Sabine Scholl «Die im Schatten, die im Licht», Weissbooks

In Sabine Scholls Roman „Die im Schatten, die im Licht“ begleite ich neun Frauen durch die Wirren des letzten Weltkriegs. Ich las den Roman mit angehaltenem Atem, weil meine Lesart es nicht verhindern konnte, deren Schicksale mit jenem all jener zu verknüpfen, die in der Ukraine zwischen§ Panzer und Raketen geraten. In „Die im Schatten, die im Licht“ schreibt Sabine Scholl nicht über die Bösen und die Guten, sondern über Opfer, Opfer der Geschichte und ihrer selbst.

Wir lernen in der Schule über Kriege, lesen Bücher, sehen Dokumentationen, Filme. Und doch bleibt einem auf ewig fremd, was all jenen geschieht, die miterleben müssen, die ausgeliefert sind, die in irgend einer Weise zu Opfern werden. Wir sehen es in den Nachrichten, im Internet, in Zeitungen, aber es bleiben Bilder, stumm oder bewegt. Selbst dann wenn sie mir den Schlaf rauben, wenn sie mich lähmen, mir in meiner scheinbaren Sicherheit ins Gesicht schlagen.

Es mag jene geben, die fragen: Warum ein solches Buch? Warum immer noch eines? Es mag jene geben, die sich der Lektüre verweigern mit dem Argument, man habe schon genug darüber gehört. Viel lieber liegen wir auf einem Liegestuhl in der Sonne mit Aussicht auf einen See und lassen die Seele baumeln. Man müsse ihn geniessen, den Frieden. Dabei ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Selbstverständlichkeit geniessen und für uns beanspruchen doch eigentlich nur der Fähigkeit zu verdanken, den Schrecken möglichst weit ausserhalb unseres Bewusstsein zu verbannen.
Genau das will und kann Sabine Scholl nicht. Sie weiss, dass man es immer wieder benennen, dass man Zeugnis ablegen muss, jetzt erst recht, wo die letzten jener Generation sterben, die damals als Opfer den Schrecken zu erleiden hatten.

Sabine Scholl «Die im Licht, die im Schatten», Weissbooks, 2022, 352 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-86337-193-7

Sabine Scholl nimmt die Schicksale neun ganz unterschiedlicher Frauen, die der Krieg in die innere Emigration, zu fataler Anpassung, in eine Scheinwelt, ins Exil, in den Widerstand oder einfach ins tapfere Ausharren treibt. In vier Teilen Unheil 1938/39, Krieg 1941, Widerstand 1944, Testamente 1946 zeichnet sie das Leben jener, die nicht nur im Schatten des Lichts oder Schatten der Geschichte stehen, sondern in fataler Abhängigkeit einer vollkommen dominierender Männerwelt gerieten, sei es jene der Agitatoren des NS-Regimes, der Alliierten, sei es der einfache Soldat, der Abwesende oder Zurückgekehrte, der offene und versteckte Handlanger, all jener Männer, die mit Leben bezahlten, weil sie sich nicht einbinden lassen wollten.

Dabei bedient sich Sabine Scholl genauer Recherchen. So ist die Figur der Prinzessin Huberta, die sich stets als Auserwählte sah, selbst in den US-Internierungslager, in Zeiten der Entnazifizierung der Biografie von Stephanie von Hohenlohe entlehnt. Sie erheiratete sich ihren Adelstitel und wurde 1938 von Goebbels und Hitler als neue Gastgeberin ins Schloss Leopoldskron berufen, das Max Reinhardt, dem Begründer der Salzburger Festspiele mit seiner Flucht in die USA von den Nazis geraubt wurde. Oder die französische Schauspielerin Arletty, die in den Jahren vor dem Krieg zu einem Star avancierte, der man aber ihre Liebe zu einem deutschen Offizier als Kollaboration anlastete und die nach dem Krieg langsam in Vergessenheit geriet. Als Francine in Sabine Scholls Roman kämpft die verwöhnte Schauspielerin, stets ihrer Wirkung bewusst, als gnadenlose Opportunistin ihren Kampf gegen alles, was ihr zu schaden droht. Daneben die Namenlosen, die in Sabine Scholls Roman einen Namen bekommen. Wie die während des Krieges arbeitslos gewordene Schneiderin Gretel, die aus Hunger und Verzweiflung auf eine Annonce reagiert und sich zur Aufseherin ausbilden lässt, um stramm und stets korrekt mit greller Stimme und gezückter Peitsche ihren Kampf gegen unwertes Leben zu führen, auch nach dem Krieg sich keiner Schuld bewusst. Oder Rosi, die im steirischen Aussee Villen putzt, zuerst in den Diensten jüdischer Kaufleute, KünstlerInnen, später im Dienst jener, die sich diese Häuser im Laufe der Arisierung unter den Nagel rissen. Rosis Leben wird gezwungenermassen das einer Widerstandskämpferin, nur schon um am Leben zu bleiben.

Sabine Scholls Protagonistinnen sind alles andere als Heldinnen. Die einen sind Opfer im Licht, die anderen im Schatten. Der Focus lag lange genug auf den „HeldInnen“ der Geschichte. Sie sind wie wir, die wir von uns doch nie und nimmer behaupten könnten, in vergleichbarer Situation heldenhaft zu handeln.
Beeindruckend an dem Roman ist auch, dass es Sabine Scholl gelingt, das Dokumentarische literarisch zu gestalten, dass die Autorin den neun Frauen auch neun verschiedene Stimmen, Tonarten gibt. Ein wichtiges Buch! Und weil sich Sabine Scholl dessen so sehr bewusst ist, ist nichts, aber auch gar nichts an diesem Buch Fiktion.

Interview

Ich habe über die Jahre mehrere Literaturkreise gegründet, in denen man über gelesene Bücher diskutiert. Beim Bestimmen einer neuen gemeinsamen Lektüre mache ich immer wieder die Erfahrung, dass sich viele durchaus engagierte LeserInnen sträuben, Literatur, Bücher über den letzten Weltkrieg zu lesen. Immer und immer wieder mit dem Argument, man habe schon in der Schule genug darüber gehört. Können Sie das nachvollziehen?
Ich selbst habe in der Schule kaum etwas darüber erfahren. In der ländlichen Umgebung, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur Schweigen. Vielleicht erklärt sich der Überdruss der Leserinnen daraus, dass viele Erzählungen vom Krieg sich ähneln. Dass die Schauplätze sich gleichen. Und dann meint man, eh alles zu wissen. Deshalb wollte ich Perspektiven finden, die unbeschrieben waren, Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren, Geschichten, die willentlich oder auch unwillkürlich gelöscht wurden. Und tatsächlich war mein Forschen nach weiblichem Erleben während des Kriegs veranlasst durch Erzählungen von aus Syrien Geflüchteten. Da habe ich die Perspektiven von Frauen vermisst und fragte mich in der Folge, was eigentlich die Frauen in Gegenden, die ich gut kenne, während des Zweiten Weltkriegs gemacht hatten, welche Handlungsspielräume es für sie gab.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es sind neun Frauen, neun ganz verschiedene Schicksale. Jedes Schicksal hätte genug Stoff geliefert, um einen Roman zu schreiben. Aber die Vielstimmigkeit ihres Romans gibt ihrem Buch eine ganz eigene, besondere Note. Wie kamen sie genau zu diesen neun Leben? Und warum nicht sieben oder zwölf?
Anfangs stiess ich auf eine Notiz über eine Aristokratin, die im Roman Vera heisst und der eine wahre Geschichte zugrunde liegt. Aus dem über sie recherchierten Material ergab sich die Frage nach Frauen, die anderen gesellschaftlichen Schichten angehörten, wie etwa meine Grossmütter, die als Mägde auf Bauernhöfen arbeiten mussten. So entwickelten sich nach und nach neue Notwendigkeiten, aus denen Forschungen erwuchsen und in der Folge weitere Frauenfiguren. Ich musste dann irgendwann aufhören, weil ich so viele spannende Geschichten fand, zwei Figuren musste ich sogar streichen, weil der Roman noch einigermassen übersichtlich bleiben sollte. Und so wurden es halt neun.

Dass im Vorsatz Ihres Romans je ein Zitat von Inge und Sophie Scholl steht, kann kein Zufall sein. Erklären Sie, warum?
Wenn man diesen Nachnamen trägt, wird man immer wieder mal auf etwaige Verwandtschaftsbeziehungen angesprochen, die es, soweit mir bekannt ist, nicht gibt. Ausserdem ist Sophie Scholl sozusagen zur Stellvertreterin weiblichen Widerstands geworden. Ihre Erzählung verdeckt damit sehr viele andere wichtige weibliche Helferinnen im Kampf gegen das Nazi-Regime. Ich bin ja dafür, die Definition von Widerstand zu weiten, weg vom Bild des Kampfes mit der Waffe als einzige Möglichkeit, sondern die Miteinbeziehung von sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten, wie etwa im Roman die Figur der Rosi. Und das war im Zitat von Inge Scholl enthalten.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es ist ganz leicht, über Menschen zu urteilen. Genau das tun sie nicht. Was wir sind und was wir werden, ist oft erklärbar, oft auch nicht. Das eine Verbindende aller dieser neun Schicksale ist der Umstand, dass sie alle ihr Leben auf die ein oder andere Weise selbst in die Hand genommen haben. Auf ihre Art Widerstand war es bei allen, auch wenn dieser nicht in die Schublade Widerstand passt. Ist Schreiben ein genau solcher dehnbarer Widerstand?
Genau, ich wollte nicht aus einem Abstand von mehreren Jahrzehnten den moralischen Zeigefinger erheben. Denn, wer weiss, wie wir uns in derartigen Situationen tatsächlich verhalten hätten. Deshalb zeige ich verschiedene weibliche Strategien, ohne über sie zu urteilen. Traudi z.B. zieht sich in eine Traumwelt zurück, Vera geht darin auf, für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen, Francine will an die Liebe, die alle Grenzen überwindet, glauben, usw. Und egal, welche Themen ich in meinen Romanen behandle, diese Mehrstimmigkeit ist mir wichtig. Menschen verschiedener Positionen sollen vorgestellt werden, und aus diesem Zusammenklang ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das auf Schwarz-Weiss-Denken verzichtet. In diesem Sinne ist mein Schreiben als widerständige Arbeit gegen das allwissende und autoritäre Erzählen zu verstehen.

Wir nähen alle unser Kleid selber. Wir hätten es in der Hand. Es ist also das Licht, dass die Farbe ausmacht, nie der Stoff selbst?
Hm, in dieser Frage werden die Metaphern des Kleides und des Lichts zusammengebracht. Das ist diffizil. Da ich die Tochter einer Schneiderin bin, kann ich mit Bestimmtheit sagen, nein, wir nähen uns nicht alle die Kleider selber, sondern lassen sie auch nähen oder kaufen sie fertig von der Stange. Aber Kleider dienen mir in meiner Literatur sehr wohl dazu, Menschen ein Stück weit lebendig zu machen. Da ich mich viel mit weiblichen Geschichten beschäftige, die oft nicht tradiert, nicht aufgeschrieben oder gelöscht wurden, greife ich auf derart sinnliche Gewissheiten zurück, um die vielen Lücken zu füllen. Mithilfe solcher Details bringe ich ihre Geschichten ans Licht. 

Sabine Scholl, 1959 in Grieskirchen (A) geboren,  hat in Wien studiert und lebte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Nach ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtete sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. Für ihre Romane und Essays hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie 2018 und den Oberösterreichischen Landespreis für Literatur 2020. Seit 2019 lebt und arbeitet sie wieder in Wien. 2021 erschien ihr Essay «Lebendiges Erinnern – Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird».

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Beitragsbild © Uta Tochtermann