Antonia Baum «Siegfried», Claassen

Sie sitzt im Wartezimmer eines psychiatrischen Ambulatoriums auf einem roten Metallstuhl und wartet. Sie hat sich ausgeklinkt. Ausgeklinkt aus ihrer Ehe, ihrer Familie, ihrem Beruf als Schriftstellerin, ihrem Verhältnis mit ihrem Lektor, ihren Sorgen, ihren Ängsten. Nur aus ihrer Geschichte kann sie sich nicht ausgklinken. Antonia Baum erzählt kunstvoll vom Scheitern.

Alex liebte sie. Vielleicht liebt Sie ihn noch. Aber weil sie ihn mit Benjamin betrogen hatte und kein Geheimnis daraus machen wollte, sperrte er sie aus seinem Leben aus. Sie liebte Alex, weil Alex aus einem ganz anderen Stall kam wie sie, weil sich Alex kaum um Konventionen scherte. Weil Alex in einer Bar arbeitet, die nicht einmal ihm selber gehört und Geld schon irgendwie hereinkommen würde. Es gab eine Zeit, da hätte sie gerne noch zwei Kinder von ihm gehabt, neben ihrer Tochter Johnny. Wenn da alles andere nicht gewesen wäre: die ewigen Geldssorgen, das ewige Bedrängtwerden, am meisten von ihr selbst, weil nichts mehr funktionieren wollte, die Waschmaschine genauso wie das Schreiben an einem neuen Roman. Darum sitzt sie auf dem roten Metallstuhl. Weil sie nicht weiss, ob sie kurz davor ist, verrückt zu werden, die Kontrolle ganz zu verlieren, von all dem zugedeckt zu werden, vom Gegenwärtigen wie vom Vergangenen.

Antonia Baum «Siegfried», Claassen, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-546-10027-4

Sie erinnert sich an ihre Mutter, die lieber weg war als zuhause. An Hilde, ihre strenge Grossmutter, die eigentlich gar nicht ihre Grossmutter war. Denn Siegfried, ihr Sohn, kam erst in die Familie, nachdem sich ihr leiblicher Vater verdünnisiert hatte. Siegfried ist und war das einzig Konstante in ihrem Leben. Wenn auch seltsam distanziert, war er meistens da, versprach Hilfe, hatte es auch getan, als sie ihn letzthin um einige Tausend gebeten hatte, weil man ihnen drohte, die Wohnung zu kündigen, weil die Miete nicht mehr bezahlt wurde. Siegfried schien zu schaffen, was ihr nicht gelingen wollte. Sie bekam ihr Leben nicht in den Griff, schon gar nicht die Leben ihrer Familie. Die Zeiten bei Hilde waren das genaue Gegenteil von dem, was das fahrige Leben mit ihrer Mutter ausmachte. Bei Mutter das Ungefähre, Unbeständige, Unbestimmte, die Bedrohung. Bei Hilde die stramme Führung, das Schwimmtraining am hauseigenen Pool mit Hilde im Bademantel und mit Trillerpfeife.

Geschichten von Menschen, die die Kontrolle verlieren, die sich in den Schluchten der Grossstadt verlieren, gibt es viele. Geschichten von Frauen, die zerrissen werden im Spagat zwischen Pflichten als Mutter, Ehefrau, Ernährerin und Kreative ebenfalls. Was Antonia Baums Roman „Siegfried“ auszeichnet, ist die Art des Erzählens, ihre Sprache, das fein Ziselierte ihrer Schilderungen. Kaum je las ich derart genaue Beschreibungen von Zuständen oder Geschehnissen, die wegen ihrer Sprachkunst nie langweilen. Es war als wären Szenen in Slowmotion erzählt. Dabei wurden sie weder langfädig noch langweilig. Antonia Baum scheint eine tiefere Form der Wahrnehmung zu beherrschen. 

Ebenso köstlich sind ihre Figuren, vor allem Hilde und ihr Sohn Siegfried, der zu einem Vaterersatz der Erzählerin geworden ist. Hilde als Relikt einer vergangenen Zeit, die sich köstlich nervt an den Eigenheiten der Gegenwart. Als das Mädchen, das die Erzählerin damals war, in Hildes grossem Haus zu stöbern beginnt, findet sie Zeugnisse einer Zeit mit Bildern von ausgemergelten Menschen, Leichenhaufen und Männern in Uniformen. Da war auch Hildes Ehemann, Siegfrieds Vater, den man nicht nur beerdigt hatte, sondern in der Gegenwart totgeschwiegen. Und Siegfried, der wie der Drachentöter aus der nordischen Sagenwelt unverwundbar und unverwüstlich erscheint. So ganz anders wie die Erzählerin selbst. Sie, die sich nicht mehr aufrichten kann. Sie, die sich selbst betrogen fühlt.

„Siegfried“ ist ein Sprachkunstwerk. Hier glänzt die Sprache, denn sie erzählt viel mehr als das, was reines Nacherzählen wiedergibt!

Antonia Baum, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre Bücher – zuletzt der Roman «Tony Soprano stirbt nicht», das Memoir «Stillleben» und eine persönliche Bestandsaufnahmen des Werkes von Eminem – haben grosse Medienresonanz erhalten. «Siegfried» ist ihr erster Roman im Claassen-Verlag.

Beitragsbild © Urban Zintel