Thommie Bayer und «Sieben Tage Sommer» im Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.

Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.

Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler

30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.

Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.

Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!

«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Lesung und «Literatur am Tisch» im Literaturhaus Thurgau

Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!

Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.

Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7

Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.

Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.

„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.

***

Thommie Bayer und das Literaturhaus Thurgau laden nebst einer klassischen Lesung auch zu «Literatur am Tisch» ein. Gäste, die den Roman «Sieben Tage Sommer» gelesen haben, sind eingeladen, mit dem Autor zu diskutieren. Maximal 12 Gäste geniessen den Autor, die direkte Begegnung, das Gespräch begleitet von einem kleinen Imbiss, Wein und Getränken.
Literatur am Tisch – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus.» Andreas Neeser

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

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Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer «Die Begegnung von Henne und Ei an einem Nachmittag im Kurpark von Badenweiler», Plattform Gegenzauber

„Ach“, sagt der Mann, der mich eben überholt hat und nun, nach einem Seitenblick, den Kopf zu mir her dreht, „ich verfolge deine Arbeit mit Ver­gnügen.“
Er trägt Cordhosen, ausgetretene Schuhe und einen dieser hellen, beigen Rentneranoraks. Sein schütteres Haar ist weiss, und sein Gesicht hat diesen alterslosen Ausdruck zäher Sportler. Er ähnelt Luis Trenker.
Geschmack ist wichtiger als Benehmen, denke ich und verzeihe ihm das Duzen, nicke mit dem Kopf und lächle, wie immer, wenn jemand mich lobt. Ohnehin gehöre ich der Generation an, die das Duzen einst für ei­nen Fortschritt hielt und sich nur langsam zur Revision früherer Ideale durchringt. Allerdings: wie rede ich ihn an? Der Mann ist sechzig oder siebzig.
„Natürlich auch mit du“, sagt er mit herablassender Geduld, „ich tre­te in der ersten Person Einzahl auf.“ Kann der Gedanken lesen?
„Ja“, sagt er. „Eine der leichteren Übungen.“
Er zieht mich am Arm zu einer Parkbank. Entgeistert folge ich ihm und denke, dass ich, wenn das wirklich stimmt, jetzt nichts mehr denken darf.
„Versuch das gar nicht erst“, sagt er und lächelt.
Ich bin gern in Badenweiler, spaziere durch den Park und stelle mir vor, wie hier früher mondäne Damen, Dichter, Schwindler und Emporkömm­linge, Ausbeuter und Adel über den…
„Ausbeuter“, sagt der alte Mann, „so ein Quatsch. Erschien dir nie der Gedanke plausibel, ich könnte euch mit Bedacht so gebaut haben? Sagt dir der Name Darwin denn gar nichts?“
Will der Typ mir etwa im Ernst weismachen, er sei… er habe… das darf doch wohl nicht wahr sein!
„Doch“, sagt er, „darf es wohl. Du hast die Wahl: glaub‘s, glaub‘s nicht, mir egal, ich bin nicht so empfindlich wie ihr meint.“
Ich wage es kaum ihn anzusehen, aber irgendwie muss ich raus aus dieser verflixten Situation. Er sieht gar nicht aus wie ein Spinner. Aber wie sehen die aus? Spinner gibt‘s in jeder Form. Ich muss ihn loswerden. Schnell und höflich. Vor allem schnell. Ich hebe den Kopf und versuche, das Gesicht aufzusetzen, mit dem ich schon manches geschniegelte Mor­monenpaar Sonntag morgens um elf aus meinem Hausflur komplimen­tiert habe, aber mein Ausdruck blasierter Starre muss dem vollständiger Verblüffung gewichen sein, als ich ihn grinsend vor mir sehe, und er ist umgezogen!
„Da staunst du“, sagt er nur.
Allerdings staune ich. Er hat auf einmal einen Turban auf dem Kopf, Sandalen an den Füssen und ein indisches Gewand am Leib. „Tja“, sagte er und deutet mit dem Daumen auf zwei vorübergehende Inder, „das kommt von denen da.“
„Sie sind ein Zauberer, stimmt‘s? Sie wollen Ihre Tricks an mir pro­bieren“, sage ich. „Noch ein, zwei Wunder, dann geben Sie mir Ihre Karte, sagen Nichts für ungut und laden mich zu Ihrer Vorstellung ein.“
„Du“, sagt er nur.
Ich bin verärgert und fühle mich gehänselt. „Fällt mir schwer, Sie zu duzen, wenn Sie mir diese respekteinflössenden Nummern hier vorführen. Hauen Sie gleich noch ein Fünfmarkstück durch die Tischplatte? Soll ich in meine Brieftasche gucken, und da liegt dann Ihre Visitenkarte?“
„Deine“, sagt er.
„Ich hab keine“, antworte ich trotzig. 
„Keine Tricks, ehrlich.“ Seine Kleidung ist wieder wie vorher. „Und ausserdem, welche Tischplatte überhaupt?“
„Ich kapiere nichts mehr“, sage ich.
„Das fällt mir auch auf.“ In seiner Stimme ist ein Unterton von Spott. „Ich hätte gedacht, dass du ein wenig flinker wärst. Deine Bücher machten mir den Eindruck.“
Jetzt hat er mich wieder. Meine Bücher – wie schön so etwas klingt. Der Mann ist ein Fan und will mich beeindrucken, weil er selbst von mei­ner Arbeit so hingerissen ist. So jemanden fertigt man nicht ruppig ab, das wäre nicht anständig. 
„Ihr seid doch alle gleich“, sagt er seufzend, „die affigsten Ungeheu­er, die man sich vorstellen kann“, aber es klingt verzeihend und so, als freue er sich, den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Dass er das weiss, ist mir peinlich.
„Komm schon, so war‘s auch nicht gemeint. Es ist nur, weil du manchmal über mich schreibst und ich bei deinen Texten hin und wieder schmunzeln musste, da dachte ich, ich mach dir eine Freude und sprech dich mal an.“
„Nett“, sage ich, „danke.“
„Na, auf geht‘s, du willst mir doch Fragen stellen. Die Gelegenheit, mich mal persönlich zu sprechen, das ist doch was, oder?“
„Aber ich glaube doch nicht mal an Sie…, dich.“
„Was meinst du, weswegen ich mit dir rede?“
„Weil ich‘s noch nötig habe vielleicht?“ 
„Hör mir gut zu“, jetzt klingt er ernstlich ungehalten. „Meine Zeit will ich nicht mit dir verplempern. Wenn du dich blöd stellst, dann war es das. Ich hatte so eine Vorstellung von amüsantem Geplauder. Auf zähen Dialog, bei dem es nur darum geht, dich von mir zu überzeugen, bin ich nicht scharf. Das ist ein bisschen unter meiner Würde, weisst du?“
„Alles klar“, sage ich, „Du bist es. Ich stell mich nicht mehr stur. Ver­sprochen. Und ich stell dir Fragen. Zum Beispiel die, warum du mit mir sprichst, obwohl ich nicht an dich glaube. Sprichst du nur mit Ungläubi­gen?“
„Ausschliesslich“, sagt er, „ja. Und unter denen am liebsten mit den Künstlern.“
„Und wieso?“
„Die lassen mir ein bisschen mehr Freiheit.“
„Die Künstler?“
„Die Ungläubigen überhaupt. Die haben keine so genaue Vorstel­lung von mir, da ist noch ein bisschen Spielraum zur Entfaltung drin. Und die Künstler haben den Vorteil, mich als Konkurrenz anzusehen, das macht es kurzweiliger. Übrigens, da du davon sprichst, so ungläubig, wie du glaubst, bist du nicht. Die Art, wie du mich angezogen hast, spricht Bände. Dieser Anorak hier: ich bitte dich. Die weissen Haare. Dieser Turnlehrerstil. Du hast sehr wohl eine feste Vorstellung von mir.“
„Soll das heissen, dass du immer so aussiehst, wie sich jemand dich vorstellt? Dass du eine Art Chamäleon bist? Dass die Menschen dich phan­tasieren, und du die Gestalt ihrer Bilder annimmst?“ 
„Brav. Er hat‘s kapiert. Schön, dass du wieder klar bist. Mach einen Test.“
Das ist keine schlechte Idee. Ich muss ihn mir nur vorstellen und prü­fen, ob er sich entsprechend verwandelt. Aber nein, Mist, das geht ja nicht. Er kann doch Gedankenlesen. Das bewiese also gar nichts.
„Bist du immer noch am Beweisen? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“
„Entschuldige“, sage ich betreten.
Er legt seine Hand auf meinen Arm und sagt: „Schau mich an, wenn jemand vorbeikommt. Vielleicht hast du Glück und es ist ein Japaner. Achtung. Da kommen welche. Sogar schön hintereinander, die Versuch­sanordnung stimmt also. Konzentrier dich, dann hast du was zu lachen.“
Bis die drei Spaziergänger nah genug herangekommen sind, frage ich ihn noch, ob er hier wohne, er sagt „Nur zur Zeit, bin auf Kur“, und da passiert uns schon der Erste, ein älterer Herr mit sensiblem Gesicht, einer Baskenmütze und langem, weissem Haar. Ich beobachte meinen Neben­mann genau, und tatsächlich verwandelt er sich blitzschnell in eine rötli­che Wolke voller undefinierbarer Gestalten, ich glaube Tiere zu sehen, ei­nen Baum, eine Art Vulkanausbruch und eine Menge Gewusel, dessen Konturen ich nicht zu erfassen vermag. 
„Pech“, sagt er und hat wieder seine normale Gestalt. „Das war ein Waldorflehrer. Achtung, der Nächste. Pass auf.“
Der Zweite, auch ein älterer Herr, im Pullover und mit einer Akten­tasche unterm Arm, geht mit schnellem Schritt an uns vorbei. Wieder ver­wandelt sich mein Turnlehrer, und sein Anblick wechselt schnell und ab­gehackt wie unter Stroboskoplicht zwischen einem Dreieck mit Auge und dem klassischen, bärtigen, nikolausähnlichen alten Mann. „Na siehst du?“ sagt er und lächelt mich an. „Au, jetzt bin ich selber gespannt. Eine Mutter mit Kind.“
Die Frau geht vorbei. Sie ist jung, trägt ihr Baby in einem Tuch über der Schulter und lächelt mir flüchtig zu. Ich habe keine Zeit, zurückzulä­cheln, oder mich zu wundern, dass sie nur mich und nicht den alten Herrn neben mir beachtet, weil ich seine Verwandlung nicht verpassen will. Es ist unglaublich: Er ist zwei Gestalten gleichzeitig. Die eine sieht ein bisschen aus wie George Clooney oder Cary Grant, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, denn die andere ist eine riesige weibliche Brust. Ein phä­nomenaler, in seiner Monstrosität befremdlich skurriler Anblick. Ich bin sprachlos.
Er sitzt wieder vor mir in seinem Anorak und lacht von Ohr zu Ohr. „Das war gelungen, auf sowas hab ich gehofft“, sagt er, „das lässt uns den fehlenden Japaner verschmerzen.“
Wir schweigen eine Weile, denn mein Kopf ist jetzt tatsächlich so leer, wie ich ihn noch vor wenigen Minuten gern gehabt hätte. Er wartet geduldig, bis ich wieder soweit gefasst bin, dass ich eine vernünftige Frage stellen kann: „Heisst das, also, begreif ich das richtig, dass die Menschen dich erschaffen? Ihre Vorstellung von dir ist alles, was es gibt?“
„Na, der Gedanke wird dir doch nicht neu sein. Ja, um dir richtig zu antworten, das heisst es.“
„Sehen sie dich?“
„Nur die Künstler. Normale Menschen haben ihre Phantasien nicht als Wirklichkeit vor Augen.“
„Wenn jetzt einer vorbeikäme, der das Geld anbetet, würdest du dann als Tresortür oder Bündel von Scheinen hier liegen?“
„Theoretisch ja“, sagt er, „aber praktisch kommt das nicht vor. Kein Mensch stellt sich mich als Geld vor. Das ist eine Metapher. Hat nichts mit der Realität zu tun.“
„Und bei einem Atheisten?“
„Nichts. Absolut nichts. Da verschwinde ich einfach. Kommt aller­dings sehr selten vor. Echte Atheisten sind sehr, sehr dünn gesät.“
„Halt“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „da stimmt doch was nicht. Vorher hast du behauptet, du habest die Menschen so gebaut, dass einer den andern ausbeutet, und jetzt soll ich dir glauben, dass die Men­schen dich erschaffen, entsprechend ihrer Wünsche und Phantasie. Da stimmt doch die Reihenfolge nicht!“ Ich bin stolz auf meine glasklare Lo­gik.
„Du meinst“, sagt er, „wenn ich die Menschen erschaffen habe, dann können sie nicht mich erschaffen haben?“
„Ja“, sage ich. „Genau.“
„Denk noch mal drüber nach. Ich kann sie doch so erschaffen haben, dass sie mich phantasieren, und sie können mich so phantasieren, dass ich sie erschaffen habe. Mit deiner Logik kommst du nicht so weit, wie du glaubst.“
„Hm“, sage ich. 
„Ich muss los.“ Er erhebt sich von der Bank. „War nett mit dir zu plaudern. Hast du noch eine Frage?“
„Ja, halt.“ Ich bin erschrocken, denn da das Eis nun mal gebrochen ist, könnte ich ewig so weiterfragen. „Moment, eine Frage noch: Gibt es dich?“
„Frag dich selber, ich bin deine Idee.“
Er geht, ich bleibe sitzen und rufe ihm nach: „Wenn du meine Idee bist, was ist dann mit dieser Begegnung hier? Ich treff dich, obwohl ich nicht mal an dich glaube. Das kann doch nicht meine Idee sein!“
„Doch“, ruft er fröhlich, „Selbstverständlich. Du musst mal dein Ver­hältnis zu Ideen überprüfen.“
Auf einen Schlag ist er verschwunden. Die späte Blondine im Pelz­mantel, die eben an ihm vorbeiging, das heisst, nur auf ihn zu, muss also ei­ne echte Atheistin sein. Ich hätte Lust, sie darauf anzusprechen, aber mein Bedarf an Gesprächen ist gedeckt.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück», «Das innere Ausland» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Rezensionen von «Das innere Ausland«, «Seltene Affären» und «Das Glück meiner Mutter» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Peter von Felbert

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper

Philipp Dorn ist Krimiautor. Und weil Arbeiten abgeschlossen sind und die Kasse aufgestockt, nimmt sich Philipp mit seinem neuen Joe Louis ein paar Tage Ferien in Italien. Nicht nur seinem Sehnsuchtsort, sondern auch jenem seiner Mutter, die er vor noch nicht langer Zeit zu Grabe tragen musste.

Mein erstes Auto kaufte ich für wenig Geld meiner Patentante ab, einen gelben Suzuki, den meine Gotte liebevoll Susi nannte und mir dann Sorgfalt ihrem Schützling gegenüber sehr ans Herz legte. Menschen, die ihrem Auto Namen geben, sind mir grundsätzlich suspekt. Ebenso solche, die aus Freude am Sound den Motor ihres Lieblings aufheulen lassen. Philipp Dorn hat sich mit einem neuen (Gebraucht-) Wagen belohnt, nachdem der alte, ein Jaguar, mit seinen Macken immer eigenwilliger wurde. Belohnt für ein abgeschlossenes Manuskript, belohnt mit einer Pause. Er fährt weg Richtung Süden, in eine Gegend in Italien, von der Philipp weiss, dass es in weiter Vergangenheit eine Liebe seiner Mutter gab, die er, der Sohn, mit einem Nein beendete.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Damals lebten seine Eltern wohl noch unter dem gleichen Dach, er Pfarrer, sie Lehrerin, aber eine Affäre der Mutter hatte den Vater kalt werden lassen. Man spielte gegen Aussen das makellose Paar, und liess das eigene Zuhause zu einem stummen, frostigen Nebeneinander werden. Als Philipp vierzehn war, lud ihn seine Mutter auf ein Eis ein und fragte ihn, ob er mit ihr nach Italien siedeln würde. Ihrer Liebe zu einem amerikanischen Soldaten wegen. Philipp wollte nicht. Wollte nicht all seine Pläne sausen lassen, kein neues Leben beginnen, wo doch das hiesige erst so richtig in Schwung zu kommen schien. Die Mutter blieb. Der kalte Krieg zwischen den Eltern auch. 

Später unternahm Philipp mit seiner Mutter das eine und andere Mal Reisen nach Italien. Reisen, bei denen man sich noch immer nach seiner Mutter umdrehte und später nach ihm, weil man es löblich fand; ein Sohn mit seiner alten Mutter. Doch jetzt, Mutter schon länger tot, er von ihr zurückgelassen, vieles weggeräumt, Brigitte, deine langjährige Freundin verloren, ausgezogen aus der Wohnung, fährt Philipp weg, gen Süden. In einem Ferienhaus mit Pool will er Ordnung in sein Leben, seine Gedanken bringen, Platz schaffen für Neues. Bis er in einer schlaflosen Nacht ein Plätschern im Pool hört und beim Näherkommen eine Frau schwimmen sieht, nackt, Länge um Länge. Bis er sich von seinem Balkon aus zu erkennen gibt und man sich zu einem Glas Wein dort trifft. Bis aus den nächtlichen Treffen im Gezirpe der Zikaden lange Gespräche wachsen. Woher man kommt und wohin es gehen soll. Und Philipp spürt, dass das, was er glaubte, abgeschlossen zu haben, das Abenteuer einer Frau näherzukommen, mit einem Mal zu einem Gefühl wird, das ihn gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Wer ist die Frau, die ihm im Bademantel nachts gegenübersitzt, die ihm Geständnisse über die Lippen lockt, die ihn staunend machen? 

So wie Philipp mit seinem Auto durch die Toskana kurvt, so dreht er sich hinein in seine eigene und die Vergangenheit seiner Mutter. Philipps Nein damals, das Wissen, dass er mit jenem Nein das falsche Leben seiner Mutter um Jahre verlängerte, das abgewürgte Glück in Italien und die immerwährende Frage, was gewesen wäre wenn, treibt ihn um.

„Das Glück meiner Mutter“ liest sich leicht, ohne zu behaupten, der Roman wäre leichte Kost. Nur liegt Thommie Bayer nichts daran, dort zu dramatisieren, wo Risse tief genug sind. Philipp ist ein Normalo, seine Selbstzufriedenheit und Distanz zu seiner Welt manchmal fast unerträglich – so wie seine infantile Liebe zu seinem fahrenden Spielzeug. Aber man muss Protagonisten nicht lieben. Dafür die Art des Erzählens. Thommie Bayer hat seine ganz eigene. Ich mag sie sehr!

Interview 

Eine Reise nach Italien, eine Ferienwohnung in der Toskana, tiefroter Wein, warme Nächte und eine Frau, die nackt ihre Bahnen im Pool zieht. Eine Fahrt mit dem Auto gen Süden, unabhängig, beinah frei von Pflichten. Genug Geld im Rücken und den leisen Kitzel eines Geheimnisses aus der Vergangenheit. Du bedienst gleich einige Sehnsüchte. Erst recht jetzt in dieser queren Zeit. Philipp hat fast alles. Seine Mutter damals fast nichts mehr, nur einen Platz im falschen Leben. Ist das nicht genau der Spiegel der heutigen Zeit? Klagen noch und noch und man vergisst, wo man lebt?
Das kann man so sehen. Ich denke zwar beim Schreiben nicht über Allgemeines nach, aber es schleicht sich irgendwie von selbst mit ein. Und wenn ich meine eigenen Sehnsüchte spazierengehen lasse, finden die automatisch ihre Komplizen, die Leute, die dieselben Sehnsüchte haben. Und wenn ich mir die Romanfigur vorstelle, wird die automatisch zu einer, die von der heutigen Zeit geprägt ist.

Die Mutter damals fragte ihren Jungen, ob er bereit wäre, weit weg ein neues Leben mit ihr zu beginnen. Ein Nein machte für eine ganze Weile alles zu und liess das Leben der Mutter auch später nur noch durch einen Spalt am Grossen und Ganzen teilhaben. Zumindest ist das die interpretierte Schuld, die sich Philipp aufgeladen hat. Machen wir nicht ganze Leben kaputt durch hineininterpretierte Schuld?
Ganz bestimmt tun wir das. Aber zum Erwachsenwerden gehört das Übernehmen von Verantwortung, auch der für frühere Verfehlungen. Der Blick wird weiter, die Perspektiven ändern sich, und was für einen vierzehnjährigen Jungen ganz naheliegend und vollkommen verständlich war, wird für den fast fünfzigjährigen Mann zu etwas, das er bereut und gerne ungeschehen gemacht hätte.

Philipp lernt Livia kennen, eine junge Frau, die ihm schon beim ersten Treffen mit aller Selbstverständlichkeit das Innerste entlockt. Eine Begegnung, die wahrscheinlich nur im Dunkel der Nacht jenen Zauber entwickeln konnte. Was kann die Nacht, was der Tag nicht kann?
Vielleicht wirft uns die Nacht auf uns selbst zurück, vielleicht hat sie auch an sich schon einen Zauber, der auf manches abfärbt, was in ihr geschieht. Das Licht ist weitgehend weg, sodass alles, was wir noch sehen, sich in ganz anderer Weise zeigt, die Stille der Umgebung macht das Wenige, was wir hören bedeutender, und das Gefühl ganz alleine oder fast alleine wach zu sein während alle anderen schlafen, ist aufregend. Man fühlt sich wacher als wach.

Philipp war seiner Mutter sehr nah, obwohl er nicht erst nach ihrem Tod feststellen musste, dass sie sich nach seinem Nein damals nie mehr wirklich für sein Leben interessierte. Als wolle sie sich nie mehr die Finger an fremdem Leben verbrennen. Als wäre sie nur mehr auf sich selbst fokussiert. Aber hängt nicht genau dort der Fallstrick, wo man sein Leben von fremdem Leben allzu abhängig macht?
Ja. Genauso ist es. Aber wir leben mit anderen. Eremitage ist nicht die Lösung. Das nennt man Schicksal. Wenn man alt genug ist, Verantwortung zu übernehmen, ist man vielleicht auch alt genug, sich in die Verbindung mit anderen Menschen zu schicken. Und eine solche Verbindung lässt nun mal nicht jeden jederzeit frei.

In einem „alten Leben“ warst du Musiker. Vor deinem Roman steht das Zitat des Liedermachers Francesco De Gregori „È tutta stesa al sole, vecchio, questa vecchia storia.“ Wo treffen sich Literatur und Musik in deinem Leben?
Sind beide wohl ganz eng verzahnt. Das Poetische in Liedtexten, das musikalische in Literatur, die Anregung, die von beiden Künsten ausgeht, das Inspirierende und Bewegende darin. Sicher auch das Gefühl der gesteigerten Anwesenheit in den besten Momenten. Beides ist irgendwie immer da, ob ich nun gerade lese oder Musik höre, oder nicht.

Hat dein Auto in deiner Garage einen Namen?
Es heisst „Edelkatz“. Manchmal auch „Superschöner Edelkatz“.

Ein Buch und eine Musik, die dich nicht loslassen. Und warum?
Ein Buch fällt mir gerade nicht ein, aber ein Stück Musik, das sich immer wieder bei mir meldet ist „Broken Barricades“ von Procol Harum. Die leitende Klavierfigur übt noch immer diese Faszination auf mich aus wie beim ersten Mal als ich es hörte. Und das muss so etwa fünfzig Jahre her sein.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das innere Ausland».

Rezension von «Das innere Ausland» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbilder © Thommie Bayer

Thommie Bayer «Das innere Ausland», Piper

Andreas Vollmann hat sich in seinem Rentnerleben in seinem Haus in Südfrankreich eingerichtet. Aber der Tod seiner Schwester, mit der er das Haus teilte und das unvermittelte Auftauchen einer jungen Frau, die behauptet, die Tochter seiner Schwester zu sein, bringen das Leben des ehemaligen Bahnschaffners gehörig durcheinander.

Man installiert sich in einem Leben, das auf den Grundmauern der eigenen Lebensgeschichte, all ihrer Beziehungen, von Familie, Partnerschaften basiert. Man installiert sich so sehr, dass kleinste Veränderungen zu tiefen Rissen führen können. Erst recht dann, wenn ganze Teile des Fundaments wegbrechen, weil sich die Vergangenheit nicht als die entpuppt, von der man immer glaubte, sie zu kennen. Man will Menschen und ihre Geschichte kennen, füllt Leerstellen mit Ahnungen auf, die zu Tatsachen werden und muss allzu leicht feststellen, dass man sich an Auslassungen, Verschwiegenem und Lügen orientierte.

Andreas Vollmann glaubt nach einem Grossteil seines Lebens zusammen mit seiner Schwester Nina, diese zu kennen. Mehr als andere, weil sie früh zu Waisen wurden, das Schicksal sie zusammenschweisste. Nina die Macherin, die Stütze in seinem Leben. Andreas Vollmann glaubt auch sich zu kennen, sein an Routine und Gewohnheiten gebundenes Leben. Er liest keine Zeitung, kümmert sich nicht um das, was um ihn geschieht, spricht nicht einmal die Sprache, in der man der Nachbarschaft begegnen könnte. Obwohl er weiss, dass sein Leben nicht so einfach weiterzuführen ist, trinkt er weiterhin seinen Kaffee, wischt den Platz vor dem Haus und legt Briefe und Rechnungen zum Haufen ungeöffneter Post.

Bis Malin auftaucht, eine junge Frau, elegant gekleidet, mit einem grossen Koffer und noch grösserer Entschlossenheit. Sie sei die Tochter seiner verstorbenen Schwester. Andreas Vollmann trägt den Koffer ins Haus. Malin folgt ihm. So schnell Andreas Vollmann klar ist, dass die junge Frau kein zufälliger Besuch ist, so schnell nistet sich Malin im Haus ihrer Mutter ein. Eine Tatsache, der sich der Onkel schnell ergibt, zumal ihm die junge Frau sympathisch ist und er das Zusammensein mit Malin schnell zu geniessen versteht. Aber Malin trägt eine Geschichte mit sich, die Tochter seiner Schwester eine Vergangenheit, die Andreas Vollmann nur schwer mit dem zusammenbringt, was ihm bisher Wahrheit war. Eingeschlossen in ein Leben ohne Perspektive tut sich plötzlich nicht nur Vergangenheit auf, sondern Zukunft.

„Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, dass ich fremd bin. Ob in Deutschland oder sonst wo, ich gehöre nicht dazu. Ich war immer woanders, in einer Art innerem Ausland.“

Thommie Bayer erzählt Geschichten, die sich für Protagonisten und Lesende erst allmählich zusammenfügen. Er erzählt von der Kluft zwischen jenen Geschichten, die man sich selbst zusammenreimt und jenen, die das Leben schreibt. Er schreibt von einem in die Jahre gekommenen Mann, den das Leben mit einer unbekannten Nichte noch einmal aufrüttelt, dem sich mit einem Mal doch noch die Chance bietet, an dem teilzunehmen, was an ihm vorbeigegangen schien.

Und Thommie Bayer tut dies witzig und gekonnt. Ein Schriftsteller, dem man die Songwriter-, Liedermachervergangenheit anmerkt, denn da wird auf engstem Raum ein Kleinkosmos beschrieben. Ein Schriftsteller, der weiss, wie Dialoge funktionieren, der verdichtet erzählt, in manchen „Einstellungen“ so nah, dass ich nicht nur sehe, sondern rieche.

Unbedingt lesen! Perfekte Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang und Liebe fürs Detail!

Ein kleines Interview mit Thommie Bayer:

Andreas Vollmann ist ein Archetyp, der in Zukunft immer häufiger anzutreffen ist; Jemand, dem es in seinem Leben nicht gelingen wollte, sich in Menschen und Beziehungen zu verankern. Jemand, der beim Tod der einzigen Bezugsperson droht, in Einsamkeit und Isolation zu versinken. Jemand, der sich irgendwann nur noch um sich selbst kümmert, der ganze „Rest“ ihn nichts mehr anzugehen scheint. Wohin, wenn nur noch Karriere (so wie bei seiner Nichte Malin) und der eigene Frieden (so wie scheinbar bei Andreas Vollmann) zählt?
Wir haben hier bei uns die Familie so lange denunziert und dekonstruiert, dass wir sie nicht mehr als Wert ansehen, sondern als etwas Zerstörerisches. In Südeuropa und den USA ist das noch nicht so – die amerikanische Literatur macht einen regelrechten Kult um die Familie, in italienischen Geschichten ist sie eine Selbstverständlichkeit – aber der Weg dorthin scheint auch dort schon zügig beschritten zu werden. Die Folge ist Vereinzelung, Freiheit, Individualität. Und wenn Individualität und Nachdenklichkeit zusammenkommen, dann folgt daraus ein Bewusstsein des Andersseins, des Nicht-dazu-passens, des Außenseitertums. Der eine wird diesen existenziellen Schrecken mit einer Ersatzfamilie zu kompensieren versuchen, sich anpassen an Kollegen, Freunde, Vereinsbrüder, der andere mag sein Leben lang nach einem Zweierbündnis suchen, der romantischen Liebe, einer unverbrüchlichen Freundschaft, und selbst wenn ihm das gelingt, wird er eines Tages – im Alter oder schon früher – mit dem Verlust dieses einzigen Menschen konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen sein.  Mir scheint, dass heute schon viele alte Menschen so leben. Und vielleicht auch zunehmend jüngere.

Die Bühne Ihres Romans ist klein, ein Weiler irgendwo in Südfrankreich. Das Personal schmal, ein Pensionist, seine Nichte, ein paar kleine Nebenrollen wie die Putzfrau, der Hund des Nachbarn, der immer dann kläfft, wenn sich mehr als die Blätter bewegen und die Katze. Trotzdem machen Sie im Geschehen die Welt auf. Es sind die grossen Themen eines Lebens: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Wo liegt der Sinn? Wo lag der Initialgedanke zu diesem Roman?
Die Anfangsideen für meine Bücher sind oft simpel und oft nur formal. Ich erinnere mich, dass ich diesmal eine Geschwisterliebe mit einer „abwesenden Hauptfigur“ schreiben wollte. Dass es ein Familienroman ohne Familie werden würde, merkte ich dann bald, dieses Thema brachte sich selbst ein. So geht es oft beim Schreiben. Das Wichtige wächst einfach dazu.

„Not schweisst zusammen.“ Das galt für Nina und Andreas, als sie kleine Kinder waren und zuerst die Mutter durch einen Unfall, später den Vater durch eine Krankheit verloren. Das galt für Nina und Andreas später, weil Nina ihren Lebensmut zwischenzeitlich verlor und die Konstanz ihres Bruders brauchte und für Andreas als Pensionist, weil ihm mit der fehlenden Aufgabe fast alles genommen wurde, was er hatte. Das gilt für Malin, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit Antworten braucht. Diese Redewendung scheint nicht nur im kleinen zu gelten, sondern bis in die Politik. Sie halten sich in Ihrem Roman an die guten Seiten des „Zusammengeschweisstseins“.
Ich halte mich wohl immer an die guten Seiten, das ist meine Art zu schreiben, meine Utopie wenn man so will. Freundlichkeit, Guter Wille, Respekt und Empathie existieren im Prinzip ungeachtet all der Psychopathen, Egomanen, Fanatiker und Menschenbenutzer, das will ich nie vergessen und nie geringschätzen.

Sie haben mehr als zwei Dutzend Bücher verfasst, ein Dutzend Tonträger mit Musik und sie malen. Es gibt viele Schriftsteller, die sich in mehreren Disziplinen ausdrücken, aber nur ganz wenige, die so vielseitig sind wie sie. Friedrich Dürrenmatt schrieb und malte, Silvio Blatter schreibt und malt. Erica Pedretti ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin Objektkünstlerin und Malerin. Wie vertragen sich die Disziplinen nebeneinander? Streiten sich die Disziplinen?
Sie gehen sich eher aus dem Weg. Meine Malerei ist ungegenständlich, erzählt oder schildert oder symbolisiert nichts, sie existiert einfach für sich selbst und spricht Gefühl und Verstand an ohne entschlüsselt oder verstanden werden zu wollen. Beim instrumentalen Teil der Musik ist es ähnlich, nur die Texte der Lieder sind verwandt mit dem Schreiben von Romanen. Aber sie sind auch durch ihre knappe, lyrische Form so weit entfernt davon, die Art ihrer Entstehung ist so anders, dass auch hier nichts einander ins Gehege kommt. Das einzige, was sie alle drei gemeinsam haben, ist die Kraft, die ich dafür brauche und mein Wesen, das sich in allen drei Formen manifestiert.

Eine der grossen Qualitäten Ihres Romans ist die Nähe. Nicht nur die Nähe zu den Protagonisten, die Nähe zum Ort, dem Haus, bis hinein ins Badezimmer. Es ist die Nähe, mit der Sie mit sprachlicher und erzählerischer Linse herangehen, wie nahe sie fokussieren. Wer Lieder schreibt, die etwas erzählen, wer malt und etwas zeigen möchte, muss die Dinge auf den Punkt bringen. Was sind die Eckpfeiler Ihres Schreibens?
Was die Form betrifft, denke ich, es sind Genauigkeit, Lakonie, Musikalität und Lesbarkeit. Die Themen sind wohl allesamt romantisch. Die Liebe, das Individuum, die Kunst, die Einsamkeit, die Sinnlichkeit und die Freiheit.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Seltene Affären».

Rezension «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Thommie Bayer «Seltene Affären», Piper

Manchmal freue ich mich mit dem Vergnügen in der Vergangenheit gelesener Bücher auf die Neuerscheinung aus der Feder eines ganz bestimmten Autors. Manchmal schon Monate, weil eine Verlagsankündigung lange und intensive Versprechungen machte. Manchmal ist es wie mit einer Flasche eines ganz bestimmten Weins, bei dem das Vergnügen der Vorfreude bis zum letzten Schluck weitergeht. Mit «Seltene Affären» von Thommie Bayer war es ein prickelnder Sommerwein!

Thommie Bayer tut etwas, was die Schriftstellerin, der Schriftsteller kann; Leben in einer Art und Weise erfinden, die neben der Realität zu bestehen vermag, ein Geschehen, das nicht mit Wahrscheinlichkeit gemessen werden muss.
Peter und Paul sind Zwillinge, deren Leben als junge Erwachsene nach einer Kindheit im Gleichschritt in ganz unterschiedliche Richtungen auseinander driftete. Während Paul mehr oder weniger geradlinig sein Studium durchzog, schaukelte sein Bruder Paul von einer Bühne zur nächsten. Was sie verbindet, ist für die längste Zeit ihres Lebens die Liebe zu ein und derselben Frau. Aber nachdem Anne für Jahre aus dem Leben beider entschwunden war, kehrte sie zurück und heiratete Paul, obwohl Peter seiner stillen Liebe zu Anne im entscheidenden Moment viel näher war.
produkt-12325Das zweite, was die beiden Brüder miteinander verbindet, ist das Schreiben. Paul als erfolgreicher Schriftsteller der langen Form und Peter, der unter dem Namen seines Bruders schreibt, in dessen Schatten in der kurzen Form Geschichten liefert. Peter führt aber nicht nur als Autor, als Schreibender ein Schattendasein. Seine Liebe zu Anne stellt ihn selbst in den Schatten. «Seltene Affären» will beweisen, dass sich wirkliche Liebe nicht einfach von einem auf den andern Menschen überstülpen lässt. Und dass Liebe kein Zustand ist: «Es ist nicht so, dass man sie eben einmal in sich entdeckt, und dann ist sie für alle Zeiten da, denn sie richtet sich auf ein lebendes Wesen, und dieses Wesen verändert sich. Folgt diese Liebe den Veränderungen nicht, dann gilt sie irgendwann einem übrig gebliebenen und zum Phantombild gewordenen Porträt verschwundener Wirklichkeit … Und irgendwann findet man sich auf zwei verschiedenen Ufern eines breiten und brückenlosen Flusses.»
In der Enttäuschung darüber, dass Anne nicht zu gewinnen ist, ohne den Bruder zu verlieren, zieht sich Peter immer weiter zurück in ein berührungsarmes Leben als Schatten und in die Welt seiner Träume. Ein Mann, dessen Hände gebunden sind, den man während des Lesens schütteln möchte und nicht versteht, dass man sich freiwillig so sehr aus dem Experiment Leben verabschieden kann.

Thommie Bayer trifft Dillberg
Thommie Bayer trifft Dillberg

Ein Buch, das knistert. Vor allem dann, wenn Peter in seine Traumwelt abtaucht und mit seiner «Traumfrau» Chiara Spaziergänge unternimmt, erotisch aufgeladene Streifzüge zusammen mit einer Frau, die aber selbst als Traumfrau nie den Schatten Annes auszuleuchten vermag. Peter zieht es vor, in seiner Fantasie zu leben, einer Welt, die weder Entscheidungen noch Mut braucht.
«Vielleicht bin ich dazu geboren, als Hälfte zu existieren, und fühle mich alleine instabil und angreifbar, vor allem aber, als wäre ich ein Blender oder Lügner, wenn man mich für etwas Ganzes hält.»
Chiara, jene Frau, die Peter Vordens Wohnung putzt und sich in die Träume des Mannes einschleicht, begegnet man auch im letzten Buch Thommie Bayers «Weisser Zug nach Süden». Jenes Buch erzählte aus der Sicht Chiaras, so wie «Seltene Affären» aus der Sicht von Peter. Buchgeschwister, die man auch einzeln geniessen kann! Auf meine Frage, wie das Buch, die Idee entstand, schrieb Thommie Bayer: «Mein letztes Buch «Weißer Zug nach Süden» erzählte von Chiara, die Vordens Wohnung putzt und seine Geschichten liest. Der Lektor bemängelte die fehlende Perspektive von Vorden, und ich sagte, das würde den Rahmen sprengen, das wäre ein eigenes Buch. In dem Moment muss sich die Idee festgesetzt haben, dieses Buch noch hinterher zu schreiben.»
Thommie Bayers Romane sind körperbetont ohne exhibitionistisch zu sein, sinnlich ohne zu triefen.

111Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Weißer Zug nach Süden».

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