den Mut, weil Du durch Auslassungen meiner Lust nach Aufklärung entgegenwirkst. Alles geplante Absicht?
Geplante Absicht kenne ich beim Schreiben nicht. Nachdem ich merke, dass mich etwas thematisch interessiert und ich also erste Sätze dazu bilde, gerate ich in eine Stimmung. An dieser Stimmung entlang lasse ich meine Figuren denken und tun. Ich habe auf meinem Schreibtisch einen kleinen Lautsprecher und ich höre zum Schreiben, und natürlich passend zu dieser Stimmung, Musik. So entsteht nach und nach eine Playlist, eine Sammlung von Stücken, die in gewisser Weise am Tonfall des Textes mitwirken, Tag für Tag. Musik, die vielleicht sogar textliche Bewegungen mitgestaltet. Ich schreibe nicht planvoll, ich nehme niemanden an die Hand, ich führe niemanden von einem geplanten A nach einem geplanten B. Ich sammle Kleines auf, um Generelles darin abzubilden. In dieser dauererregten Zeit versuche ich, das Konzentrierte, die leisen Gedanken aus leiser Sprache mit einem eher reduzierten Plot dem Oberflächentrubel unserer Zeit entgegenzusetzen. Natürlich birgt dies das Risiko des Überhörtwerdens. Darüber denke ich aber nicht mehr nach, denn das Einflüstern ist meins, nicht das Ausrufen.

Wir leben in Zeiten von grassierender Einsamkeit und bedrohlichem Dichtestress. Dein Roman beleuchtet genau dies aus absolut überraschender Perspektive und in einer derartig beklemmenden Intensität, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine solche Geschichte so einfach ersonnen ist. Dein Roman übersteigt ein Mass der Einfühlsamkeit, die mich rätseln lässt. Wie bist Du eingetaucht?
Alles ist ersonnen. Das ganze Buch, von vorne bis hinten. Gespeist natürlich. In meinem Leben gibt es Rückzug und Einsamkeit und eine sehr enge Beziehung, es gibt in meinem Umfeld Falter und streunende Katzen, es gibt das Haus und windschief gewachsene Bäume. Es gibt Elfen-Krokusse und es gibt auch die Frage danach, „was man als gegeben gelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponieren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde…“

Heuschrecke, Zeichnung © Renata Jäckle

Der Name der Ich-Erzählerin wird nicht ein einziges Mal genannt. Das ist absolut konsequent, denn sie erlebt sich als eineiig, monozygot. Auch wenn ihr ganzes gemeinsames Leben mit ihrer Zwillingsschwester ein permanenter Versuch der Absetzung war, wenn auch nur in kleinen Aktionen. Du bist in den Körper der Erzählerin hineingeschlüpft und erzählst in der ersten Person.
Meine Protagonistin hat deshalb keinen Namen, weil es aus der Erzählperspektive heraus nicht plausibel wäre, ihn zu erwähnen. Und weil es mir unter Umständen nicht gelungen wäre, so lückenlos sie zu sein, wenn ich sie mit einem Namen ausgestattet hätte, der nicht der meine ist. Das „Ich“ wäre mir wohl dann wie eine Lüge vorgekommen. Aber Letzteres ist lediglich Spekulation.

„Verschlungen“ ist vieles, auch ein Roman über die Sehnsucht nach Individualität. Entspricht die rein menschliche Sehnsucht nach Individualität, nicht eigentlich einer völligen Selbstüberschätzung?
Natürlich ist „Verschlungen“ ein Text über die Sehnsucht nach Individualität. (Ich weiss nicht, ist es Selbstüberschätzung oder vielmehr der rührend verzweifelte Wunsch nach Bedeutung?) Auch schreibe ich über Obsession. Darüber, besessen zu werden und besessen zu sein, darüber, an einer Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu erkranken, ich schreibe über den selbstzersetzenden Versuch, sich von einem Menschen abzuwenden, der genetisch mit dir vollkommen übereinstimmt. “Ich weiss nicht, und vermutlich werde ich es niemals wissen, bin ich denn nun durch dich das Doppelte, oder bin ich die Hälfte von eins?“, fragt sich jene ohne Namen, und ich kann es ihr nicht wirklich beantworten, tendiere aber zur Hälfte. Der Versuch, sich selbst in aller Ruhe und auch Brutalität auseinanderzunehmen, um sich dann in aller Ruhe neu zusammenzusetzen, also eine radikale „Selbstersetzung“ durchzuspielen, hat mich enorm gereizt.   

Ich danke Nina Jäckle für alles!

Teil 2

Teil 3

GzD-Gallus-Frei-final Nina Jäckle wurde 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf und begann früh, Hörspiele zu schreiben; es folgten Erzählungen und Romane, mit gehörigem Erfolg: Nina Jäckle erhielt u. a. den Tukan-Preis, den Evangelischen Buchpreis, den Italo-Svevo-Preis, die Förderung des Deutschen Literaturfonds sowie die Stipendien der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt die Romane «Der lange Atem» (2014) und «Stillhalten» (2017).

Renata Jäckle, 88, studierte an der Kunstakademie Braunschweig und ist gelernte Grafikerin, sie lebt in Hamburg. Sie malt sowohl grossformatig in Mischtechnik auf Leinwand als auch in kleinerer Form mit Tusche.

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Setzkastentexte auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © privat

H. D. Walden (Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani

Es ist noch gar nicht lange her, als die Wege in den Wäldern leer blieben und der blaue Himmel ohne einen einzigen Kondensstreifen. Damals glaubte ich naiv an eine neue „Zeitrechnung“, eine Zäsur.  In der Zeit davor wurden Stimmen nach einer Umorientierung im Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten immer lauter und eine junge schwedische Aktivistin faszinierte mit ihrer Unerschrockenheit selbst die Hartgesottenen.

Vom Gefühl des Aufbruchs ist nichts geblieben, dafür einem fatalistischen Gefühl der Resignation gewichen. Warum soll man sich an den Köstlichkeiten der Gegenwart nicht bedienen! Nicht Geiz ist geil, sondern Trotz. Die Wälder sind wieder voll mit Turnschuhen und der Himmel ebenso mit Kondensstreifen Richtung Happytime.

Damals zwang uns ein klitzekleines Virus zu Alternativen. Es zwang uns, Prioritäten zu überprüfen. Genauso wie die Abertausenden von Demonstrierenden, die auf den Strassen lautstark ein Umdenken forderten. Von dem allem ist wenig geblieben. Von Pandemien will sich niemand mehr die Pläne durchkreuzen lassen und den Klimaprotest überlässt man jenen mit Klebstoff an den Händen!

D. H. Walden (alias Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani, 2021, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-86971-242-0

Als der Virus wütete, zog sich der Schriftsteller Linus Reichlin in eine Hütte im Wald zurück. Nicht aus Verzweiflung, aber mit Sicherheit, um Abstand vom grassierenden Wahnsinn zu bekommen. In das kleine Haus einer Freundin, in die stille Welt des Ruppiner Wald- und Seengebiets. Ein paar Wochen, nicht wie der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der 1854 in seinem Buch „Walden“ zwei einsame Jahre im Wald beschrieb, seinen Versuch, aus einer Welt auszusteigen, in der die Folgen der Industrialisierung und zunehmenden Distanz zu einem wahren, echten und naturnahen Lebens für den Autor immer schwerer auszuhalten war.

Linus Reichlins Buch ist kein Bericht eines Aussteigers, sondern das Protokoll eines Erwachens. Im Wald alleine mit sich selbst beginnt der Autor zu sehen. Der Wald ist nicht mehr nur Kulisse und „Naherholungsgebiet“. Linus Reichlin lernt den Stimmen des Waldes zu lauschen. Tiere sind nicht mehr nur Staffage, sondern Gegenüber. So sehr, dass er Namen geben muss, mit ihnen spricht und zu verstehen versucht. Glücklicherweise ist „Ein Stadtmensch im Wald“ weder Lehrstück noch Anklage, weder Romantisierung noch Überzeichnung. „Walden“ von Henry David Thoreau damals wurde zum Kultbuch einer ganzen Bewegung, in der Literaturgeschichte zu einem Massstab des „nature writings“.

Linus Reichlin beschreibt ohne den Ansporn, in diesem Stück Welt im Wald ein alternatives Leben zu finden. Seine Zeit im Wald ist eine Selbstbesinnung, ein vorsichtiger, manchmal unbeholfener Versuch, sich mit den Regeln und Gesetzmässigkeiten der Natur zurechtzufinden. Auch wenn etwas mehr Auseinandersetzung wünschbar gewesen wäre, weil das Buch so schnell zur netten Nachttischlektüre werden kann, liest sich das illustrierte Büchlein mit Genuss. Vielleicht ist ein solches Büchlein ein Anfang.

Interview

Als Reichlin-Leser ging das Buch zuerst an mir vorbei. Erst als ich für Ihren aktuellen Roman „Der Hund, der nur englisch sprach“ im Netz recherchierte, stiess ich auf „Ein Stadtmensch im Wald“ bei dem aber der Name H. D. Walden auf dem Cover geschrieben steht. Den Link zu „Walden“ von H. D. Thoreau erschloss sich schnell. Aber warum steht nicht ihr Name auf dem Buchdeckel?
Das hängt damit zusammen, dass in derselben Saison ein anderes Buch von mir im selben Verlag erschien. Der Verlag hielt es deshalb für besser, das eine Buch unter Pseudonym zu veröffentlichen. Ausserdem wollten meine Verleger durch die Wahl des Pseudonyms einen Bezug zu H.D. Thoreau herstellen – worüber man sich streiten kann. Denn mein Buch ist ja keine Zivilisationskritik, sondern ein Bericht über eine Naturerfahrung. 

Sie bedienen mit Ihrem Buch eine Sehnsucht vieler; für einmal, wenn auch nur zeitlich beschränkt, aus dem Trott und gewohntem Umfeld ausbrechen. Irgendwie sind Ferien ausserhalb der Wohnung ja auch stets ein solches Experiment. Aber viele nehmen dabei allen erdenklichen Luxus mit, um doch nicht verzichten zu müssen, worauf man glaubt, nicht verzichten zu können. Aber liegt nicht genau in der Reduktion, im Verzicht die einzige Chance, verschlossene Türen zu öffnen?
Wenn man sich die Situation unserer Vorfahren anschaut, über einen langen historischen Zeitraum, sieht man, dass die allermeisten dieser Menschen auf die geringsten Annehmlichkeiten verzichten mussten und unter ständigem Mangel litten. Erst seit etwa 100 Jahren können wir es uns überhaupt leisten, auf die Idee zu kommen, dass Verzicht uns Türen öffnen könnte. Es steht natürlich jedem frei, auf Luxus und fliessendes warmes Wasser zu verzichten in der Hoffnung, dadurch eine nützliche Erfahrung zu machen. Ich hingegen bin der Meinung, dass wir soviel Luxus wie nur möglich so lange geniessen sollten, wie es ihn noch gibt – und ich glaube nicht, dass unser Wohlstand ewig währen wird. Mit meinem Buch wollte ich nicht Verzicht predigen, sondern einen Städter schildern, der die ihm zuvor eher unbekannte Natur kennenlernt – ohne dass er deswegen das Leben in der Natur für erstrebenswerter hält als das Leben in der Stadt.

Es scheint nicht, dass von Beginn weg die Absicht bestand, aus dem coronabedingten Abenteuer ein Buch zu machen. Wenn dem so ist; wann merkt man, wann merken Sie, dass aus einem begonnen Schreibexperiment ein Buch werden will?
Sie haben recht, die Absicht, aus meiner Erfahrung ein Buch zu machen, entstand erst, als ich schon nicht mehr unter Hirschen, Waschbären und Rehen lebte. Die Gründe sind auch ganz unromantisch: Als professioneller Schriftsteller und Journalist lebe ich davon, über meine Erfahrungen zu berichten. Es folgte also zunächst ein Essay für das Magazin des Tages-Anzeigers über das Leben im Wald, und aus dem Essay wurde ein Buch. 

Alle Ihre Romane, auch der aktuelle „Der Hund, der nur englisch sprach“ haben eine starke philosophische Komponente. Ausgerechnet in diesem Buch halten Sie sich aber aus meiner Sicht ganz ordentlich zurück. Thoreau hielt sich bei seiner Kritik an der Gesellschaft gar nicht zurück. Sie wollten auch kein Coronabuch schreiben.
Zu meinen schönsten Erlebnissen im Wald gehörte das Anlegen einer Futterstelle, mit der ich – nebenbei gesagt – die Wildschweine und Hirsche von den Kirrplätzen der Jäger weglocken wollte: Eine kleine, vielleicht naive Rebellion gegen die Auswüchse des Jagdwesens. Jedenfalls gelang es mir, sozusagen ein gutgehendes Waldrestaurant zu eröffnen, wo sich nachts Wildschweinmütter und ihre Frischlinge, Hirsche, Marder, Dachse usw. trafen. Über eine Wildkamera konnte ich diese Tiere beobachten, und sie wuchsen mir mit der Zeit ans Herz. Ja, daran war nichts Philosophisches, das stimmt. Es war einfach nur das, was es war. Ich bin sicher, hätte Thoreau sich wirklich mit der Natur beschäftigt, anstatt – übrigens nicht in der Wildnis, wie immer gesagt wird, sondern in einem bequemen Landhaus ein paar Meilen ausserhalb der nächsten grossen Stadt – sein Buch zu schreiben, wäre er zu einem differenzierteren Urteil über die Zivilisation gekommen.  

Ist jener Linus Reichlin, der mit Sack und Pack in den Wald zog, ein anderer als der Linus Reichlin heute?
Ich glaube, während der Pandemie waren wir alle ein wenig anders? Es war, im Nachhinein betrachtet, eine sehr merkwürdige Zeit, und insofern bin ich heute sicherlich ein anderer als damals. 

Ist nicht jedes Buch, jedes Eintauchen in einen Stoff eine Art Reise in eine unbekannte Gegend, einen Wald mit Stimmen und ganz verschiedenen Bewohnern?
Das ist tatsächlich das für mich Faszinierende am Schreiben: Wenn einem die Wirklichkeit nicht genug ist, kann man sich hinsetzen und sich in einer Geschichte verlieren. Das ist allerdings leider eine Ansicht, die aus der Mode gekommen ist. Früher entführten die Schriftsteller ihre Leser in andere, fremde Welten, und die Leser folgten ihnen neugierig. Mir scheint, dass heute eher die Schilderung der bereits bekannten, alltäglichen Welt verlangt wird. Der Roman als Selfie der Leser, sozusagen. Oder um es etwas überspitzt zu sagen: Komme ich nicht drin vor, interessiert mich der Roman nicht. Also leider das Gegenteil einer «unbekannten Gegend», wie Sie es nannten.  

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019), «Señor Herreras blühende Intuition» (2021) und zuletzt «Der Hund, der nur Englisch sprach» (2023). 

Rezension «Manitoba«

Beitragsbild © Birgit Juergens

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp

Vaterbücher – vielleicht sind alle Bücher Mutter- und Vaterbücher. Bücher, in denen man Kindheitsbildern nachhängt, in denen man sich von seinen Eltern emanzipiert, ein Tun, das sehr oft ein nicht enden wollender Prozess bleibt. «Vaters Meer» von Deniz Utlu ist ein ganz eigenes, in Liebe getauchtes Vaterbuch.

Vaterbücher, Bücher, mit denen man sich loszusagen versucht von gewalttätigen Vätern oder einnehmenden Müttern. Bücher, die in der Auseinandersetzung mit sich selbst Väter und Mütter spiegeln, nicht nur dann, wenn man selbst Mutter oder Vater wird, aber ganz bestimmt dann, wenn man im Spiegel die Züge seiner Eltern sieht, wenn man mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert wird und mit Schrecken feststellt, das die Vertreibung aus dem Paradies allgegenwärtig ist.

Deniz Utlu schrieb mit seinem Roman „Vaters Meer“ ein sehr bewegendes Vaterbuch, einen mosaikartigen Erinnerungsteppich über ein Leben, dass sich mit den vielfältigsten Formen der Trennung und des Schmerzes auseinanderzusetzt, aber ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. „Vaters Meer“ ist die Hommage an eine Liebe, das Erinnern an einen langen Abschied, das Nachspüren dessen, was geblieben ist.

«Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stosse ich auf ein Meer.»

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp, 2023, 384 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43144-3

Schon in seinen ersten beiden Romanen, „Die Ungehaltenen“ (2014) und „Gegen Morgen“, waren Vatererinnerungen Thema. Aber in seinem aktuellen Roman wird die Vaterfigur, sein Schicksal, seine Krankheit, seine Sprachlosigkeit, sein Tod zu einem Tor ins eigene Leben. Deniz Utlu taucht in Vaters Meer, um die Inseln zu suchen, die ausmachen, was er war und ist.

Als Yanus (im Türkischen „Delfin“) dreizehn Jahre ist, erleidet sein Vater einen zweiten Schlaganfall, nachdem er sich eben erst schlecht und recht von einem ersten erholt hatte. Nachdem man ihn aus der Türkei zurück nach Deutschland geflogen hatte und die Ärzte nicht mehr von Heilung sprechen, nimmt ihn die Mutter des Erzählers nach Hause. Der Vater ist vollständig gelähmt und kann seiner Umgebung nur noch mit den Augen zeigen, dass in der erlahmten Hülle einer liegt, der am Leben teilhaben will. Vaters Blinzeln wird zur Augensprache. Auch wenn das Schicksal des Vaters ein Schweres war, Deniz Utlu spricht vom «Fallen», von einem Erdbeben, obwohl die Schlaganfälle des Vaters sowohl die Mutter wie den Sohn zurückbanden, sie mehr oder weniger isolierten, der Sohn eine Rolle einnehmen musste, die ungefragt über ihn hereinbrach, ist in dem Buch kein Funke Verbitterung oder Anklage zu lesen.

«Der erste Satz, den er mit den Augen sprach: Ödlum sandım. Mutter und Selma atmeten auf, sie hatten die Verbindung zu meinem Vater wiederhergestellt. Sein erster Satz lautete: Ich dachte, ich sei tot.»

In einem opulenten Teppich aus Erinnerungen und Reflexionen, Spiegelungen und Binnengeschichten erzählt Deniz Utlu die Geschichte eines Auswanderers, eines Heimatlosen, eines Mannes zwischen den Welten, von jemandem, der nach dem Glück in Deutschland suchte, aber stets arabisch fluchte. Von der elterlichen Liebesgeschichte, einer Kindheit zwischen den Kulturen. Von einer beinahe märchenhaften Kindheit seines Vaters in der Wüste Mesopotamiens, ein Blick, der jenem übers Meer ganz ähnlich erscheint. Von den Momenten unsäglicher Nähe, wenn sich der Vater zu ihm legte und Geschichten erzählte. Deniz Utlus Schreiben ist gleichsam Nachspüren wie die Suche nach sich selbst. Was trägt man an Geschichten mit sich? Was formt? Was zieht und was stösst?

Deniz Utlus Roman, der alles andere ist als eine chronologisch erzählte Vater- und Familiengeschichte, ist ein Meer aus Sprache und Verdichtung, aus Erinnerungen und Geschichten, aus Reflexionen darüber, was einem ausmacht. Ein grossartiges, herzerwärmendes Buch!

«Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht.»

Deniz Utlu liest und diskutiert an der BuchBasel 2023!

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman «Die Ungehaltenen» erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne «Einträge ins Logbuch». 2019 erschien sein zweiter Roman «Gegen Morgen». Ausserdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe «Prosa der Verhältnisse». Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Heike Steinweg

Alice Grünfelder „Jahrhundertsommer“, dtv

In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.

Gastbeitrag
von Franco Supino 

Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.

Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).

Alice Grünfelder «Jahrhundertsommer», dtv, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-423-28345-8

Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.

Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!

Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand #SchweizerBuchpreis 23/12

Zu Beginn des Jahres 1925 war der eben habilitierte Werner Heisenberg in seinen Studien zur Quantentheorie kurz vor dem Durchbruch, erst erahnend, was diese in der Wissenschaft anrichten würden. Christian Haller nimmt sich in seiner Novelle „Sich lichtende Nebel“ nicht nur genau jener Zeit an, sondern dem Gefühl damals Weniger, dass unsere Wahrnehmung alles andere als deckungsgleich mit der „Wahrheit“ sein muss.

Erstaunlich genug, dass Christian Haller sich einem physikalischen Thema mit derartiger Leichtigkeit literarisch widmen kann, dass er es schafft, einen solchen Stoff, einen solchen Moment des sich lichtenden Nebel mit der zarten Beschreibung zweier nicht unähnlichen und in ihrer Biografie so unterschiedlichen Protagonisten zu verknüpfen. Selbst wenn ich das, was Heisenberg, von Christian Haller respektvoll „Beobachter“ genannt, damals in seinem Denken entwickelte, nicht wirklich verstehe, erahne ich den Moment des „Sich Lichtens“. Nicht dass es Heisenberg damals wie Schuppen von den Augen fiel – aber die Ahnung, was sein Erkennen für Konsequenzen auslösen würde, muss als Gefühl erschütternd gewesen sein.

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Christian Haller verwebt die Geschehnisse um den jungen Physiker Heisenberg mit den schwierigen Tagen eines emeritierten Historikers. Helstedt hat sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen, auch wenn er sich ab und an mit seinem Kollegen Sörensen trifft und in der Suche nach Erkenntnis, reichlich unterstützt durch Wein, Austausch sucht. Eine Suche, die ihm neben seinem Schmerz mehr und mehr die Gewissheit gibt, dass mit dem Nichtmehrdasein nicht zwingend eine Liebe zu Ende sein muss. Heisenberg und Helstedt erahnen, dass es neben der offensichtlichen „Wirklichkeit“ Ebenen geben muss, die sich unserer (meiner) Vorstellung entziehen.

«Seine Schrift auf der weissen Heftseite war wie die Spur im Schnee, die ein Fuchs gezogen hatte.»

Beide, Heisenberg und Helstedt, wagen einen Aufbruch. Heisenberg aus den Fesseln eines vorgegebenen Denkens, Helstedt aus seiner inneren Isolation. „Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Novelle darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit Hallers eigner Herkunft, seinem Leben auseinandersetzen, sei der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zum Buch wurde, erklärte Christian Haller an einem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 2023. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

So schmal das Buch ist, so erkenntnisreich die Ahnungen, die es provozieren kann. „Sich lichtende Nebel“ ist ein starkes Stück Literatur! Ich spüre seine grosse Faszination, die die Sprache selbst für den Autor bedeutet, die Weite an Erkenntnis, die sich offenbart.

Christian Haller hätte es sich leichter machen können. Aber die Tiefen von Einsicht und Erkenntnis sind nicht hell ausgeleuchtet. Nur wer sich darum bemüht, dem lichten sich die Nebel.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis, ein Jahr später mit dem Schillerpreis und 2015  mit dem Kunstpreis des Kantons Aargau ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

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Judith Keller «Wilde Manöver» – Weinfelder Buchpreis 2023

Aus eigener Intiative vergeben die 7. Weinfelder Buchtag jedes Jahr einen Buchpreis. Sowohl Buchtage wie Buchpreis wurden von Katharina Alder, Inhaberin der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden, initiiert. Hier die Laudatio von Katharina Alder:

Judith Keller ist an den Weinfelder Buchtagen keine Unbekannte. Bereits 2021 wurde sie für den ersten Weinfelder Buchpreis nominiert, damals mit ihrem zweiten Roman «Oder?», der beim Gesunden Menschenversand erschienen ist. Soeben ist ihr neuer Roman «Wilde Manöver» bei Luchterhand erschienen und knüpft stilistisch an ihren Vorgänger und auch an das von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnete Debüt «Die Fragwürdigen» an.

Judith Keller «Wilde Manöver», Luchterhand, 2023, 288 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-630-87743-3

Judith Keller besticht in ihren fiebertraumartigen Romanen durch ihren schrägen Humor, ihre Lust am Fabulieren und einer hinreissenden Beobachtungsgabe. Ihre Figuren bewegen sich in einem weiten Spannungsfeld von schräg, schwermütig, eigensinnig bis leichtfüssig. In der Tradition eines Franz Hohlers widmet sie ihre Texte den kleinen Leuten, den Menschen in ihren normalen und abstrusen Alltagssituationen und nimmt sie in detailreichen Erzählungen unter ihren präzisen, interessierten Blick. Dieses Auge für poetische Irrwitzigkeiten und gleichzeitig ein berührend Normales bereichert den Schweizer Literaturbetrieb.

Auch sprachlich muten Judith Kellers Romane spielerisch an. Mit einer schelmischen Ernsthaftigkeit nähert sie sich dem nackten Material der Sprache und stellt es aus. Dabei zeigt sie ein gutes Händchen im Umgang mit Sprechweisen, Mundart und Sprachwitz. Sie experimentiert sowohl mit der Form, als auch mit der Leserschaft, den Genres, der Darstellung und der Typografie. Die Leserschaft wird in den Prozess der Textentstehung mit eingebunden. Ganz anders ihr Umgang mit der Autorschaft, wo sie – entgegen dem momentanen autofiktionalen Hype in der Literatur – sich und ihre Biografie aus dem Text raushält und die fiktionale Welt auf Weiteste ausreizt. Müssige Diskussionen um das Autobiografische an Texten bleibt aus, viel lieber versüsst sie den Lesegenuss mit unzuverlässigen ErzählerInnen, denen man eigentlich nicht trauen sollte und trotzdem folgt.

Judith Keller liebt unklare Situationen, Stoffe, die schwierig zu beschreiben sind und immer ein bisschen im Dunkeln bleiben. In dieser Schreiblust und ihrem Mut, sperrige und ungeglättete Texte zu schreiben, in alle Ecken des Literarischen vorzudringen und sie auszuforschen, möchten wir sie mit diesem Preis unterstützen.