Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhunderts», dtv

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.

Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.

Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhundert», dtv, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90 ISBN 978-3-423-28333-5

Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“

„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“

Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“

Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Rezension (und Interview) von «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bogenberger Autorenfotos

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!

Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.

Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9

1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.

Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.

 
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Simon Strauss «zu zweit», Tropen

Er wacht auf. Gleich mehrfach. Das Haus steht im Wasser. Es regnet. Die Stadt, in der er seit Geburt lebt, ist von allen verlassen. Nur ihn scheint man vergessen zu haben. Simon Strauss Novelle „zu zweit“ ist ein Sprach- und Bildkunstwerk von betörender Schönheit.

Er verkauft Teppiche und Stoffe, führt das Geschäft seiner Eltern weiter, das aber seit dem Abtauchen seiner Mutter nur mehr schleppend läuft. Simon Strauss nennt seinen Protagonisten nur „Verkäufer“, weil ein Name nichts zur Sache tut. Weil „Verkaufen“ das ist, was den jungen Mann ausmacht, der sich lieber im Kabuff hinter seinem Laden vor dem Leben draussen auf der Strasse versteckt. Nicht dass er sich zurückgezogen hätte. Er war schon immer so. Als Kind oder als Schüler. Erst recht als sich nach der Pflichtschulzeit sein einziger „Freund“ in ein Studium absetzte und er mit aller Selbstverständlichkeit in das Geschäft seiner Eltern hineinwuchs. Erst recht, als sich seine Mutter völlig überraschend aus der Familie absetzte, obwohl die Zweckgemeinschaft zwischen Mutter und Vater schon immer etwas Unsicheres hatte. Schon als der Vater das Geschäft trotzig weiterführte, blieb die Kundschaft aus, weil man das Geschäft wegen der freundlichen Bedienung der Mutter betrat.

Seit dem Tod seines Vaters wohnt er nicht mehr in der Wohnung über dem Geschäft, sondern in einer kleinen Mansarde in der gleichen Stadt. Still für sich, reduziert auf sein kleines Leben zwischen Wohnung und Geschäft.

Bis zu jenem Morgen, an dem er alles verändert kaum wiederfindet. Alles im Wasser versinkt, noch immer Regen auf die Stadt niedergeht, aber er der einzige scheint, den man zurückgelassen hatte. Nicht mutwillig. Aber weil er es in seiner Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit schlicht versäumt hatte, wie alle anderen Bewohner der Stadt das Weite zu suchen. Der stille Teppichhändler, der Verkäufer macht sich auf den Weg durch das Haus, die Stadt, zum Fluss, durchs leere Land.

Simon Strauß «Zu zweit», Tropen, 2023, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-50190-2

Der Verkäufer, dem vor der Flut nichts wichtiger war als die Gegenstände, die Ordnung in seinem Laden, hat sich längst angewöhnt, dass ihm die Dinge wichtiger sind als die Menschen, denen sie dienen sollten. Trägt man den Dingen Sorge, bleiben sie. Ganz anders als die Menschen. Auf sie ist kein Verlass. Das zeigten ihm eine Mutter, die mit einem Mal verschwand und ein Vater, der sich nach dem Verschwinden seiner Gattin immer mehr in sich zurückzog, hinter die Nähmaschine zu seinen Kreuzworträtseln. Bis auf die junge Frau, die ihn als letzte all der Vertreterinnen von Teppichen und Stoffen noch besuchte, die für einen kurzen Moment, ein paar Augenblicke lang etwas in den Laden zurückbrachte, was längst abgebrochen schien. Aber weil dem jungen Verkäufer wie stets in solchen Situationen die Worte fehlten, war die Vertreterin wie ein kurzes Auflodern eines Feuers, das er längst erloschen glaubte.

Der Teppichmann macht sich auf den Weg durch eine verlassene Welt. Aber weil er Zeit seines Lebens den Dingen mehr zugewandt war als den Menschen oder auch den Tieren, ist es ein Gang durch die Hinterlassenschaften. Er stört sich nicht an seiner Einsamkeit, mehr an seiner Verlassenheit. Die junge Frau in seinem Laden zeigte etwas, von dem ihn nicht nur sein Leben beschnitten hatte, mehr noch das, was über die Stadt, das Land hereingebrochen war und ihn zurückgelassen hatte.
Irgendwann steht er auf einer Brücke und lässt sich fallen. Aber statt ins Wasser zu fallen, landet er im Kleiderhaufen eines Flosses. Auf einem Floss mit einer jungen Frau. Einer künstlichen Insel mit eben jener Frau, die er verloren glaubte.

„zu zweit“ gibt sich dystopisch, endzeitlich, ist aber keine Dystopie. Die verlassene Landschaft in Simon Strauss Novelle ist die Kulisse eines Aufbruchs. Der Teppichmann, den seine Geschichte lehrte, sich nur noch auf seine Dinge zu verlassen, spürt mit einem Mal die Sehnsucht eines Gegenübers. „zu zweit“ ist eine Reise mit ungewissem Ziel. Spektakulär an der Novelle ist die Sprache, mit der Simon Strauss eben diese Dinge und ihre Arrangement zeichnet. Bilder mit einer ungeheuren Kraft. Eine Sprache, die einem während der Lektüre trunken macht. „zu zweit“ spielt mit den Zwischenräumen, nicht zuletzt mit den archetypischen Bildern von Träumen, der Welt des Unterbewussten. „zu zweit“ ist ein Tripp in eine beinahe entmenschte Welt.

Interview

«Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden.»

„zu zweit“ will keine Dystopie sein, keine postapokalyptische Novelle. Auch kein Flutroman, kein Klimaroman. Es ist die Reise eines jungen Mannes aus seiner selbstgewählten Isolation. Ein Aufbruch mit offenem Ziel. Auch kein Überlebensabenteuer, denn der junge Mann scheint in seiner Situation keine Angst zu haben. Ihr Buch schrammt an sämtlichen Einordnungsversuchen vorbei. War das von Beginn weg Absicht, Programm?
Nein. Ich hatte zugegebenermassen kein Programm und auch fast keine Absicht. Ausser, dass ich möglichst etwas schreibe, das meinen inneren Bildern entspricht und sich nicht an der äusseren Aktualität orientiert. Entstanden ist das Buch aus Träumen, aus Bildfetzen und Phantasmen, die mich in der Nacht umgetrieben haben. «Abbruch mit offenem Ziel“ – das finde ich eine sehr gute Beschreibung, genau darum geht es, um den Moment, in dem auf einmal alles anders ist und die alte Ordnung mit dem neuen Augenblick ringt. Wie will man so etwas einordnen? Ich jedenfalls habe darauf bestanden, dass „zu zweit“ kein Roman ist. Dieses Mal – im Gegensatz zu „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ – aber eben auch kein autofiktionaler Text. Daher, als einziger Ordnungsversuch, die Gattungsbezeichnung: „Novelle“.

Jene schrulligen, eigenbrötlerischen Abgewandten haben in der Literatur eine lange Tradition. Spricht da vielleicht sogar ein kleiner Funke Sehnsucht des Schriftstellers, sich von der Welt „da draussen“ abzuwenden? Schon der Akt des Schreibens ist doch die Umkehrung aller Auseinandersetzung mit der Welt. Man blickt in eine Innenwelt, in sich hinein, ein Abbild aller Eindrücke der Realität?
In der Tat hat das Schreiben etwas zutiefst eigensinniges an sich. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung, um das genaue Gehör für den Ton, das Abstreifen aller möglichen Schutz- und Sympathieschilder. Alle Figuren, die ein Autor erschafft, haben etwas mit ihm selbst zu tun, denke ich. Und so steckt auch in dem Abgewandten etwas von mir als Mensch. Vielleicht mehr Sehnsucht als Tatsache, denn ich selbst bin ja mittendrin, umgeben von vielen, im Gespräch mit so manchem. Aber als Autor weiss ich, dass diese Welt des Aneinandervorbeiredens und Durchschauens nichts Bleibendes hat, dass all die Erfahrungen, die wir so machen, verpuffen wie Seifenblasen. Deshalb ist der Einzelgänger das ehrlichere Ego des Autors. In ihm kann er finden, was ihm selbst dem Augenschein nach fehlt: Die Einsamkeit. In diesem Sinne geht es in der Tat um Innenwelt, um das Gegenbild, die Umkehrung. 

Der Teppichmann entwickelt nach der ersten Begegnung mit der jungen Vertreterin eine fast obsessive Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung mit jener Frau. Und ausgerechnet ihr begegnet er auf seiner „Reise“ durch eine verlassene Welt. Bei jedem anderen Buch wäre ein solcher Zufall unglaubwürdig. Aber weil es in Ihrer Novelle nicht um einen Bericht mit maximaler Glaubwürdigkeit geht, sondern um Bilder, Dinge, die Geschichten erzählen, ist ein solcher Zufall erstaunlich nebensächlich. War die Absicht Ihres Schreibens am Anfang die selbe wie jene mitten im Schreibprozess?
Es war ein sehr langwieriger und durchaus auch schmerzhafter Schreibprozess. Mein Lektor, Tom Müller, vom Tropen-Verlag hat mich auf dieser Reise als strenger Kapitän begleitet. Es gibt bestimmt fünf verschiedene Fassungen von „zu zweit“. Ich habe das Gefühl, dass sich der Text immer mehr verdichtet hat, immer klarer wurde, worauf die Konzentration liegt – eben genau auf dem, was Sie beschreiben: Den Bildern, den Geschichten der Dinge, dem Wunder der Begegnung. Ich glaube, für diesen Text spielt das Kriterium der Logik oder realistischen Nachvollziehbarkeit keine Rolle – es geht ihm ja genau darum, auf das Unwahrscheinliche, Staunenswerte, Zufällige von Begegnungen hinzuweisen. Wieviele Menschen umgeben uns räumlich jeden Tag und wir lernen nie eine oder einen von ihnen kennen. Das ist doch das eigentlich Ungeheuerliche unserer Existenz: Nicht dass wir sterben, sondern dass wir leben und so viel an uns vorbeigeht, ohne dass wir es bemerken. 

Der Protagonist hatte sich in seinem Leben angewöhnt, die Dinge kurz um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie benutzt. Eine Angewohnheit, die unseren Umgang mit Dingen durchaus verändern könnte. Dass uns alles ungefragt zu dienen hat, könnte auch der Ursprung dessen sein, dass wir den Bezug zum Material, das wir brauchen, längst verloren haben. Steckt also doch etwas Anklagendes in Ihrem Buch?
Nein, nichts Anklagendes. Vielleicht eher eine Erinnerung daran, wieviel wir von dem, was uns angeblich Lebloses umgibt, profitieren. Die Vorstellung, dass all die Gegenstände und Naturstrukturen, mit denen wir leben nichts davon mitbekommen, was wir sind, denken, glauben und fühlen, ist doch absurd. Es muss sich in ihnen etwas sammeln und speichern von unserem Leben. Das tragen sie weiter. Und erzählen später einmal von uns. Ich stelle mir vor, dass die Dinge viel über uns reden. Nicht schlecht. Aber doch hin und wieder leicht verwundert – woran wir alles denken. Nur nicht an sie. Deshalb vielleicht die Erinnerung: „no ideas but in things“ (William Carlos Williams)

Katastrophenszenarien haben sowohl in der Literatur wie im Film eine lange Tradition. Ihr Protagonist scheint die eigentliche Katastrophe gar nicht so sehr wahrzunehmen. Es scheint eine menschliche Überlebenshilfe zu sein, Katastrophen relativieren zu können. Anders wäre es nicht erklärbar, dass wir unseren Alltag perfekt dem Schrecken der Gegenwart anpassen. Er sieht die Dinge, nicht das Woher und Warum. Selbst die Frage nach dem Wohin ist inexistent. Ist „zu zweit“ ein Spiegel der Zeit?
So wie Sie es beschreiben hat es tatsächlich etwas von einem Spiegel. Nicht das Woher und Warum und auch nicht das Wohin. Hauptsache das Jetzt. Das Hier. Das eigene Bild. Ich habe „zu zweit“ nicht als Spiegel unserer Zeit konzipiert, aber natürlich fliesst in jedes Schreiben das tägliche Sein und Fühlen mit ein. Und ich glaube eben, dass wir am Rand einer grossen Veränderung leben. Ich bin kein Adventist – und doch ahne ich, dass sich unser Lebenswandel, unsere Ordnung und unsere Vorstellungen noch einmal grundlegend ändern werden. Wie weit entfernt schien uns ein Krieg mit Panzern. Wie fiktional das Wegschwimmen ganzer Dörfer. Wie unvorstellbar eine Pandemie, die Milliarden Menschen bedroht. Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden. Mit meinem Schreiben an „zu zweit» habe ich versucht, mir das selbst vorzuführen und einzuschärfen. 

Simon Strauss, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm «Sieben Nächte» (2017) und «Römische Tage» (2019).

Beitrgsbilder © Maximilian Goedecke photography

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag

Es gibt eine Eintagsfliegenart aus der Gattung Ephemeroptera, die zwanzig Jahre als Larve im Schlamm verbringen kann, um dann für einen Tag Flügel zu bekommen. Die junge Rita im Buch der Bachmannpreisträgerin Ana Marwan ist weder hier noch dort, verpuppt in Lauerstellung. „Verpuppt“ lässt sich lesen wie ein Zustand dazwischen, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Traum und Tag, zwischen hier und dort.

Ich las das Buch zweimal, bevor ich es wagte, nur einen einzigen Satz darüber zu schreiben. Ich las es zweimal, um sicher zu sein und habe bei der erneuten Lektüre kaum an Sicherheit und Gewissheit gewonnen. Es war, als wäre ich stundenlang alleine vor einem riesigen Gemälde gesessen, um es zu ergründen, mit dem Resultat, dass scheinbare Einsichten immer wieder kippen, dass ich durch die ineinander fliessenden Perspektiven nie jene Sicht gewonnen hätte, die Klarheit verschafft. Aber vielleicht habe ich verstanden, dass es Ana Marwan eben nicht darum geht, eine stringente Geschichte zu erzählen. Sie will mich auch nicht unterhalten. Die Lektüre ihres Buches versetzte mich in einen elektrisierten Zustand, als müssten meine Synapsen permanent neue Verbindungen suchen, weil ich dem Roman mit meiner krampfhaft kausalen Sichtweise nicht gerecht werden kann.

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, 220 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7013-1302-0

Rita ist jung. Ritas Zustand ist jener der Larve im Sumpf. Verpuppt sieht sie ihre Welt nicht mit den Augen der Objektivität, sondern nach innen gerichtet – subjektiv. Ganz offensichtlich ist sie für unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung, regelmässig zu Gesprächen herbeigeholt, von TherapeutInnen ermunterst zu erzählen, aufzuschreiben, jene inneren Bilder in Worte zu fassen, nicht in erster Linie, um sie zu begreifen oder zu verstehen, mehr in der Hoffnung, auf Ordnungen zu stossen. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klinik, aber von einem «Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt», in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einem Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer, wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet. Ein Leben, das für mich als Leser ziemlich verwirrend erscheint. Rita ist gefangen in einem Zustand dazwischen. Ana Marwans Roman spielt mit den „Unwahrnehmungen“ dieses Dazwischens. Rita ist eine junge Frau, der die Realität abhanden gekommen ist, ohne dass das ein Verlust geworden wäre. Ana Marwan nimmt mich mit in den Irrgarten, das Labyrinth einer jungen Frau, die sich in den Zwischenräumen verloren hat.

Ana Marwans Roman erzählt von Ängsten, der „Angst, die menschliche Sprache zu vergessen“. Rita schafft sich in ihrem selbst erschaffenen Kosmos die Welt in ihrer Einsamkeit, eine Insel in ihren Ängsten. Vielleicht erzählt der Roman auch von den Ängsten der Autorin selbst. Aber alle Versuche einer Interpretation bleiben hängen, weil es der Autorin zu allerletzt darum geht, eine „ordentliche“ Geschichte zu erzählen.

Wie bei kaum einem anderen Roman macht es Spass, in der Rezeption darüber zu lesen, den mehr oder minder hilflosen Versuchen, den Roman verstehen zu wollen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es nicht so sehr um das Geschriebene selbst geht, sondern um dessen Wirkung. Ana Marwans Roman ist ein kunstvolles Verwirrspiel, als hätte sie ihn im Rausch geschrieben, im Wörterrausch. Der Roman ist gespickt mit bühnenhaften Szenerien, voller Sätze, die sich einbrennen, Wendungen, die mich als Leser vom Boden der Gewissheiten wegreissen.

Man muss für ein Abenteuer bereit sein und wird belohnt mit etwas Einzigartigen.

Das Original „Zabubljena“ (Ljubljana: 2021, Beletrina) wurde mit dem Kritiško sito 2022 als bestes Buch des Jahres 2021 in Slowenien ausgezeichnet.

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaftin Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin in Wien und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exilliteraturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem Kritiško sito 2022 für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2021 und dem Ingeborg- Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Im Oktober 2022 ist der TDDL-Siegertext „Wechselkröte“ als zweisprachige Ausgabe (D/SLO) im Otto Müller Verlag erschienen.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Lübeck; Slawist und Übersetzer (Studium in Hamburg und Sarajewo); seit 1973 Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt; Arbeitsschwerpunkt: südslawische Literaturen; zahlreiche Übersetzungen aus dem Slowenischen, Kroatischen, Bosnischen und Serbischen.

Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

Bert Strebe «Von dir, von mir», Lyrik zur Ausstellung mit der Keramikerin Ursula Bollack im Literaturhaus Thurgau

Für dich

 

du bist den ganzen weiten weg gekommen
mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen
und mit der eisenbewehrten scherbe
die du in deiner linken herzkammer verwahrst

ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten
und die schafwolldecke liegt bereit

der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern
lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen

ich wärme deine füße du trägst meinen ring

***

 

Für jeden einzelnen Tag

 

es gab keinen anfang und es gibt kein ende

du hast mich angeschaut und meine hand berührt 
ich habe wasser geholt für dich
wir haben geatmet 
wie am tag zuvor

und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter
und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag

du gehst deinen weg und ich gehe meinen
und keiner von uns geht vom anderen fort

***

 

Für unsere Eltern

 

zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre
zwischen den vätern zwei tagesreisen

sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt

sie haben uns unser alleinsein zugeteilt

und alles was das alleinsein heilt

jeden morgen noch vor der dämmerung
beugen sie sich über uns

dann gehen sie und trösten den traurigen tod
dass er sanft wird und schwebend wie schnee

***

 

Für unsere Kinder

 

wir haben federn unter ihre herzen gelegt
und ihnen felsen an die füße gebunden

wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen
und jede träne für sie vorgeweint

wir wollten sie nicht beschweren

aber wir haben es getan und sie sind gewachsen

sie haben in unserem atem geschlafen 
so lange bis es ihr eigener war

wenn sie die augen schließen sind wir da

***

Für Scott

 

er hat sich nach den ersten drei nächten 
sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt 
und hat es unter dem fußboden vergraben

von da an hat er mein weh getragen 
und ein stück von deinem

und als ich nicht bei mir war war er bei mir
und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen

wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da
und du wärst hinter den rippen wund

***

 

Für die Engel und die Frierenden

 

dies ist für die die millionenmal zuhören mussten
für die die von ferne gedichte geschickt haben
für die die balsam in den nachtwind gemischt 
und rote streifen an die wolken geklebt haben
dies ist für die engel

und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten
die bekommen ein lächeln

dies ist für die die da waren wo ich nicht war

dies ist für die die da waren wo du nicht warst

***

 

Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb

 

ich hätte ihn beinahe berühren können

aus seinen augen rieselte ruhe 
auf blatt und halm und borke und mich

einmal hob er die gelbe kralle 
da muss er die angst erwischt haben

dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen
und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen

doch er faltete die flügel und legte sie zurück
und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt

***

 

Für mich

 

dass ich immer blumen auf den tisch stelle 
dass ich eine kerze anzünde zum essen
dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage
dass ich das licht durch den tag wandern sehe
dass ich das leben achte 
auch meins
das habe ich von dir gelernt

und dass ich nicht mehr traurig bin
von mir

***

 

Für uns

 

komm wir gehen ein stück und schweigen

dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder

dann reden wir dann biete ich dir meinen arm 
und etwas später stehen wir 
und halten uns

dann ziehen die wolken und von diesem moment an
wohnt die sonne in dir in mir

jetzt können wir schlafen und wieder wach werden
und tanzen und zu hause sein

***

Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.

Webseite Bert Strebe

Ursula Bollack-Wüthrich (1967) arbeitet als Keramikerin und Lehrerin. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland.

Webseite Ursula Bollack

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche

Bleiben wir letztlich alle allein? Verspechen wir uns im Gefüge „Familie“ nicht viel zu viel? Katja Schönherrs Roman „Alles ist noch zu wenig“ erzählt aus dem „Kampfgebiet Familie“, von den Kollateralschäden permanenten Verdrängens und der Unfähigkeit, das Gegenüber zu akzeptieren. Ein Roman, der nichts beschönt!

Inge ist 84 Jahre alt und wohnt allein in einem Haus auf dem Land, in der ostdeutschen Provinz. Dass man sie fand, war dem Umstand zu verdanken, dass die Nachbarin Ulrike zwischendurch zum Rechten schaut. Oberschenkelhalsbruch. Inge liegt im Spital. Irgendwann wird sie zurückkehren müssen, in das Haus mit Treppe, zurück in ein Haus, das sie so für lange Zeit nicht halten können wird. Inge hat zwei Söhne, Jens und Carsten. Jens, zwei Jahre älter als Carsten, hat sich schon vor Jahren im Streit auf die andere Seite des Atlantiks abgesetzt, möglichst weit weg. Und Carsten lebt von seiner Ex getrennt in der Stadt und teilt das Sorgerecht für seine halbwüchsige Tochter.

Inge telefoniert Carsten. Sie braucht ihn. Auch wenn Carsten wie so oft eine Dienstreise vorschiebt, um dem zu entfliehen, was ihn an ein Leben kettet, dem er nicht wirklich entfliehen kann. Er lügt gegen seine Ex, seine Tochter Lissa, lästig werdende Liebschaften und seiner Mutter. Aber irgendwann steht er dann doch da, weil er der einzig Verbliebene ist und bringt seine Mutter zurück in ein Haus, das für Carsten zum Gefängnis wird. Zwischen ihm und seiner Mutter haben sich über die Jahrzehnte Mechanismen eingeschliffen, die nicht zu überwinden sind; sein permanent schlechtes Gewissen und ihre ewig schlechte Laune, sein linkisches Tun und ihre dauernde Unzufriedenheit.

„Mit Mutter zu reden, ist wie der Versuch, einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten: Nie kriegt man es richtig hin.“

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche, 2022, 320 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7160-2801-8

Carsten zieht während Lissas Ferien zusammen mit seiner Tochter ins Haus seiner Mutter, für ein paar Tage, höchstens einige Wochen. Weg von seiner Arbeit, einer Firma für Frischhaltefolien, einem perfekten Feindbild seiner zur Klimaaktivistin werdenden Tochter. Carsten spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzieht, eine Schlinge, die ihm den Atem nimmt, weil alles in seinem Leben zum Kampf geworden ist; die vergiftete Beziehung zu seiner handicapierten Mutter, zu seinem verlorenen Bruder, seiner hämischen Ex und seiner aufmüpfigen Tochter. Aber auch an seiner Arbeitsstelle spürt er eisigen Gegenwind. Erst recht jetzt, wo ihn seine Mutter zwingt, seinen Arbeitsplatz im Nirgendwo einzurichten, abgeschnitten von der Welt.

Was von Familie übriggeblieben ist, ist ein Trümmerfeld. Sein Bruder Jens haute damals ab, weil die Eltern nicht wahrhaben wollten, dass Jens anders war als die anderen Männer. Der Bruch seines Bruders damals war aber auch nur der letzte Schritt einer langen Leidensgeschichte, die sich auch in der Familie abspielte. Inge weiss um ihre Fehler, um ihre Schwächen. Carsten weiss es auch. Und Lissa spürt, dass nicht sie es sein kann, die die Felsbrocken und Trümmersteine ins Rollen bringt. Dass Carsten in seiner Verzweiflung und seiner beruflichen Not auch immer wieder die Hilfe der Nachbarin sucht, die mit einer sterbenden Mutter unter dem gleichen Dach genauso wenig vom Glück begünstigt wird, vertieft das Misstrauen zwischen Carsten und seiner Mutter Inge nur noch mehr. Nicht zuletzt darum, weil die Nachbarin einst ein Verhältnis mit ihrem Sohn hatte.

„Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf die Fähigkeiten, die sie angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitigs Verständnis versagt.“

„Alles ist noch zu wenig“ beschreibt eine innerfamiliäre Pattsituation. Einen Ausnahmezustand, ohne sichtbaren Ausweg. Ein Kampfgebiet, das durch keine Friedenstruppe entwaffnet werden kann. „Alles ist noch zu wenig“ stellt die Frage, ob man als Sohn oder Tochter verdammt ist, um jeden Preis seinen „hinfällig“ gewordenen Eltern zu helfen. Ob man als Mutter oder Vater das uneingeschränkte Recht hat, Hilfe einzufordern, koste es, was es wolle. Niemand wählt sich seine Familie selber aus. Wie schafft man es, sich aus einer solchen Situation zu schälen? Reicht es, vom Gegenüber eine Veränderung, einen ersten Schritt, ein Entgegenkommen zu erwarten?

Katja Schönherr erzählt mit viel Empathie und grossem psychologischen Feingefühl. Sie schildert nicht auf Kosten ihrer Figuren, im Gegenteil. Ich als Leser leide mit. Man wünscht sich bei der Lektüre förmlich, die Protagonistïnnen anstossen zu können. Ihnen allen fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, den ersten Schritt zu tun. Sie alle warten und harren, bis die Verwerfungen wie tektonische Platten Erdbeben verursachen. Sie alle stecken fest in ihrem Zorn.

Interview

Ihr Roman beschreibt auch den Knick innerhalb der Generationen. Inge wuchs in einer Zeit auf, in der es noch eine Selbstverständlichkeit zu sein schien, dass sich nachfolgende Generationen um die Verwandten kümmern. Inge sagt einmal „Wozu hat man denn Familie?“. Carsten und erst recht seine Tochter Lissa gehören der Generation an, die alles auf die Karten „Individualismus“ und „Selbstverwirklichung“ setzt. So wie Sippe einst eine Rückversicherung war, ist Familie heute bloss noch eine Form der Selbstverwirklichung?
Ich glaube, viele hadern damit, beispielsweise ihre pflegebedürftigen Eltern nicht selbst umsorgen zu können. Viele würden diese „Rückversicherung“ gerne sein. Aber die Lebensumstände machen es ihnen schlichtweg unmöglich: Man wohnt zu weit weg, man muss arbeiten, man zieht gerade die eigenen Kinder gross. Alle haben immer zu tun, niemand sieht Land in seinem Alltag.
Gleichzeitig sind die staatlichen Strukturen für die Versorgung bedürftiger Menschen alles andere als zufriedenstellend. Das Pflegepersonal ist zu knapp bemessen und unterbezahlt etc. 
Für Carsten ist klar, dass er seine Mutter nicht pflegen kann. Er ist dazu nicht bereit, und diese Abgrenzung steht ihm meiner Meinung nach auch zu. Aber er weiss auch, dass er das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter nie wieder loswerden wird.

In Inge und Carstens Geschichte liegen Eiterherde verborgen, die nie aufbrachen, für die man nie den Mut aufbrachte hineinzustechen. Eiterherde, die zu Entzündungsherden wurden. Jens, Carstens Bruder, hat Reissaus genommen. Ein Schicksal vieler Familien, in denen sich Töchter, Söhne, Mütter oder Väter für ewig verabschieden. Was würden Sie jungen Eltern raten, wenn die Sie fragen, was sie tun müssten, um nicht in den Sümpfen einer Familiengeschichte steckenzubleiben?
Ich bin da nicht die beste Ratgeberin;-) Ich stecke ja selbst noch mittendrin in diesem Vorhaben, mit meinen Kindern nicht in irgendwelche ungesunden Muster zu verfallen.
Ich reflektiere zwar viel, aber das heisst nicht, dass es mir jedes Mal gelingt, innerhalb meiner Familie so besonnen zu handeln und geduldig zu reagieren, wie ich es eigentlich gerne möchte.
Das Wichtigste – wie in jeder Beziehung – dürfte aber eine offene Gesprächskultur sein. In der jede und jeder sagen kann, was sie oder ihn stört, was sie oder er braucht. Ausserdem sollte man sich entschuldigen können. Und: Ständiges Beleidigtsein (wie es Inge in meinem Roman tut, einfach, weil sie es nicht anders gelernt hat) ist etwas, das keine Beziehung zum Besseren verändert

„Niemand willigt in seine Geburt ein. Es handelt sich also um keinen Deal, den beide Seiten vorab untereinander ausgehandelt hätten. Deshalb schulden Kindern ihren Eltern nicht mehr, als sie jedem andern Menschen auch schulden: Respekt.“ Das proklamiert Lissa ihrem Vater Carsten gegenüber. Eine klare Ansage. So klar die Ansage oder auch ihre Absicht dahinter ist. Begriffe wie „Respekt“ können aber äusserst schwammig interpretiert werden. Oder nicht?
An diesen Punkt kommt ja auch Lissa: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Was nützt es Lissas Grossmutter denn, respektiert zu werden, wenn gleichzeitig niemand in ihrem Umfeld bereit ist, so für sie zu sorgen, dass sie weiterhin daheim leben kann? Wenn alles darauf hinausläuft, dass sie in ein Heim muss, obwohl sie das überhaupt nicht will? Einen Wunsch, den wahrscheinlich alle nachvollziehen können.

Manchmal ruft meine Mutter an mit dem Kommentar, wenn ich nicht anrufen würde, dann müsse sie es eben tun. Ich gebe zu, ich rufe zu wenig an. Hier ein kleiner Funke permanent schlechten Gewissens, dort ein permanenter Funke leiser Enttäuschung. Ihr Roman erklärt nicht und will schon gar keinen „Lösungsweg“ präsentieren. Ihr Roman beschriebt und tut zuweilen weh. War das Schreiben ein Ordnen oder ein wilder Ritt ins Ungewisse?
Es war ein Ordnen. Ich wusste ziemlich genau, wo ich hinwill. Ich wollte diese drei Generationen (die 15-jährige Lissa, deren Vater Carsten und dessen Mutter Inge) nebeneinanderstellen. Wollte ihre Lebenswelten und Denkweisen zeigen, genauso wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Alle drei haben ihre Wünsche und Anforderungen, aber keine und keiner ist bereit, auch nur ein Stück davon abzuweichen. Kompromisse sind unmöglich.
Die Darstellung im Buch ist natürlich zugespitzt. Aber ich wollte damit aufgreifen, was ich gesamtgesellschaftlich beobachte: Dass jede Generation, jede Interessensgruppe nur an sich denkt, und das Aufeinanderzugehen immer schwieriger wird. 

„Alles ist noch zu wenig“ ist ein bestechend guter Titel. Wahrscheinlich hat Carstens Mutter in ihrem Leben alles gegeben. So wie Carsten. Sie wie seine Töchter Lissa es auch versucht. Bei den einen scheint es zu reichen. Bei den andern reicht es nie. Pech?
Der Titel war nicht meine Idee, sondern die des Verlags. Ich mag ihn auch und bin auch sehr glücklich damit, weil er für jede der drei Hauptfiguren steht. Für Inge ist es immer zu wenig Fürsorge, für Carsten ist es immer zu wenig Freiheit, und für Lissa ist es angesichts der Klimakrise und diverser internationaler Konflikte zu wenig Zukunftsperspektive.

Katja Schönherr, geb. 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman «Marta und Arthur» wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebüt nominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.

Beitragsbild © Suzanne Schwiertz

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese

Edith Gartmann hat mich mit ihrem Debüt tief beeindruckt. Ein Buch wie ein Bergkristall, der das Licht in alle Farben bricht. Ein Buch, das mit grosser Zärtlichkeit aus der Sicht eines Mädchens erzählt, der kaum jemand hilft, ihre noch kleine Welt zu entschlüsseln. Ein Buch, das man nach der Lektüre ans Herz drückt und gar nicht ins Regal schieben will.

Lisa ist zehn und lebt mit ihrem kleinen Bruder, ihren Eltern und ihren Grosseltern, die nicht weit von ihrem Haus wohnen und die sie oft besucht, in einem Tal in den Bergen, weit ab vom urbanen Leben, weit ab von den Annehmlichkeiten eines Lebens in materieller Sorglosigkeit. Ihr Vater führt den kleinen Hof, ihre Mutter versinkt immer wieder in Phasen tiefster Schwermut und irgendwann muss sogar die Grossmutter für ihre letzten Monate in die ungeheizte Kammer neben der Stube genommen werden. In Lisas Familie wird mehr geschwiegen als gesprochen. Fragen finden keine Antwort, weder beim wortkargen, distanzierten Vater, noch bei der so oft in sich versunkenen Mutter, die in einem abgedunkelten Zimmer manchmal tagelang in Ruhe gelassen werden muss.

„Was ist anstrengender, die Wahrheit wissen oder die Wahrheit vergessen?“

Nicht einmal der Fernseher, der in die Stube getragen wird, kann die Stille im Haus vertreiben. Eine Stille, die die Furcht, die Erklärungsnot der beiden Kinder nur noch verstärkt. Lisas einziger Lichtblick ist die Dorfschule, die Lehrerin, ihre freundliche Art und die Bücherkiste, die mit dem gelben Postauto ins Dorf, in die Schule, ins Klassenzimmer gebracht wird. Eine Kiste voller Bücher, die sich die Schulkinder ausleihen, die sie mit auf die langen Schulwege nach Hause nehmen dürfen, Lisa in ein Haus in dem das Ticken der Stubenuhr zum Dröhnen werden kann, in ein Haus, in dem es keine Bücher gibt, nur Geschichten, die wie düstere Ahnungen im dunklen Holz des Hauses eingeschlossen sind. In Büchern öffnet sich Lisa die Welt. Dort werden all die Geschichten erzählt, nach denen sie dürstet, die ihr höchstens der Grossvater erzählt, bei dem es aber immer nur das eine Thema gibt; die Jagd.

„Warum tönt leise manchmal so laut?“

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese, 2022, 96 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-65-9

Zu Weihnachten bekommt Lisa Schokolade, von einer Tante wieder zwei Silberlöffel und von den Eltern eine kleine Schmuckschatulle mit schwarzem Stoff ausgekleidet. Eine leeres Schächtelchen, das Lisa mit Fragen füllt, die sie auf kleine Zettel schreibt und mit dem kleinen Schlüssel, den sie um den Hals trägt, wegschliesst. Nach dem gleichen Weihnachtsfest, auf der Suche nach einer Vase für einen verfrühten Krokus findet Lisa die Weihnachtsplätzchendose, die ihre Mutter nicht mehr finden konnte, die sie versteckte, damit man sie vor dem Fest nicht finden würde. Hinter der Dose im Schrank mit dem Festtagsgeschirr war noch eine Dose. Eine Dose mit einer rosa Schleife, eine Dose mit Briefen, weggesperrten Briefen. Briefe an ihre Grossmutter, Briefe ihrer Grosstante, Briefe über ein früh gestorbenes Kind, einem Kind, das den gleichen Namen wie Lisa trug, einem Kind, das in keiner Geschichte in der Familie vorkommt, schon gar nicht in den Geschichten ihrer Grosseltern.

„Was das Schwierige ist, muss man nicht auch noch wissen.“

Lisa traut sich nicht. Und wenn sie Fragen so stellt, die sich ganz nahe an dieses früh gestorbene Mädchen annähern, beisst sie auf Stein. Der einzige, der wirklich mit Lisa spricht, ist ihr kleiner Bruder. Aber ausgerechnet ihm muss sie Antworten und Geschichten liefern, Erklärungen für all die Schatten, die das Licht wirft. Antworten auf ihre Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, findet sie keine. Der einzige Weg, das Tor zur grossen Welt aufzustossen, bleibt die Hoffnung, Antworten und Geschichten in Büchern zu finden.

„Schongebiet“ ist der Raum zwischen all den unbeantworteten Fragen, den Geheimnissen, dem Leben, das durch das Dunkel tappt. Edith Gartmanns Debüt ist von durchdringender Poesie. Was sie an Bildern evoziert, beeindruckt sehr und hat so gar nichts Unausgegorenes, das einem bei der Lektüre den Genuss trübt. „Schongebiet“ ist geradlinig erzählte, feinsinnige Prosa, die sich nicht am Effekt orientiert, die einem mit fast kindlicher Unvoreingenommenheit mitnimmt in eine Welt, die man als Erwachsener vergessen hat, die die Schriftstellerin Edith Gartmann mit Bildern noch immer mit sich trägt. Ich bin der Autorin unsäglich dankbar für dieses Buch!

Interview

Aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, ist heikel. Es gibt immer wieder AutorInnen, denen das nicht glaubhaft gelingt, ein Umstand, der einem Buch schnell den Glanz rauben kann. Dir gelingt das sehr gut. Nicht zuletzt deshalb, weil Lisa, das Mädchen in einer Welt lebt, die in ein grosses Schweigen eingehüllt ist. Sie stellt die Frage an sich selbst. Wie gelang es dir, jene unsichtbare Grenze nie zu überschreiten, die das Erzählen schnell unglaubhaft macht?
Frühere Fassungen des Textes standen in einer starken Aussenperspektive mit einer auktorialen Erzählerin. Es war dann gerade das Wagnis Ich-Perspektive, das mir half, Aufgesetztes und Unglaubwürdiges wie Belehrung oder Deutung auszumerzen. Wir nehmen jetzt sozusagen aus erstem Mund an Lisas Innenleben teil. Da dieses Innenleben, wie Du es auch erwähnst, zu einem grossen Teil innen bleibt, konnte ich es beim Schreiben besser schützen vor sprachlichen Anpassungen, vor Konvention oder Kitsch.
Ich denke, auch das Alter von Lisa spielt eine Rolle. Oft empfinden Kinder in diesem Alter das Wegbrechen «der magischen Jahre“ als Verlust, sie fühlen sich heimatlos, manche denken, sie seien bestimmt nicht das leibliche Kind dieser Familie. Lisa befindet sich in dieser Phase ihrer Entwicklung, in der sie einerseits noch stark eingebunden, anderseits aber aus der Ur-Kindheit heraus gefallen ist. Sie schaut bereits mit einem Aussenblick auf ihre Familie und kann nur noch in den Spielen mit ihrem kleinen Bruder zurück in die Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Vor diesem Hintergrund bekam ich Raum, auch Widersprüchliches in Lisas Innenwelt glaubhaft zu machen.

Hier die Familie ohne Erklärungen, ohne das Erzählen, wo sich die beiden Kinder selbst die Geschichten erfinden müssen, um das Schweigen auszufüllen. Dort diese Kiste in der Schule, die Lehrerin, der geheimnisvolle Nachbar mit seinem Ferienhaus voller Bücher oder der auf handliche Grösse zugerissene Klozettel aus einer Illustrierten mit einem Foto eines Bücherregals und der noch lesbaren Beschriftung „iftsbibliothek St. Gallen“. Lesen ist viel mehr als eine Kulturtechnik. Bücher sind viel mehr als Unterhaltungsfutter. Wer deinen Roman liest, wird mit Leidenschaft bestätigt. Aber was mit all jenen, die die Geheimnisse der Literatur nicht einmal erahnen?
Verloren für immer…nein, die Literatur ist ja nicht das einzige Tor zu Begeisterung, Identifikation, Gänsehaut, Überlebenswille, Teilnahme, Rausch. Da sind noch die andern Künste, vielleicht auch die Natur oder die Religion. Entscheidend ist, glaube ich, die Sehnsucht. Dann findet sich eines der Tore. Dass offenbar ein immer grösserer Teil unserer Gesellschaft dieses Sehnen und Suchen nicht mehr kennt, oder jedenfalls irgendwie an den Oberflächen haften bleibt, stimmt mich mit Blick auf die Zukunft schon pessimistisch.

Lisa lebt in einem beklemmenden Klima. Ein schweigsamer Vater, der allem aus dem Weg geht. Eine schwermütige Mutter. Auch die Grosseltern können die Tür nicht aufstossen, schon gar nicht der Fernseher. Lisa hat Kraft. Sie überlebt das Schweigen, baut sich ihr eigenes, kleines Glück. Glaubst Du noch immer an die Macht der Literatur?
Zumindest setze ich auf die Kraft des Schöpferischen. Aus dieser Kraft speist sich die Kunst, aber auch das kindliche Spiel, in beiden geht es, meine ich, stark um Hingabe und Freiheit. 
Das Beklemmende und Verlorene spielt sich in Lisas Familie vor allem auf der Beziehungsebene ab. Abgesehen davon sehe ich in ihrem Umfeld aber auch Stärken: das Leben mit den Jahreszeiten, die Rituale, selbst die begrenzte Welt im engen Tal können ihr Halt geben. Vielleicht tragen Spracharmut auf der einen und Naturreichtum auf der andern Seite dazu bei, dass Lisa die Macht der Literatur sucht und findet. 

Ein Bergroman, aber die Berge sind nicht aus Fels. Kein Heimatroman, ohne ein Fitzelchen verklärte Romantik, ein Stück Geschichte eines Mädchens, dem genau jene Heimat fehlt. Und doch sind deine Bilder archetypisch, erzeugen in mir Sepiafarben, als wäre die Geschichte aus tiefster Vergangenheit, als hätte die Gegenwart, die Moderne jenes Tal in den Bergen vergessen. Dein Roman umschifft mit grosser Virtuosität Klischees, Verklärung und Effekte. Entstand das intuitiv oder gab es bewusst Grenzen, die Du beim Schreiben nicht überschreiten wolltest.
«…die Berge nicht aus Fels», welch schönes Bild. 
Wie darauf antworten? Vielleicht so: Als Bergkind befrage ich meine persönliche Beziehung zur Bergwelt seit ich erwachsen bin. Ich kenne mich also zwischen Bergen, bei denen ich auf Granit beisse und Bergen, die ich zu Tobleroneschokolade mache (und allen Stufen dazwischen) ziemlich gut aus. Demnach leiteten mich bei diesem Bergroman wohl beide, Intuition und Bewusstheit.

Lisa stellt Fragen an die Welt. Fragen, die ihr niemand beantwortet. Sie sucht nach Antworten, die ihr verschlossen bleiben. All die Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, würden jede für sich Diskussionen füllen. Ist Dein Schreiben eine Form des „Nach-Antworten-Suchens“?
Ich glaube nicht, jedenfalls interessiert mich das Suchen nach Fragen mehr als das Suchen nach Antworten, gerade auch im Alltag.
Ich bewundere Freunde, Politikerinnen, Pädagogen oder Künstlerinnen, die zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage stellen. Eine solche Frage wirkt inspirierend und rollt den Teppich aus für die nächsten Schritte. Oft sind wir aber so lösungsorientiert unterwegs, dass wir das Fragen überspringen und gleich zur Antwort übergehen wollen.
Mein Schreiben erlebe ich eher als Befragung und nicht als Beantwortung. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn sich dabei für mich Teilantworten ergeben; besonders in der Befragung der Sprache selbst freue ich mich über jedes bisschen Antwort.

Edith Gartmann, geboren 1967, wuchs im Safiental, Graubünden, auf. Ausbildung am Kindergarten-Seminar Chur, anschliessend Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und England. Sie besuchte die neueKUNSTschule Basel mit Schwerpunkt Malerei und absolvierte den Literaturlehrgang der SAL Zürich. Edith Gartmann lebt in Basel.

Beitragsbild © Ayse Yavas