Ana Marwan «Wechselkröte», Plattform Gegenzauber

Ich ziehe mich jeden Tag an, weil jeden Tag eine zwar kleine, aber durchaus realistische Möglichkeit eines Besuches besteht. Der Briefträger kommt oft, und ich nehme die Pakete durchs Fenster entgegen, das Fenster kann ich sofort aufmachen, während die Tür ganz woanders ist, und er läutet nicht zweimal, er geht einfach wieder, während ich zur Tür gehe, und dann muss ich mit dem Zug das Paket von der Post abholen, so mache ich das Fenster, das gleich bei der Glocke ist, auf, aber für ihn ziehe ich mich nur oberhalb der Hüfte schön an, das Fenster fängt bei der Hüfte an, mich zu umrahmen. In dem gebrachten Paket ist meistens eine Bluse für das nächste Mal. Ich bekomme Blusen per Post, weil ich sonst lange mit dem Zug fahren müsste. Ich kaufe Blusen aus einer Gewohnheit, die ich mir angeeignet habe, weil ich einmal Blusen gebraucht habe, um das Gefühl zu haben, dass ich eine Andere, eine Neue bin. Ich bestelle meine Blusen aber keineswegs wegen des Briefträgers selbst, damit er käme, meine ich, obwohl er einer meiner wenigen Besucher ist. Ich zwinge mich jedes Mal, ihm in die Augen zu schauen. Es gab einmal eine Zeit, da sah ich so viele Augen, dass ich sie einfach ausgeblendet habe, wie Stadttauben, jetzt sind es seltene Vögel geworden, die Augen meines Briefträgers sind taubengrau.

Für den Gärtner ziehe ich mich ganz an. Auch der Gärtner gibt mir keine fixen Besuchszeiten. Er kommt, wenn sich eine Lücke auftut, wenn er zufällig vorbeifährt, oder wenn jemand absagt, so haben wir das vereinbart, weil er „voll“ ist und der Einzige, und weil jeder einen Garten hat.

Ich werde wohl nichts Größeres machen wollen, nimmt er an, weil ich „nur ein Mieter“ und „nur vorübergehend“ da bin, sagt er, nachdem er das Unkraut ausgerissen hat – er hat einiges über die vergangenen Wochen in seinen Lücken ausgerissen.

Doch, ich will, dass es wuchert! Wild, gelb und violett, oder auch rot, was meint er? Was hält er von rot? Ich vertraue ihm …

Will ich das wirklich?, fragt er. Dann macht er hier alles schön, ich bezahle es, ich zahle viel, und dann ziehe ich weg. Und dann hat der, der nach mir kommt, hier alles schön. Will ich das?

Ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen.

Er wird vorbeikommen.

Ich rufe eine Freundin an und frage wieder, wann sie mich besuchen kommt. Mein Haus ist groß und schön und die Natur auch, nur ist ungeteilte Freude keine Freude. Sie hat so wenig Zeit, und wo ich bin, ist es, leider, sagt sie, so entlegen. Ich habe einen Pool, sage ich. Schön, sagt sie. Der Pool ist nicht schön, der Pool ist voll mit Regenwasser, das Kröten und Gelsen anlockt. Ich muss auf eine Lücke des Poolmanns warten, weil jeder einen Pool hat, und ich früher hätte anrufen sollen. Auch die Freundin hat im Moment keine Zeit. Ich dachte, wir kriegen beide vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber in vierundzwanzig Stunden muss sie, sagt sie, und fängt an Dinge, die wichtiger sind als ich, nach Wichtigkeit aufzuzählen. „Ich habe es verstanden“, unterbreche ich sie und füge noch „kein Problem“ hinzu, eine Unart, die ich eigentlich abzuschütteln versuche. Ich habe kein Gehör für fremde Probleme, sagt sie. Sie tut ihr Bestes, sagt sie auch. Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich ist, merke ich, sie betonen schamlos ständig, wie das, was sie tun, ihr Bestes ist.

Manchmal denke ich mir am Abend, wenn ich in den Spiegel schaue: Heute war ich umsonst. Ich schaue mich oft im Spiegel an, damit mein Gesicht nicht gänzlich ungesehen bleibt und sich selbst überlassen zu etwas wird, das sich dann nicht mehr geradebiegen lässt.

In der nächsten Lücke des Gärtners wird endlich eingepflanzt.

Er kommt mit ein paar hilflosen Sommerhüten, einem kleinen Sommerflieder, grauem Lavendel und noch sechs anderen Pflanzen, die ich in ihrer Armut oder in meinem Unwissen nicht erkenne. Sie dürsten nach einer anderen Erde als der unseren, die trocken ist und schon aufmacht, um Regen bittend. Kakteen wären besser, sage ich, aber ich vergesse ja, dass der Sommer nur vorübergehend ist.

Es sind nicht genug. Ich wollte, dass es wuchert!, sage ich. Nächstes Jahr werden es doppelt so viele sein, sagt er.

Er rechnet doch mit der Zeit, widersprüchlich ist er. Es macht mich oft wütend, dass man nichts dagegen tun kann, dass Leute sich selbst widersprechen. Das macht mein Widersprechen vollkommen sinnlos, und das ist das, was mich wütend macht – die Sinnlosigkeit.

Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich.
Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt.
Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er.

Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein.

Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.

Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein- fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen.

Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm.

Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss.

Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen her- ein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es.

Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze be- sorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist.

Der Winter war lang. Unter der FFP2-Maske ist mein Gesicht faul geworden, ich fühle es. Maskenhaft. Als der Sommer kam (ich nehme an, man lebt jetzt nur sommers ganz), lebte ich aber schon entlegen. Es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte. In der Gruppe hatte ich ein Gruppengesicht. Jetzt hatte ich schon lange kein frisches Gesicht mehr, ich trage nur zwei, drei, wenn ich das Briefträgergesicht, das ich nur für einen Bruchteil des Tages aufsetze, mitzählen kann; alle meine unbenutzten Gesichter faulen ins Unbenutzbare.

Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden. Als ich dem Verkäufer meine Lage schildere, kommen mir meine Sätze wie ein Stück vor, das ich lange nicht gespielt habe – ich irre mich viel, aber ich weiß, nur ich, dass ich es gleich wieder können könnte.

Weiße Gelsennetze sind aus. So schaut geteiltes Leid aus. Ich nehme die schwarzen und hänge die Trauerspitze überall auf.

Wegen der Trauerspitze kann ich jetzt kein Paket mehr entgegennehmen. Beim letzten Mal hat der Briefträger bei der Übergabe kurz meine Hand berührt, seine Augen verschwiegen aber die Absicht, ließen an ihr zweifeln, meine ich. Ich erzähle ihm von der Gelsenplage und frage, ob er warten würde, wenn die Übergabe künftig durch die Türe erfolgt. Er sagt kein Problem, er kann läuten und das Paket bei der Tür abstellen. So. Ich bilde mir ein, er hätte auf mich gewartet, wenn die Spitze weiß wäre. Es wird für mich zunehmend schwer, Dinge zu finden, auf die ich die Schuld für Ereignisse schieben könnte.

Ich gehe in den nächsten Tagen nur im Garten spazieren, dem ummauerten, dem uneinsehbaren, in dem ich einen breitkrempigen Hut tragen kann und die Trauerspitze drüber, bis zum Boden. Ich zeige mich nicht, ich weiß, was normal ist und ich bin anpassungsfähig, ich kann mich sowohl den Gelsen als auch den Nachbarn anpassen, ja, es dauert ein bisschen, der Prozess ist wie bei einer Geburt schmerzhaft und schmutzig, jedoch verhältnismäßig kurz, und bald ist alles vergessen, als ob nichts wäre, und alles selbstverständlich, auch wenn der Unterschied zwischen der Welt der Ungeborenen und der Welt der Geborenen nicht größer sein könnte. Bald also werde ich so wie alle an- deren Frauen meines Alters, die alle jünger sind, die entlegen wohnen, alles mit 40 bunt waschen. Keine Seide wird mehr sorgfältig von mir gebügelt. Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.

Wie würde ich leben, würde ich leben?

Es ist heiß, und ich spiele mit dem Gedanken, mich in den Pool zu werfen, in das Regenwasser, oh Gott, nicht um mich abzukühlen, sondern um Ekel zu empfinden und mich dann wieder sauber machen zu können, damit das, wie ich bin, anders ist als das, was ich kurz davor war. Nachdem das zu umständlich ist und es sich Gott sei Dank, wie so vieles Andere, schon in meiner Vorstellung erschöpft hat, möchte ich, vernünftiger, mit dem Regenwasser die Neueingepflanzten gießen, die Armen, als ich merke, dass die Kröte im Wasser von außergewöhnlicher Schönheit ist. Das Internet sagt, es ist eine Wechselkröte. Leicht mit einer Kreuzkröte zu verwechseln, aber selten und teuer und gefährdet und schutzbedürftig. Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem leicht zu verwechseln ist.

Ich rufe bei der Landesregierung an. Die Fragilität der Ökosysteme, die mich davon abhält, das Tier gedankenlos zu übersiedeln, wird von dem Mann, zu dem ich verbunden worden bin, bestätigt. Ich fühle mich gestreichelt. Wir reden über die Kröte. Sind die Marmorflecken an ihrem Rücken deutlich voneinander abgegrenzt? Ich bestätige. Das Wort Marmor klingt für mich beruhigend, merke ich. Bufo variabilis, sagt er. Velut Fortuna, denke ich. Wir beide haben uns gegenseitig unser Wis- sen wachgeküsst, auch manche seiner Tage in RU5 müssen bestimmt vergehen, ohne dass er mit wem spricht, bestimmt muss auch er in den Spiegel schauen, um sich zu fangen. Ich richte in einem Eimer alles so ein, dass sich der Bufo wohlfühlt, ich folge den Anweisungen mit einer eifrigen Dankbarkeit. Ja, ich vermisse die Tage der Kindheit, in denen man noch so lieb war, mir Anweisungen zu geben. Ich werde berichten, wie der Transport gelaufen ist, sage ich beim Abschied. Der Krötenmann sagt: „Das ist aber wirklich nicht nötig.“ Das war unnötig.

Trotzdem ziehe ich ein kleines, dünnes Müllsackerl über die Hand und fische die Kröte heraus. Sie ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten, auch wenn es mich interessieren würde, wie stark man noch drücken kann, bevor es unwiderruflich zu viel wäre. Wie mich das Unwiderrufliche immer lockt und so tut, als ob es nicht unmöglich wäre!

Es sind zwei Stationen zur Donauau. Im Wald bin ich allein, ich kann wieder das Netz tragen. Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet. Vielleicht sollte ich mich von den Menschen gänzlich abwenden und den Kröten ganz zu. Sie bewegt sich langsam weg von mir, ich bleibe auch dann noch sitzen, als ich sie nicht mehr sehen kann, etwas in mir wehrt sich dagegen, die ganze Fahrt in die entgegengesetzte Richtung mit einem leeren Eimer zu wiederholen. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor es für mich möglich ist auf- zustehen. Man hat oft eine ganz falsche Auffassung von dem, was für mich möglich ist. Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.

Abends kann ich nicht schlafen, weil unter dem Schlafzimmerfenster ein Kanaldeckel liegt. Und Autos fahren immer drüber. Und Autos fahren immer. Zu jeder Unzeit, was gibt es da so viel zu fahren, auch das würde ich gerne wissen. Ich finde es unfair, dass ich gleichzeitig an einer befahrenen Straße und entlegen lebe, unfair finde ich es, als ob ich ein Kind wäre.

Die Verhütungspille liegt mir schwer im Magen. 14 Tage sinnloser Schutz vor dem Entstehen von Leben, kein Entstehen des Lebens droht. Ich könnte mich ohne Pille und ohne Rock in den Vorgarten legen, der Briefträger würde über mich steigen, anläuten und das Paket ablegen.

Drei Wochen später sagt mein Frauenarzt: „Sie sind schwanger“, sagt er. Das ist unmöglich, sage ich. Ich sage, ich nehme die Pille. Er fragt, ob ich immer alle genommen habe. Ich sage summa summarum. Er fragt, was summa summarum heißen soll. Er sagt, das ist echt ein Wunder. Dann schimpft er mich. Das Wort „verrückt“ fällt. Ich glaube, ich gehe nicht mehr zu ihm, ich werde nächstes Mal zu einem anderen gehen und ihm mein Wunder zeigen; frisch anfangen.

Ich sitze still eine Stunde lang im Schlafzimmer und überlege, wen ich anrufe. Die Freundin würde sich freuen, sie würde meinen, dass ich jetzt auch sehen werde, wie man keine Zeit mehr haben kann, und dass wir uns jetzt öfters treffen können, der Unterschied im Alter unserer Kinder wird ja nicht allzu groß.
Ich rufe meine Schwester an.
Ich sage: Eine Eisenkugel an einer Kette um meinen Fuß.
Sie sagt: Ein Eisennagel, mit dem du dich wieder der Welt anheften kannst.

Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen. Die kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.

Ich stelle mir vor, es hat keine Kiemen mehr, es ist weder Fisch noch Fleisch, aber der Arzt meint trotzdem, es sei zu spät, ich hätte zu lange gewartet.

Ich stelle mir vor, alle berühren mein Bauch, absichtlich; alle fragen, was es wird, und meinen dabei das Geschlecht. Alle fragen, ob wir schon einen Namen haben. Nein, nein, sie meinen einen Namen für das Kind!

Ich stelle mir vor, es kommt und ich vergesse mich.

Das Vergessen wird immer wieder kurz unterbrochen, wenn alle, denen ich begegne, ein Urteil fällen, ob es ganz die Mama ist oder ganz jemand anderer.

Manchmal möchte ich vielleicht weinen, aber ich komme nicht dazu. Oder bilde ich mir meinen Wunsch nur ein und ich kann gar nicht mehr weinen? Ist es geboren, ausgesondert, veräußerlicht (wie ein Gedicht?) mein Weinen, mein Kind?

Vielleicht hoffe ich manchmal, dass mir die Last abgenommen wird. Aber ich ahne in dieser Hoffnung eine dunkle Freiheit, die ich nicht überleben würde. Meine Freiheit muss ich von jetzt an innerhalb meiner Zelle denken.

Ich stelle mir vor, es ist eins. Der Mann kommt aus der Arbeit und streichelt das Kind. Sanft und liebevoll, hingebungsvoll. Er ist voller Liebe, das sehe ich. Kein Hass ist ihr beigemischt, das Kind liegt nur da, tut nichts, was man ihm verübeln könnte, es tut nichts. Es ist willenlos. Machtlos auch. Die Liebe des Mannes aber strömt ihm entgegen, sie hat meinen Mann in Besitz genommen, die Liebe, sie benutzt seine Hände und seine Augen nach ihrem Belieben.
Es lacht, wenn man es am Bauch kitzelt. Es ist ihm egal, dass der Mann einen Tag später aus der Arbeit gekommen ist. Auch ich versuche, im Moment zu leben. Im Moment sehe ich vor mir einen verspäteten Mann, der seine ganze Liebe dem Wesen schenkt, dem er egal ist. Ich überlege nicht, mich auf den Boden zu legen, das Hemd zu heben und vom Bauch zu erwarten, dass er zum kitzeln einlädt, nein.

Ich stelle mir vor, mein Gesicht ist ein Muttergesicht, eine nicht abnehmbare Maske.

Ich stelle mir vor, seine Augen sind blau. Reines Blau, das mich stört. Wie ein heiterer Himmel, der in mir schon immer Unbehagen auslöste, wie alles Regungslose. Ich halte meinen Kopf von Natur aus gesenkt, ich mag alle Farben der Erde. Im Blau seiner Augen finde ich nichts Heimisches.

Ich stelle mir vor, es ist vier. Es bricht alle Mauern um mich. „Ja, bist du nicht süß … Wie alt bist du denn?“, wird es von den Nachbarn angesprochen. Und es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher, schon hier, denn sonst ginge es noch tiefer hinein, unter den Rock, das macht es manchmal, mein Rock sein Bunker. Ich bemit- leide es, weil es sich bei mir am Sichersten fühlt.
Es ist komisch, Mitleid zu sagen, denn ich glaube nicht, dass es leidet, wenn es vier ist. Es weiß noch nicht genug, um richtig zu leiden.

Dann ist es fünf. Es redet schon, viel, zu viel. Ich stelle mir vor, ich bringe ihm eine ausgedachte Sprache bei, die uns verbindet und alle anderen ausschließt. Es ist ja so ein Vorteil für Kinder, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Angeblich lernen sie dann auch andere Fächer leichter. Meine Sprache wird über all die fehlenden Wörter verfügen, zum Beispiel ein Wort für das Gefühl der falschen Liebe wird es geben und auch ein Wort für die Mischung aus Dankbarkeit und Verachtung, die man fühlt, nachdem einem jemand, den man als schwächer betrachtet hat, Hilfe geleistet und sich dabei großzügig gefühlt hat, und so weiter, die Grenzen unserer Sprache werden ausgedehnt, seine Welt wird groß.

Leute könnten meinen, es sei komisch, dass ich mein Kind „das Kind“ nenne und nicht beim Namen. Da ich ja so gerne Dinge beim Namen nenne, ist das der Grund, dass es ihnen komisch vor- kommt? Auch sonst werden sie vieles „nicht richtig“ finden.

Es ist acht. Es ist nicht aus meiner Erde. Nichts Heimisches in seiner Stimme. Es redet wie die Nachbarn.

Ich stelle mir vor, ich weiß zu einem Zeitpunkt dann aus Erfahrung, dass ich mich immer dann stark fühle, wenn sich meine Last kurz hebt. Dass die Last ihr eigenes Leben hat und auch Flügel. Dass nichts mein Verdienst ist bzw. wenig.

Ich bin für es da. Ich bin für es gemacht worden. Ohne es wäre ich nicht. Das glaubt es. Unsere Wahrheiten sind gegensätzlich.
Aber es fühlt seine, während ich meine nur weiß, und ich fühle seine, während es meine nicht weiß. Es gewinnt. Es gewinnt immer. Es obsiegt.

Ich stelle mir vor, dass das Vorübergehende zur Gewohnheit wird. Dass ich mir denke: Wenn ich einen kleinen Baum beim Einzug eingepflanzt hätte, wäre er jetzt schon groß, mein Kind könnte in seinem Schatten spielen, schade, dass ich das nicht gemacht habe.

Ich stelle mir vor: Wenn es so viel Platz einnimmt, wie ich in seinem Alter einnehmen wollte, als mein Wollen stärker als mein Können war, kann ich mich gleich aus dem Fenster werfen. Ich bin nicht so stark wie meine Mutter, ich werde nicht standhalten und bald wird dort, wo ich war, es werden.

Es ist zehn. Es erzählt mir, dass die Katze, wenn es sie auf den Schoß nimmt und streichelt, vor Genuss ihre Krallen in seine Oberschenkel bohrt, und dann muss es die Augen zusammenkneifen, um den Schmerz zu ertragen, und ich denke mir danach: Mein Kind ist besser als ich, es nimmt den Schmerz bei seiner Zuneigung in Kauf.

Ich stelle mir vor, es hat mich lieb, und einmal sagt es mir: „Niemand hört so gut zu wie du.“ Und dass ich, indem es mich lobt, erst das Ausmaß meiner Selbstverleugnung merke.

Es ist dreizehn. Ich stelle mir vor, ich nehme es ihm übel, dass sein mittelmäßiges Musizieren für alle mehr wert zu sein scheint als mein eigenes, das von Professor Pokorny einmal „genial“ genannt wurde.

Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe.

Ich stelle mir vor, es ist sechzehn und es sieht nur sich und die Welt und seine Zukunft in der Welt, die Welt und sich dicht verflochten, ein starkes Bündnis, das ihm all der verfehlten Erziehung zum Trotz, der schwierigen Mutter zum Trotz, gelungen ist, das Ganze hat es nur stark gemacht, und das Traumatische wird sogar zum Schöpferischen, auch so ausgesprochen, dem Klischee zum Trotz, es ist noch so jung, dass für es noch nichts von dem Lebensbetreffenden ein Klischee ist.

Es ist vierundzwanzig und es zieht aus, und ich schreie und es atmet auf, wie bei der Geburt.

Ich stelle mir vor, es ist vierzig und besucht mich aus Pflichtgefühl, es ist schließlich gut erzogen, es tut so, als ob es mir zuhört, es nickt und Mhm Mhm meint, und ja, ja, es geht ihm auch gut, nein, nix Neues, nix Erzählenswertes, nein, seine Freundin ist noch nicht schwanger, sie konzentriert sich eher auf …

Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind, gedanklich ist es anderswo, es möchte anderswo sein, aber ich lasse es noch nicht gehen, eine meiner Bruthennenkrallen bleibt in seiner Strickjacke hängen, mein Wunsch, dass es bleibt, ist stärker als sein Wunsch, wegzugehen, alle seine Wünsche sind momentan eher farblos und schwach und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen? Von diesem Besuch im Altersheim haben alle geredet, als ich dich nicht wollte?

*

Es tut sich eine Lücke auf bei dem Poolmann. Einen Tag, bevor der Mann wieder zurück ist, wird der Pool endlich schön. Ich schätze, wir haben gute drei Wochen, in denen wir nackt baden können, dann muss er für die Überwinterung vorbereitet werden. Als ich auf den Poolmann beim Pool warte, sehe ich im Wasser einen Laich. Ich rufe nochmals bei der Landesregierung an. Ich werde mit einem anderen Mann verbunden und muss deshalb die ganze Geschichte von vorne erzählen, was mich ermüdet und verstimmt. Der Poolmann unterbricht mich mit seiner Ankunft. Ich bitte ihn zu warten. Es ist heiß, die Sonne strahlt Hitze und Schwindel aus. Der Mann von der Landesregierung kennt sich nicht so gut aus wie der Mann von Letztens, das Gespräch mit ihm ist zermürbend. Ich höre etwas Zaghaftes in seiner Stimme, als er sagt, der Laich muss nicht geschützt werden. Trotzdem und ohne mich zu bedanken lege ich gleich auf und sage dem Poolmann, es kann alles abgesaugt werden.

«Wechselkröte» ist der Siegertext des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbes 2022. literaturblatt.ch dankt Verlag und Autorin für die Erlaubnis, den Text wiedergeben zu dürfen!

Ana Marwan «Wechselkröte», zweisprachig D/SLO, ins Slowenische übersetzt von Amalija Maček, Otto Müller Verlag, 2022, 60 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7013-1307-5

Anna Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin auf dem Land zwischen Wien und Bratislava und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exil-literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2022 und dem Ingborg Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Am 23. Februar 2023 erscheint der neue Roman „Verpuppt“ (aus dem Slow. von Klaus Detlef Olof) im Otto Müller Verlag.

Ana Marwan ist am 23. März Gast im Literaturhaus Thurgau!

Beitragsbild © Una-Rebic

„Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Lukas Bärfuss im Literaturhaus Thurgau

Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss

Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.

Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.

Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.

Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.

Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?

Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“
In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.

Rezension von «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag

Es gibt eine Eintagsfliegenart aus der Gattung Ephemeroptera, die zwanzig Jahre als Larve im Schlamm verbringen kann, um dann für einen Tag Flügel zu bekommen. Die junge Rita im Buch der Bachmannpreisträgerin Ana Marwan ist weder hier noch dort, verpuppt in Lauerstellung. „Verpuppt“ lässt sich lesen wie ein Zustand dazwischen, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Traum und Tag, zwischen hier und dort.

Ich las das Buch zweimal, bevor ich es wagte, nur einen einzigen Satz darüber zu schreiben. Ich las es zweimal, um sicher zu sein und habe bei der erneuten Lektüre kaum an Sicherheit und Gewissheit gewonnen. Es war, als wäre ich stundenlang alleine vor einem riesigen Gemälde gesessen, um es zu ergründen, mit dem Resultat, dass scheinbare Einsichten immer wieder kippen, dass ich durch die ineinander fliessenden Perspektiven nie jene Sicht gewonnen hätte, die Klarheit verschafft. Aber vielleicht habe ich verstanden, dass es Ana Marwan eben nicht darum geht, eine stringente Geschichte zu erzählen. Sie will mich auch nicht unterhalten. Die Lektüre ihres Buches versetzte mich in einen elektrisierten Zustand, als müssten meine Synapsen permanent neue Verbindungen suchen, weil ich dem Roman mit meiner krampfhaft kausalen Sichtweise nicht gerecht werden kann.

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, 220 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7013-1302-0

Rita ist jung. Ritas Zustand ist jener der Larve im Sumpf. Verpuppt sieht sie ihre Welt nicht mit den Augen der Objektivität, sondern nach innen gerichtet – subjektiv. Ganz offensichtlich ist sie für unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung, regelmässig zu Gesprächen herbeigeholt, von TherapeutInnen ermunterst zu erzählen, aufzuschreiben, jene inneren Bilder in Worte zu fassen, nicht in erster Linie, um sie zu begreifen oder zu verstehen, mehr in der Hoffnung, auf Ordnungen zu stossen. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klinik, aber von einem «Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt», in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einem Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer, wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet. Ein Leben, das für mich als Leser ziemlich verwirrend erscheint. Rita ist gefangen in einem Zustand dazwischen. Ana Marwans Roman spielt mit den „Unwahrnehmungen“ dieses Dazwischens. Rita ist eine junge Frau, der die Realität abhanden gekommen ist, ohne dass das ein Verlust geworden wäre. Ana Marwan nimmt mich mit in den Irrgarten, das Labyrinth einer jungen Frau, die sich in den Zwischenräumen verloren hat.

Ana Marwans Roman erzählt von Ängsten, der „Angst, die menschliche Sprache zu vergessen“. Rita schafft sich in ihrem selbst erschaffenen Kosmos die Welt in ihrer Einsamkeit, eine Insel in ihren Ängsten. Vielleicht erzählt der Roman auch von den Ängsten der Autorin selbst. Aber alle Versuche einer Interpretation bleiben hängen, weil es der Autorin zu allerletzt darum geht, eine „ordentliche“ Geschichte zu erzählen.

Wie bei kaum einem anderen Roman macht es Spass, in der Rezeption darüber zu lesen, den mehr oder minder hilflosen Versuchen, den Roman verstehen zu wollen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es nicht so sehr um das Geschriebene selbst geht, sondern um dessen Wirkung. Ana Marwans Roman ist ein kunstvolles Verwirrspiel, als hätte sie ihn im Rausch geschrieben, im Wörterrausch. Der Roman ist gespickt mit bühnenhaften Szenerien, voller Sätze, die sich einbrennen, Wendungen, die mich als Leser vom Boden der Gewissheiten wegreissen.

Man muss für ein Abenteuer bereit sein und wird belohnt mit etwas Einzigartigen.

Das Original „Zabubljena“ (Ljubljana: 2021, Beletrina) wurde mit dem Kritiško sito 2022 als bestes Buch des Jahres 2021 in Slowenien ausgezeichnet.

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaftin Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin in Wien und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exilliteraturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem Kritiško sito 2022 für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2021 und dem Ingeborg- Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Im Oktober 2022 ist der TDDL-Siegertext „Wechselkröte“ als zweisprachige Ausgabe (D/SLO) im Otto Müller Verlag erschienen.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Lübeck; Slawist und Übersetzer (Studium in Hamburg und Sarajewo); seit 1973 Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt; Arbeitsschwerpunkt: südslawische Literaturen; zahlreiche Übersetzungen aus dem Slowenischen, Kroatischen, Bosnischen und Serbischen.

Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

Bert Strebe «Von dir, von mir», Lyrik zur Ausstellung mit der Keramikerin Ursula Bollack im Literaturhaus Thurgau

Für dich

 

du bist den ganzen weiten weg gekommen
mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen
und mit der eisenbewehrten scherbe
die du in deiner linken herzkammer verwahrst

ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten
und die schafwolldecke liegt bereit

der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern
lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen

ich wärme deine füße du trägst meinen ring

***

 

Für jeden einzelnen Tag

 

es gab keinen anfang und es gibt kein ende

du hast mich angeschaut und meine hand berührt 
ich habe wasser geholt für dich
wir haben geatmet 
wie am tag zuvor

und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter
und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag

du gehst deinen weg und ich gehe meinen
und keiner von uns geht vom anderen fort

***

 

Für unsere Eltern

 

zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre
zwischen den vätern zwei tagesreisen

sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt

sie haben uns unser alleinsein zugeteilt

und alles was das alleinsein heilt

jeden morgen noch vor der dämmerung
beugen sie sich über uns

dann gehen sie und trösten den traurigen tod
dass er sanft wird und schwebend wie schnee

***

 

Für unsere Kinder

 

wir haben federn unter ihre herzen gelegt
und ihnen felsen an die füße gebunden

wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen
und jede träne für sie vorgeweint

wir wollten sie nicht beschweren

aber wir haben es getan und sie sind gewachsen

sie haben in unserem atem geschlafen 
so lange bis es ihr eigener war

wenn sie die augen schließen sind wir da

***

Für Scott

 

er hat sich nach den ersten drei nächten 
sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt 
und hat es unter dem fußboden vergraben

von da an hat er mein weh getragen 
und ein stück von deinem

und als ich nicht bei mir war war er bei mir
und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen

wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da
und du wärst hinter den rippen wund

***

 

Für die Engel und die Frierenden

 

dies ist für die die millionenmal zuhören mussten
für die die von ferne gedichte geschickt haben
für die die balsam in den nachtwind gemischt 
und rote streifen an die wolken geklebt haben
dies ist für die engel

und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten
die bekommen ein lächeln

dies ist für die die da waren wo ich nicht war

dies ist für die die da waren wo du nicht warst

***

 

Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb

 

ich hätte ihn beinahe berühren können

aus seinen augen rieselte ruhe 
auf blatt und halm und borke und mich

einmal hob er die gelbe kralle 
da muss er die angst erwischt haben

dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen
und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen

doch er faltete die flügel und legte sie zurück
und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt

***

 

Für mich

 

dass ich immer blumen auf den tisch stelle 
dass ich eine kerze anzünde zum essen
dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage
dass ich das licht durch den tag wandern sehe
dass ich das leben achte 
auch meins
das habe ich von dir gelernt

und dass ich nicht mehr traurig bin
von mir

***

 

Für uns

 

komm wir gehen ein stück und schweigen

dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder

dann reden wir dann biete ich dir meinen arm 
und etwas später stehen wir 
und halten uns

dann ziehen die wolken und von diesem moment an
wohnt die sonne in dir in mir

jetzt können wir schlafen und wieder wach werden
und tanzen und zu hause sein

***

Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.

Webseite Bert Strebe

Ursula Bollack-Wüthrich (1967) arbeitet als Keramikerin und Lehrerin. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland.

Webseite Ursula Bollack

«Es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden…» Artur Klinaŭ im Gespräch mit Lukas Bärfuss


bearbeitet und übersetzt von Iryna Herasimovich 

Lukas Bärfuss: Belarus. 207000 Quadratkilometer, damit ungefähr viermal so gross wie die Schweiz. 9,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Minsk. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung steht das Land auf Rang 53 von etwa 170. Unabhängigkeit seit 1991. Das erste Staatsoberhaupt Stanislau Schuschkewitsch ist im Mai 2022 gestorben. Seit 1994 ist Aliaksandr Lukaschenka an der Macht. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 abgewählt, trotzdem an der Macht geblieben. Danach Proteste, Revolution, brutale Unterdrückung. Man geht von 33000 Verhaftungen aus. Und immer noch sollen mehr als 800 politische Häftlinge in den Gefängnissen sitzen.

Eine der Verhafteten war auch Marta, Artur Klinaŭs Tochter. Artur Klinaŭ ist Autor, Architekt, Architekturhistoriker, im deutschsprachigen Raum zuerst bekannt geworden mit einem Porträt der Sonnenstadt der Träume: «Minsk». Ein Buch, das tief in die europäische Geschichte führt, in den Traum des neuen Menschen, in den Stalinismus, in die Killing Fields.

Sie sind Herausgeber. Sie haben sich ein Künstlerdorf aufgebaut, und Sie haben gerade ein Buch publiziert «Acht Tage Revolution». Ein dokumentarisches Journal aus Minsk. Aber bevor wir über all diese Dinge reden, erlauben Sie mir zuerst eine persönliche Frage. Sie sind 1965 geboren. Wie war Ihre Kindheit? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Aus welcher Familie stammen Sie? Was war Ihre intellektuelle, geistige Entwicklung?

Artur Klinaŭ: Ich hatte eine glückliche sowjetische Kindheit. Wie ich es in «Minsk. Sonnenstadt der Träume» beschreibe, bin ich in einem Land des Glücks und in einer Stadt des Glücks geboren. Und das war die Wahrheit, weil wir aufrichtig daran geglaubt haben, dass wir in dem besten, schönsten, fantastischsten Land leben.

In diesem Buch gibt es zwei Linien. Die eine Linie ist die Geschichte des kleinen Jungen, der eben im Land des Glücks aufwächst – und es geht dem Jungen da wirklich gut. Und die andere Linie, das ist die desselben Jungen als Erwachsener, der diese Stadt mit einer ganz anderen kritischen Optik betrachtet und feststellen muss, dass im Hintergrund des Glücks etwas ganz anderes war. Hinter der Schönheit, die sich als Dekoration entpuppt, findet er das Leid und die Schrecken der Realität.

Ich komme aus einer einfachen Familie: Mein Vater war Künstler, und zwar ein antisowjetischer. Er konnte gar nichts mit der sowjetischen Macht anfangen, und sein Dissidententum hat er in gewissem Sinne an mich vererbt.

Die Mutter war eine Kommunistin, eine leidenschaftliche dazu. Sie trat auf Parteitagen auf, hatte einen Posten inne, keinen hohen, aber immerhin. In dieser Familie einer Kommunistin und eines Antisowjetschiks verbrachte ich also meine glückliche Kindheit.

Lukas Bärfuss: Ich hatte bei meiner Frage natürlich einen kleinen Hintergedanken. Es ging mir vor allem um die Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und vielleicht kann ich das kurz auffächern: Es gibt die Behauptung, dass es am 24. Februar 2022 eine Zeitenwende gegeben habe, dass seither alles verändert sei. Und viele, wenn nicht alle Gewissheiten, die wir auf der politischen Ebene hatten und auf der wirtschaftlichen oder geostrategischen, nicht mehr gültig seien. Wie erleben Sie diese Veränderung in der westlichen Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, dass Sie einen Vorsprung haben, dass Sie sehr viel früher diese Desillusionierung über das wahre Wesen der Diktatur und von Putin hatten.

Und noch eine kleine Ergänzung: Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Situation in Belarus, Russland und der Ukraine. Wir können das nur in der Gesamtheit begreifen. Das ist das eine. Und das andere: Man spricht häufig von diesen Ländern als »in Osteuropa liegend«. Aber sie sind natürlich sehr zentral für die europäische Geschichte.

Artur Klinaŭ: Die Zeitenwende, von der heute so oft die Rede ist, muss man natürlich perspektivisch betrachten. Das war und bleibt ein Prozess, während dessen es einige Wendepunkte gibt. Wann dieser Prozess im Kopf von Putin bzw. in seinem System entstand, kann nur er selbst wissen. Ich weiss aber noch, wann ich diese Wende gespürt habe.

Es gab einige Stationen. Zu den ersten kann man zum Beispiel die Münchner Rede von Putin 2007 zählen, oder den Krieg in Georgien. Ich habe aber die Zeitenwende am deutlichsten 2014, mit der Okkupation der Krim und dem Krieg im Donbass gespürt.

Ich kann mich sogar sehr genau an diese Nacht erinnern. Das war im Frühling 2014. Auf einer Duma-Sitzung wurde der Beschluss verabschiedet, dass russische Truppen auch ausserhalb von Russland eingesetzt werden können. Da war mir klar: Die Welt wird nie mehr so wie früher sein. Die neue Epoche bedeutet die Rückkehr der Ordnung, in der keine Normen mehr gelten, keine Vereinbarungen, sondern nur das Recht des Stärkeren. Eine Katastrophe.

Vor diesen Ereignissen haben wir in dem Gefühl gelebt: Lukaschenkas System ist nicht gut, aber auch nicht auf Dauer. Irgendwann geht das vorbei. Und Belarus hat eine Zukunft.

Aber die Ereignisse im Donbass und auf der Krim vermittelten mir das Gefühl: Belarus ist als Nächstes dran nach der Ukraine.

Diese Erfahrung des Bruchs war sehr schwer für mich, das war eine echte existentielle Krise. Ich konnte gar nichts schreiben, da ich verstand, dass all meine Sujets im früheren, friedlichen Leben geblieben waren. Alles kippte um. So habe ich ein Haus in einem verlassenen Dorf gekauft und begann das Künstlerdorf Kaptaruny aufzubauen. Das war eine Art Flucht für mich. Ich wollte vor dem Krieg fliehen, was mir aber nicht gelungen ist.

Artur Klinau, Lukas Bärfuss und die Übersetzerin Iryna Herasimovich unterwegs in Minsk 2015

Lukas Bärfuss: Waren Sie damals alleine mit diesem Bewusstsein, mit diesem Wissen, mit diesen Einschätzungen? Oder war das eine verbreitete Ansicht über die Zeit?

Artur Klinaŭ: Ich denke, das haben alle gespürt. Selbst die belarussische Macht hat das gespürt. Zum ersten Mal haben Sie damals ernsthafte Versuche unternommen, sich mit dem Westen anzufreunden und gewisse Garantien vom Westen zu bekommen. Und eine Zeit lang lief das gut. Belarus driftete nach und nach in Richtung Europa und das war ein sehr positiver Prozess. Dann kam dieser Prozess zum Stillstand 2020, mit der Revolution in Belarus.

Das ist kein einfaches und kein eindeutiges Thema. Vielleicht enttäusche ich jetzt viele, aber ich muss sagen, dass ich dieser Revolution von Anfang an mit grosser Skepsis entgegenblickte. Zu risikoreich war die Situation für das Land. Ich wusste, das wird kein gutes Ende nehmen. Erst jetzt wird deutlich, dass das ebenso zu dem grossen Plan des Kremls gehörte.

Lukas Bärfuss: Ich möchte noch kurz einen Schritt zurückgehen: Sie haben gesagt, dass es ein Bewusstsein gab 2014, dass sich etwas verändert hat, sogar in der belarussischen Führung. Wollen wir jetzt versuchen, das extrem komplizierte Verhältnis vom Regime in Belarus zu jenem in Moskau noch ein bisschen zu erörtern?

Artur Klinaŭ: Das ist ein sehr komplexes Thema, die Beziehungen zwischen Belarus und Russland. Man muss vor allem sagen, dass die Gefahr einer Vereinnahmung, auch vor 2014 schon da war. Allerdings waren die Methoden damals anders. Da hat man eine Inkorporierung durch politische Vereinbarungen und durch Wirtschaft angestrebt. 2014 entstand die Gefahr, dass die Inkorporierung ohne jeglichen rechtlichen Rahmen verläuft, als direkte Annexion. Belarus musste die ganze Zeit vor dem Maul des Raubtiers balancieren.

Dabei hatte Belarus nie so viel Potenzial, sich zu wehren, wie es mit der Ukraine der Fall ist. Auch wenn das unglaublich schwer ist, aber die Ukraine hat eine Chance, der russischen Expansion Widerstand zu leisten. Im Fall von Belarus ist diese Chance gar nicht gegeben. Das Land ist 16 Mal kleiner als Russland, die Eroberung wäre blitzschnell gegangen.

Der einzige Weg, den ich für Belarus sah, war der Weg einer Evolution, einer schrittweisen Bewegung Richtung Westen. Nach und nach. Und deswegen war ich sehr skeptisch, als die Revolution 2020 kam, weil ich an die schrittweise Annäherung an den Westen geglaubt habe, eine Annäherung auf allen Ebenen, auf der Regierungsebene, auf der gesellschaftlichen Ebene etc.

Die belarussische Revolution hatte gar keine Chance, zu gewinnen. Auch wenn wir uns hypothetisch vorstellen, dass das Regime gefallen wäre, wären die russischen Truppen doch einmarschiert.

Lukas Bärfuss: Aber es gab ja diese Wahlfälschung und das war nicht die erste Wahlfälschung. Und die Repressionen waren ja auch nichts Neues. Was ist in diesem August 2020 passiert? Was ist dann passiert, dass die Menschen in Belarus diese Situation nicht mehr akzeptiert haben, wie bei den Wahlen zuvor? Was war in diesem Moment anders, dass das zu dieser Revolution gekommen ist?

Artur Klinaŭ: Wenn es um die belarussische Revolution geht, ist es notwendig, zwei Linien auseinanderzuhalten. Zum einen das Szenario, das vom Kreml bzw. von kremlnahen Kreisen inspiriert wurde, eine Art gelenkte, kontrollierte Revolution. Und die zweite Linie bilden die Ereignisse nach den Wahlen, die keiner Kontrolle unterlagen, und die Reaktion auf die Gewalt waren.

Es ist schwer, darüber zu sprechen, weil es in der Revolution natürlich viele Menschen gab, die ganz aufrichtig dabei waren, die sich von der Macht sehr gekränkt fühlten und empört waren. Auch wenn sie die Gefahr seitens Russlands sahen, konnten sie nicht schweigen, sie mussten auf die Strasse gehen.

Aber im Frühjahr 2020 war es für mich offensichtlich, dass der Kreml eine Destabilisierung in Belarus anstrebt. Er wollte die Annäherung von Belarus an den Westen unterwandern und das Land fest an Moskau binden. Aber nicht alles ist gelungen. Der Aufstand an sich konnte wie gesagt vom Kreml nicht kontrolliert werden. All die Zusammenhänge sind sehr komplex und verwoben.

Das war ein klassisches Schema, das seit Jahrtausenden von Imperien benutzt wird. Das Prinzip heisst »teile und herrsche«. Der Kreml wollte sowohl die belarussische Gesellschaft als auch die Macht schwächen, um diese Territorien an die ehemalige Metropole zu binden.

Lukas Bärfuss: Erlauben Sie mir einen ganz kurzen Ausflug in ein mir persönlich sehr am Herzen liegendes Terrain, nämlich die Sprache. Sie beschreiben sehr anschaulich, was mit der Sprache in einer Diktatur passiert. Die Sprache der Diktatur selbst. Welche Funktion hat die Sprache in einem solchen Moment? In einem solchen Regime? In einer solchen revolutionären Situation?

Artur Klinaŭ: Ich hatte das Glück, sozusagen in zwei totalitären Systemen zu leben. Und ich kann sagen, dass die Sprache des sowjetischen Systems sich sehr unterscheidet von der Sprache des modernen diktatorischen Systems. Die Sprache des sowjetischen Systems war sehr schlicht, sie hat sich vereinfacht bis zu einer Leere. Ich denke an die Parolen, die wir an den Hausmauern hatten, zum Beispiel »Wir sind für den Frieden auf der ganzen Welt« oder »Unser Ziel ist Kommunismus«. Das war eine sehr arme Sprache.

Die Sprache des neuen Totalitarismus ist ganz anders. Sie muss sich in dem Zeitalter der Information behaupten, wo es viel Infomüll gibt, den diese Sprache zu übertönen hat. Sie ist nicht mehr in einem leeren Raum. Nun gibt es Werbung, soziale Netzwerke etc. Deswegen muss sie andere Methoden nutzen. Eine von denen ist zum Beispiel der Rückgriff auf eine einfache und starke Emotion, und zwar auf Hass. Die Sprache des neuen Totalitarismus ist die Sprache des Hasses. Sie versucht, die Gegenseite zu entmenschlichen. Dabei können diese Gegenseite alle sein: Frauen, Feministinnen, Homosexuelle, Nationalisten, Imperialisten, Ukrainer – alle werden in einen Topf geworden. Wer nicht zu der Sekte gehört, ist auf der Gegenseite, er wird gehasst.

Das macht einen grossen Unterschied zur Sprache der Sowjetunion. Die Sowjetunion war zwar auch belagert von Feinden, aber da ging es eher um Verachtung, als um Hass, und man hatte ein gewisses Mitgefühl mit den Arbeitern in westlichen Ländern, die unter den Imperialisten leiden mussten. Der Hass war konkret gerichtet gegen die Haie des Imperialismus, aber nicht gegen alle Menschen.

Ein weiteres wichtiges Merkmal der neuen Sprache des Totalitarismus ist, dass sie paradox ist. Sie operiert die ganze Zeit mit sehr paradoxen Aussagen wie zum Beispiel »Frieden ist Krieg«, »Das Gute ist das Böse«, »Das Schwarze ist das Weisse« und so weiter.

Lukas Bärfuss: Wo haben wir das gelesen? In welchem Buch? Bei George Orwell, oder?

Artur Klinaŭ: Ja, genau.

Lukas Bärfuss: Was mich immer wieder beschäftigt, ist die Vorstellung, dass Sie in all diesen Jahren ganz unmittelbar und sehr direkt diese Diktatur an ihrem Leibe zu spüren bekamen… Wie behält man sich die Autorität über das eigene Denken? Wie gelingt Ihnen diese Luzidität und diese Genauigkeit?

Artur Klinaŭ: Das ist ein Problem. Im damaligen totalitären System, das in einer gewissen informationellen Leere war, brauchte man keine laute Stimme, um gehört zu werden, auch ein Flüstern war zu hören. Jetzt, in diesem informellen Durcheinander, in diesem Infomüll ist es sehr schwierig für einen Autor, so laut zu schreien, dass er gehört wird. Deswegen spielt ein Schriftsteller jetzt eine viel geringere Rolle. Auch wenn es gelingt, in dieser Situation zu schreien, gibt es keinerlei Garantie, dass man von den Menschen gehört wird, an die man sich wendet. Von den »kompetenten Organen«, dem Geheimdienst, aber schon. Selbst in diesem Infomüll verfolgen sie sehr genau, wer da was geschrieben, wer da was geflüstert hat. Im digitalen Zeitalter ist es sehr einfach, eine Gesellschaft zu kontrollieren.

Lukas Bärfuss: Es ist immer wieder erschreckend, lieber Artur Klinaŭ, wie lehrreich die Gespräche mit ihnen sind. Und ich würde wirklich gerne über den Hass und über die Methoden dieses Hasses, mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht aus diesem Gespräch hinausgehen, ohne über das Exil gesprochen zu haben. Die Erfahrung des Exils ist der menschlichen Geschichte eingeschrieben. Sie ist Teil der Literatur. Sie ist auch sogar Teil der christlichen Heilsgeschichte, Abraham und Ovid, und Büchner in Zürich, und Else Lasker-Schüler in Zürich, und ewige Schande über diese Stadt und über die Fremdenpolizei in diesem Kanton. Wir schulden den Exilierten viel, aber das wird ihnen in ihrem Alltag nur wenig helfen. Und meine Frage ist: Wie ist Ihre Situation zurzeit?

Artur Klinaŭ: Ich halte mich nicht für einen Exilierten. Wenn es um mich geht, sage ich, ich bin auf einer kreativen Dienstreise. Ich möchte unbedingt zurück und habe das auch vor. Vor allen Dingen, weil ich dort das Künstlerdorf Kaptaruny habe, das ich gar nicht für lange Zeit verlassen kann.

Aber es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden, egal wo man ist, in Belarus oder hier, weil man diese Katastrophe sieht. Und man fühlt sich nicht imstande, irgendwas dagegen zu unternehmen. Man fühlt sich ohnmächtig und diese Ohnmacht paralysiert und demoralisiert.

Für Belarus ist das eine existenzielle Katastrophe. In der Ukraine ist die Lage ganz schwer, da herrscht Krieg, aber die Ukrainer haben eine Vision von der Zukunft, sie haben eine Zukunft. Sie wissen, wohin sie gehen.

In Belarus haben wir das nicht. In Belarus haben wir eine Sackgasse. Es gibt keine Vision von der Zukunft. Alle Wege sind zu. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Katastrophe. Belarussen werden als Co-Aggressoren gebrandmarkt. Dabei ist Belarus viel mehr Geisel und Opfer als Aggressor.

Um in dieser Situation nicht wahnsinnig, nicht alkoholsüchtig zu werden, sich nicht aufzuhängen, nicht depressiv zu werden, brauche ich einen gewissen Rahmen. Mir hilft, wenn ich mir ein grosses neues Projekt überlege, in das ich eintauchen und in dem ich überleben kann. So war es 2014 mit Kaptaruny. Jetzt schreibe ich an einem grossen Buch. Vielleicht wird es sogar eine Reihe sein. Das ist eine Forschungsarbeit über Imperien, über die Ideen, die in Imperien herrschen, über die Machtverhältnisse, über die Grundlagen der Macht in Imperien.

Lukas Bärfuss: Wie reich ein Gespräch ist, sieht man immer daran, wie unerlöst man bleibt, wenn die Zeit aufgebraucht ist. Und da sind wir jetzt. Ich finde, Sie sollten sich beeilen mit diesem Buch. Ich will es nämlich lesen. Ich bin sehr dankbar, dass Sie Zeit hatten, auf Ihrer kreativen Dienstreise auch einen Zwischenstopp in Zürich zu machen. Ich habe das Gefühl, es warten noch 100000 Fragen und wir sollten das fortsetzen und warum eigentlich auch nicht in Kaptaruny?

Artur Klinaŭ: Ich hoffe sehr, dass wir das bereits in einem Jahr bei unserem Festival Literature Intermarium tun können.

(Das Gespräch fand am 5. Mai 2022 im Literaturhaus Zürich statt und war eine Kooperationsveranstaltung mit dem Slawischen Seminar der Universität Zürich und der Hochschule der Künste Bern. Die schriftliche Fassung ist ein Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2023 erscheinenden Themenheft «Befragung am Nullpunkt. Unabhängige Kultur in Belarus zwischen Repression und Aufbruch», hg. von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller.)

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aus dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas Weiler

Artur Klinaŭ, geboren 1965, Schriftsteller und Architekt, gilt als einer der wichtigsten Künstler seines Landes und lebt gegenwärtig im Exil. Er ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2022.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und Publizist. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Am 23. Februar ist Lukas Bärfuss Gast im Literaturhaus Thurgau.

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Seit 2018 kuratiert sie den über­setzerischen Teil des Forums «Literature Intermarium» im Künstlerdorf Kaptaruny. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Beitragsbilder © Maxim Korostelyov

Alain Claude Sulzer las aus «Doppelleben» im Literaturhaus Thurgau

Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.

«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer 
 

1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert.
Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».

Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller.
Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.

Rezension von «Doppelleben» auf literaturblatt.ch

Fünf Fragen an Gallus Frei, Intendant Literaturhaus Thurgau

Schreibwerk Ost: Lieber Gallus, die für unsere Leser:innen wichtigste Frage zuerst: Wie kommt man als Neuling im Betrieb zu einer Lesung in einem Literaturhaus – welche Wege empfehlen sich aus deiner Sicht?

Gallus Frei: Es gibt bei mir nur zwei Wege. Irgendwann liegt das Buch auf meinem Tisch. Ich beginne aus irgendeinem Grund gerade dieses zu lesen und weiss schon während der Lektüre, dass genau dieses für eine Veranstaltung auf der Bühne des Literaturhauses perfekt wäre. Die Geschichte, das Thema, die Konstruktion, die Sprache, das literarische Abenteuer. Letztlich alles ziemlich subjektive Gründe, warum ich genau jene Personen anspreche.

Zudem kenne ich von meinen Erfahrungen als Besucher aller möglichen Veranstaltungen auch die „Wirksamkeit“ vieler Schreibenden, ihre Authentizität, ihre Begeisterungsfähigkeit. So kenne ich einige, die ich niemals mit mir auf der Bühne haben möchte. (Beispiele nenne ich keine!)

Der zweiter Weg: langjährige „Treue“. Ein Beispiel: Ich lese schon lange und mit grosser Freude Prosa und Lyrik von Lisa Elsässer. Somit war es mir wichtig, sie irgendwann nach Gottlieben zu bringen, ob man sie nun kennt oder nicht. Im Sommer 2023 wird es soweit sein. Ich freue mich schon jetzt. Es wird ein Fest!

Du bist ein bekennender Fan der Schweizer Literatur, kaum jemand, der so viele und so systematisch Schweizer Autor:innen liest wie du. Wie kam es zu dieser Liebe?

Ich war als Kind kein Leser, bekam wohl immer wieder mal zu Weihnachten ein Buch geschenkt, das dann aber meist im Regal ungelesen verstaubte. Erst während meiner Lehrerausbildung mahnte mich mein Deutschlehrer und Seminardirektor, Lesen gehöre zur Welt eines Lehrers. Da ich ihm in meiner Hilflosigkeit entgegnete, ich hätte keine Ahnung, womit ich beginnen sollte, nahm er ein A3-Papier, zeichnete mit seinem Füller die Umrisse der Schweiz und die wichtigsten Seen und schrieb in diese rudimentäre Karte 5 Namen. In meiner Erinnerung waren es Kurt Guggenheim, Robert Walser, C. F. Ramuz, Jacques Chessex und Ruth Blum. „Wenn du von jedem dieser fünf eines gelesen hast, dann komm zu mir und berichte.“

Da die meisten Bücher dieser Autor:innen nur in Antiquariaten für einen Studenten bezahlbar waren, wurde schon die Beschaffung zum Abenteuer.

Aber: Ich tat es, hatte viel mehr als nur fünf gelesen und bekam wieder fünf neue Namen für meine Reise in ein unbekanntes Land. Mit der Leidenschaft kam die Liebe.

Seit 2020 zeichnest du für das Programm des Literaturhauses des Kantons Thurgau verantwortlich. Dabei fällt auf, dass du ganz unterschiedliche Formate aufnimmst und nicht mehr nur reine «Wasserglas-Lesungen» auf die Bühne holst. Ist das deiner persönlichen Neugier geschuldet – oder wie kommt es zu dieser neuen Vielfalt?

Das ist eine Entwicklung, die an Festivals schon lange begonnen hat. Lesen kann man doch eigentlich selber. Und von vielen Autor:innen gibt es Hörbücher. Warum also macht man sich auf den Weg, verlässt die geheizte Stube, setzt sich in den Zug?
Weil man sich von einer Lesung etwas verspricht, was nur die persönliche Begegnung schenken kann. Zumindest geht es mir so. Und ich bezeichne mich als den idealen Besucher jeglicher literarischer Experimente.
Noch immer geistert die Meinung in vielen Köpfen, Lesungen seien verkopft, elitär, vergeistigt, trocken, langweilig und einschläfernd. Das geschieht zuweilen, nicht anders bei Musik oder im Kino.

Ich liebe „Wasserglaslesungen“, wenn sie das Gespräch nicht ausschliessen, wenn sich die Moderation nicht zu wichtig nimmt. Aber ich liebe auch das Experimentelle, die Überraschung, das Zusammenführen verschiedener Kunstsparten.

Noch viel wichtiger ist für mich der Fokus auf jene Literatur, die nicht zuvorderst auf den Bestsellerlisten fungiert. Nicht, dass ich jenen Namen aus dem Weg gehen müsste. Aber das grösste Kompliment für mich als Veranstalter ist das Echo der Besucherin, die mir für eine Neuentdeckung dankt.

Ab 2023 arbeitest du neu zusammen mit Monika Fischer – wie stellt man sich so eine Zusammenarbeit vor? Was läuft da alles hinter den Kulissen eines Literaturhauses?

Brigitte Conrad war über zwei Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt im Literaturhaus. Sie kannte alles und jede:n, war absolut zuverlässig, ein Fels in der Brandung. Ich bin der Überzeugung, dass kaum jemand weiss, wie viel Brigitte Conrad für dieses Haus geleistet hat. Und damit nicht nur für das Haus, sondern für die Literatur eines ganzen Sprachraums.

Intendanzen im Literaturhaus Thurgau dauerten in der Regel drei Jahre. In 22 Jahren ein Kommen und Gehen. Die Arbeit des Sekretariats bedeutete Konstanz. Dafür gebührt Brigitte Conrad grosser Dank.
Dass mit Monika Fischer nun eine neue, initiative Kraft ins kleine Bötchen genommen wird, ist gut und vielversprechend, denn Monika Fischer bringt einiges an Erfahrung mit.
Die Aufgabenteilung zwischen Intendanz und Sekretariat ist genau geregelt. Folglich bin ich äusserst zuversichtlich. Es wird viel gearbeitet hinter den Kulissen des Literaturhauses, sehr viel. Und wie überall in der Kultur nicht des Geldes wegen! Literatur ist Leidenschaft.

Gottlieben am Seerhein ist geografisch betrachtet nicht gerade am Weg – wieso lohnt es sich, ausgerechnet in dieses Literaturhaus zu pilgern? Bitte nenne uns genau drei Gründe.

1. Stolz: Dass der Kanton Thurgau mit einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal 4 Prozent ein eigenes Literaturhaus führt, ist schon Sensation genug. Fast gleichzeitig gegründet wie jene in Zürich und Basel. 2004 kam das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg dazu, 2012 das Maison de Rousseau et de la Littérature (MRL) in Genf, 2014 das Zentralschweizer Literaturhaus in Stans und seit 2019 im Aufbau das Literaturhaus Wyborada in St. Gallen.

2. Liebe: Ich kenne viele Literaturhäuser im In- und Ausland. Keines versprüht derart viel Charme und Liebreiz wie das Literaturhaus Thurgau. Dazu gehört nicht nur das Haus. Auch der Ort Gottlieben am Seerhein. Ein Geburtstagswunsch des Dichters Klaus Merz zum 20jährigen Jubiläum bringt es auf den Punkt:

Frommer Wunsch (Haiku)
Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!

3. Leidenschaft: Literaturhäuser sind Begegnungsorte, literarische Brutstätten. Unverständlich genug, wie selten Schreibende bei den Lauschenden sind! (Michèle Minelli, Peter Höner und Zsuzsanna Gahse ausgenommen!)
Neben der Vielfalt an Veranstaltungen laden solche zum Austausch, zu Gesprächen ein. Im Literaturhaus wird aber auch geschrieben, Neues geschaffen. Ich weiss von einem Autor, der in den drei Nächten, die er dort in der Gästewohnung verbrachte, einen neuen Roman zu schreiben begann. Ich weiss von anderen Autoren, die regelmässig im Haus schreiben und eben diese Mauern brauchen, um dem Geschriebenen den letzten Schliff zu geben. Und im Erdgeschoss führt Sandra Merten eine Buchbinderei, die jedem Büchermenschen das Herz höher schlagen lässt.

Ursula Fricker Gast im Literaturhaus Thurgau

Kaum ein Segment in Buchhandlungen ist derart prominent vertreten wie der Sektor Gesundheit/Ratgeber. Kaum ein Thema treibt die Schriftstellerei so sehr um wie die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Beides vereint der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker. Kein Wunder trifft er den Nerv!

2004 erschien Ursula Frickers Debüt „Fliehende Wasser“, schon damals ein Roman über die klaustrophobische Enge einer kompromisslosen Erziehung und ihrer katastrophalen Folgen. 2009 der Roman „Das letzte Bild“, in dem sich ein Mann mittleren Alters mit einem Mal mit seiner 15jährigen Tochter konfrontiert sieht. 2012 der Roman „Ausser sich“, die Geschichte eines Paares, dessen gemeinsame Geschichte an einem Sonntag wortwörtlich schlagartig die Richtung ändert. Katja geleitet Sebastian, der einen Schlaganfall erleidet, im Helikopter ins Spital. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis. 2016 „Lügen von gestern und heute“ über drei Leben, die gänzlich aus den Fugen geraten.
Und nun 2022 „Gesund genug“, ein Roman, der an den Erstling anschliesst.

Hanne wird ans Sterbebett ihres Vaters gerufen. Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wird zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen können. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften werden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael können ausbrechen. Die Mutter bleibt.

Eine letzte Gelegenheit zur Annäherung zwischen Tochter und Vater vor der ultimativen Entfernung. Der Versuch, etwas zu verstehen, die verschlüsselte Liebesgeschichte einer Tochter zu ihrem unter Idealen begrabenen Erzeuger, die Sehnsucht nach jenem letzten Schimmer eines Vaterbildes, das sich alle wünschen; Geborgenheit, Sicherheit, Stütze und Kraft.
„Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinem Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon.

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann? Hanne findet Zeichnungen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? Am Sterbebett liest Hanne ihrem Vater aus Robert Falcon Scotts Tagebüchern. Auch für Scott gab es damals auf seiner Reise zum Südpol kein Zurück. Lieber heldenhaft in den Tod als ein frühzeitiges Eingeständnis, dass Ponys in der Antarktis nicht die richtige Entscheidung waren.

Hannes Vater sah sich stets in der Rolle des Opfers. Eine Haltung, die einen perfekten Nährboden für ein messianisches, selbstloses Engagement ohne Wenn und Aber bieten kann. Hat uns nicht die moderne Psychologie dazu gebracht, uns immer bloss als Opfer zu sehen? Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers.

«Ich habe mich besonders auf den Besuch im Literaturhaus Thurgau gefreut. Danke Monika und danke Gallus für diesen in mancher Hinsicht prächtigen Abend in Gottlieben!» Ursula Fricker

„Gesund genug“ sticht mitten ins Herz!

Rezension von «Gesund genug» auf literaturblatt.ch