Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter v. Felbert

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes

Alles ist eine Frage der Zeit. Wohl auch das Ende der Menschheit. Dieses schmale, unscheinbare Buch, dass daherhommt, wie eines der unzähligen Katzenbücher, die sich auf Büchertischen ausbreiten, seziert mit messerscharfer Klinge und Spitze am noch lebenden Objekt. „Gegenangriff“ ist das Protokoll eines Untergangs.

Nadja Niemeyer ist ein Pseudonym. Angesichts dessen, womit mich die Schreibende konfrontiert, verstehe ist diesen Schritt. Sie wolle nicht an Debatten teilnehmen, habe dem Buch nichts hinzuzufügen. Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, vielleicht auch nur, um nach der Lektüre ihres Buches meine Fantasie zu beruhigen. Ihr Pamphlet hat nichts Beschwörendes, ist weder Drohung noch Warnung, vielleicht nicht einmal als Gedankenspiel zu verstehen. Nadja Niemeyer beschreibt mit aller verfügbarer Sachlichkeit nicht weniger als das baldige Ende der Spezies Mensch, das schnelle Ende eines Schädlings, der sich über die Jahrtausende wie ein Geschwür über diesen einen Globus ausbreitete.

Ameisen leben in riesigen Gemeinschaften. Wälder sind nicht bloss Ansammlungen von Bäumen und Gesträuch, sondern Pflanzengemeinschaften, die miteinander verbunden sind. Pilze ebenfalls. Wie irrig zu glauben, diese Art von kollektiver Intelligenz wäre der unsrigen weit unterlegen, zumal man beim Menschen in keiner Weise von einer kollektiven Intelligenz sprechen kann. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, hat durchaus das Zeug, das Gift für seinen Untergang zu werden. Die Geschichte und die Gegenwart macht überdeutlich, wie sehr die Menschen in den Würgegriff eines einzelnen Individuums geraten können, wie leicht die Intelligenz seiner Untergebenen in soldatischen Gehorsam ausgelöscht werden kann. Indizien gibt es genug, dass das Horrorszenario, das Nadja Niemeyer beschreibt, einen bedrückenden Anteil Wirklichkeit in sich trägt.

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes, 2022, 176 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-257-07183-2

Bis vor zweihundert Jahren waren es die Menschen, die sich in Städten einschlossen, um sich vor der Natur zu schützen. Besiedlung war ein Kampf gegen die Tücken der Natur. In der Gegenwart ist es die Natur, die man vor den Menschen und ihrer aggressiven Ausbreitung schützen muss, mit Stacheldraht und Mauern. Warum sollte sich der Rest, der geblieben ist, die kollektive Intelligenz, über die das Tier- und Pflanzenreich verfügt, nicht mit einem Mal kurzschliessen, um sich in einem finalen Kraftakt gegen jene Spezies zu stemmen, die alles unternimmt, um diesen Planeten für restlos alle und alles unbewohnbar zu machen?

Zuerst sind es die Ratten in den grossen Städten, zum Beispiel in New York. Es gibt Millionen von ihnen, kampferprobt. Sie zerbeissen Stromleitungen. Das genügt nicht nur, um das Leben in der riesigen Stadt zum Erlahmen zu bringen; die U-Bahn bleibt stehen, Menschen verhungern in Aufzügen, selbst Notstromaggregate können nicht verhindern, dass Menschen in Spitälern reihenweise sterben, auch das Internet regt sich nicht mehr. Alle Informationsströme sind gekappt, Panik bricht aus.

Ich glaube ebenso an eine kollektive Intelligenz der Natur wie an die grenzenlose Naivität und Dummheit der Menschheit. Solange wir mit einem SUV zum Einkaufen fahren, zum Shopping nach New York fliegen, Kleidungsstücke wie Souvenirs kaufen und unser Geld in Bitcoins investieren, statt in direkte Projekte, die sich um den Fortbestand eines friedlichen Miteinanders von Menschheit und Natur bemühen, solange der Mensch dem Untertan Natur noch mit dem immer gleichen Prinzip der Unterwerfung und Ausbeutung an den Kragen geht, sind Szenarien, wie denen von Nadja Niemeyer nur wenig entgegenzuhalten. Und wenn sich die Autorin durch ein Pseudonym vor all den Entschuldigungen, Beteuerungen und Verniedlichungen schützen will, verstehe ich das sehr wohl. Nichts desto Trotz ist „Gegenangriff“ absolut lesenswert, auch wenn das Buch mit den zwei niedlichen Kätzchen auf dem Cover das Zeug hat, sich in Alpträume zu mischen!

Die Autorin schreibt absolut sachlich, ohne jeden Pathos, schildert das Fallen der Dominosteine. Irgendwann wird es wieder ruhig auf dem Planeten, denn die eigentliche Ausrottung der Menschheit übernimmt der Mensch selbst – Männer.

Nadja Niemeyer heisst in Wirklichkeit anders. 

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt

„Buch der geträumten Inseln“ war sein furioses Debüt! Und nun liegt mit „Tanners Erde“ eine Novelle von Lukas Maisel bereit, der ich ein Heer von LeserInnen wünsche. Ein kleiner Hof im hügeligen Irgendwo. Und dann, mit einem Mal, tut sich die Erde auf.

Tanner ist Bauer. So wie es sein Vater war. Ein Kleinbauer irgendwo im Alpenvorland; ein paar Kühe, ein bisschen Getreide, immer Arbeit. So viel, dass es immer reichte für Marie und ihn. Vielleicht versteht Tanner seine Kühe besser als seine Frau Marie. Wenn das Vreni im Stall eine harte Zitze hat, weiss er genau, was es braucht, um der Kuh zu helfen. Aber gegen das stille Zusammensein mit seiner Frau, das alltägliche Einerlei des Alltags in Stube und Bett ist kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich wäre alles wie immer seinen Lauf gegangen, wenn eines Morgens der Kirschbaum in der Weide vor dem Haus nicht schief gestanden, wenn nicht in der Folge alles in Schieflage geraten wäre.

Huswil liegt abseits und Tanners Hof noch etwas mehr. Das ändert sich komplet, als sich in Tanners Weide über Nacht zwei Löcher öffnen, das eine gross, mehr als fünf Meter breit, das andere etwas kleiner. Zwei schwarze Löcher in Tanners Erde. Was sich da auftut, kann Tanner nicht fassen, denn das einzig Beständige waren bisher immer die Weiden und Wiesen, die Äcker und Hügel auf denen Tanner sein ganzes Leben verbrachte. Die Erde wankt nie. Und jetzt, mit einem Mal, von gestern auf heute, bricht sie weg, macht sich auf in schwarze Untiefen. Und über Löcher spricht man nicht, so wie man auch über die Löcher in Körpern nicht spricht.

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt, 2022, 115 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00308-1

Tanner sperrt die Wiese um die Löcher ab. In seiner Stube und im Schlafzimmer hat er das mit seiner Marie schon lange vorher getan. Auch wenn er sie noch immer liebt. Dabei hat der Frühling gut begonnen, galoppieren Tanners Kühe wie jedes Jahr wild springend auf die fetten Matten, nachdem sie während Monaten im halbdunklen Stall den Winter wörtlich durchstanden. Und nun? Tanner traut sich nicht einmal mehr, mit seinen Maschinen sein Land zu befahren, Gras einzuholen. Tanner traut sich auch nicht, Marie von seinen Löchern zu erzählen, nicht bloss von denen, die sich auf der Wiese auftun. 

Sind die Löcher Strafe? Tanner geht zur Polizei, Tanner geht in den Staubigen Esel, den Gasthof in Huswil. Tanner geht zum Pfarrer. Tanner geht zur Gemeindevorsteherin. Aber Tanner ahnt, dass er sich nur selber helfen kann. Irgendwann klingelt das Telefon, man habe da von Löchern auf seinem Grundstück gehört, ob man für einen Exklusivbericht zusammenkommen könne. Dann sind es Wissenschaftler, die sich abseilen lassen, die Messungen machen, dann ist es das Fernsehen, irgendwann sogar solche aus dem Ausland.

„Das Loch kommt aus dem Nichts, es ist ja selber ein Nichts: ein Nichts aus dem Nichts. Tanner wird fast schwindlig von so viel Nichts.“

Im Stall beginnen die Tiere zu hungern. Marie rückt immer weiter weg, weil Tanner nicht in Worte fassen kann, was mit ihm geschieht. Da sind die schwarzen Löcher auf seiner Wiese. Aber es öffnet sich auch ein schwarzes Loch in seinem Innern. Ein Loch, mit dem er ganz alleine bleibt. Ein Loch, das immer mehr alles Licht zu schlucken droht.

Lukas Maisels Novelle ist ein Juwel. Selten habe ich so zärtlich Erzähltes gelesen! Kein Schmalz, kein Kitsch, auch kein Gotthelf-Verschnitt. Lukas Maisel erzählt gradlinig, eindringlich, lässt viel Platz für die verschiedensten Lesarten und Interpretationen. Es öffnen sich Metaphern, die sich niemals anbiedern. Es ist nicht die Geschichte des armen Bauern. Aber die Geschichte von Sicherheiten, die mit einem Mal wegrutschen, die ein Leben unkorrigierbar aus den Angeln heben. Es ist die Geschichte eines Verlorenen, eines Gefangenen, den der Sog eines schwarzen Lochs in den Abgrund zieht.

„Er würde wohl kaum irgendwas anders machen, wenn er sein Leben noch mal leben könnte. Ausser vielleicht die Marie häufiger auf die Stirne küssen.“

„Tanners Erde“ ist der Beweis, das schwergewichtige Literatur nicht an der Anzahl Seiten gemessen werden kann. Diese Novelle liest man gerne immer wieder, weil unsäglich viel Güte darin liegt, sei es jene des Erzählers oder jene des verzweifelnden Bauern! Danke Lukas Maisel!

© Sandra Kottonau

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen ersten Roman «Buch der geträumten Inseln» erhielt er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau, den Förderpreis des Kantons Solothurn und zuletzt den Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Internationales Literaturfestival Leukerbad 2021

Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen

Fred ist deutsche Konsulin, ehrgeizig, taff und eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie ist beruflich dort, wo sie immer hinwollte, hat das erreicht, wovon sie immer träumte. Aber war es das wirklich? Zu welchem Preis? Lucy Fricke trifft pfeilgenau in das wunde Herz einer Frau, eines Lebens, eines Systems. „Die Diplomatin“ reisst den Vorhang weg!

Fred heisst eigentlich Friederike Andermann. Sie tut das, was bis vor wenigen Jahrzehnten noch fest in Männerhand war; sie ist Diplomatin. Sie studierte, dachte eine Weile, Richterin werden zu wollen, begann dann aber eine Diplomatinnenkarriere im Auswärtigen Amt. Ursprünglich aus der Idee, etwas bewirken, sich einbringen, an etwas Grossem teilhaben zu wollen. Aber diese Idee geriet schon länger ins Wanken. Nicht erst in Uruguays Hauptstadt Montevideo, ihrer ersten Stelle als Botschafterin.

Über Wochen muss sie sich im Hinblick auf das Fest zur Deutschen Einheit Anfang Oktober in Montevideo mit Grillfleisch, Bratwürsten, Gästelisten und anderen Kleinigkeiten herumschlagen. Sicher auch deshalb, weil sie sehen muss, wie andere Frauen Mütter werden und sie einsam. Und als dann noch eine bekannte Verlegerin aus Deutschland anruft und von ihr verlangt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, weil sie seit 24 Stunden keine Nachricht mehr, keinen Post von ihrer Influencertochter erhalten habe und sich das Verschwinden nach ihrem Zögern als eine Entführung entpuppt, wird aus der Enge, in der sie sich fühlt, eine schlammig zähe Masse. Nachdem die junge Frau tot aufgefunden wird, sich das ganze zur Katastrophe mit unabsehbarem Ende auswächst, suhlt sich Fred in Schuldgefühlen, die ihr von niemandem genommen werden können. Bis sie versetzt wird, zuerst zurück nach Deutschland, später in die deutsche Botschaft in Istanbul.

Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen, 2022, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-546-10005-2

Aber so mondän die Räumlichkeiten und Einrichtungen der dortigen Botschaft sind, die Türkei hat sich unter dem jetzigen Präsidenten zu einem repressiven Staat entwickelt, dessen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Völkergemeinschaft und Europa ganz andere sind, als jene, die in Freds Seele noch immer als Idee herumschwirren. Istanbul, eine Stadt, die Fred gleichermassen liebt, fasziniert und überfordert. Wie ihre Arbeit.

Irgendwann taucht Barış (türkisch die ‚Versöhnung’) ein deutsch-türkischer Student auf, der seine Mutter in einem der türkischen Gefängnisse besucht. Jene Mutter geriet wegen Nichtigkeiten ins Visier der türkischen Polizei, wurde verhaftet und ohne Anklage und Verhandlung eingesperrt. In eine überfüllte Zelle, gezeichnet von den Strapazen, von mangelnder medizinischer Betreuung. Barış will seine Mutter frei, will Gerechtigkeit. Aber sein Besuch für die Mutter bringt keine Erleichterung. Auch er wird Ziel des türkischen Sicherheitsapparats, muss untertauchen, sich verstecken. Für Fred beginnt ein heikler Tanz auf Messers Schneide, ein Konflikt, den sie nicht nur auf diplomatischer Ebene verloren sieht, ein Konflikt, der ihr mit schmerzlicher Deutlichkeit zeigt, wie wenig Macht zur Veränderung nicht nur in ihren Händen liegt.

Dass Lucy Fricke ihren Roman zum grössten Teil in der türkischen Hauptstadt spielen lässt, dass sie Istanbul nicht bloss zu einer pittoresken Kulisse macht, dass sie glasklar zeigt, wie die Macht des türkischen Kontrollstaates eine Atmosphäre der Angst und permanenten Bedrohung erzeugt, dass hinter all den Fassaden aus Schein und Lügen Repression herrscht, ist mutig. Ich glaube kaum, dass Lucy Fricke, die mehrere Monate im Land und in dieser Stadt verbrachte, je wieder unbehelligt die Grenze wird überqueren können.

„Die Diplomatin“ ist ein Roman über eine Frau, die mitten in ihrem Leben ernüchtert und desillusioniert feststellen muss, dass jenes Leben, dass sie führt, jener Beruf, in dem sie zu wirken versucht, kaum mehr etwas davon hat, wovon sie einstmals träumte. Hoffnungen sind verschwunden, Leidenschaft erkaltet. Ein Kampf, den alle in ihrem Leben ausfechten müssen, Erkenntnisse, die allen drohen, unabhängig von Geschlecht, Stand oder Beruf. Was bleibt von den Idealen, die man einst wie Leuchtfeuer durch sein Leben trug? Wie schafft man es, dass jenes Feuer nicht erlischt? Auch die Sehnsucht nach Erfüllung und Liebe!

Lucy Frickes Roman ist mutige Literatur!

Interview

Ihr Roman lässt sich in verschiedene „Richtungen“ lesen. Zum einen ist es der Roman über die Ernüchterungen einer Frau, nicht nur in ihrer Arbeit, auch mit ihren Beziehungen, nicht zuletzt mit der Liebe. Und dann ist es auch ein Roman, der sich mit der Diplomatie direkt auseinandersetzt, wie sehr einem die Hände gebunden sind. Aktuell scheint es die Diplomatie noch schwieriger zu haben. Man verhandelt zwar irgendwie, aber im Ukrainekrieg sprechen beide mit einem Vokabular, dass vor 80 Jahren schon einmal Konjunktur hatte und mit Diplomatie rein gar nichts mehr zu tun hat. Ängstigt Sie das auch?
Es ist Angst gepaart mit Ohnmacht, die denkbar schlechteste Kombination. Wir, die wir nicht Macht haben, die grossen Entscheidungen zu treffen, können nur im Kleinen tun, was immer uns möglich ist. Humanitäre Unterstützung in jeder Form. 

Ein grösserer Teil Ihres Romans spielt in der türkischen Hauptstadt, in der Sie mehrere Monate verbracht haben. Eine Stadt, in die man sich genauso verlieben wie verlieren kann. Eine Stadt mit pittoresker Kulisse, fest im Klammergriff eines rigiden Alleinherrschers. Ihr Roman nimmt kein Blatt vor den Mund. Befürchten Sie, in Zukunft nie mehr in die Türkei einreisen zu können?
Nie mehr, das würde ich nicht sagen. Auch dieser Präsident wird nicht ewig an der Macht bleiben. Aber den nächsten Sommer werde ich sicher nicht in Istanbul verbringen, das ist ein kleines Opfer im Vergleich zu dem, was den Figuren im Roman und so vielen Menschen in der Türkei widerfährt. 

Fred fürchtet sich als Diplomatin permanent vor Fehleinschätzungen. Eine Furcht, die auch mich zuweilen lähmt. Wer weiss schon, welche Entscheidung die richtige ist. Diese Furcht schleicht sich bis in ihre Gefühlswelt, wenn sie nicht weiss, ob sie ihnen trauen kann. Mein Schwiegervater war ein Leben lang Bauer. Er meinte einmal, als ich mit ihm auf dem Feld bei der Aussaat mitfuhr, nichts garantiere ihm eine gute Ernte. Haben wir Instinkt und Urvertrauen verloren?
Vielleicht sind wir generell vorsichtiger geworden, oder auch umsichtiger. Meine Hauptfigur Fred hat dazu jeden Grund, ihre Entscheidungen und Einschätzungen betreffen das Leben anderer direkt. Das ist ein Fakt und kein Gefühl. Vertrauen ist schwierig, wenn Gespräche abgehört werden, Überwachung und Geheimdienst allgegenwärtig sind. Sie ist in ihrer Position einsam geworden, wie es oft einsam ist an der Spitze. Sie kann nie wissen, ob sich ihr Gegenüber für sie oder für ihre Funktion interessiert. Bevor sie Entscheidungen trifft, sammelt sie Informationen, sie muss permanent die politischen und menschlichen Konsequenzen ihres Tuns bedenken. Eine Diplomatin sollte nicht in erster Linie ihrem Instinkt vertrauen, aber sie darf in ihn auch nicht verlieren. Darin liegt eine grosse Herausforderung.  

Die Gefängnisse auf der ganzen Welt sind mit Menschen gefüllt, die zu unrecht eingesperrt sind. Meist sind wir im scheinbar kultivierten Westen gezwungen, dies zähneknirschend hinzunehmen, auch wenn Unrecht und Willkür offensichtlich sind. Sie nehmen ein Schicksal stellvertretend in ihren Roman. Ein Schicksal, das ein „gutes“ Ende findet. Hätte es nicht ebenso viele Gründe gegeben, die „Befreiung“ scheitern zu lassen?
Noch vor dem ersten Satz war mir klar, dass dieses Buch mit Hoffnung enden wird. Hoffnung, die daraus entsteht, dass Menschen sich engagieren. Denn daran glaube ich, und es hat mich wirklich glücklich gemacht, während meiner Recherche solchen Menschen zu begegnen. Anwälte, Künstlerinnen, Journalisten und eben auch Diplomatinnen, die nicht aufhören zu kämpfen. Irgendwann kommt immer ein Sieg dabei heraus, und auch wenn es nur ein einzelner sein mag, ist dieser eine alles wert.  

Hat Fred den Glauben an die Wirkung ihres Handelns nicht verloren? Und glauben Sie an eine positive Wirkung der Literatur?
Ich habe neulich gehört, dass mein Roman, in Verbindung mit Briefen an das Gericht, dazu beigetragen haben könnte, die drohende Abschiebung eines kurdischen Paares zurück in die Türkei zu verhindern. Sie wären nach ihrer Einreise dort direkt inhaftiert worden. Im besten Fall ist es so, dass Literatur den Blick auf die Welt oder auf einzelne Schicksale verändert und schärft. Wenn man sich mit diesem Anspruch ans Schreiben macht, hat man, glaube ich, einen guten Kompass für seine Arbeit.  

Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman «Töchter» erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.

Beitragsbilder © Gerald von Foris

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp

Wissen Sie, wer sie sind? Wirklich und tatsächlich? René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ erzählt von einem Mann der ohne äussere Einflüsse von einem Moment auf den andern sein Gedächtnis und damit seine Identität verliert. Ein irritierender Roman über den Trott.

Irgendwann auf Hallers Weg von der Arbeit nach Hause ist Haller Haller abhanden gekommen. Er sitzt im Zug und wacht auf, ohne zu wissen, wer er ist. Er stellt fest, dass er im Schnellzug von Zürich nach Bern sitzt, beginnt in seinen Taschen zu kramen, sucht nach Hinweisen dessen, was alle andern mit Selbstverständlichkeit mit sich herumtragen. Auf Ausweisen findet er seinen Namen, sein Alter, irgendwann sogar eine Anschrift. Es ist Abend, der Zug voller Menschen, die sich ihren Feierabend herbeisehnen, die bloss ankommen wollen. Haller ist sich nicht sicher, ob er ankommen will und kann. Ob er jenes Leben, das er aus unerklärlichen Gründen im Zug nach Bern verlor, wiederfinden will und kann. Irgendwie findet er den Weg an den Ort, der sein Zuhause sein soll, den Namen einer Strasse und eine Hausnummer, die ihm nichts sagt. Er findet das Haus, das Stockwerk, die Wohnung, die Tür, die nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit dem Namen einer Frau beschriftet ist. Seine Freundin? Seine Frau? Sandra Zuberbühl.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ kann man als Gedankenspiel katalogisieren. Kann man. Aber in einer Zeit, in der nicht nur Demenz zunehmend eine gesellschaftliche Herausforderung wird und über Fälle von Amnesie immer offener geschrieben und gesprochen wird, in der man sich immer häufiger die Frage stellt, ob man der oder die ist, die oder der man sein will, in der Diskussionen über Identitäten beweisen, wie brüchig einstige Klarheiten geworden sind, wundert es nicht, dass sich ein Roman wie der von René Frauchiger ganz direkt mit der Frage auseinandersetzen, wer die Person ist, die einem morgens aus dem Spiegel entgegenschaut. Wir haben uns mit uns selbst arrangiert. Die meisten Menschen stellen sich kaum je die Frage, wer oder was sie sind. Ob sie nicht auch anders hätten sein können. Ob das, was ihr Leben ausmacht auch wirklich so sein muss.

Da tastet sich jemand in ein Leben hinein, in dem alles bis ins kleinste Detail eingerichtet ist. In ein Leben, in dem alles fixiert zu sein scheint, in dem aber der Herausgefallene feststellen muss, wie folgenlos die Tatsache bleibt, dass man als vollkommen fremd Gewordener in ein Leben einsteigt, das man Schritt für Schritt zurückerobern muss, dessen Bindeglied zum alten Leben einzig und allein der Körper geblieben ist, jenes Gefüge, das von der Umgebung als Haller identifiziert wird.

Während Haller in sein altes Leben zurücktappt, stellt sich immer dringender die Frage, ob jenes Leben, das ihn zurücknimmt, jenes ist, das er wiederaufnehmen will, sei es an seiner Arbeitsstelle, zuhause in der gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin oder mit dem klein gewordenen Freundeskreis. Haller schwankt. Will er? Muss er? Nicht einmal seine „Freundin“ Sarah scheint zu merken, dass Haller nicht mehr der ist, der er war. Ist Entfremdung Normalität? Reicht die Hülle, um ein Funktionieren zu garantieren? Man beteuert sich gegenseitig die Liebe. Man erwidert Erwartetes am Arbeitsplatz und unter „Freunden“. Warum bleibt man in der Spur, obwohl man spürt, dass man in einer Sackgasse gefangen ist.

René Frauchigers überraschender Roman ist nicht bloss ein Gedankenspiel. Der Autor stellt Fragen, die man sonst vermeidet, die nicht gestellt werden wollen, weil man sich vor Konsequenzen fürchten müsste, weil wir alle in Netzen gefangen und verstrickt sind, weil wir uns nicht trauen, Hallers Fragen zu stellen.

„Ameisen fällt das Sprechen schwer“ ist ein kluger Roman. Solange wir uns in der Kolonne bewegen, solange wir unfähig sind, aus der Reihe herauszutreten, solange fällt uns das ehrliche Sprechen tatsächlich schwer.

Interview

Menschen bilden sich einiges ein auf ihre angebliche Individualität. Letztlich ein ziemlich breites Feld, um reichlich Geld zu verdienen. Peter Haller macht sich auch ohne das, was ihn einst ausmachte, ganz gut in seiner Welt, bis ins gemeinsame Schlafzimmer mit seiner Freundin. Bilden wir uns da wirklich was ein?
Peter Haller hat sein Gedächtnis verloren und macht einfach weiter, eigentlich müsste sich ja sein Leben durch den Gedächtnisverlust grundlegend ändern, er müsste jemand völlig anderes werden. Nur lässt sein Umfeld eine solche Veränderung gar nicht zu.
Wir kennen das eher aus der umgekehrten Situation, wenn wir alleine verreisen, haben wir oft das Gefühl, jemand anderes sein zu können, weil diese Erwartungen, die unsere Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter, Freundinnen, Freunde an uns haben, wegfallen.
Aber auch eine solche Ferien-Veränderung funktioniert meist nicht recht – oder wird zur grossen Enttäuschung, ein Stück unseres Alltags nehmen wir ja immer mit. Aber was bleibt dann noch von dieser «Individualität»?

Ameisen und viele andere Tiere funktionieren nur im Kollektiv, so wie viele andere Lebensgemeinschaften. Die Lebensgemeinschaft Menschheit allerdings macht sich ziemlich flott auf hin zum Abgrund. Optimist oder Pessimist?
Aber funktioniert das Kollektiv der Ameisen wirklich? Für die Geschichte ist die «Ameisenmühle» wichtig: Ameisen folgen Pheromon-Spuren, um Nahrung zu finden. Diese Spuren wurden zuvor von anderen Ameisen gelegt. Problematisch wird es nur, wenn eine Ameise im Kreis läuft und auf ihre eigene Spur stösst. Wenn sie dieser nachläuft, bewegt sie sich noch einmal im Kreis, verstärkt die Pheromon-Spur, so geraten andere Ameisen wiederum auf die Kreisspur und so weiter, bis Tausende von Ameisen sich in einem Kreis bewegen und schlussendlich verhungern. Das ist die Ameisenmühle. Was häufiger passiert als man glaubt. Ja, so gesehen ist das Buch äusserst pessimistisch…

Peter Haller erkennt sich mit einem Mal nicht mehr wieder, nichts, nicht einmal sein Spiegelbild. Ist sich René Frauchiger stets sicher bei dem, was er im Spiegel sieht? Zumindest bei mir schleichen sich angesichts dessen, was ich in den Spiegeln der Menschheit sehe, einige Zweifel ein.
Es gibt die deutsche Redewendung «jemandem den Spiegel vorhalten», das heisst, ihn mit den Dingen konfrontieren, die er tut. Und man sagt, jemand könne wohl nicht mehr in den Spiegel schauen – wenn er/sie etwas Schlimmes getan hat.
Ich denke jedoch nicht, dass es so einfach ist. Selbsterkenntnis funktioniert gerade nicht über den Spiegel. Im Gegenteil, die schlimmsten Diktatoren verbringen sehr viel Zeit damit, vor dem Spiegel ihre Haare zu richten. Aber was müssten wir den Diktatoren aber dann vorhalten, wenn nicht den Spiegel?

In der Mitte Deines Romans steht Er hatte herausgefunden, wer er war. Tun wir das wirklich oder beruhigen wir uns nur mit einem Konstrukt, einer dünnen Folie?
Nein, Peter Haller hat nicht wirklich herausgefunden, wer er war. Aber es könnte sein, dass er eine Spur gefunden hat …

Dein Roman ist nicht nur ein Buch über das Rätsel der eigenen Identität, sondern auch ein Roman über eine Beziehung, über die Frage, was es denn ausmacht, dass man über Jahre, Jahrzehnte oder gar ein ganzes Leben an der Seite eines anderen bleibt. Ist eine Langzeitbeziehung wie jene zwischen Haller und seiner Freundin nicht einfach Resultat vielfach liebgewordener Gewohnheiten?
Wie gesagt, der Roman ist von seiner Grundstruktur her sehr pessimistisch. So ist auch Hallers Beziehung nicht mehr als eine Oberfläche, sie besteht nur aus dem, was man in dem Spiegel sehen könnte. Ich selbst bin hier noch immer der unverbesserliche Romantiker. Nichts ist stärker als die Liebe – nicht einmal der Alltag.

René Frauchiger, geboren 1981 im schweizerischen Madiswil. Lebt in Basel. Er ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, die in diversen Zeitungen und Literaturzeitschriften erscheinen, sowie Gründer und Mitherausgeber von «Das Narr. Das narrativistische Literaturmagazin» (seit 2011). 2016 wurde er mit dem Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur Basel ausgezeichnet. 2019 erschien der Roman «Riesen sind nur große Menschen» im homunculus Verlag.

Webseite des Autors

Sabine Scholl «Die im Schatten, die im Licht», Weissbooks

In Sabine Scholls Roman „Die im Schatten, die im Licht“ begleite ich neun Frauen durch die Wirren des letzten Weltkriegs. Ich las den Roman mit angehaltenem Atem, weil meine Lesart es nicht verhindern konnte, deren Schicksale mit jenem all jener zu verknüpfen, die in der Ukraine zwischen§ Panzer und Raketen geraten. In „Die im Schatten, die im Licht“ schreibt Sabine Scholl nicht über die Bösen und die Guten, sondern über Opfer, Opfer der Geschichte und ihrer selbst.

Wir lernen in der Schule über Kriege, lesen Bücher, sehen Dokumentationen, Filme. Und doch bleibt einem auf ewig fremd, was all jenen geschieht, die miterleben müssen, die ausgeliefert sind, die in irgend einer Weise zu Opfern werden. Wir sehen es in den Nachrichten, im Internet, in Zeitungen, aber es bleiben Bilder, stumm oder bewegt. Selbst dann wenn sie mir den Schlaf rauben, wenn sie mich lähmen, mir in meiner scheinbaren Sicherheit ins Gesicht schlagen.

Es mag jene geben, die fragen: Warum ein solches Buch? Warum immer noch eines? Es mag jene geben, die sich der Lektüre verweigern mit dem Argument, man habe schon genug darüber gehört. Viel lieber liegen wir auf einem Liegestuhl in der Sonne mit Aussicht auf einen See und lassen die Seele baumeln. Man müsse ihn geniessen, den Frieden. Dabei ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Selbstverständlichkeit geniessen und für uns beanspruchen doch eigentlich nur der Fähigkeit zu verdanken, den Schrecken möglichst weit ausserhalb unseres Bewusstsein zu verbannen.
Genau das will und kann Sabine Scholl nicht. Sie weiss, dass man es immer wieder benennen, dass man Zeugnis ablegen muss, jetzt erst recht, wo die letzten jener Generation sterben, die damals als Opfer den Schrecken zu erleiden hatten.

Sabine Scholl «Die im Licht, die im Schatten», Weissbooks, 2022, 352 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-86337-193-7

Sabine Scholl nimmt die Schicksale neun ganz unterschiedlicher Frauen, die der Krieg in die innere Emigration, zu fataler Anpassung, in eine Scheinwelt, ins Exil, in den Widerstand oder einfach ins tapfere Ausharren treibt. In vier Teilen Unheil 1938/39, Krieg 1941, Widerstand 1944, Testamente 1946 zeichnet sie das Leben jener, die nicht nur im Schatten des Lichts oder Schatten der Geschichte stehen, sondern in fataler Abhängigkeit einer vollkommen dominierender Männerwelt gerieten, sei es jene der Agitatoren des NS-Regimes, der Alliierten, sei es der einfache Soldat, der Abwesende oder Zurückgekehrte, der offene und versteckte Handlanger, all jener Männer, die mit Leben bezahlten, weil sie sich nicht einbinden lassen wollten.

Dabei bedient sich Sabine Scholl genauer Recherchen. So ist die Figur der Prinzessin Huberta, die sich stets als Auserwählte sah, selbst in den US-Internierungslager, in Zeiten der Entnazifizierung der Biografie von Stephanie von Hohenlohe entlehnt. Sie erheiratete sich ihren Adelstitel und wurde 1938 von Goebbels und Hitler als neue Gastgeberin ins Schloss Leopoldskron berufen, das Max Reinhardt, dem Begründer der Salzburger Festspiele mit seiner Flucht in die USA von den Nazis geraubt wurde. Oder die französische Schauspielerin Arletty, die in den Jahren vor dem Krieg zu einem Star avancierte, der man aber ihre Liebe zu einem deutschen Offizier als Kollaboration anlastete und die nach dem Krieg langsam in Vergessenheit geriet. Als Francine in Sabine Scholls Roman kämpft die verwöhnte Schauspielerin, stets ihrer Wirkung bewusst, als gnadenlose Opportunistin ihren Kampf gegen alles, was ihr zu schaden droht. Daneben die Namenlosen, die in Sabine Scholls Roman einen Namen bekommen. Wie die während des Krieges arbeitslos gewordene Schneiderin Gretel, die aus Hunger und Verzweiflung auf eine Annonce reagiert und sich zur Aufseherin ausbilden lässt, um stramm und stets korrekt mit greller Stimme und gezückter Peitsche ihren Kampf gegen unwertes Leben zu führen, auch nach dem Krieg sich keiner Schuld bewusst. Oder Rosi, die im steirischen Aussee Villen putzt, zuerst in den Diensten jüdischer Kaufleute, KünstlerInnen, später im Dienst jener, die sich diese Häuser im Laufe der Arisierung unter den Nagel rissen. Rosis Leben wird gezwungenermassen das einer Widerstandskämpferin, nur schon um am Leben zu bleiben.

Sabine Scholls Protagonistinnen sind alles andere als Heldinnen. Die einen sind Opfer im Licht, die anderen im Schatten. Der Focus lag lange genug auf den „HeldInnen“ der Geschichte. Sie sind wie wir, die wir von uns doch nie und nimmer behaupten könnten, in vergleichbarer Situation heldenhaft zu handeln.
Beeindruckend an dem Roman ist auch, dass es Sabine Scholl gelingt, das Dokumentarische literarisch zu gestalten, dass die Autorin den neun Frauen auch neun verschiedene Stimmen, Tonarten gibt. Ein wichtiges Buch! Und weil sich Sabine Scholl dessen so sehr bewusst ist, ist nichts, aber auch gar nichts an diesem Buch Fiktion.

Interview

Ich habe über die Jahre mehrere Literaturkreise gegründet, in denen man über gelesene Bücher diskutiert. Beim Bestimmen einer neuen gemeinsamen Lektüre mache ich immer wieder die Erfahrung, dass sich viele durchaus engagierte LeserInnen sträuben, Literatur, Bücher über den letzten Weltkrieg zu lesen. Immer und immer wieder mit dem Argument, man habe schon in der Schule genug darüber gehört. Können Sie das nachvollziehen?
Ich selbst habe in der Schule kaum etwas darüber erfahren. In der ländlichen Umgebung, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur Schweigen. Vielleicht erklärt sich der Überdruss der Leserinnen daraus, dass viele Erzählungen vom Krieg sich ähneln. Dass die Schauplätze sich gleichen. Und dann meint man, eh alles zu wissen. Deshalb wollte ich Perspektiven finden, die unbeschrieben waren, Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren, Geschichten, die willentlich oder auch unwillkürlich gelöscht wurden. Und tatsächlich war mein Forschen nach weiblichem Erleben während des Kriegs veranlasst durch Erzählungen von aus Syrien Geflüchteten. Da habe ich die Perspektiven von Frauen vermisst und fragte mich in der Folge, was eigentlich die Frauen in Gegenden, die ich gut kenne, während des Zweiten Weltkriegs gemacht hatten, welche Handlungsspielräume es für sie gab.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es sind neun Frauen, neun ganz verschiedene Schicksale. Jedes Schicksal hätte genug Stoff geliefert, um einen Roman zu schreiben. Aber die Vielstimmigkeit ihres Romans gibt ihrem Buch eine ganz eigene, besondere Note. Wie kamen sie genau zu diesen neun Leben? Und warum nicht sieben oder zwölf?
Anfangs stiess ich auf eine Notiz über eine Aristokratin, die im Roman Vera heisst und der eine wahre Geschichte zugrunde liegt. Aus dem über sie recherchierten Material ergab sich die Frage nach Frauen, die anderen gesellschaftlichen Schichten angehörten, wie etwa meine Grossmütter, die als Mägde auf Bauernhöfen arbeiten mussten. So entwickelten sich nach und nach neue Notwendigkeiten, aus denen Forschungen erwuchsen und in der Folge weitere Frauenfiguren. Ich musste dann irgendwann aufhören, weil ich so viele spannende Geschichten fand, zwei Figuren musste ich sogar streichen, weil der Roman noch einigermassen übersichtlich bleiben sollte. Und so wurden es halt neun.

Dass im Vorsatz Ihres Romans je ein Zitat von Inge und Sophie Scholl steht, kann kein Zufall sein. Erklären Sie, warum?
Wenn man diesen Nachnamen trägt, wird man immer wieder mal auf etwaige Verwandtschaftsbeziehungen angesprochen, die es, soweit mir bekannt ist, nicht gibt. Ausserdem ist Sophie Scholl sozusagen zur Stellvertreterin weiblichen Widerstands geworden. Ihre Erzählung verdeckt damit sehr viele andere wichtige weibliche Helferinnen im Kampf gegen das Nazi-Regime. Ich bin ja dafür, die Definition von Widerstand zu weiten, weg vom Bild des Kampfes mit der Waffe als einzige Möglichkeit, sondern die Miteinbeziehung von sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten, wie etwa im Roman die Figur der Rosi. Und das war im Zitat von Inge Scholl enthalten.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es ist ganz leicht, über Menschen zu urteilen. Genau das tun sie nicht. Was wir sind und was wir werden, ist oft erklärbar, oft auch nicht. Das eine Verbindende aller dieser neun Schicksale ist der Umstand, dass sie alle ihr Leben auf die ein oder andere Weise selbst in die Hand genommen haben. Auf ihre Art Widerstand war es bei allen, auch wenn dieser nicht in die Schublade Widerstand passt. Ist Schreiben ein genau solcher dehnbarer Widerstand?
Genau, ich wollte nicht aus einem Abstand von mehreren Jahrzehnten den moralischen Zeigefinger erheben. Denn, wer weiss, wie wir uns in derartigen Situationen tatsächlich verhalten hätten. Deshalb zeige ich verschiedene weibliche Strategien, ohne über sie zu urteilen. Traudi z.B. zieht sich in eine Traumwelt zurück, Vera geht darin auf, für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen, Francine will an die Liebe, die alle Grenzen überwindet, glauben, usw. Und egal, welche Themen ich in meinen Romanen behandle, diese Mehrstimmigkeit ist mir wichtig. Menschen verschiedener Positionen sollen vorgestellt werden, und aus diesem Zusammenklang ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das auf Schwarz-Weiss-Denken verzichtet. In diesem Sinne ist mein Schreiben als widerständige Arbeit gegen das allwissende und autoritäre Erzählen zu verstehen.

Wir nähen alle unser Kleid selber. Wir hätten es in der Hand. Es ist also das Licht, dass die Farbe ausmacht, nie der Stoff selbst?
Hm, in dieser Frage werden die Metaphern des Kleides und des Lichts zusammengebracht. Das ist diffizil. Da ich die Tochter einer Schneiderin bin, kann ich mit Bestimmtheit sagen, nein, wir nähen uns nicht alle die Kleider selber, sondern lassen sie auch nähen oder kaufen sie fertig von der Stange. Aber Kleider dienen mir in meiner Literatur sehr wohl dazu, Menschen ein Stück weit lebendig zu machen. Da ich mich viel mit weiblichen Geschichten beschäftige, die oft nicht tradiert, nicht aufgeschrieben oder gelöscht wurden, greife ich auf derart sinnliche Gewissheiten zurück, um die vielen Lücken zu füllen. Mithilfe solcher Details bringe ich ihre Geschichten ans Licht. 

Sabine Scholl, 1959 in Grieskirchen (A) geboren,  hat in Wien studiert und lebte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Nach ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtete sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. Für ihre Romane und Essays hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie 2018 und den Oberösterreichischen Landespreis für Literatur 2020. Seit 2019 lebt und arbeitet sie wieder in Wien. 2021 erschien ihr Essay «Lebendiges Erinnern – Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird».

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uta Tochtermann

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller

Eine Kleinstadt am See will nach dem verlorenen Krieg nur ihre Ruhe. Aber eine Buchhändlerin, eine Fremde, eine Zugezogene mit ihren MitstreiterInnen stemmt sich gegen die Starre, gegen die alten Nazis, die sich hinter einer neuen Ordnung verstecken.

Was sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als ein 1000jähriger Eiszeitgletscher über ganz Europa ausbreitete, war nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 nicht einfach weg. Eine von einer Rasse getragene Maschinerie der Unterdrückung, Gewalt und institutioneller Vernichtung löscht sich nicht mit einem Wisch ins Nichts. Hätten sich die Köpfe, die sich mit der Idee des Endsiegs, der Dominanz einer arischen Rasse, eines Grossdeutschen Reiches imprägnierten, nur ein paar Mal schütteln müssen, um sich von verinnerlichten Denkmustern zu trennen?

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ beschäftigt sich mit Schicksalen in den zwanzig Jahren nach dem Krieg. Mit dem langsamen Abtauen, dem stetigen Durchsickern jenes kontaminierten Schmelzwassers in einem Deutschland der Besiegten, der Verwundeten, der Abgesägten, der ewig Gestrigen. „Schmelzwasser“ ist die Geschichte einer Kleinstadt am Bodensee. Unverkennbar Überlingen, das nach dem Krieg in Schockstarre am liebsten in langes Vergessen versinken möchte, sich nur ja nicht konfrontieren will mit dem, was während Jahrzehnten der glorreiche Beginn einer tausendjährigen Ewigkeit hätte werden sollen. Der eigentliche Protagonist in Patrick Tschans neuem Roman ist diese kleine Stadt, ein Städtchen, das exemplarisch für viele Städtchen steht, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller, 2022, 336 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-99200-330-3

Im Frühling 1947 steigt die Buchhändlerin Emilie Reber aus einem Linienschiff in der Kleinstadt am Bodensee. Voller Tatendrang eröffnet sie mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht in den Gassen der Altstadt eine Leihbücherei mit Antiquariat und Buchhandlung. Mit Büchern, die während der Nazizeit nicht gelesen werden durften, Bücher über die Nazizeit… Bücher, die helfen, zukünftig mit Rückgrat zu leben mit tausenden von Büchern aus der von Heinrich Mann in Paris gegründeten Freiheitsbibliothek. Emilie Reber, die in den Reihen der Resistance mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpfte, hat ihre Waffe nach dem Untergang der Schreckensherrschaft noch längst nicht an den Nagel gehängt. Nur die Waffe selbst ist eine andere geworden. Sie stellt sich dem modrigen Schmelzwasser, das alles durchdringt, das scheinbar friedliche und ruhige Städtchen am idyllischen Bodensee zu einem morastigen Sumpf werden lässt.

Kaum eröffnet, siegt die Neugier. Und natürlich sind die ersten die Schriftsteller, die in den Regalen nach ihren Büchern suchen, die meisten enttäuscht, weil ihre Bücher, geschrieben in der Zwischenkriegszeit oder im Schweif der Naziideologie, in der Auswahl Emelie Rebers ihren Platz in ihrer Buchhandlung nicht verdienen. Aber Neugier allein füllt die Buchhandlung nicht mit Kundschaft. Es harzt. Man scheint keine Lust zu haben, sich mit den Auslagen der Buchhandlung provozieren zu lassen. Man will nach den Jahren des Krieges seine Ruhe. Es soll erst mal Gras über die Sache wachsen. Aber Emilie Reber will nicht. Sie findet Verbündete; Fräulein Ilse, die den frivolsten Friseursalon Süddeutschlands eröffnet, Hildegard Zahnlaub, die in ihrem Laden zuerst bloss unter dem Tisch Artikel aus dem Beate-Uhse Sortiment verkauft und echte amerikanische Jeans der Marke Levi. Die Frauen treffen sich regelmässig zu einer Flasche Chablis und besprechen ihre Strategien zur Unterspülung, jene der Aufklärung und Reflexion. Mitstreiter wird Ignaz Franck, ein Heimatloser, einer, der sich am liebsten in einer Ecke des Buchladens aufhält, weil dort alles ist, was man ihm genommen hatte. Und Ignaz Franck schreibt.

Obwohl dem Buchladen immer mehr Kundschaft die Treue erklärt, die Karteikartensammlung Emilie Rebers, auf der sie die Eigenschaften ihrer Kundschaft notiert immer umfangreicher wird, hat das Gespann arg zu kämpfen gegen all jene, die sich in ihrem Innersten nach der verlorenen braunen Ordnung zurücksehnen. Immer wieder kommt es zu offenen Bösartigkeiten, bis eines Nachts sogar ein Schuss fällt. Aber Emilie Reber lässt sich nicht klein kriegen. Die, die Bücher liebt, liebt die Wahrheit, die Konfrontation, die Offenheit. Was in ihrem Buchladen beginnt, breitet sich immer mehr in den verkrusteten Strukturen eines verschüchterten, verwundeten, verstörten Nachkriegsstädtchens aus. Selbst die alten Nazis, die noch immer ihre Gefolgschaft zu mobilisieren verstehen, werden mit dem Geist einer „neuen deutschen Welle“ aus Literatur, Musik und Lifestyle aus ihren Löchern gespült.

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ ist ein höchst unterhaltsames und gekonnt erzähltes Sittenbild mit cineastischer Wirkung. Was sich in dem kleinen Städtchen am Bodensee ereignete, ist stellvertretend für einen Kontinent, der aus der Starre erwacht.

Patrick Tschan liest aus seinem Roman im Literaturhaus Thurgau am 24. November 2022!

Interview

Ein Faszinosum deines Romans „Schmelzwasser“ ist seine Beispielhaftigkeit. Sei dies nun im Rückblick auf die Zeit nach einem Krieg, nach dem Zusammenbruch einer alles dominierenden Ideologie oder im Ausblick auf all das, was noch kommen wird, wenn die aktuellen Diktaturen (zumindest vorübergehend) ihr Ende finden. Oder den ewigen Kampf zwischen Verweigerung und Konfrontation. War das auch eine der Intentionen beim Schreiben deines Romans?
Ideologien jeglicher Couleur sind immer ein Graus. Früher oder später werden ihre Exponenten intolerant und diktatorisch, da sie davon ausgehen zu wissen, wie das Glück der Menschen zu gestalten ist. Die einen sind mörderischer, andere weniger in ihren Methoden. Gehen sie zu Ende, hinterlassen sie „grosse Löcher“ und Orientierungslosigkeit. Da müssen sich die Menschen zuerst mal wieder zurechtfinden. Am einfachsten ist dies bei den „alten Ideen“, einer Verklärung der Vergangenheit (Putins Zarenzeit, Österreich anhaltender Kaiserkult). So sprangen viele im Deutschland der Nach-Nationalsozialismus-Zeit wieder ins gesellschaftliche Korsett der Kaiserzeit zurück. Dieses Gemisch aus Verklärung, nicht zurückweisbarer Schuld und Hilflosigkeit (Löcher) führte zu diesem Mief, dieser Verkrustung, diesem Schweigen, von dem mir viele Zeitzeugen berichteten.

Obwohl du den Namen des kleinen Städtchens am Bodensee nie nennst, ist Ortskundigen schnell klar, dass die Kulisse Überlingen beschreibt. Das muss mehr als Zufall sein. Was an deiner Geschichte ist Historie?
Macht Euch auf Spurensuche …

Drei Frauen und ein Mann stemmen sich gegen die verkrusteten und verhärteten Strukturen, die im Hintergrund einer Bodenseeidylle jede offene Auseinandersetzung zu verhindern versuchen, die sich mit letzter Kraft an alten Bündnissen zu halten versuchen. Auch die Gegenwart ist durchsetzt mit reaktionären Kräften, sei es in der Klima-, Integrations- oder Finanzpolitik. Würde uns nicht ein gutes Stück mehr Frauenpower näher an die Lösung vieler Probleme bringen?
Mehr Frauenpower bestimmt, keine Frage. Aber mit der nötigen Toleranz und auch fachlichen Kompetenz. Da schliesse ich alle Seiten (auch Männer) mit ein. Nicht einfach Quoten und Oasen, sprich unzählige Fachstellen schaffen. Das hilft auf Dauer auch nicht.

„Schmelzwasser“ aus einem dicken Gletscher, der nur ganz langsam schmelzt. Der Gletscher Nationalsozialismus hätte ja 1000 Jahre über Europa liegen sollen. Aber auch die drei Frauen bringen mit ihrem Kampf ewiges Eis zum Schmelzen, wagen sich dafür aber ziemlich weit aus ihrer Komfortzone. Sind wir eine Gesellschaft der Feiglinge geworden, die angesichts der Zeichen, die überdeutlich lesbar sind, zu keinem Kampf mehr bereit sind?
Bei meinen Figuren steht ihr Kampf um ihr privates Glück im Vordergrund. Das setzte damals wie heute einen unabhängigen Geist voraus. Gerade damals wurden die Frauen nach dem Krieg wieder ins zweite Glied gedrängt, nachdem viele durch den Krieg ganz andere Fähigkeiten an sich entdeckt haben, welche plötzlich nicht mehr gefragt waren. Das hat bei vielen Frauen zu Depressionen (Valiumkonsum USA, Frauengold als antidepressive Alkoholika in Deutschland) geführt. Meine Figuren wollen nur das private Glück, aber das weckt Widerstände und gegen die lohnt sich allemal zu kämpfen. Und dieser Kampf lässt sich nicht mit Gendersternchen führen. Dazu müsste man zuerst mal zu sich selbst finden und das Handy mal weglegen.

Emilie Reber ist mir über alles sympathisch. Eine Frau, die für ihre Überzeugung kämpft, wenn nötig gar mit mehr als „nur“ ihrem Verstand. Sie liebt Bücher, rettet die Bestände der Freiheitsbibliothek, die Heinrich Mann zusammen mit anderen in Paris zusammentrug. All jene Bücher, die die Nazis auf dem Scheiterhaufen ihrer Ideologie verbrannten. Dein Roman ist voller Querverweise, in die man sich verlieren kann. Was kann Literatur?
Ich glaube, Literatur kann enorm viel und gleichzeitig nichts. Viel, bei den wenigen die sie erreicht, nichts bei den vielen anderen. Nun, die Literatur hatte damals noch einen ganz anderen Stellenwert, da ein Buch, eine Geschichte, noch nicht mit derart vielen und unterschiedlichen Medien und Erzählformen in Konkurrenz standen. Ich glaube Emilie Reber spürt instinktiv, das die Zerstörung der deutschen Literatur eine unwiderrufliche Zäsur darstellt. Da nützt auch die Rettung der Freiheitsbibliothek nichts. Darum öffnet sie sich auch, weil sie ahnt, dass das, was sie möchte, das Aufbrechen des Eises, Literatur niemals alleine leisten kann, sondern die Literatur nur im Bund mit anderen Kunst- und Lebensformen (Mode, Musik, Freigeist, Erotik etc.) den Staub auf den Seelen der Menschen fortblasen kann.

Patrick Tschan, geb. 1962 in Basel, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie, war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Autor zahlreicher Essays und Kolumnen. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller- Fussballnationalmannschaft. Nach Keller fehlt ein Wort», «Polarrot», «Eine Reise später» und «Der kubanische Käser» ist «Schmelzwasser» ist sein fünfter Roman.

Vormerken: Patrick Tschan liest am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr aus „Schmelzwasser“ im Literaturhaus Thurgau!

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Wichtige Stimmen am 26. Internationalen Literaturfestival Leukerbad: Zum Beispiel Adania Shibli mit «Eine Nebensache»

Ein Literaturfestival soll zur Auseinandersetzung einladen. Das diesjährige Literaturfestival in Leukerbad tat es – zuweilen emotional. Aber ein Literaturfestival soll auch überraschen. Adania Shibli tat es mit ihrem Roman „Eine Nebensache“. Ein schmaler Roman mit viel Gewicht!

Sie hätte so viel falsch machen können. Tat sie aber nicht. Ganz im Gegenteil. Adania Shibli ist Palästinenserin und schreibt Arabisch. Ihr erster auf Deutsch erschienener Roman „Eine Nebensache“ erzählt von einer Gräueltat, die im Sommer 1949 von israelischen Soldaten an einem beduinischen Mädchen begangen wurde – einer Gruppenvergewaltigung, einem schrecklichen Mord an einer jungen Palästinenserin.
Es hätte eine späte Racheschrift werden können, eine blutige Anklage, ein Enthüllungsroman. Doch Adania Shiblis schmaler, hoch konzentrierter Roman ist ein Kunstwerk. Aber auch ein Fingerzeig, ein Mahnmahl. Erst recht heute, wo ein alles dominierender Krieg alle anderen Kriege und Konflikte zur Nebensache macht. Erst recht heute, wo die Folgen von Krieg und Gewalt, all die Opfer zur Nebensache werden, weil das Gefühl des Bedrohtseins, die Angst vor globalen Folgen jedes einzelne Schicksal zu einer Nebensache werden lässt. Erst recht, weil es nur ein Mädchen war, die an ihr begangene Gräueltat ein Zwischenfall. 

Als Folge der Staatsgründung Israels im Mai 1948 wurden über 700 000 PalästinenserInnen aus ihrer Heimat, aus Palästina vertrieben. Eine angebliche Rückeroberung für all die Siedler, die sich in der Kargheit jener Gebiete, in denen Palästinenser über Generationen als Beduinen lebten, ansiedelten und einen modernen Agrarstaat errichteten. Einem Gebiet, aus dem man ein Volk, das in den Augen ihrer Besatzer minderwertig erschien, verdrängte. Ausgerechnet von Menschen, die während einer Dekade Nationalsozialismus alle vorstellbaren Schrecken erleiden mussten.

Adania Shibli «Eine Nebensache», Berenberg, 2022, aus dem Arabischen von Günther Orth, 116 Seiten, CHF 29.50, ISBN 978-3-949203-21-3

Ein Gruppe Soldaten, die ein Gebiet in Negev zu sichern hat, tötet eine Gruppe Beduinen und verschleppt das einzige überlebende Mädchen. Man sperrt sie ein, reisst ihr die Kleider vom Leib, schruppt ihre Haare mit Benzin, schert sie, vergewaltigt sie der Reihe nach in einer Hütte, schleppt sie in die Wüste und tötet sie wie ein verletztes Tier.
Ein Vierteljahrhundert später macht sich eine junge Palästinenserin nach der Lektüre eines Zeitungsberichts auf die Suche nach Informationen. Eigentlich nur deshalb, weil sich das Vierteljahrhundert genau mit ihrem Geburtstag schneidet, dadurch eine Verbindung entsteht, der sich die Erzählende nicht mehr entziehen kann.

Was die bestechende Qualität dieses Romans ausmacht, ist weder das Thema noch das erzählte Verbrechen, ein Plot. Auch nicht die Suche nach den Spuren oder den Ursachen. Adania Shibli erzählt in zwei Perspektiven. Im ersten Teil rein beschreibend über den einen Soldaten, den Vorgesetzten jener Soldatengruppe. Im zweiten Teil vom Versuch der jungen Erzählerin durch all die territorialen Hindernisse an jene Orte zu gelangen, die ihr die Geschichte erzählen könnten. Im ersten Teil schlüpft die Erzählperspektive nicht einmal in die Innenwelt jenes Soldaten. Das macht aus dem Tun des Soldaten eine fast glatte Erzählfläche, die alles der Leserin/dem Leser übergibt. Selbst die Tat, das schreckliche Geschehen unter den Soldaten, der Mord ganz am Schluss – alles nur beschreibend erzählt, als wäre die Innenwelt Nebensache – was sie auch werden muss angesichts des Schreckens. Der zweite Teil, die Suche der jungen Frau Jahrzehnte später, beschreibt die Lebenswelt einer Palästinenserin, kaum nachvollziehbar für mich als Europäer. Ein in Sektoren eingeteiltes Land, durch Checkpoints und scharfe Kontrollen zerrissen. Eine Welt, die die Normalität zur Nebensache werden lässt.
Und in beiden Teilen des Romans spiegeln sich Bilder des jeweils andern Teils; Ängste, ein Hund, Spinnen, ein Mädchen.

Adania Shiblis Roman schleicht sich ins Unterbewusstsein, beschreibt die Seelenlosigkeit von Menschen in Uniformen, die Seelenlosigkeit eines Landes im permanenten Ausnahmezustand. Und nicht zuletzt stellt der Roman Fragen, wichtige Fragen!

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. «Eine Nebensache» ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, die englische Übersetzung war für den ­National Book Award (2020) sowie für den ­International Booker Prize (2021) nominiert. Adania Shibli lebt in Palästina und Deutschland.

Günther Orth, geboren 1963 in Ansbach, studierte in Erlangen Islamwissenschaft. Sprachstipendien führten ihn nach Ägypten und Syrien, es folgte ein Übersetzerabschluss Arabisch in Leipzig. In seiner Magisterarbeit und später in seiner Dissertation schrieb er zur modernen Erzählliteratur Syriens und des Jemen, wo er jeweils lebte. Er arbeitet heute in Berlin und weltweit als Übersetzer und Konferenzdolmetscher für Arabisch.

Robert Bussmann & Peter Weibel, zweimal 75 Jahre Leben, zweimal 40 Jahre Literatur!

Das Literaturhaus Thurgau lädt die beiden Dichter Rudolf Bussmann und Peter Weibel zusammen mit ihrer Verlegerin Judith Kaufmann zu einem Geburtstagsabend ein. Ein Feiertag für alle drei Gäste und ein Feiertag für die Literatur!

Rudolf Bussmann und Peter Weibel feiern in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag. Beide sind von Literatur durchtränkt. Beide schreiben Romane, Erzählungen, Gedichte. Und weil ihr Verlag, die edition bücherlese, heuer ihr 10jähriges Jubiläum feiert, waren dies Gründe genug, um mit Literatur und Gespräch Rudolf Bussmann, Peter Weibel und Judith Kaufmann zu feiern.

Beide Dichter, werden sowohl Passagen aus ihrer Prosa lesen wie Gedichte, die in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben wurden. Gemeinsam mit der Verlegerin Judith Kaufmann tauchen wir in den Kosmos zweier Dichter ein, denen die Leidenschaft für Literatur eine breite Spur ins Leben zeichnet.

Ein paar Stimmen:

«Ungerufen»: Hier versammelt Rudolf Bussmann an die hundert Gedichte, die in sechs Abteilungen eine breite Vielfalt an lyrischen Formen präsentieren. Der Autor lässt sich ganz auf Bilder ein, die ihm ungerufen begegnen. In der Stille erreicht ihn nur leise das Nachklingen des alltäglichen Lärmens. Gemeinsam ist diesen Gedichten eine poetische Beweglichkeit, die unterschwellig immer auch eine leise Melancholie verrät. Trotz und Demut heben sich gegenseitig auf. Der Autor hält sich, wie es einmal heisst, an all das, was ihm beim Anfassen zerfiel.
Beat Mazenauer in Viceversa 14

«Ein Duell»: Eingebettet in die Auseinandersetzung zweier Schweizer Freunde beschreibt Rudolf Bussmann auf ebenso erschütternde wie zurückhaltende Weise die letzten Lebensmonate der DDR-Autorin Irmtraud Morgner, mit der er selbst liiert war und deren Werk er postum herausgegeben hat.
Charles Linsmayer

«Der Schmetterling schläft»: Peter Weibel hat sich stets des Menschen und des Lebens angenommen. Die Worte, die er in seinen Büchern wählt, wirken wie heilende Hände. Seine Sprache ist wie Poesie, sie schafft wunderbare Bilder und ist von einer Poesie und einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Dieter Langhart, St. Galler Tagblatt

«Schneewand»: Ein intensives Lektüreerlebnis, das mit kraftvollen Bildern existenzielle Fragen aufwirft.
Babina Cathomen über Peter Weibel, Kulturtipp

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: „Das andere Du“ Roman (2017), „Ungerufen“ Gedichte (2019), „Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land“ (2021) und «Der Flötenspieler» (1991/2022). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. 2019 «Schneewand«, 2021 «An den Rändern» und im kommenden Herbst die Erzählung «Akontos Berg». Peter Weibel lebt in Bern.

Die edition bücherlese wurde 2013 von Judith Kaufmann gegründet und verlegt überwiegend belletristische Werke von Schweizer AutorInnen. Als junger Verlag veröffentlichte die edition bücherlese in den letzten Jahren einige Debütromane, etwa von «Knochenlieder» von Martina Clavadetscher oder «Balg» von Tabea Steiner, aber auch Bücher von bereits etablierten Schreibenden wie Rudolf Bussmann oder Peter Weibel. Der Verlag ist seit 2018 in Luzern beheimatet. Blick in den Verlag (video, youtube)

Rudolf Bussmann «Der Flötenspieler», edition bücherlese

In „Der Flötenspieler“ geht einer weg, haut ab. Etwas, was man in der Gegenwart manchmal gerne tun würde, wenn es denn eine Chance gäbe. Thomas Waller tut es, mit fast nichts, ausser seiner Flöte und einer Vergangenheit, die sich nicht mehr mit der Gegenwart koppeln lässt. Ein Roman für AbenteurerInnen!


Rudolf Bussmann, Dichter, Romancier, Übersetzter, Herausgeber und Literaturvermittler feiert heuer seinen 75. Geburtstag. Rudolf Bussmanns Leben ist Literatur. Er ist keiner jener, die sich in ihrer stillen Kammer zurückziehen und nur dann an die Öffentlichkeit treten, wenn ihre Literatur im Fokus steht. Nichts gegen ein spitzweg’sches Dasein, nichts gegen Schreibende, die sich ganz auf ihr eigenes Tun konzentrieren (müssen). Rudolf Bussmann schreibt nicht nur Gedichte, Erzählungen und Romane, er schreibt sich mit seinem Engagement auch in die Herzen jener, die ein Gegenüber brauchen, das zuhört und versteht. Sei es als Moderator an der BuchBasel oder am Internationalen Lyrikfestival in Basel, sei es in der Lyrikgruppe Basel um Alisha Stöcklin, Claudia Gabler, Simone Lappert, Ariane von Graffenried und Wolfram Malte Fues, in der man sich regelmässig trifft, die Lyriktage vorbereitet, kuratiert und jedes Jahr den von der GGG Basel gestifteten Basler Lyrikpreis vergibt.

«In ein paar Jahren, wenn die Alten weg sind, haben wir nur noch Leute, wie wir sie brauchen, durch und durch eingespielt in die Elektronik. Zuverlässig wie die Programme.»

Rudolf Bussmann «Der Flötenspieler, edition bücherlese, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906907-57-4

Anlässlich seines 75. Geburtstags brachte sein Verlag edition bücherlese seinen 1991 bei Luchterhand erstmals erschienenen Roman „Der Flötenspieler“ erneut heraus. Ein Geschenk an den Schriftsteller, aber viel mehr an LeserInnen, denen der Zugang zu diesem schillernden Roman verwehrt geblieben wäre, hätte der Verlag den Mut nicht gehabt, dem Roman noch einmal eine Tür zu öffnen. „Der Flötenspieler“, ein gleichermassen geheimnisvoller, prophetischer und poetischer Roman.

Thomas Waller, verheiratet mit Mathilde, arbeitet bei der Perduta-Versicherung, eben umgezogen ins Limbus-Haus, einen gläsernen Palast, minothaurisch verwinkelt. Limbus, im Volksmund auch „Vorhalle“, Sitz einer Versicherungsgesellschaft, die Rationalisierung und Effizienz zur obersten Maxime macht und hinter Hochglanzfassaden seinen ArbeitnehmerInnen selbst dann ein Lächeln abringen will, wenn es rein gar nichts zu lachen gibt. Auch Thomas Waller hat nichts zu lachen. Die Enge am Arbeitsplatz schlingt sich immer heftig um ihn, schlägt auf seine Gesundheit, bis er abtaucht und verschwindet, nicht nur von seiner Arbeitsstelle, sondern auch aus seiner Ehe, die wie seine Arbeit zu einem Gefängnis wurde. Er verschwindet im Jura, im Wald, einem kleinen Dorf, in einem Hotel, das nicht wirklich offen für Gäste scheint, in einem kleinen Kosmos. Etwas, was er aus seinem alten Leben mitnimmt, ist seine Flöte, ein Instrument, dass in der Vergangenheit einst eine grosse Hoffnung in sich trug.

«Der Hass läuft ins Innere der Gesellschaft und frisst die Liebe aus ihr weg.»

Rudolf Bussmanns Geschichte ist in der Zeit nach der Tschernobyl-Katastrophe angesiedelt. Waller führt Tagebuch und jene, die sich nach seinem gänzlichen Verschwinden auf die Suche nach Waller machen, finden diese Bücher. Auch die Polizei, die einen Suizid nicht ausschliesst, aber trotz Nachforschungen keine Beweise offen legen kann, beschäftigt sich mit Wallers Verschwinden. Die Tagebücher zeigen einen sensiblen Mann, der sich durch Tschernobyl, zunehmende Umweltsorgen, den Kämpfen am Arbeitsplatz und den Verlust seiner Liebe zu seiner Frau immer mehr in eine Zwischenwelt verliert. Heute würde man bei Waller wohl von einem Burnout sprechen, damals, in den 80er, schien es ein solches nicht zu geben.

Das minotaurische Labyrinth im Limbus-Haus an seinem Arbeitsplatz spiegelt sich auch im Leben des Protagonisten. Waller findet nicht heraus. Und wenn, dann nur durch die bedingungslose Flucht. Einfaches Leben scheint nicht mehr möglich. Das Leben hat sich zu einer Vorhalle verwandelt. Eine Ansicht, die angesichts dessen, was momentan auf unserem immer kleiner werdenden Planeten an Aktualität nur gewonnen hat. Aber es ist nicht so sehr das Labyrinthische in Wallers Leben, das an „Der Flötenspieler“ interessiert und fasziniert. Es ist das Labyrinthische an der Geschichte selbst. Der Roman selbst ist ein Labyrinth, das mich als Leser immer und immer wieder zu einem Innehalten zwingt. Faszinierend, wie Geschichte und Sprache schillern und oszillieren. Rudolf Bussmanns Roman ist von kafkaesker Kraft, überzeugt mit Bildern, die ausmachen, was Menschsein bedeutet; Geheimnisse.

«Um lieben zu können, muss man eine Zukunft vor sich haben.»

Waller flieht nicht nur vor seinen Aufgaben, er flieht auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: «Das andere Du» Roman (2017), «Ungerufen» Gedichte (2019), «Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land» (2021). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.

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Beitragsbild © Claude Giger