Der Solothurner Literaturpreis, der alljährlich «für hervorragende literarische Leistungen an das Gesamtwerk eines deutschsprachigen Autors oder einer deutschsprachigen Autorin» verliehen wird, das durch «literarische Qualität, künstlerische Individualität und inhaltliche Relevanz» hervorsticht, geht dieses Jahr an Alain Claude Sulzer.
Unter den Preisträgern der letzten Jahre finden sich Autoren wie Anne Weber, Karen Duve, Peter Stamm, Iris Wolff oder Thérézia Mora.
Der Autor dazu: Gerade über die Würdigung des Gesamtwerk freue mich sehr.
Aus der Begründung der Jury:
Alain Claude Sulzer hat über vier Jahrzehnte ein literarisches Werk geschaffen, das rund ein Dutzend Romane sowie kürzere Prosa umfasst. Ob sich Sulzer in einen Stoff des 19. Jahrhunderts vertieft oder in die Nachkriegsgesellschaft zurückversetzt: Stets vermag er glaubwürdige Stimmungslandschaften zu erzeugen und bringt den Lesenden Protagonisten nahe, die man leicht als Nebenfiguren der Geschichte übersehen könnte… In Sulzers Schaffen sedimentieren sich auch gewaltsame Realitäten vom sexuellen Übergriff bis hin zu strukturellen Unterdrückungsmechanismen. Dabei schreibt der Romancier unbeirrt und immun gegenüber kurzfristigen Trends. Verdrängtes holt er nüchtern und behutsam zurück ans Licht und beweist mit jedem Werk seinen Willen zur Form und ein unvergleichliches Gespür für Sprache und Stil.
Mit «Ein perfekter Kellner» (2004) gelang ihm der internationale Durchbruch, sein grösster Verkaufserfolg im heimischen Markt war «Aus den Fugen» (2012). Seine Romane werden regelmässig in zahlreiche Sprachen übersetzt, 2008 wurde Sulzer in Frankreich mit dem Prix Médicis étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane «Postskriptum» (2015), «Doppelleben» (über die Brüder Goncourt, 2022) und unlängst «Fast wie ein Bruder» (2024), «ein berührender Roman. Ein schonungslos aufrüttelndes Buch über eine Freundschaft über den Tod hinaus.» (Berliner Morgenpost).
Wer Erfahrungsberichte aus Kriegen liest, muss feststellen, dass sie keiner Zeit unterworfen sind. Ob während der Weltkriege oder in den Kriegen in der Ukraine oder in Syrien. Der Schrecken ist universell, genauso wie die Wunden, die sich selbst nach Jahrzehnten nicht schliessen.
Ebenso allgemeingültig ist das Schweigen derer, die diesem Schrecken ausgesetzt waren. Ob als Täter oder Opfer, als Zeugen oder als Verschonte. Die Angst vor Wunden, die aufgerissen wieder zu eitern beginnen, wird dort deutlich, wo sich bis heute in Familien eine Wand des Schweigens, des Verdrängens, jegliches Erinnern, jede Form der Auseinandersetzung verunmöglicht.
Auch Helena Schätzle machte diese Erfahrung, begegnete dem als Fotografin in ihrer ganz speziellen Art. Das wenige, das ihr Grossvater, der im 2. Weltkrieg als Maschinengewehrsoldat an der russischen Front teilnehmen musste, das, was er von seiner langen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Hause erzählte, nahm sie als Anlass zu einer Reise zurück in die Zeit, einer Reise mit ihrer Fotokamera. Sie fuhr 9645 Kilometer kreuz und quer durch Osteuropa, um nach Menschen, Landschaften, Bildern zu suchen, die etwas von dem verraten, was im Schweigen ihres Grossvaters zu versinken drohte.
Helena Schätzle «9645 Kilometer Erinnerung», Nimbus, 168 Seiten 128 Illustrationen, CHF ca. 44.00, auch als Vorzugsausgabe mit Originalfoto erhältlich, ISBN 978-3-907142-71-4
Sie fotografierte Menschen, denen Erinnerungen, ein langes Leben Landschaften ins Gesicht schrieb. Menschen, die im Moment des Fotografierens den Blick ins Zurück zeigen. Menschen, die ihr erzählen, ungekünstelt, ehrlich, manchmal von der Unmöglichkeit, den Schrecken des Krieges in Worte zu fassen, manchmal vom schlichten Überleben, manchmal von dem einen Moment, der das Weiterleben ausmachte, manchmal vom Risiko jemanden zu verstecken, manchmal vom Versprechen einer Mahlzeit.
Sie fotografierte Landschaften, Bilder im Jetzt, vernarbte Landstriche, vergessene Orte, einsame Winkel, trostlose Perspektiven. Helena Schätzles Fotos sind geprägt vom grossen Respekt einer vorsichtigen, zurückhaltenden Betrachterin. Helena Schätzle vertraut auf die Empathie jener, die sich die kurzen Berichte, die Dokumente aus jener Zeit und ihre Fotografien betrachten und alles übereinanderlegen. «9645 Kilometer Erinnerung» ist ein beeindruckendes Monument der Vergegenwärtigung, ein Denk-mal in Buchform, der behutsame Versuch einer Annäherung erlebten Schreckens.
Nichts an den Texten aus der Vergangenheit hat an Aktualität verloren. Die 60 Jahre dazwischen sind ein Hauch, ein Nichts. Umso beeindruckender dieses Buch.
Helena Schätzle, Jahrgang 1983, studierte Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie an der Kunsthochschule Kassel. Seit Jahren unternimmt sie ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, wo sie intensiv an Fotografieprojekten arbeitet. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch “gute aussichten”, „The Aftermath Projekt“, „Epson Award“, „Inge Morath Award“. Sie hatte u.a. Ausstellungen in Hamburg, Washington, Kassel, Köln, Mumbai, Stuttgart, Berlin. Helena Schätzle arbeitet als freie Fotografin für verschiedene Magazine und Zeitungen.
Leo hat sich ausgeklinkt. Seit siebzehn Jahren haust und versteckt er sich in einem Bunker auf einer kleinen Insel in der Flensburger Förde an der deutsch-dänischen Grenze. Immer im Oktober sticht er aufs Festland, um seinen jährlichen Mord zu begehen. Er tötet jene, die der Welt Schaden zufügen.
Vorläufig blockieren die meisten nur Strassen oder demonstrieren sonst auf eine Art, Greenpeace schon seit Jahrzehnten. Aber wer weiss, zu welchen Massnahmen all die Verzweifelten greifen werden, wenn die Hoffnungslosigkeit die Massen ergreift, wenn aus Hoffnung- und Ratlosigkeit tödliche Radikalität wird?
Erstaunlich genug, dass die Menschheit die immer grösser werdende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Dahinsiechenden und unsäglich Privilegierten so einfach hinnimmt, dass man den Versprechen und Beschwichtigungen der Mächtigen noch immer glaubt, die die Massen zu betäuben wissen, damit sie, die in Objektive Lächelnden, weiterhin auf der Sonnenseite des Lebens ihren Luxus geniessen können.
Leo hat sich einer Aufgabe verschrieben, auch wenn ihm klar ist, dass er mit seinen Morden höchstens Verunsicherung erreicht, persönliche Genugtuung, der „Tropfen auf dem heissen Stein“ gleich wieder verdampft. Ich werde mich von keinem Kraken in die Tiefe ziehen lassen. Ich bin der Krake.
Einzig halbwegs Verbündete ist die todkranke Liv, die auf der grösseren Insel gleich daneben, die mit Bikes über eine schmale Holzbrücke befahren werden kann, eine Imbissbude betreibt. Bei Liv gibt es die besten Hotdogs der Welt. Aber Liv hat ALS, eine unheilbare Nervenkrankheit, Muskelschwund, der irgendwann unausweichlich zum Erstickungstod führt. Aber so wie Leo eine Strategie für seinen Rachefeldzug eingerichtet hat, wird es Liv tun, wenn es soweit sein wird. Die Dynamitstangen sind bereit; ein kurzes Ende mit Schrecken.
Christoph Keller «Blauer Sand», Limmat, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03926-077-5
Die Insel, auf der Leo sich seit Jahren versteckt, hat sich über die Jahre verändert, weil sich immer wieder Horden von Tagestouristen auf ihr breit machen, weil von dem einstmals rätselhaft blauen Sand nach den Posts eines Besuchers nichts geblieben ist. Leo, der durchs Jahr das Leben eines Eremiten führt, der sich mehr oder weniger selbst versorgt, spürt aber nicht nur das drohende Ende Livs und die trampelnden Touristen auf der Insel. Dass etwas da ist, was bisher fern blieb; eine junge Frau auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters. Thea ist wie Leo auf einer Mission. Obwohl sie ihren Vater nicht mochte.
Es kommt zum Showdown auf der kleinen Insel, ein Showdown, der aber so gar nicht jene Wendung einnimmt, die die Protagonisten gleichermassen überrascht wie mich als Leser. Eine Begegnung, mit der Leo schon viel früher rechnete. Thea und Leo stehen sich gegenüber, so wie Leo seinen Opfern jeweils gegenübersteht. Es muss mehr sein als eine blosse Auslöschung, ein simpler Rachemord. So wie Liv in ihrer Hotdogbude mit einem lauten Knall von der Insel verschwinden will, so will Leo mit jedem seiner Morde ein Statement abgeben. Es müssen kleine Siege sein. Wenn Leo einmal im Jahr in einem Flugzeug sitzt und sich in der Business Class einen Bourbon gönnt, hat er es wieder getan, jedes Jahr im Oktober. Wieder „einen Scheisskerl“ erledigt, von denen es auf der Welt genug gibt.
Leo sagt von sich selber, es sei nicht Rache, sein Motiv sei Schutz. Er sei der vernünftigste Mensch der Welt, einer, der die Typen ausschaltet, die am Ast sägen, auf dem wir alle sitzen.
Christoph Kellers Roman ist nicht blosse Versuchsanordnung. Wann wird aus Enttäuschung Radikalität? Kann man von einem eingeschlagenen Weg zurück, selbst auf einer Einbahnstrasse? Die Lektüre dieses Romans ist Auseinandersetzung. Nicht zuletzt die Literatur gewordene Reaktion eines Mannes, der seinen Zorn über die Gegenwart nicht verbergen kann. Ist das eine Töten amoralischer als das andere? Die Grenzen zwischen Heldentat und Verbrechen sind seit jeher fliessend und oft bloss Resultat einer eingenommenen Perspektive. Kellers Roman rüttelt auf und ist logische Konsequenz einer aus dem Ruder gelaufenen Gesellschaft. Womit sich Keller hier auseinandersetzt, wird über Kurz oder Lang Realität werden, wenn wir es nicht schaffen einer immer breiter werdenden Masse die Hoffnung zurückzugeben.
Ein wichtiges Buch!
Interview
Wir leben in einer Zeit, in der viele Leserinnen und Leser bei Büchern den Faktencheck machen. Ein Buch muss mit der Realität, mit dem Leben der Schreibenden fest verknüpft sein. Rein fiktionales Schreiben scheint regelrecht out zu sein. Dein Buch hat einen seltsamen Bezug zur Realtät, denn wir alle wissen, wie nah wir dem Szenario eines „Rächers“ gekommen sind, dass es wohl nicht mehr viel braucht, bis sich Klimaaktivist*innen noch ein paar Stufen mehr radikalisieren. Wie weit ist ein solcher Roman das Resultat Deiner eigenen Sorge, aber auch Deiner Wut? Ist das Buch Dein Versuch, Dich „zu retten“? Diesen Kurs verdanke ich John Berger, der meinem Roman ein bisschen Pate stand. Ich kehre immer wieder zu seinen Essays zurück und wundere mich jedes Mal mehr: Wie kann einer ein so rigoroser Warner in der Wüste sein, aber nie zur Tat schreiten? Ein vergleichbares Gefühl packt einen ja auch beim täglichen Nachrichten hören. So viel Negatives, dass immer mehr nicht mehr ertragen, Burn-out kriegen oder sich ausklinken. So einer ist mein Leo Cavor, der sich ausgeklinkt hat, aber eben jedes Jahr im frühen Oktober loszieht, um jemanden zu eliminieren, der dem Planeten und der Menschheit enormen Schaden zufügt. Nur eben: Gewalt gebiert Gewalt. Ich würde das nicht tun. Ich bin ein Schreibtischtäter.
„Nichts ist schwieriger, als die Menschen zur Vernunft zu bringen, selbst wenn es um das eigene Überleben geht“, sagt Thea irgendwann zu Leo. Das wissen wir alle selbst. Wir konsumieren grenzenlos. Wir lenken uns strategisch ab von den tatsächlichen Problemen dieses Planeten und seiner Bewohner. Leo hat sich irgendwann entschieden, das scheinbar Unverrückbare nicht mehr einfach hinzunehmen. Auch Liv nimmt nicht einfach hin, wie die Krankheit sie tötet. Und Thea nimmt auch nicht bloss hin, auch wenn ihr Tun eine seltsame Wendung einnimmt. Wie weit glaubst Du, muss Literatur Stellung beziehen? Das ist eine Paraphrase des berühmten Zitats von Bertrand Russell. Es ist schon schlimm zu sehen, wie die Menschen die Probleme ausblenden und weitermachen wie gehabt. Vor allem, wenn es um Reisen und Autos geht, setzt der Verstand aus. Nach mir die Sintflut, Tanz auf dem Vulkan. Ich kann mir keine andere Literatur vorstellen als eben jene, die zu den täglichen Schrecken Stellung bezieht. Das geht ja alles auf Tschechow zurück, der in «Onkel Wanja» den Arzt Astrow über das Abholzen der Wälder verzweifeln lässt. Das war visionär. Heute haben sich die Visionäre irgendwie erledigt, es ist ja alles offensichtlich, nur wollen wir es nicht wahrhaben. Mir hilft da die Fantasie – eine magische Insel zu schaffen oder einen sich mit jedem Schritt dehnenden Garten wie in «Der Boden unter den Füssen».
Wann ist Töten eine Heldentat? Ach, im Krieg wohl. Wir befinden uns im Krieg – mit der Natur, die doch unser Verbündeter sein sollte. Aber eigentlich nie.
Jene kleine Insel in der Flensburger Förde, die Insel mit dem einstmals blauen Sand, ist Stellvertreterin für all jene Orte, die durch den Fokus der Öffentlichkeit zerstört werden, ein Fokus, der mitunter auch ganz uneigennützige und respektable Ursachen hatte. Aber kaum im Fokus ergisst sich eine Horde fotografierender und filmender Wilder über jene letzten Reste unberührter Natur und zerstören. In einer Zeit, in der man sich alles in die eigene Stube holen kann doch eigentlich seltsam. Ist es die Sucht, an etwas Besonderem teilhaben zu wollen? Ja, das, und Rastlosigkeit. Der Mensch ist ein rastloses Wesen, muss immer in Bewegung sein. Aber weil wir immer mehr werden, stöhnt unser armer Planet auf. Da bin ich schon versucht, einen Zusammenhang mit den immer häufiger, immer stärker werdenden Unwettern zu sehen. Vielleicht will uns die Erde ja abschütteln. Kommt die Ironie dazu, dass unsere individuelle Sucht nach dem Besonderen immer mehr zum Massentourismus wird.
Leo ist nichts anderes als ein Umwelt- oder Klimaaktivist, wenn auch mit ganz radikalen Mitteln. Ich kann ihn durchaus verstehen. Und ich bin mir sicher, Du „spielst“ mit genau diesem Gefühl, diesem dauernden Kippen zwischen Moral und Schadenfreude. Das muss man aushalten können, wenn man Dein Buch liest. Wirst Du mit mahnenden Briefen zugedeckt? Gibt es Reaktionen? Nein, keine einzige Postkarte. Vielleicht eben, weil man das Thema meiden will.
Am 4. Dezember erschoss ein 26jähiger einen Chef des Versicherers UnitedHealthcare mitten in New York und wurde nach seiner Festnahme von vielen im Netz als Held gefeiert. Werden so Attentäter zu Helden? Genau davon erzählt ja mein Roman, habe ich als Erstes gedacht. Da schaltet einer den CEO einer wirklich üblen Krankenkasse aus. Eine Versicherung, die Ungezählte auf dem Gewissen hat, weil sie überall nur an Gewinnoptimierung denkt. Und der Mord wird auf Social Media gefeiert. Die USA sind, was Gewalt angeht, ein Pulverfass. Allzu viele stehen mit gezückten Streichhölzern bereit. Es wäre jetzt natürlich schön, mit meinem Serienmörder Leo Cavour davon zu träumen, das ein moralisch gerechtfertigter Mord – wenn es das denn gibt – das Leben Zahlloser rettet.
Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). «Jeder Krüppel ein Superheld» ist seit 2022 in Englisch (Penguin Random House UK, London) erhältlich. Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Sein Roman «Der Boden unter den Füssen» wurde mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.
«Als passionierte Bücherfrau und langjährige SRF-Literaturredaktorin weiss ich aus eigener Erfahrung, wie stark das Bedürfnis beim leseaffinen Publikum ist, Zugang zu haben zu professioneller, unabhängiger Berichterstattung über Literatur. Leider steht den Feuilletons in den herkömmlichen Medien dafür immer weniger Platz zur Verfügung. Umso schöner, dass es Webseiten gibt wie literaturblatt.ch und das Literaturblatt von Gallus Frei, die diese Lücke mit Knowhow und Herzblut füllen: Sie fördern die Motivation zu lesen und geben Orientierung in einem schier unüberschaubaren Markt.» Luzia Stettler,
Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.
Anmeldungen direkt an literaturhaus@wyborada.ch
17. September (Bitte bis Seite 98 in «Die Ränder der Welt» lesen!) 22. Oktober 12. November (im Gespräch mit Jens Steiner) 10. Dezember 7. Januar (im Gespräch mit Rebekka Salm)
Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!
Jens Steiner (1975), studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman »Hasenleben« erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“, „Mein Leben als Hoffnungsträger“ und „Ameisen unterm Brennglas“. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund
„Die Ränder der Welt“: Als Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt. Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt…
„Statt geschmeidig den Markt zu bedienen, folgt Steiner als Autor seinen eigenen Interessen: mit einer gewissen Sturheit, aber auch mit Witz und sprachlichem Eigensinn.“ Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt
Rebekka Salm (1979), wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch „Das Schaukelpferd in Bichsels Garten“ (2021) erschienen. Bei Knapp erschien 2022 ihr vielbeachtetes Debüt „Die Dinge beim Namen“ und 2024 „Wie der Hase läuft“. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen.
„Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.“ Elke Heidenreich über das Debüt „Die Dinge beim Namen“
„Wie der Hase läuft“: Amsterdam, 1943: In einer Bäckerei fällt ein Schuss, hinter dem Tresen stirbt ein junger Mann. Seine Witwe, fast noch ein Kind, flieht in die Schweiz. Fünfzig Jahre später verlässt im Basler Hinterland ein Familienvater Frau und Kind, in der gleichen Nacht liegt eine Frau zwischen zwei Dörfern tot am Strassenrand. Jahrzehnte später begegnen Teresa und Mirco einander. Sie verlieben sich und versuchen sich an ihre Kindheit zu erinnern, die geprägt war von Verlust und Schweigen. Mirco hat Angst, dass die Vergangenheit sich wiederholt, wenn man sie nicht ruhen lässt. Aber Teresa begibt sich auf Spurensuche und erschafft Stück für Stück ihre gemeinsame Geschichte.
«In ihrem neuen Roman entfaltet Rebekka Salm ein Panoptikum aus Geschichten und Erinnerungen zweier Familien, die sich nicht erinnern wollen – und die doch, ob’s ihnen gefällt oder nicht, Teil einer grossen Erzählung sind.»
Die Schnepfenvögel sind eine Familie der Vögel aus der Ordnung der Regenpfeifer. Die vor allem auf der Nordhalbkugel brütenden Arten sind durch ihre meist langen Schnäbel und Beine gekennzeichnet. Viele Schnepfenvögel sind Langstreckenzieher, die auf der Südhalbkugel überwintern. Die Pfuhlschnepfe fliegt auf Ihrem Weg in das Winterquartier bei Neuseeland oder Australien die Strecke von Alaska nonstop. Einige Arten, wie das Thorshühnchen, überwintern in planktonreichen Zonen der großen Ozeane weitab von der Küste. Die Bezeichnung Schnepfe leitet sich vermutlich aus dem althochdeutschen «snepho», «sneppe» für Schnabel ab und hebt das markante Merkmal dieser Vögel, der lange und biegsame Schnabel, der auch als Tastorgan eingesetzt wird, hervor.
Statistisch wurden 2023 in Deutschland über 18000 sexuelle Übergriffe an Kindern polizeilich erfasst. Über eine Million Deutsche erlebten im Laufe ihres Kindseins einen sexuellen Übergriff. Wie kaum eine andere Kunstgattung nimmt sich die Literatur dieser heiklen Thematik an – und Katharina Winkler mit unsäglich tiefgreifender Empathie!
Nicht auszudenken, wie hoch die Dunkelziffer sein wird. In der Schweiz erlebt rund jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt durch Erwachsene oder ältere Kinder. Ungeheuerliche Zahlen, von denen niemand gerne spricht, am wenigsten die Politik, werden doch die meisten Übergriffe von Familienmitgliedern begangen. Monströse Zahlen und ebensolche Vorstellungen, wie all die Kinder und all die Erwachsenen, die solches als Kinder über sich ergehen lassen mussten, mit dem umgehen sollen. Ein Alp, bei dem weder Justiz, Medizin noch Psychologie heilen können, weil die Betroffenen mit dem Erlebten weitgehend alleine bleiben und sich die offenen Wunden über Jahre und Jahrzehnte tief in die Seelen fressen.
«Hast du Papa lieb? Ja»
Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7518-0961-0
Einen Roman darüber schreiben? Schon alleine das Risiko, nach der Veröffentlichung permanent der Neugier der Leserinnen und Leser ausgesetzt zu sein, ob das Erzählte autobiografisch sei, könnte abschrecken. Nicht weniger der potenzielle Vorwurf, doch gar nicht in der Lage zu sein, ohne eigene Erfahrung solches glaubhaft erzählen zu können. Literarischer Treibsand! Aber Katharina Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ entzieht sich diesen Risiken, weil seine sprachlichen Qualitäten alle Risiken überstrahlen. Weil er in seiner Form so geschrieben ist, dass er sich so weit wie möglich von Betroffenheitsliteratur unterscheidet. Wer das Buch aufschlägt, glaubt in einem Gedichtband zu lesen, was in gewisser Weise auch stimmt, denn „Siebenmeilenherz“ erzählt lyrisch, manchmal in ganz kurzen Zeilen, manchmal repetitiv, wie ein Lied, ein Aufzählvers, ein Gebet.
«Ich bin vom Erdboden verschluckt. Niemand sieht mich. Niemand weiss. Ich hoffe, ich bleibe für immer verborgen.»
Ganz zu Beginn des Buches ist die Erzählstimme die eines kleinen Mädchens, das ganz und gar nicht versteht, wie ihr geschieht, das verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit sucht, sei es bei ihrem Vater, der sie zu seiner Prinzessin erhebt, einen Geheimbund mit ihr schliesst, nachts am Bett jede erdenkliche Grenze überschreitet – und einer Mutter, die in kalter Distanz und Abweisung wohl einfach nicht wissen und sehen will. Im Laufe des Buches wird die Stimme älter, reifer, wissender, aber auch verzweifelter, weil die junge Frau keine Möglichkeit sieht, ihrem Alp zu entfliehen, obwohl da immer wieder einmal eine Hand wäre, die sich ihr anbietet. Aber wer verrät schon seine Nächsten. Woher die Kraft, vom Opfer zur Anklägerin zu werden, sich zu erheben und den Vater zu konfrontieren. Sie ist alleine, erst recht, als da ein Mann ist, eine Liebe, irgendwann gar ein Kind in ihrem offenen Bauch. Wird man irgendwann sehen, was sie erdulden, über sich ergehen lassen musste.
«Widerhaken, die sich im Kopf verfangen und sich nicht verflüchtigen.»
Die suchende Sprache des Kindes im ersten Teil des Buches, die Unfähigkeit des Benennens, des Nicht-Einordnen-Könnens schmerzt förmlich bei der Lektüre, ebenso die Ausweglosigkeit, die alles einnehmende Einsamkeit der jungen Frau, die scheinbar unrettbar verloren ist im Gefängnis ihrer Erinnerungen, ihres Schmerzes, ihrer Versehrtheit. «Siebenmeilenherz» ist ein buchlanges Selbstgespräch, der verzweifelte Versuch eines Auf- und Ausbruchs.
Ich las „Siebenmeilenherz“ mit angehaltenen Atem, voller Scham, voller Angst, auch in meiner Umgebung Zeichen nicht zu sehen, unangemessen zu reagieren.
Phantastisch ist Katharina Winklers Sprache, die Form, mit der sie auf ganz eigenwillige Weise dem Schrecken nicht bloss begegnet, sondern sich ihm mit einer ungeheuren Direktheit aussetzt. Da hat sich eine Autorin ein Herz genommen, um mit Siebenmeilenstiefeln ins Herz dieses Sturmes, ins windstille Auge der Tornados zu rennen.
Interview
Was dem Mädchen in seiner Familie widerfährt, sei es die Übergiffigkeit ihres Vaters oder die Kälte ihrer Mutter, was sie als Jugendliche, als Liebende, als werdende Mutter, als Verwundete und Gezeichnete ausstehen muss, ist höllisch. Und dieser Schwarm an Fragen, Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, ein Trommelfeuer, dem sie nicht entfliehen kann. Ich selbst bin auch Vater. Was der Protagonistin geschieht, ist hunderttausendfach erlittenes Schicksal. Warum tut sich die Gesellschaft derart schwer hinzuschauen? Warum spüre ich selbst bei mir diesen Schauer, wenn ich darüber lese, schreibe oder spreche? Diese Wirksamkeit ist das Wesen des Tabus. Sexueller Missbrauch in der Familie ist eines der letzten grossen Tabus. Der Tabubruch stösst naturgemäss auf Widerstand und ist schmerzhaft. Ein Tabu entsteht, um Schmerz und Überforderung von der Gesellschaft abzuspalten. Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein stillschweigend praktiziertes Regelwerk, unhinterfragt, strikt, bedingungslos, universell und ubiquitär. Wir sind darauf konditioniert. Ein Tabubruch fällt uns entsprechend schwer. Wir handeln gegen die Regeln des Kollektivs, gegen unsere eigene Konditionierung. Und wenn wir das Tabu brechen, bricht auch der darin gebundene Schmerz auf und die akute Überforderung. Aber wenn wir das Tabu unangetastet lassen, manifestieren wir es – und damit auch den entsprechenden gesellschaftlichen Status quo. In unserer Gesellschaft bleibt sexueller Missbrauch in der Familie dann unangetastet und unverändert.
Sie hätten einfach eine Geschichte erzählen können. Aber ganz offensichtlich reichte das nicht. Sie wählten eine ganz spezielle Form. Eine Art innerer Monolog, gespickt mit Textstellen, die an Lieder, Gebete, Märchen… erinnern. Wie kamen Sie zu dieser Form? War die Form schon von Beginn weg klar? Musste sie es sein, um darüber schreiben zu können? Ich musste diese Geschichte aus der Innenperspektive erzählen. Ich wollte keinen Blick von aussen, jeden voyeuristischen Blick verhindern. Das Buch soll dem Leser ausschliesslich das Erleben aus dem Inneren der Figur ermöglichen. Denn ich wollte eine intensive Empathie des Lesers mit der betroffenen Figur, dafür musste ich den Leser so nah wie möglich an die Figur heranführen. Die gedicht-, lied- und märchenhaften Elemente in der Sprache sind der kindlichen Figur im ersten Teil geschuldet, in dem man erlebt, wie ein Kind in das von den Eltern dargebotene Weltbild wächst – ohne Möglichkeit zu hinterfragen oder zu relativieren. Dass diese Kindersprachenelemente auch im zweiten Teil präsent sind, in dem die junge Erwachsene geschildert wird, verdeutlicht, wie die kindliche Erfahrung das weitere Leben prägt.
Auch die Zeichensetzung setzen Sie manchmal ausser Kraft. Warum? Der Umgang mit der Zeichensetzung ist für mich eine ständige Gratwanderung. Meine Sprache ist sehr musikalisch gedacht. Leider ist das System zur Verschriftlichung von Sprache aber nicht so präzise wie die Notenschrift. Die Melodie, die ein Satz in meinem Kopf hat, ist manchmal gegenläufig zu der Melodie, die die grammatikalisch korrekten Interpunktionszeichen dem Leser nahelegen. Die Melodie der Sprache prägt die gedankliche Dynamik. Ein Punkt provoziert zum Beispiel den Abschluss einer Melodie und damit den Abschluss eines Gedankens, obwohl ich es oft wichtig finde, Melodie und Gedanke offen ausklingen zu lassen, damit sie weiter wirken und sich weiter entwickeln können. An entscheidenden Stellen verzichte ich deshalb manchmal auf den Punkt.
Nichts ist so diffizil wie der Kosmos Familie. In keinem Gefüge ist so viel Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Nähe wichtig und Teil dieses Kosmos. Ausgerechnet in dieser ultimativen Intimität geschehen Übergriffe, die Wunden verursachen, die nie vernarben. Als ich das Abenteuer „Familie“ startete, war ich 23, meine Frau 21. Aus heutiger Sicht erscheint das beinahe fahrlässig, denn fast alles, was wir taten, geschah aus Intuition. In der Schweiz gibt es Ehevorbereitungskurse. Müsste es nicht viel mehr Familienvorbereitungskurse geben? Eine optimale Vorbereitung auf das Leben ist eine schöne Idee und unbedingt zu verfolgen! Aber das Leben ist zu gross, zu kräftig, zu unberechenbar, um es in seiner Vielfältigkeit zu erfassen, geschweige denn zu antizipieren. Und Erfahrungen sind schwer vermittelbar. So stolpern wir im Grunde alle mehr oder minder unvorbereitet und oft auch stümperhaft durchs Leben. Als Individuum wie als Gesellschaft. Wir sind alle nicht vorbereitet auf ein Leben im 21. Jhdt.
Beklemmend bei der Lektüre ist die Einsamkeit der Protagonistin. Ich nehme an, dass sie in der Recherche mit vielen Betroffenen gesprochen haben. Wie schafften diese es, aus dem Bannkreis des Schweigens herauszutreten? Durch die Tabuisierung des Themas spalten wir auch die Betroffenen von der Gesellschaft ab. Verschwiegene Geschichten trennen. Erzählte Geschichten verbinden. Die Erzählung ist der Weg aus der Isolation.
Die Liebe zwischen Kindern und Eltern, Eltern und Kindern ist eine ganz eigene. Kinder überhöhen ihre Eltern, Eltern kompensieren durch ihre Kinder. Würde man in ihrem Buch alle unguten Szenen schwärzen, käme erst im zweiten Teil ein kritischer Blick zum Vorschein. Kinder lieben bedingungslos. Und ausgerechnet diese kindliche Bedingungslosigkeit wirkt bis ins Erwachsensein. Die Vertreibung aus dem Paradies? Im Laufe des Individuationsprozesses muss jeder reflektierte Mensch sicher gehen, nicht nur ein Märchen zu sein, das die eigenen Eltern ihm erzählt haben. Und er muss die Welt auf dasselbe überprüfen. In Fällen glücklicher Kindheiten mag dies einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. Eine Desillusionierung ist es jedenfalls. Aber in vielen Fällen ist es wohl auch die Eröffnung neuer, besserer Welten.
Katharina Winkler, 1979 in Wien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Mit «Blauschmuck» (Suhrkamp) erschien 2016 ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Das Buch wurde in sechs Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den baskischen Buchpreis Premio Euskadi de Plata für den besten deutschsprachigen Roman sowie den französischen Prix du premier roman étranger 2017, den Preis für das beste fremdsprachige Debüt.
«frag-ment-iert» lautet der Titel des Debüt-Romans von Ev Arlt, in dem sie das Epizentrum zwischen dem eigenen Glück und die Grenzen der Freiheiten literarisch auslotet.
Gastinterview mit Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Der Sog des Lesens ist Ihnen gelungen. Kompliment, auch wenn der Einstieg uns gleich wieder in die Pandemie zurück katapultiert. Wann wussten Sie, dass Sie mit diesem Setting beginnen werden?
Ev Arlt: In meiner Geschichte geht es um die Frage nach der Konstruktion von Identität. Wir sehen der Protagonistin bei ihrem identitären Trauma zu, das im Verlust sozialer Rollen und des vertrauten sozialen Kontextes besteht. Diese rein persönliche Erfahrung wurde in ihren Auswirkungen ja in der Pandemie kollektiv erlebt, natürlich je nach persönlicher – kultureller und beruflicher wie ökonomischer – Situation anders ausdekliniert.
Aerni: Die Lektüre schickt die Lesenden schon zurück in eine Zeit, die man vergessen möchte, was keine Kritik ist, übrigens…
Arlt: Diese Analogie der sozialen, ökonomischen und psychischen Ausnahmesituation vermittelt den Lesenden zu Beginn der Erzählung jene Beklemmung, jenes Gefühl von Isolation und sozialer und eventuell ökonomischer Unsicherheit, die aus eigener Erfahrung bekannt sein dürften. Im Buch geht es dann ja überhaupt nicht um die Pandemie – vielmehr um die Themen Würde, Freiheit und Selbstbestimmung.
In einer Szene wird ein aus dem Radio tönender Song von David Bowie wie folgt kommentiert: «Wie aus einer anderen Zeit überschaubarer Weltprobleme – Heroin und Langstreckenraketen.» Ist heute so alles anders als früher?
Gar keine Frage, wobei wir jetzt natürlich exklusiv über unseren Teil der Welt reden. Das Ende des Kalten Krieges, der 11. September und nun der Krieg in Europa markieren eine tiefgreifende Wende, die deutlich sichtbar zu einer breiten Verunsicherung geführt und strukturelle gesellschaftliche Veränderungen nach sich gezogen hat. Ob alles anders ist als früher, muss jeder individuell für sich beantworten.
Was war für Sie der Fokus hierbei?
Mir geht es bei dieser Beobachtung um die ökonomische und politisch-soziale Entwicklung in Europa und die nicht einfache, hochkomplexe Problemlage in unseren Gesellschaften. Ich glaube durchaus, dass es eine Sehnsucht nach einer Welt in schwarz-weiß gibt.
Woran machen Sie das fest?
Ev Arlt «frag-ment-iert (182.5) – Die unvorhersehbare Reise des Fräulein L.», Bucher, 2024, 232 Seiten, CHF ca. 25.90, ISBN 978-3-99018-708-1
Das Ablehnen komplexer Realitäten erkennt man ja klar am zunehmenden Erfolg vereinfachender Rhetorik der Debatten oder am breiten gesellschaftlichen, von Algorithmen gelenkten Diskurs, der gar keiner mehr ist. Man wirft sich die Feindbilder an den Kopf, die Angst geht um, jeder zieht sich in sein Lager, seine Bubble, zurück. Überspitzt gesagt: Politisch korrekte Realitätsverweigerer stehen dem aggressiven Machtanspruch der Vereinfacher gegenüber.
Statt «Roman» steht unter dem Titel «Die unvorhersehbare Reise des Fräulein L.» Was war die Überlegung auf die Gattung Roman zu verzichten?
Aber ich halte ja ohne Zweifel einen Roman in der Hand. Es handelt sich lediglich um einen Untertitel, der angesichts des sicherlich enigmatischen Buchtitels der Leserschaft letztlich doch etwas Orientierung geben soll. Man erfährt: es geht um einen weiblichen Hauptcharakter und um eine Reise, die offenbar so nicht geplant war.
Sie entschieden sich im Untertitelfür das Wort «Fräulein»…?
Ja. Ich gehöre zu einer Generation, die diese Bezeichnung in ihrer diskriminierenden Dimension nicht nur überwunden, sondern vermutlich niemals als Problematik begriffen hat. Wir fokussieren uns auf andere Probleme im heterosexuellen Miteinander, die Debatten sprechen da für sich. Wir besitzen Ironie und Selbstbewusstsein und ein eigenes Portemonnaie. Es gibt wichtige Frauenthemen – das ist keines.
Hört sich erfrischend an, denn das «Fräulein» liest sich bekanntlich antiquieret an allerdings mit auch mit einem literarischen Beiklang.
Die Bezeichnung „Fräulein“ wird tatsächlich schon seit Jahren auch für Produkte verwendet – Modeartikel, Eisdielen. Offenbar klingt das Wort kokett, frech, jung, ansprechend. Was mein Buch angeht, ist die Protagonistin am Anfang ihrer Reise definitiv so: jung, kokett – naiv und etwas verloren. Das steckt doch eigentlich im Untertitel, der den Namen des Fräuleins dann ja nur mit einem Großbuchstaben verrät – ein Verweis auf das Verwirrspiel mit Identitäten.
Die junge Protagonistin wird Mutter Anfang der Nullerjahren in Deutschland. Es schien alles offen zu sein für die jungen Menschen, von Karriere bis alle Freiheiten. Und doch kam es anders. Abgesehen vom Geschehen im Buch, wie sehen Sie die Zukunft der jetzigen Jugend?
Die Frage lässt sich angesichts der ungelösten und sich zuspitzenden globalen Probleme im Grunde leicht beantworten. Andererseits ist die junge Generation auch wieder laut und macht sich bemerkbar. Sie haben definitiv andere Instrumente als meine technologiefern aufgewachsene Generation, der die Reste der Ideologien am Ärmel klebten und der der Druck einer neoliberalen Gesellschaft die großen Gewissensfragen im großen Ganzen bequem ersparte.
Und die…
Die jetzige Jugend?
Ja.
Im schlimmsten Fall sind sie brave Konsumenten, im Besten viel weniger beeinflussbar vom System, das sie längst durchschaut haben und ironisieren bis verachten. Ein großes Problem unserer Zeit beim Beurteilen von Fragen wie diesen ist doch die allumfassende Inszenierung, der wir hilflos ausgesetzt sind und aus der wir nur schwer Wahrheiten ableiten können.
Sie arbeiten mit fast surrealen Einschüben in kursiver Schrift im Buch. Wie kamen Sie zu dieser Idee solcher stilistischen Mitteln?
Es stellt sich hier, denke ich, weniger die Frage nach der Idee zur Textmontage als vielmehr zur zweiten Protagonistin des Buches. Die surreale Ebene von Phoenix – nennen wir sie eine Scheintote, die gegen die strukturelle Herrschaft alter Männer vorgeht – muss natürlich zwangsläufig zu diesem Stil führen. Phönix sehnt sich dabei in Wahrheit die ganze Zeit nach der Auflösung ihrer Opferrolle und sucht mit Gewalt nach einem Ausweg.
Das hat sich also beim Schreiben mutierend entwickelt…
Es steckt generell tatsächlich weniger Konstruktion hinter dem Ergebnis meines Schreibens als vielmehr Entwicklung und Reifen – es gibt durchaus eigenständige Prozesse, mit denen ich behutsam umgehe, von denen ich überrascht werde, die sich mir aufdrängen und die mich leiten. Das Kursiv in meinem Roman, wenn Sie so wollen, steht für Abrechnung, für Hoffnung auf Erlösung, für Sehnsucht nach persönlichem Glück, für Erkenntnis.
Sie studierten Theater- und Politikwissenschaften und Soziologie, waren als Journalistin tätig und leben – soviel ich weiß – in Italien. Bleibt es dabei, mit Italien und dem Schreiben?
Tatsächlich kann ich mir da in nächster Zukunft so einige Veränderungen vorstellen – wieder mehr redaktionell zu arbeiten wäre schön. Mein italienisches Domizil darf man sich jetzt nicht verspielt mit Zitronenbäumen und eleganten Zypressen an der Einfahrt vorstellen, ich bin wirklich drin in dieser widersprüchlichen, ächzenden Gesellschaft.
Mit welcher Wahrnehmung Ihrerseits?
Die Italiener sind emsig arbeitende Stehaufmännchen und phantasievolle Lebenskünstler mit einer bewundernswert unverbrüchlichen Energie und Lebensfreude und zutiefst humane Menschen – allerdings in einem System, welches mich seit je an den realen Sozialismus erinnert, wobei die zentrale ineffiziente Verwaltung mafiös unterwandert ist. Um hier zu überleben, muss man die Schlupflöcher im System kennen. Frauen wie Männer arbeiten viel, den Freizeitanspruch der Deutschen kennen sie nicht. Sie ernähren die Familien gemeinsam, die Geschlechterproblematik beginnt im Privaten und der Sexismus hierzulande ist bodenlos salonfähig und allseits geduldet. Ich würde dem Land mehr Transparenz und Gerechtigkeit wünschen.
Deutliche Worte…
Was das Schreiben angeht: das ist nie eine Option gewesen, sondern für mich primärer Ausdruck. Das Leben drinnen und draußen entwirren. Ein Ort extremer Klarheit. Eine Spielwiese für verschachtelte Gedanken und unklare Emotionen. Figuren, in die ich mich verliebe. Schreiben ergo sum.
Ev Arlt wurde 1978 in Nürnberg geboren, studierte Theaterwissenschaften, Politikwissenschaften und Soziologie in München, Berlin und Siena. Sie war unter anderem als Radiomoderatorin und Journalistin tätig. Derzeit schreibt sie aus Italien.
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