Fünf Fragen an Gallus Frei, Intendant Literaturhaus Thurgau

Schreibwerk Ost: Lieber Gallus, die für unsere Leser:innen wichtigste Frage zuerst: Wie kommt man als Neuling im Betrieb zu einer Lesung in einem Literaturhaus – welche Wege empfehlen sich aus deiner Sicht?

Gallus Frei: Es gibt bei mir nur zwei Wege. Irgendwann liegt das Buch auf meinem Tisch. Ich beginne aus irgendeinem Grund gerade dieses zu lesen und weiss schon während der Lektüre, dass genau dieses für eine Veranstaltung auf der Bühne des Literaturhauses perfekt wäre. Die Geschichte, das Thema, die Konstruktion, die Sprache, das literarische Abenteuer. Letztlich alles ziemlich subjektive Gründe, warum ich genau jene Personen anspreche.

Zudem kenne ich von meinen Erfahrungen als Besucher aller möglichen Veranstaltungen auch die „Wirksamkeit“ vieler Schreibenden, ihre Authentizität, ihre Begeisterungsfähigkeit. So kenne ich einige, die ich niemals mit mir auf der Bühne haben möchte. (Beispiele nenne ich keine!)

Der zweiter Weg: langjährige „Treue“. Ein Beispiel: Ich lese schon lange und mit grosser Freude Prosa und Lyrik von Lisa Elsässer. Somit war es mir wichtig, sie irgendwann nach Gottlieben zu bringen, ob man sie nun kennt oder nicht. Im Sommer 2023 wird es soweit sein. Ich freue mich schon jetzt. Es wird ein Fest!

Du bist ein bekennender Fan der Schweizer Literatur, kaum jemand, der so viele und so systematisch Schweizer Autor:innen liest wie du. Wie kam es zu dieser Liebe?

Ich war als Kind kein Leser, bekam wohl immer wieder mal zu Weihnachten ein Buch geschenkt, das dann aber meist im Regal ungelesen verstaubte. Erst während meiner Lehrerausbildung mahnte mich mein Deutschlehrer und Seminardirektor, Lesen gehöre zur Welt eines Lehrers. Da ich ihm in meiner Hilflosigkeit entgegnete, ich hätte keine Ahnung, womit ich beginnen sollte, nahm er ein A3-Papier, zeichnete mit seinem Füller die Umrisse der Schweiz und die wichtigsten Seen und schrieb in diese rudimentäre Karte 5 Namen. In meiner Erinnerung waren es Kurt Guggenheim, Robert Walser, C. F. Ramuz, Jacques Chessex und Ruth Blum. „Wenn du von jedem dieser fünf eines gelesen hast, dann komm zu mir und berichte.“

Da die meisten Bücher dieser Autor:innen nur in Antiquariaten für einen Studenten bezahlbar waren, wurde schon die Beschaffung zum Abenteuer.

Aber: Ich tat es, hatte viel mehr als nur fünf gelesen und bekam wieder fünf neue Namen für meine Reise in ein unbekanntes Land. Mit der Leidenschaft kam die Liebe.

Seit 2020 zeichnest du für das Programm des Literaturhauses des Kantons Thurgau verantwortlich. Dabei fällt auf, dass du ganz unterschiedliche Formate aufnimmst und nicht mehr nur reine «Wasserglas-Lesungen» auf die Bühne holst. Ist das deiner persönlichen Neugier geschuldet – oder wie kommt es zu dieser neuen Vielfalt?

Das ist eine Entwicklung, die an Festivals schon lange begonnen hat. Lesen kann man doch eigentlich selber. Und von vielen Autor:innen gibt es Hörbücher. Warum also macht man sich auf den Weg, verlässt die geheizte Stube, setzt sich in den Zug?
Weil man sich von einer Lesung etwas verspricht, was nur die persönliche Begegnung schenken kann. Zumindest geht es mir so. Und ich bezeichne mich als den idealen Besucher jeglicher literarischer Experimente.
Noch immer geistert die Meinung in vielen Köpfen, Lesungen seien verkopft, elitär, vergeistigt, trocken, langweilig und einschläfernd. Das geschieht zuweilen, nicht anders bei Musik oder im Kino.

Ich liebe „Wasserglaslesungen“, wenn sie das Gespräch nicht ausschliessen, wenn sich die Moderation nicht zu wichtig nimmt. Aber ich liebe auch das Experimentelle, die Überraschung, das Zusammenführen verschiedener Kunstsparten.

Noch viel wichtiger ist für mich der Fokus auf jene Literatur, die nicht zuvorderst auf den Bestsellerlisten fungiert. Nicht, dass ich jenen Namen aus dem Weg gehen müsste. Aber das grösste Kompliment für mich als Veranstalter ist das Echo der Besucherin, die mir für eine Neuentdeckung dankt.

Ab 2023 arbeitest du neu zusammen mit Monika Fischer – wie stellt man sich so eine Zusammenarbeit vor? Was läuft da alles hinter den Kulissen eines Literaturhauses?

Brigitte Conrad war über zwei Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt im Literaturhaus. Sie kannte alles und jede:n, war absolut zuverlässig, ein Fels in der Brandung. Ich bin der Überzeugung, dass kaum jemand weiss, wie viel Brigitte Conrad für dieses Haus geleistet hat. Und damit nicht nur für das Haus, sondern für die Literatur eines ganzen Sprachraums.

Intendanzen im Literaturhaus Thurgau dauerten in der Regel drei Jahre. In 22 Jahren ein Kommen und Gehen. Die Arbeit des Sekretariats bedeutete Konstanz. Dafür gebührt Brigitte Conrad grosser Dank.
Dass mit Monika Fischer nun eine neue, initiative Kraft ins kleine Bötchen genommen wird, ist gut und vielversprechend, denn Monika Fischer bringt einiges an Erfahrung mit.
Die Aufgabenteilung zwischen Intendanz und Sekretariat ist genau geregelt. Folglich bin ich äusserst zuversichtlich. Es wird viel gearbeitet hinter den Kulissen des Literaturhauses, sehr viel. Und wie überall in der Kultur nicht des Geldes wegen! Literatur ist Leidenschaft.

Gottlieben am Seerhein ist geografisch betrachtet nicht gerade am Weg – wieso lohnt es sich, ausgerechnet in dieses Literaturhaus zu pilgern? Bitte nenne uns genau drei Gründe.

1. Stolz: Dass der Kanton Thurgau mit einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal 4 Prozent ein eigenes Literaturhaus führt, ist schon Sensation genug. Fast gleichzeitig gegründet wie jene in Zürich und Basel. 2004 kam das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg dazu, 2012 das Maison de Rousseau et de la Littérature (MRL) in Genf, 2014 das Zentralschweizer Literaturhaus in Stans und seit 2019 im Aufbau das Literaturhaus Wyborada in St. Gallen.

2. Liebe: Ich kenne viele Literaturhäuser im In- und Ausland. Keines versprüht derart viel Charme und Liebreiz wie das Literaturhaus Thurgau. Dazu gehört nicht nur das Haus. Auch der Ort Gottlieben am Seerhein. Ein Geburtstagswunsch des Dichters Klaus Merz zum 20jährigen Jubiläum bringt es auf den Punkt:

Frommer Wunsch (Haiku)
Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!

3. Leidenschaft: Literaturhäuser sind Begegnungsorte, literarische Brutstätten. Unverständlich genug, wie selten Schreibende bei den Lauschenden sind! (Michèle Minelli, Peter Höner und Zsuzsanna Gahse ausgenommen!)
Neben der Vielfalt an Veranstaltungen laden solche zum Austausch, zu Gesprächen ein. Im Literaturhaus wird aber auch geschrieben, Neues geschaffen. Ich weiss von einem Autor, der in den drei Nächten, die er dort in der Gästewohnung verbrachte, einen neuen Roman zu schreiben begann. Ich weiss von anderen Autoren, die regelmässig im Haus schreiben und eben diese Mauern brauchen, um dem Geschriebenen den letzten Schliff zu geben. Und im Erdgeschoss führt Sandra Merten eine Buchbinderei, die jedem Büchermenschen das Herz höher schlagen lässt.

„Die Magie des ersten Satzes“ – eine Matinee

Eine literarische Matinee mit acht Autorinnen und Autoren. Kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli.

Die Magie des ersten Satzes. Welches Geheimnis verbirgt er? Wann wird ein Anfang zu einer guten Geschichte? Womit weckt eine Figur vom ersten Auftritt an Interesse? Wie entstehen aus Worten Welten?

Tobias Bonderer, Veronika Bucher, Heike Felber, Hansjürg Geiger, Diana Krüger, Manuela Müller, Johannes Nolte und Roli Trümpi wagen den Sprung ins leere Blatt.

Eine literarische Matinee, die den Anfang ins Zentrum rückt. Lesungen, Intermezzi, Gespräche kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli, Schreibwerk Ost.

Sonntag, 18. Februar, von 10.30 bis 13 Uhr im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG!

www.schreibwerk-ost.ch

Schreibwerk Ost «Schreiblexikon, das», Michèle Minelli & Peter Höner

Schreiben ist keine Glücksache. Schreiben muss mit Sicherheit Talent sein, vorallem dann, wenn das Geschriebene verkauft und gelesen werden soll. So schiessen Schreibstuben wie Pilze aus dem Boden. Solche, die in blumigen Versprechen den Erfolg versprechen. Als wäre ein Buch zu schreiben nur eine Frage der richtigen Einstellung und dem entsprechenden Support.

«Schreibwerk Ost» nennt sich, was sich hoch über der Thur auf dem Iselisberg zusammen mit den Schriftstellern Michèle Minelli und Peter Höner formierte. Ein Schriftstellerpaar, das nicht bloss einfach sehnsüchtig Schreibende zu SchriftstellerInnen machen will, sondern das Schreiben institutionalisieren. Zwei Engagierte, die keine falschen Versprechungen machen! Entstanden ist dabei nicht nur eine Startrampe für das eigene Schreiben, sondern ein Buch über das Schreiben. 680 Begriffe sollen zeigen, wie das Autorenleben wirklich ist. «Das Schreibuniversum von A bis Z. Schlicht alles, was es braucht, um glücklich zu sein.»

Buchdeckel, der: Der Name ->Name B. ist eine Aufforderung zur Rebellion. Dieser Deckel will geöffnet werden. Peter Höner

Schreiben ist Privatsache. Aber einmal geschriebene Texte grösstenteils nicht mehr, ausser sie sind unter Verschluss. Texteaber sind der Öffentlichkeit ausgesetzt. Schreibwerk-Ost zeigte, wie Texte entstehen, worauf sie gründen, was sie wollen. 20 Frauen und ein Mann stellten zum einen eigene Texte aus ihrem eigenen Schaffen vor, Texte, die an diesem Sonntag direkt entstanden und das Buch «Schreiblexikon, das», das von Michèle Minelli und Peter Höner herausgegeben wurde. «Autorinnen und Autoren sagen, wie es wirklich ist.» – Ein Standartwerk mit Prädikat «unverzichtbar»!

Buchstaben (Pl.): Wenn man bedenkt, dass fast alles Geschriebene aus B. besteht, dann stellt man fest, dass B. schon seit langer Zeit domestizierte Begleiter des Menschen sind. Wölfe hat man auch domestiziert, damit sie zu Hunden werden. B. -gruppen, die zu wild sind, werden umgeformt. Man mag sie treu und loyal. Hunde werden im Alter oder wegen schlechter Behandlung launisch, bösartig, bissig. Also Vorsicht beim Domestizieren. Francine Vonderhagen

Seit vielen Jahren unterrichten Michèle Minelli und Peter Höner «Literarisches Schreiben» auf dem Iselisberg, hoch über der Thur. Michèle Minelli, zuletzt mit dem Roman «Die Verlorene» aufgefallen und Peter Höner von dem im kommenden Herbst beim Limmat Verlag ein neuer Krimi erscheinen wird. Zusammen mit den beiden Initianten, Organisatoren, Beflügler zeigten mehr als zwei Dutzend Autorinnen und Autoren unter dem Dach des Bodman-Literaturhauses in Gottlieben wie lebendig, witzig, mitreissend, spontan und ernsthaft Literatur sein kann und muss. Wie wertvoll in einem kleinen Kanton am Rande der Schweiz, dem sonst schnell Literarische Provinzialität angelastet werden kann, gäbe es dieses Literaturhaus nicht. Michèle Minelli und Peter Höner zeigten im Kollektiv, was Schreiben bedeuten kann; ganz eigene Perspektiven, genaue Recherche, tiefes Rollenbewusstsein, im Spannungsfeld zwischenDistanz und Nähe.

Dichten, das: Beim D. trete ich mit meinen Worten ganz bewusst in meine eigenen Fussabdrücke im Schnee der Vorstellungskraft – wo auch immer diese Spur mich hinführt, dort begegne ich mir selbst. Sarah Elena Neukom

Für einmal war bei einer literarischen Veranstaltung nicht der bereits gedruckte Text, das Buch im Vordergrund, sondern die Kunst des Ausdrucks, unmittelbar mit eben entstandenen Texten, eine Performance der Extraklasse. Texte über das Beben, Texte, die zum Beben brachten, Texte voller Leidenschaft, die sich unters Publikum mischten. Mit Sicherheit nicht untypisch, dass sich unter all den Autorinnen nur ein einziger Autor traute, seine Texte vorzutragen. War beim Battle noch die Genderproblematik im Vordergrund, hätte die wirkliche Frage lauten sollen, ob und warum Literatur immer mehr zur Frauensache wird. Wer liest, ist meist weiblich. Wer unterbezahlt in vielen kleinen Verlagen die grosse Arbeit verrichtet, ist mehrheitlich weiblich. Nur Preise werden gern von Männern abgeräumt, die sich dann gerne von ihren männlichen Verlagsbossen umarmen lassen. Und noch eine Frage: Warum fehlt es am Selbstvertrauen, das Schreibende ihre Texte nicht häufiger aus dem geschützen Rahmen treten lassen? Warum liest niemand laut in Wartezonen von Flughäfen? Warum ist es bloss Franz Hohler, der an einem Stand seine Prosa zum besten gibt, nur Adolf Muschg, der sich einsam traut, sich in TV-Politsendungen in Nesseln zu setzen, nur Pedro Lenz, der mit seinen Texten eine ganze Klosterkirche füllt? Wo sind die Frauen?

Musenkuss, der: Ein Kuss, den man nicht erzwingen kann. Die ->Muse ist eine ->Diva, die nur küsst, wen sie möchte, wenn es am wenigsten erwartet wird. Ein heftiger M. zwingt den ->Autor dazu, sofort alles stehen und liegen zu lassen und sich der ->Muse hinzugeben. Wogegen ein leichter, kaum spürbarer M. dem ->Text dabei hilft, vorwärts zu fliessen. Monica Heinz

Die Veranstaltung «Schreibwerken 2017» wollte keine Antworten geben. Dafür präsentierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, arrivierte neben Neulingen ihre Texte, liessen sich über die Schulter gucken, offenbarten, wie sie handwerklich vorgingen, wie sie Spannung erzeugen, Reize im Publikum wachkitzeln, kurz: wie sie schreiben.

Mitwirkende Autorinnen und Autoren: Jürg Ackert, Jeanette Bergner, Sandra Böni, Margrit Brunner, Milena Caderas, Carolina Caroli, Doris Condrau, Heidi Dällenbach, Barbara Fischer, Maja Gruss, Brigitte Guggisberg, Monica Heinz, Marie-Luise Hermann, Chantal Kämpfen, Stephanie Kohler, Ruth Loosli, Gabriele Meseth, Ruth Müller, Sarah Elena Neukom, Gisela Recke, Lea Reichmuth, Manuela Rüeger, Nicole Sauerländer, Bettina Scheiflinger, Eva Waiblinger und Christine Zureich.

Das Buch «Schreiblexikon, das» ist in jeder guten Buchhandlung zu bestellen. Direkt auch unter der Homepage von Michèle Minelli oder mit der ISBN 978-3-033-06042-5.

Webseite Schreibwerk Ost