«Im Koffer ein Weltuntergang» Zum 80. Todestag von Irène Némirovsky

Irène Némirovsky geboren 11. Februar 1903,
gestorben am 17. August 1942

Morgens nach dem Frühstück geht sie los. Die Töchter sind in der Schule, der Mann bleibt zu Hause im Dorf. Manchmal wandert sie zehn Kilometer, bis sie einen Platz findet, der sich zum Arbeiten eignet. Setzt sich auf ihren blauen Pullover, schaut in das stille Tal im Burgund. Liest und schreibt bis zum Abend. Das Tschechow-Buch wurde auf diese Weise fertig, auch der Roman «Feuer im Herbst», der zwischen 1914 und 1939 spielt. Nun nähert sie sich der Gegenwart: Anfang der Vierzigerjahre; Frankreich ist zur Hälfte besetzt, zur Gänze geschlagen. Niemand weiß, wie es weitergehen wird, aber die meisten richten sich ein: Wenn wir uns mit den Deutschen arrangieren – die sich, grosso modo, doch ganz anständig benehmen –, dann fahren wir weltpolitisch besser, als wenn wir den Aufstand markieren. Der Franzose dieser Kaste, notiert sie im Jahr 1942, empfindet gegen niemanden Hass; er ist weder von Neid noch von enttäuschtem Ehrgeiz noch von wirklichem Rachedurst erfüllt. Er hat Schiss. Wer wird ihm am wenigsten weh tun (nicht in Zukunft, nicht abstrakt, sondern sofort und in Form von Tritten in den Arsch und Ohrfeigen)?

Sie bereitet auch dieses neue Buch vor, indem sie sich Notizen macht – zur politischen Situation, zu ihren Figuren. Der Roman ist auf fünf Teile angelegt, ihr bisher ehrgeizigstes Projekt. Ein Blick auf die Gesellschaft, wie ein Ameisenforscher ihn hat, der die Sprache der Tiere versteht. Schau, wie sie laufen, man hat ihren Bau zerstört! Was nehmen sie mit? Wer rettet wen? Wer bricht sich auf der Flucht ein Bein? Wer stirbt, und wie bestatten sie ihn?

Sie, die selbst eine Ameise ist, beschreibt mit kühlem Verständnis, was in den Leuten vor sich geht, wenn es ernst wird. Jahrelang hieß es, jenseits der Linken, es gibt keinen Krieg. Sie werden das doch nicht wagen … die Verhandlungen waren erfolgreich … jetzt, mit der Tschechoslowakei, ist Schluss … es fehlt ihnen an Munition … es fehlt ihnen an Geld … wir haben ihnen doch nichts getan … Doch am 10. Juni 1940, als die deutschen Panzer sich der französischen Hauptstadt nähern, wollen sich unzählige Pariser in Sicherheit bringen, plötzlich verhakt in hektische Fragen: Schmuck mitnehmen oder verstecken? Wohin mit den Papieren? Nehmen wir das Auto? Gibt es noch Benzin? Und dann, wenn alles fertig ist, der Wagen bepackt bis unter das Dach, auf dem sie die Matratzen festgeklemmt haben, muss der gelähmte Opa noch einmal pinkeln …

So war es, so hat sie es beobachtet, denn sie war selbst dabei. Sie floh mit den Töchtern in die Provinz; da lebt sie jetzt. Sie ist eine Ameise wie alle anderen, und doch nicht: Sie ist behördlicherseits keine Französin. Und sie, ihre Töchter und ihr Mann Michel Epstein, tragen den gelben Stern.

Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert. Und was bedeuten mir die anderen? Die Reiche vergehen. Nichts ist wichtig. Ob man es nun aus mystischer oder persönlicher Sicht betrachtet, es ist alles eins. Bewahren wir einen kühlen Kopf. Verhärten wir unser Herz. Warten wir.

Sie wartet, und sie arbeitet. Sie ist zu dieser Zeit bekannt, beinahe berühmt. Der Name Irène Némirovsky, so meint ihr treuer Verleger Albin Michel in Paris, sollte genügen, ihr alle Türen zu öffnen. Sie schreibt in der Provinz, im Departement Saone-et-Loire, für Zeitungen, um ein wenig Geld zu verdienen. Als das unter ihrem Namen nicht mehr möglich ist, wählt sie männliche Pseudonyme. Sie lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in der besetzten Zone; anfangs in einem Hotel, in dem französische Flüchtlinge mit Offizieren und Soldaten der Wehrmacht wohnen, später in einem gemieteten Haus, in dem sich wiederum deutsche Soldaten einquartieren. Das Zeugnis, das sie hinterlassen, eineinhalb Jahre vor der Wannsee-Konferenz:

O. U. den I. VII. 41

Kameraden. Wir haben längere Zeit mit der Familie Epstein zusammengelebt und sie als eine sehr anständige und zuvorkommende Familie kennengelernt. Wir bitten Euch daher, sie dementsprechend zu behandeln. Heil Hitler!
Hammberger, Feldw. 23599 A.

Das Zeugnis wird nicht helfen. Am 13. Juli 1942 holen französische Gendarmen Irène Némirovsky ab, drei Tage später wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie einige Wochen später stirbt. Ihr letzter Brief an ihren Lektor ist vom 11. Juli datiert: Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein postumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit.

Den Quellen nach hat sie nichts unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen. Kein Fluchtversuch in die Schweiz; keine Anstalten, an gefälschte Papiere zu gelangen. Nur Gesten der Sorge für ihre Töchter: ein detailliertes Testament, genaue Instruktionen für die Pflegemutter, die – nachdem auch der Vater nach Auschwitz deportiert worden ist – mit beiden Kindern untertaucht.

Das Manuskript, an dem sie gearbeitet hat, war im Fluchtgepäck mit dabei. Gut 60 Jahre später entziffert die Tochter Denise die winzige Schrift, die sie für Tagebuchnotizen hielt. Sie liest die ersten beiden Teile des Romans, der auf fünf Teile angelegt war; sie heißen: »Sturm im Juni« und »Dolce«. Stilistisch kühl, voller mokanter Heiterkeit beschreiben sie die Flucht der Pariser vor den Deutschen in die Provinz und die Zeit der Besatzung bis zu dem Zeitpunkt, als die meisten deutschen Soldaten nach Russland abkommandiert werden. Es ist ein Werk, das an Präzision und Schönheit seinesgleichen sucht; ein überragendes Romanfragment, das im kollektiven Gedächtnis eine bedeutende Lücke füllt. Das dichte Gewebe aus Angst und Kalkül, aus Anpassung und Widerstand im besetzten Frankreich wird genau beschrieben. Dem Buch fehlt nur: eine wie sie. Das Schicksal der Juden in Frankreich kommt in «Suite française» nicht vor.

Ursprünglich war die jüdische Gesellschaft ihr Thema. Ihr erster Roman aus dem Jahr 1929, «David Golder», behandelt den Zusammenbruch eines russischstämmigen Bankiers in Paris. Von alldem verstand sie viel: Ihr Vater, ein Privatbankier, floh mit seiner Frau und dem einzigen Kind im Verlauf der Russischen Revolution über Skandinavien in die französische Hauptstadt. Es gelang ihm, dort erneut zu Vermögen zu kommen. Irène Némirovsky führte ein luxuriöses, äußerlich behütetes Leben, schloss ihr Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne mit Auszeichnung ab und begann mit 18 Jahren, Prosa zu schreiben.

Sie galt als anmutig und charmant, glamourös, gebildet und immens begabt. Ihre Mutter, die von monströser narzisstischer Kälte gewesen sein muss (sie starb hochbetagt und reich im französischen Süden; ihre verwaisten Enkelkinder verwies sie an die öffentliche Fürsorge), machte sie mit der genialen Novelle «Der Ball», erschienen 1930, den literarischen Prozess. Snobismus und Vulgarität, Empfindungslosigkeit und Ehrgeiz französischer Juden sind wiederkehrende Motive in ihrem Werk, mit dem sie sofort erfolgreich war – und zur Kronzeugin der Antisemiten wurde. Jüdische Kritiker machten ihr den Vorwurf, dass sie mit einer Figur wie «David Golder» Vorurteile schüre; sie verteidigte sich damit, dass sie bei ihrer Beobachtung geblieben sei: Mein Vater war Bankier, Geldkonflikte waren die ersten Dramen, denen ich beiwohnte. Im Rückblick erscheint politisch naiv, wie wahllos sie Zeitschriften mit ihren Novellen und Kurzgeschichten bedachte – harmlose Frauenmagazine, aber auch reaktionäre und judenfeindliche Publikationen.

Die in rascher Folge publizierten Romane sind konventionell erzählt, an Maupassant und Flaubert geschult und von unterschiedlicher Qualität: Dichte Beschreibung, psychologische Intelligenz, Eleganz im Ton und sichere Konstruktion kämpfen, nicht immer erfolgreich, mit ihrem Hang zur spektakulären Fabel und zum Klischee. Sie heiratete mit 23 Jahren und führte ein produktives Leben, und über lange Zeit deutete für sie offenbar nichts darauf hin, dass sich das Drama von Flucht und Vertreibung ihrer Kindheit wiederholen sollte. 1939 ließ sie, noch immer staatenlos, sich und die Töchter katholisch taufen; ihre Bemühungen um die französische Staatsbürgerschaft allerdings scheiterten. Im Jahr darauf adressierte sie einen Brief an Marschall Pétain, Staatschef des Vichy-Regimes: Zwar sei sie Russin jüdischer Abstammung, aber immer eine Gegnerin des Sozialismus gewesen. Man möge sie und ihre Familie nicht der Kategorie der unerwünschten, sondern der ehrenhaften Ausländer zuordnen.

Ihre künstlerische Aufmerksamkeit aber galt zuletzt nicht ihr selbst und dem Schicksal der Juden, sondern jener bourgeoisen Gesellschaft, die sie aussonderte. Über den gegenwärtigen Krieg«, heißt es in der «Suite française», die 2004 in Frankreich erschien, wurde wenig gesprochen. Die Katastrophe war den Leuten noch nicht ins Bewusstsein gedrungen, sie würde erst Monate, vielleicht Jahre später ihre lebendige, schreckliche Form annehmen, vielleicht wenn die verschmutzten Kinder, die Jean-Marie über dem kleinen Holzzaun vor ihrer Tür auftauchen sah, erwachsen wären.

Es sollte noch länger dauern.

Elke Schmitter

«100 Autorinnen in Porträts»
Von Atwood bis Sappho,
von Adichie bis Zeh
Eine Auswahl der 100 bedeutendsten schreibenden Frauen aus zwei Jahrtausenden und der ganzen Welt, vorgelegt von den renommierten Kritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Julia Encke. Von Sappho bis Atwood, von Adichie bis Zeh porträtieren sie Schriftstellerinnen und ihren Weg zum Schreiben, betten ihr Werk in Lebens- und Zeitumstände ein und positionieren sie innerhalb literarischer Traditionen.
Mit Beiträgen von Verena Austermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter

© Stefan Fertig / Piper Verlag

Elke Schmitter wurde 1961 in Krefeld geboren. Sie studierte in München Philosophie und war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin der taz. Seitdem schreibt sie als freie Autorin, unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. 1981 veröffentlichte sie den Lyrikband «Windschatten im Konjunktiv», 1998 einen Essayband über Heinrich Heine, «Und grüß› mich nicht unter den Linden» und den Roman «Frau Sartoris» (2000), der bislang in 17 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten der Roman «Leichte Verfehlungen», und der Lyrikband «Kein Spaniel». 2021 erschien bei C. H. Beck ihr Roman «Inneres Wetter».

Samstag, 20. August, Sommerfest im Literaturhaus Thurgau: «Der Wod» mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger & «Textkiosk» mit Laura Vogt und Karsten Redmann

Jeden Sommer feiert das Literaturhaus mit einem Sommerfest die Literatur, die Bodman-Stiftung, all die Zugewandten und FreudInnen – und sich selbst. Auch Sie sind eingeladen zu Speis, Trank und einem ordentlichen «Gutsch» Kultur mit:

Silvia Tschui – «Der Wod» mit Philipp Schaufelberger – Text, Sound und Gesang

In «Der Wod» (Rowohlt 2021) erzählt Silvia Tschui die Geschichte einer schweizerisch-deutschen Unternehmerfamilie, die von einem lange zurückliegenden Sündenfall bis in die Gegenwart verfolgt wird. Tschui, die 2019 für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert war, berichtet von Geheimdienst-Agenten und Nazi-Widerständlern, von Berner Künstlerkreisen und Hell’s Angels – und nicht zuletzt vom Wod, dem Jäger einer norddeutschen Sage, der den Figuren dieser Familiensaga immer wieder als Personifikation der Angst erscheint. Das reichhaltige Personal ihres vielstimmigen neuen Romans präsentiert die Autorin in einer etwas anderen Form, nämlich mit Lesung, Gesang und Zufallsgenerator, begleitet von Philipp Schaufelberger an der Gitarre.


„Textkiosk“ mit den SchriftstellerInnen Laura Vogt und Karsten Redmann

Laura Vogt und Karsten Redmann schreiben Texte auf Bestellung. Ob kurze Briefe, Gedichte, kleine Geschichten – stets hantieren sie mit kunstvoll gedrechselten Satzgirlanden; allzeit das verbale Risiko suchend. Andere jonglieren mit bunten Bällen, wir werfen Worte in die Luft und wirbeln sie wild herum. Bei „Textkiosk“ heisst es: Jeder Text ein Unikat. Und alle Texte zusammen ergeben eine wunderbare Erinnerung an Ihr Fest. Mal surreal, mal witzig, mal tiefgehend, mal Dada; alles ist möglich. Neue literarische Welten zu erschaffen ist ihrer täglich Brot.

Der Anlass ist kostenfrei!

Pascal Aubry «Kinder des Lebens», BLOX, 1

Für Emily Star

Viele bemühen sich ein halbes Leben lang zumeist vergeblich darum, dass sie von ihren Eltern bedingungslos in ihrem lebendigen Sosein anerkannt werden. Der Mangel an elterlicher Zustimmung wirkt wie der Phantomschmerz eines Organs, das erst wachsen soll. Lucchino Visconti, mit dessen Filme ich ganze Ferien verbringen könnte, wurde erst nach dem Tod seines Vaters als Künstler tätig. Mit Vierzig! Der Grund, warum Eltern mit Zustimmung geizen, könnte darin liegen, dass sie mit ihren statistisch eineinhalb Kindern schlichtweg Anfänger sind. In jeder Phase kindlichen Heranwachsens drohen sie jämmerlich zu scheitern. Dazu kommt, dass Eltern Freizeit und Beruf opfern, in der überheblichen Annahme, Elternschaft fiele ihnen genauso leicht wie manches andere. Und sie klagen, dass ihr Kind nicht passgenau ihre delikaten Vorstellungen vom gelungenen Leben befriedigt.

Da besteht ein hoher Bedarf an Sicherheit.

Entweder man findet sich als Kind damit ab. Oder man erstürmt irgendwann dieses Bolllwerk an Verweigerung und prallt um so mehr ab. Ich habe schon herzzerreissenden Szenen beigewohnt, wo das Kind seine Anerkennung wörtlich erfleht hat. In einer Sturheit, die für sich genommen doch peinlich ist.

Bekanntlich gibt es Leute, die selbst in ihrem Leiden dickköpfig sind.

Väter und Mütter erwidern zurecht diese Not mit genauso kindischem Trotz. Ihnen wird ja auch ein passgenaues Verhalten abverlangt. Weder Worte noch Zeitpunkt überlässt ihnen das Kind zur Wahl, wenn es Anerkennung will. Ausserdem erscheint ihnen seine Lage ohnehin vorzüglicher, als es ihnen selbst damals beschieden war. So gesehen wirkt in Augen der Eltern die Anerkennung, die zudem unverhohlen eingefordert wird, wie das selbstgefällige Sahnehäubchen auf ein unverdient perfektes Leben.

Velleicht lässt sich diese beschämende Tragik mit etwas Umdenken vermeiden.

Vielleicht brauchen wir diese Zustimmung gar nicht so dringend, wie wir meinen.

Menschen zu ändern ist mühselig. Also gilt, besonders in lebensökonomischer Hinsicht: Umdenken und daraus Nutzen ziehen. Dazu lohnt sich folgende Überlegung: Es gibt Menschen, die von ihren Eltern nicht nur halbwegs, sondern ausdrücklich überhaupt nie gewollt worden sind. Die Fälle sind bekannt: Fehlerhaftes Kondom, Befruchtung trotz hormoneller Vorsorge oder verätzter Samenstränge. Statt diese Kinder zu bemitleiden, könnte man doch zum Schluss kommen, dass zwei selbstbezogene Menschen ohne Kinderwunsch schlichtweg vom Leben ausgetrickst worden sind.

Und was für das Kind gilt, das aus einer Panne hervorgeht, trifft genau genommen auf alle Geburten zu. Nämlich: Das Leben hat sie gewollt.

Wir alle sind Kinder des Lebens.

Wozu also soll man sich mit seinen Eltern und ihren Schlagseiten befassen? Man ist eng verwandt, das bindet. Blut ist dicker als Wasser und so weiter. Doch die charakterlichen Eigenarten, die den Eltern anhaften, ihre verdeckten kindischen Seiten, die Freuden und Leiden, die sie umtreiben, gehören notwendig zum Leben, sind aber für das Kind zufällig in Art und Ausprägung und also nur bedingt verbindlich.

Kinder, die von ihren Eltern gar nicht oder nur halbherzig gewollt sind, befinden sich sogar in beneidenswerter Lage.

Denn sie geniessen die unmittelbare Elternschaft des Lebens selbst.

Das Leben ist ihnen Mutter und Vater in einem. Sie haben zahllose Verwandte und sind in einer familiären Blase planetarischer Grösse wohlig eingebettet. Diese Leute schöpfen aus einer Anerkennung, die ihnen angeboren ist.

Und zwar bedingungslos.

BLOX

Marie-Alice Schultz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt

Marie-Alice ist Künstlerin. Sie schreibt, zeichnet und malt. Und mit allem macht man sich eine Vorstellung dessen, was ein inneres Auge sieht. Alles skizziert Vorstellungen. Dass Vorstellung dann doch nie dem entspricht, was das Leben zeichnet, davon erzählt „Der halbe Apfel“.

© Marie-Alice Schultz

So sehr vor Jahrzehnten in Sachen Familie und Beziehung, Geschlechter und Zugehörigkeit alles in Stein gemeisselt, eine göttliche Ordnung unumstösslich schien und unendliches Leid erzeugte, unsäglicher Zwang gefangen machte, so schwer lastet heute die allzeit wache Alternative, der Ruf danach, alles abzustossen, sich durch nichts und niemanden eingrenzen zu lassen. Nicht dass ich mich zurücksehnen würde. Aber jede Befreiung macht die Suche nach der eignen Ecke, der eigenen Identität, der eigenen Aufgabe, dem eignen Patz nicht leichter. Es wurden Fesseln gesprengt, Tür und Tor geöffnet, damit die Suche aber nur viel schwerer gemacht.

Genau davon handelt „Der halbe Apfel“ von Marie-Alice Schultz. Ein Roman, der nicht durch Action, Spannung und einen ausgesuchten Plott glänzt, aber einer, der Fragen stellt, die beissenden Fragen der Gegenwart, deren Versuche, Antworten zu finden, mitunter nicht weniger Leid hervorrufen als die Fesseln der Vergangenheit.

© Marie-Alice Schultz

Ben ist gegangen, als sich Pia nicht entscheiden konnte, sich nicht für ihn entscheiden konnte, obwohl er unzweifelhaft der Vater eines Kindes war. Ben verschwand, weil er von seinem Leben, weil er von Pia etwas anderes erwartet hatte, und weil Pia nicht geben konnte, was Ben hätte haben wollen. Denn Pia mochte Vinz ebenso. Und als die gemeinsame Wohnung von Pia, Ben und Vinz zu eng wurde und sich Ben nicht länger mit Erklärungen trösten konnte, ging er weg, um nach sieben Jahren wieder aufzutauchen. Wie aus dem Nichts. Nicht weil ihn Pia zurückgerufen hätte, nicht weil er sich neben Vinz nun bessere Chancen ausrechnete, sondern weil er glaubte, Janis würde ihn als Vater brauchen.
Aber dem instabilen Gefüge macht Bens Erscheinen nichts leichter. Ganz im Gegenteil. Das bisschen Normalität, die nur mit Mühe festgehaltene Familienkonstellation bricht gänzlich auseinander, denn jetzt geht Pia. Damals als sie Mutter wurde, war sie sich all dessen nicht bewusst, was sie verlieren würde. Nicht nur an Raum, sondern an kreativer Kraft, die nichts mehr zustande bringt. Pia bricht auf und aus. Pia mag nicht mehr halten, was über Jahre nur mit maximaler Anstrengung zurückgehalten werden konnte.

„Verziehen hat sie ihm nie ganz, aber verstehen konnte sie. Dass man sein eigenes Leben verlässt, weil es droht, einen zu überfordern. Weil man weiss, dass die kommenden Monate sich bereits jetzt dunkel andeuten, ein Scherenschnitt, der das Scheitern vorwegnimmt.“

Marie-Alice Schulz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 280 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00294-7

Und Marie-Alice erzählt. Die Erzählerin aus dem fernen Hamburg. Die Freundin. Die Schriftstellerin, die genauso sucht und zweifelt, nicht weiss, wohin ihr all die Möglichkeiten hinzeigen, sei es in ihren Beziehungen, ihrer Arbeit am Text, ihren Bildern oder dem Schmerz um eine Mutter, die sie an den Tod verloren hatte. Eine Mutter, die der Fixstern einer ganzen Familie war und mit ihrer entschlossenen Lebensart all das zu verkörpern schien, was den Planeten um sie herum zu fehlen schien. Eine Mutter, die mit ihrem überraschenderen Tod eine Leere hinterliess, die nichts und niemand auffüllen konnte.
Marie-Alice sucht, sucht nach Spuren und Zeichen, nach Erklärungen und Antworten. Marie-Alice versucht, Ordnung zu schaffen. In den gebeutelten Hausstand ihrer Freunde in Wien und ihre aus dem Gleichgewicht geworfene Familie in Hamburg. 

© Marie-Alice Schultz

„Der halbe Apfel“ ist eine Beziehungskiste im wahrsten Sinne des Wortes. Aber für einmal ganz und gar nicht abwertend gemeint. Als Marie-Alices Mutter starb und man ihr im Krankenhaus die Hinterlassenschaft übergab, war da ein halber Apfel, verpackt in einer kleinen Plastiktüte. Die eine Hälfe hatte ihre Mutter gegessen, die andere war übrig geblieben. Ein halbes Leben war gelebt, die andere Hälfte blieb zurück. Ihr Mutter hatte von dem Apfel gegessen, in den sich Marie-Alice nicht zu beissen traut.

„Der halbe Apfel“ ist ein fein gesponnenes Psychogramm, unaufdringlich und ehrlich. Der Roman gespickt mit knappen, witzigen, würzigen Dialogen, die Geschichte der Versuch, in die verschiedensten Leben Ordnung zu bringen. 

„Der halbe Apfel“ ist ein behutsames Buch über Freundschaft und Familie. Aber auch über Mutterliebe und die schmerzhafte Gewissheit, mit dem Tod eines geliebten Menschen, einer Mutter erst recht, unsäglich viel verloren zu haben. Ein Eingeständnis. „Der halbe Apfel“ ist ein Roman wie ein langer Abend in Freundschaft!

© Marie-Alice Schultz

Marie-Alice Schultz, geboren 1980 in Hamburg, studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Berlin sowie Bildende Kunst in Wien. 2016 war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und Teilnehmerin des 20. Klagenfurter Literaturkurses. Für ihren Debütroman «Mikadowälder» (2019) wurde sie mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Henning Christiansen

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser

Eine Irrfahrt durch Minenfelder

Abbas Khider balanciert in seinem Roman «Der Erinnerungsfälscher» zwischen Fakt und Fiktion: Die Hauptfigur flieht aus dem Irak und weigert sich schlicht, sich zu erinnern.

Gastbeitrag von Elodie Kolb
Elodie Kolb studiert vergleichende Literaturwissenschaften im Master an der Uni Basel und arbeitet nebenbei als Redaktorin bei der «bz Basel». 

Was am Schluss des neuen Romans von Abbas Khider bleibt, ist ein grosses Misstrauen: Ein Misstrauen gegenüber allem, was die Hauptfigur in «Der Erinnerungsfälscher» erzählt. Denn der aus dem Irak geflüchtete Said Al-Wahid leidet nicht nur an einer Erinnerungsschwäche, sondern füllt die Lücken mit erfundenen Geschichten auf. 

Said sitzt an einem trüben Sommertag im ICE Richtung Berlin, als er vom nahenden Tod seiner kranken Mutter in Bagdad erfährt. Komm so schnell wie möglich her, drängt sein Bruder am Telefon. Statt also wie geplant zu Frau und Kind zurückzufahren, begibt sich Said auf eine Reise in den Osten. Auf Umwegen – direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr – landet er als einziger Economy-Passagier in Bagdad. 

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser, 2022, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-27274-3

Eine Irrfahrt ist nicht nur die Reise in seine Heimat, sondern auch jene, die er durch sein Gedächtnis unternimmt. Es ist eine homerische Odyssee, wie mit dem Namen von Saids Sohn, Ilias, subtil angedeutet ist. Die Hinrichtung von Saids Vaters viele Jahre zuvor, die Flucht über Jordanien, Ägypten, Griechenland und schliesslich sein Alltag in Deutschland: Saids Erinnerungsfetzen an sein Leben sind wie Puzzleteile. Er weiss weder, welche wahr und welche erfunden sind, noch lassen sich die Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.

Erst als er sich als Schriftsteller versucht und an seinem Gedächtnis scheitert, wird ihm seine Erinnerungsschwäche richtig bewusst. Der anstrengenden Arbeit sich zu erinnern, entgeht Said ganz bewusst: Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Viel angenehmer — und besser für das Storytelling — sind erfundene Geschichten. Und doch wird die Konfrontation durch die Reise nach Bagdad und das Wiedersehen mit der Familie unumgänglich. 

Das Unvermögen sich zu erinnern, spiegelt Abbas Khider an einzelnen Stellen mit aneinandergereihten Fragen: Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren? Was den Roman vorantreibt, ist das Misstrauen gegenüber dem unzuverlässigen Erzähler: Welche der erzählten Geschichten über Saids Flucht sind wahr? Oder hat er diese gar gänzlich erfunden?

Weil er sich nicht erinnert, fehlt Said eine Identität: In Deutschland wird er zum Inländer auf Papier, im vom Krieg versehrten Bagdad spürte er die Fremde mächtiger als in den fernen Ländern. Diese Verzweiflung treibt Abbas Khider in der verkrampften Gewohnheit Saids auf die Spitze, immer seinen Reisepass bei sich zu tragen; auch im Supermarkt um die Ecke. 

Mit «Der Erinnerungsfälscher» bleibt Abbas Khider dem Genre der Migrationsliteratur treu und zeigt auf feinfühlige Art, was Krieg und Flucht mit einem Menschen machen können. Er reflektiert Rassismuserfahrungen in Deutschland subtil, teils ironisch: etwa, wenn Said denkt, er sei die Blumenvase in der NGO, ein bisschen Farbe zwischen den weiss gestrichenen Wänden. 

Sprachlich ist der Text ein Seiltanz zwischen Plattitüden und Pathos, der Khider nur teilweise gelingt: Mitunter rutscht er ab in Floskeln, wenn Said auf der Flucht die Städte wechselt, wie andere ihre Hemden. Oder wird pathetisch, wenn sich im Irak die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden drehen. 

Zwischen Floskeln und detailreichen Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion: Nicht nur die Reise Said Al-Wahids ist eine Irrfahrt, sondern auch der Roman. Eine Odyssee durch ein Leben, die zum Nachdenken über das eigene Erinnerungsvermögen anregt. Und was der Roman hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass wir früher oder später alle auf die Minen unseres Lebens treten.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Ausserdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm «Ohrfeige», «Deutsch für alle» (Das endgültige Lehrbuch), und «Palast der Miserablen».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg

„Haus in Flammen“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Schon „Erbauungsliteratur“ passt nicht, „Betroffenheitsliteratur“ auch nicht. „Haus in Flammen“ von Mischa Kopmann ist in gewisser Weise eine Kampfschrift. Sie erzählt von der Verzweiflung all jener, die sich an Strassen kleben, Häfen blockieren und Brücken besetzen. Von jungen Menschen, bei denen die Verzweiflung längst in Aggression gekippt ist. Aggression als einziger Weg.

2010 veröffentlichte die UN einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass wir kurz vor dem sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte stehen und dass dieses Massenaussterben das erste der Erdgeschichte sein wird, das der Mensch zu verantworten hat. Seit diesem Bericht ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen und nicht einmal die 2015 verbindlich gesprochenen Ziele des Pariser Klimagipfels scheinen in erreichbarer Nähe. Erstaunlich genug, dass sich die Literatur nur sehr zaghaft mit diesem Thema auseinandersetzt, zählt man all jene Dystopien nicht dazu, die sich mit einem möglichen Danach beschäftigen. So ratlos sich die Politik gebärdet, stets mit der Angst vor schwindender Unterstützung im Hinblick auf nächste Wahlen, so ratlos gibt sich die Kultur, die Literatur. Wer will schon jenen Moment vor dem Einschlafen, wo man den Tag mit ein paar Seiten in einem Buch versüssen will, mit einem Alp vergiften?

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95510-274-6

Der Autor Mischa Kopmann ist Familienvater. Wer in der Gegenwart Mutter oder Vater von kleinen Kindern ist, muss sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die sich blauäugigem Optimismus verschliesst, vorausgesetzt man stellt sich Fragen, liest die Zeit (damit meine ich nicht zwingend die entsprechende Zeitung) und sieht sein Leben nicht als Gang durch einen Supermarkt. Was wird bleiben, wenn unsere Kinder erwachsen geworden sind? Welche Schreckensszenarien, wie jener UN-Bericht von 2010, werden das Leben in der Zukunft überhaupt noch lebenswert lassen? Man kann die Wut und Verzweiflung der radikalen KlimakämpferInnen durchaus nachvollziehen, auch wenn die Methoden, die Öffentlichkeit von der Dringlichkeit einer Kurskorrektur zu überzeugen, mehr als fraglich sind.

Lias Thaden erzählt in „Haus in Flammen“ die Geschichte von Freundschaft und Liebe, Verzweiflung und Angst. Von Minnigk, Yvette und ihm, einer Menage à trois, die kein gutes Ende finden wird. Alle drei sind jung, um die zwanzig. Lias immer wieder umgezogen, weil der Vater ein hohes Tier bei der Bundeswehr ist, Minnigk locker und eloquent, blitzgescheit, ein Überflieger und Yvette, die Schöne, Tapfere, Unnahbare, Geheimnisvolle. Schule ist längst zur Nebensache geworden, denn was die drei unablässig auf Trab hält, alles mitreisst und unausweichlich ist, ist eine Gegenwart, die keiner Zukunft mehr Platz lässt, eine Zivilisation, die blind auf einen Abgrund zusteuert. Irgendwann mischt sich in die pazifistischen Ziele derart viel Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, dass die drei die DLB, die Dead Loss Brigade gründen, einen gut organisierten Haufen, der sich längst nicht mehr mit Nadelstichen begnügt, eine immer stärker werdende Gruppe von eigentlichen Ökoterroristen, deren einziges Argument die Gewalt ist.

So sehr sich die drei immer mehr im Strudel der Gewalt verlieren, so sehr entzieht es den dreien den Boden ihrer gegenseitigen Freundschaft. Lias liebt Yvette, die einzige. Und Yvette liebt Minnigk und Lias. Sie ziehen sogar in eine gemeinsame Wohnung, bis die Nähe für Lias unerträglich wird, genauso unerträglich wie die sich abzeichnende letzte Katastrophe in ihrem Kampf gegen die Stur- und Trägheit der Menschen.
Lias erzählt den Weg dieser Katastrophe, die ihm alles wegnehmen wird, seinen Freund Minnigk, seine Liebe Yvette und den Glauben, irgend ein Kampf wäre zu gewinnen.

Zugegeben, Mischa Kopmanns Roman streichelt auf keiner Seite. Alles läuft aus dem Ruder, alles. In vielen der sprachlich eingedickten Szenen, wird die Verzweiflung schmerzlich spürbar. Viele Szenen erinnern an Theaterszenen, an ProtagonistInnen, die sich nichts schenken, die sich förmlich aufreissen, um in einem letzten Akt der Verzweiflung Resonanz zu erreichen.
Vielleicht ist ein solches Buch der verzweifelte Versuch eines Familienvaters, seinen Kindern auch in Zukunft vor die Augen treten zu können. So wie die Kinder all jener die während der Gewaltherrschaft von Diktaturen Augen, Ohren und Münder schlossen, ihren Eltern später Fragen stellen. Unsere Kinder werden wieder fragen. Zum Beispiel warum wir nicht trotz Warnungen wie jener im UN-Bericht von 2010 umschwenkten.

„Haus in Flammen“ ist weit mehr als Ökoliteratur. Mit Sicherheit ein literarischer Höllentripp.

Interview

Unser Haus steht tatsächlich in Flammen, der ganze Planet. Besteht nicht die Gefahr, dass genau jene Leserinnen und Leser, die sich noch immer weigern, die Zeichen der Zeit lesen zu wollen, ein Buch wie das ihrige weglegen?
Ganz sicher wäre das so – sofern man sich der Illusion hingeben mag, dass eben diese Leserinnen und Leser mein Buch erst einmal in die Hand nähmen. Literatur ist in den seltensten Fällen Angelegenheit einer breiten Masse und somit fast immer elitär. Würde ich ernsthaft über mein etwaiges Lesepublikum nachdenken, könnte ich nicht die Bücher schreiben, die ich schreibe. Entscheidend, daran glaube ich fest, im Leben wie in der Literatur, ist nicht die Anzahl an Verkäufen, sondern der kulturelle Impact: Bewege ich mit meinem Buch Herzen, verändere ich etwas und etwas verändert sich.

Sie leben mit Ihrer Familie in Hamburg. Mag sein, dass man dort vom Geist der Fridays-for-Future-Bewegung etwas mitbekommt. Ich wohne in einem 14000-Seelen-Dorf, umgeben von satten Wiesen und Wäldern und spüre davon rein gar nichts. Im Gegenteil, hier fahren Baseballkapies mit ihren getunten Spielzeugen am Bahnhof vorbei und die Eingänge zu Schulhäusern sind nach einem Wochenende total vermüllt.
Ich neige zu einer pessimistischen Sicht in die Zukunft. Und Sie? Ich sehe mein Buch als ein Werk der Desillusionierung. Mitunter muss ich aufpassen, dass ich die Welt, die mich umgibt nicht als post-apokalyptisch geisterhaft erlebe. Unsere Regierung bezeichnet den aktuellen Klimabericht als «flammendes Dokument einer brennenden Welt». Da wir es seit Jahrzehnten gewöhnt sind, lediglich an den Symptomen eines Problems herumzudoktorn, weil es zu schmerzhaft, unbequem und nicht wirklich karrierefördernd ist, sich ernsthaft an den Ursachen abzuarbeiten, ist meine Sicht auf die Zukunft realistischerweise nicht sehr optimistisch.

Yvette, Minnigk und Lias sind Archetypen der Auseinandersetzung. Eine Visionärin, ein Radikaler und ein stiller Unterstützer. Ist es Zufall, dass die Visionärin weiblich ist? Oder trügt der Eindruck, dass die Rollen der Denkenden und Lenkenden mehrheitlich nicht in männlicher Hand sind?
Ich bin mir nicht sicher, ob Yvette tatsächlich visionärer denkt als Minnigk und Lias. Was sie von den beiden unterscheidet, ist der absolute Ernst, mit dem sie ihren Kampf ausficht. Ganz im Gegensatz zu Lias, wird ihr das Politische jedoch zunehmend wichtiger als das Persönliche – was wiederum vielleicht auch einem ganz persönlichen Motiv geschuldet sein mag. Und vergessen wir nicht: Alles, was über die Figuren (und somit auch über Yvette) gesagt wird, unterliegt der schmerzhaft gebrochenen, nach und nach versagenden Stimme eines nicht unbedingt verlässlichen Erzählers.

Sie sind Vater von Kindern. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass ihre Kinder Sie irgendwann fragen werden, warum man damals nicht handelte, als es noch möglich war. Ich bin Vater von fünf Kindern. Im Nachhinein staune ich über meinen naiven Mut und die Tatsache, dass keines meiner Kinder meine Vergangenheit in Frage stellt. Ein bisschen Sorge?
Ich sehe meine Aufgabe, meinen Kindern (und Mitmenschen insgesamt) gegenüber darin, so authentisch, offen und zugewandt zu sein wie nur möglich. Ohne dabei den Humor zu verlieren. Ich glaube, darin liegt unsere eigentliche Bestimmung: Uns zu erkennen und zu erneuern, an jedem einzelnen Tag. Die sprichwörtliche Veränderung zu sein, die man in der Welt sehen will. Jede Veränderung im Kleinen bedeutet auch eine im Grossen.

Sie schreiben von der „explosiven Mischung Wut“. Das spürt, liest und sieht man überall. Nicht nur bei Fussballspielen, Demonstrationen, überall dort wo viele Menschen zusammenkommen. Warum habe ich das Gefühl, dass diese zerstörerische Kraft förmlich darauf wartet, bis sie sich der Kontrolle entziehen kann oder bis das filigrane Gefüge einer funktionierenden Gesellschaft zu wanken beginnt?
Alles bleibt solange in einer vermeintlich sicheren Schwebe bis das filigrane Gefüge, von dem sie sprechen, solche Risse bekommt, dass es zerbricht. Dies gilt für die Natur wie für die Menschheit: Solange es den Eliten gelingt, das soziale Ungleichgewicht nicht zu gross werden zu lassen, solange die Natur nicht solche Schäden heraufbeschwört, dass der soziale Frieden nachhaltig gestört wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Seit einigen Jahren erleben wir jedoch, dass unser Alltag zunehmend Störungen unterliegt. Eine Gesellschaft, die es als ihr Recht ansieht, in sicherem Wohlstand zu leben, ist durch nichts darauf vorbereitet, wenn beide Faktoren, eng aneinander geknüpft, ihren explosiven Point of no Return erreichen.

Ist Ihr Schreiben Ihr ganz persönlicher „Kampf“?
Dieses Buch hat mir geholfen, meine Wut, meine Angst, meine Ohnmacht zu überwinden. Es gilt also im besten Sinne das Credo: Besser ich schreibe über Menschen, die Autos anzünden und Fast-Food-Ketten-Fillialen in die Luft jagen, als selbst damit anzufangen.

Mischa Kopmann wurde Ende der sechziger Jahre in einer Kleinstadt in der Südheide geboren. Um die Milleniumswende gewann er einige Literaturpreise (u. a. Allegra Kurzgeschichten Preis, Walter-Serner-Preis), unterbrach dann jedoch sein literarisches Schaffen, um seine zwei Kinder grosszuziehen. Im Februar 2017 erschien bei Osburg sein Debütroman «Aquariumtrinker», 2019 die «Dorfidioten». Der Autor lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Kathrin Brunnhofer

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau

Jakob Augstein muss es wissen. In seinem literarischen Debüt schreibt er von Franz Xaver Misslinger, einem Mann, dem politisch nichts zu misslingen scheint. Von einer steilen Politkarriere, von Kalkül und Macht, von Verrat und tiefen Verletzungen. Jakob Augstein weiss es, weil er sie kennt in den geschlossenen Kreisen der politischen Alphamenschen.

Ungewöhnlich genug, dass der 55jährige Verleger, Herausgeber, Journalist und medialer Tausendsassa einen Roman herausgibt. Es scheint lange gekocht zu haben. Und was ich lese, erstaunt und fasziniert mich gleichermassen. Wer „Strömung“ liest, wird Realpolitik nicht mehr mögen, wird sich in Vielem bestätigt wissen. Mag sein, dass Augstein Klischees bedient. Aber weil es ein Augstein-Roman ist, liest sich dieser Roman so ganz anders, als von jemandem, der sich durch Recherche an eine solche Geschichte wagt.

Misslinger wollte unbedingt das Beste aus sich machen. Das Optimum. «Optimieren» war ein Wort, das er gerne gebrauchte. Aber er wollte dabei mühelos bleiben.

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau, 2022, 301 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-351-03949-3

Misslinger ist früh in die Politik eingestiegen, durchaus mit der Absicht, etwas in Bewegung zu versetzen. Aber wohl vor allem sich selbst. Er ist in den Zirkeln der Partei aufgestiegen, immer unter der Patenschaft seines grossen Mentors und Förderers, immer im sicheren Wissen darum, dass er an entscheidender Stelle getragen wird. Überhaupt ist er sich das Getragen-werden gewohnt. Nicht zuletzt von seiner Frau Selma und seiner Tochter Luise. Seine Karriere war ein Leben lang oberstes Gesetz, oberster Massstab, dem sich alles unterzuordnen hatte. Misslingers Leben richtete sich stets nach den Gesetzen innerparteilicher Strömungen. Bis nicht nur er felsenfest davon überzeugt ist, dass er am kommenden Parteitag ganz an die Spitze gehievt wird, alles von der einen, entscheidenden Rede abhängt, seinem sicheren Gespür für die richtigen Worte. Kurz vor jenem alles entscheidenden Parteitag rät man ihm, eine Auszeit zu nehmen, sich die Rede in aller Ruhe zurechtzulegen. Und weil Misslinger spürt, dass Distanz nur gut tun kann, auch vor dem drohenden ehelichen Scheiterhaufen, dem, was übrig bleibt, weil er nie da war, als es ihn in Ehe und Familie wirklich gebraucht hätte, tritt er eine Reise in die USA an. Eine Reise mit seiner sechzehnjährigen Tochter Luise, von der er genau weiss, dass er einiges gutzumachen hat. Zu seiner Überraschung nimmt Luise die Einladung an und die Reise beginnt. 

Es gab doch ein paar andere Themen, Freiheit, Gerechtigkeit und so, aber wenn man alles Nebensächliche weggestrichen hätte, wäre als Wesenskern das Geldverdienen übrig geblieben.

Keine Reise in einen Urlaub. Misslinger gelingt es in keinem Moment, aus der Strömung auszutreten. Seine Tochter Luise ist längst nicht die brave, leicht zu begeisternde Tochter, die sich ein Vater als Begleitung wünscht. Luise stellt ihren Vater in Frage, immer und immer wieder. Sie, die in einer Generation aufwächst, der die Sorge um eine Zukunft schon mit 16 existenziell geworden ist. Sie, die schon mit 16 jegliches Vertrauen in die leeren Worthülsen aktueller Hinhaltepolitik nicht mehr hinhalten will. Zwar will Misslinger verstehen, aber eigentlich nur den Zugang zur Tür, die ihm zeigen soll, wie er mit Worten seine Tochter von seinen Ansichten überzeugen kann. Während er sich mit den Ängsten und dem Unverständnis seiner Tochter konfrontiert sieht, muss er feststellen, dass ihn die Strömung zuhause an den Schaltkreisen der Macht auszuspucken droht.

«Dreh dich mal um!»

„Strömung“ ist ein flirrendes Psychogramm eines Machtmenschen, der all sein Tun einem einzigen Ziel unterordnet; der Macht. Zwar immer unter dem Mäntelchen des Gemeinwohls, aber stets mit dem fokussierten Blick auf die nächste Stufe der Karriere, auf jenen Thron, von dem er überzeugt ist, er stünde ihm zu.
Augsteins Protagonist Franz Xaver Misslinger ist der Archetyp eines Politikers. Augsteins Roman ein Strudel, in dem sich Misslinger immer tiefer in Strömungen verliert, in einem unaufhaltsamen Ende. „Strömung“ ist der tiefe Blick in ein System, einen Strom, dessen Gesetze scheinbar der Mensch schreibt, dessen Unkontrollierbarkeit man aber nicht wahrhaben will. „Strömung“ ist faszinierend erzählt!

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. «Strömung» ist sein erster Roman.

Beitragsfoto © Mathias Bothor

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil», Plattform Gegenzauber

Ich mag es, wie du Brot schneidest. In schmale, austarierte Scheiben. Du kaufst stets ein dunkles Brot, ein schweres, eins mit viel Gehalt. Auch das mag ich. Du bist nicht interessiert an leichtem, luftigem Material, du willst für mich das Undurchdringliche und Gewichtige. Dieses Brot ist eine höhere Gewalt. Es drückt unter sich eine Kuhle in den kleinen Tisch aus Fichte. Auf die schmalen, schweren Scheiben schmierst du Butter. Nicht zu viel, denn das mag ich nicht. Und auf die Butter Zucker, simplen, raffinierten Zucker, du drückst ihn an die Butter, drückst ihn fest, damit er nicht herunterfällt auf den Fichtentisch. Ich sehe dir dabei zu, wie du das tust. Du bewegst dich langsam, du hast schwere Hände und breite Finger. Du machst alles langsam und mit zu viel Kraft. Du legst das garnierte Brot auf den kleinen türkisenen Teller, du wischst den trotz deiner Mühe heruntergefallenen Zucker vom Tisch, du stellst den Teller mit dem Brot darauf auf den Altar neben die Kerze. Und dann gehst du zur Arbeit. Gehst aus der Küche und erst viele Stunden später kehrst du zurück. In der Zwischenzeit verzehre ich lautlos dein Brot.

 

Café Krokodil

Es gibt nicht viel mehr als ein paar Lichter,
in die Äste der Bäume gehängt
Und darunter
Plastiktische und
Plastikstühle
Direkt auf dem Gras
In der Nacht wird das Gras
feucht.

Es gibt das Tosen
Des Flusses
Es ist ein fremder Fluss
Er macht Furcht.
Doch möglicherweise lässt
er sich besser kennenlernen

An der Mauer
hält sich die Wärme der Sonne fest.
und in der Nacht
legt sie sich
auf die nackten Beine
zwischen die Haare.

Es gibt die Stimmen.
Aber die Worte sind
unmöglich zu verstehen.
Wichtig ist,
dass die Stimmen oft froh sind
und von unterschiedlichsten
Stimmbändern erzeugt.

Tonbänder wiederum
Machen Musik.
Immer wieder dieselbe.
Es gibt bloss vier
Kassetten hier.
Das klingt prekär.
Doch so ist es nicht.

Unter den Tischen
Liegen
gutgenährte
Krokodile und lassen sich über die buckligen Köpfe streicheln.
Sie sind dem Vegetarismus
Verpflichtet
und essen
gern Löwenzahn.

Agnes Siegenthaler, geboren 1988, lebt und arbeitet rund um Bern und hat soeben das Literaturinstitut in Biel abgeschlossen. Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche. Im Moment arbeitet Agnes Siegenthaler an ihrem ersten Roman und an verschiedenen kleineren Projekten.

Beitragsbild © Wiebke Zollmann

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter v. Felbert