Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

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Beitragsbilder © Peter v. Felbert