Thommie Bayer «Das innere Ausland», Piper

Andreas Vollmann hat sich in seinem Rentnerleben in seinem Haus in Südfrankreich eingerichtet. Aber der Tod seiner Schwester, mit der er das Haus teilte und das unvermittelte Auftauchen einer jungen Frau, die behauptet, die Tochter seiner Schwester zu sein, bringen das Leben des ehemaligen Bahnschaffners gehörig durcheinander.

Man installiert sich in einem Leben, das auf den Grundmauern der eigenen Lebensgeschichte, all ihrer Beziehungen, von Familie, Partnerschaften basiert. Man installiert sich so sehr, dass kleinste Veränderungen zu tiefen Rissen führen können. Erst recht dann, wenn ganze Teile des Fundaments wegbrechen, weil sich die Vergangenheit nicht als die entpuppt, von der man immer glaubte, sie zu kennen. Man will Menschen und ihre Geschichte kennen, füllt Leerstellen mit Ahnungen auf, die zu Tatsachen werden und muss allzu leicht feststellen, dass man sich an Auslassungen, Verschwiegenem und Lügen orientierte.

Andreas Vollmann glaubt nach einem Grossteil seines Lebens zusammen mit seiner Schwester Nina, diese zu kennen. Mehr als andere, weil sie früh zu Waisen wurden, das Schicksal sie zusammenschweisste. Nina die Macherin, die Stütze in seinem Leben. Andreas Vollmann glaubt auch sich zu kennen, sein an Routine und Gewohnheiten gebundenes Leben. Er liest keine Zeitung, kümmert sich nicht um das, was um ihn geschieht, spricht nicht einmal die Sprache, in der man der Nachbarschaft begegnen könnte. Obwohl er weiss, dass sein Leben nicht so einfach weiterzuführen ist, trinkt er weiterhin seinen Kaffee, wischt den Platz vor dem Haus und legt Briefe und Rechnungen zum Haufen ungeöffneter Post.

Bis Malin auftaucht, eine junge Frau, elegant gekleidet, mit einem grossen Koffer und noch grösserer Entschlossenheit. Sie sei die Tochter seiner verstorbenen Schwester. Andreas Vollmann trägt den Koffer ins Haus. Malin folgt ihm. So schnell Andreas Vollmann klar ist, dass die junge Frau kein zufälliger Besuch ist, so schnell nistet sich Malin im Haus ihrer Mutter ein. Eine Tatsache, der sich der Onkel schnell ergibt, zumal ihm die junge Frau sympathisch ist und er das Zusammensein mit Malin schnell zu geniessen versteht. Aber Malin trägt eine Geschichte mit sich, die Tochter seiner Schwester eine Vergangenheit, die Andreas Vollmann nur schwer mit dem zusammenbringt, was ihm bisher Wahrheit war. Eingeschlossen in ein Leben ohne Perspektive tut sich plötzlich nicht nur Vergangenheit auf, sondern Zukunft.

„Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, dass ich fremd bin. Ob in Deutschland oder sonst wo, ich gehöre nicht dazu. Ich war immer woanders, in einer Art innerem Ausland.“

Thommie Bayer erzählt Geschichten, die sich für Protagonisten und Lesende erst allmählich zusammenfügen. Er erzählt von der Kluft zwischen jenen Geschichten, die man sich selbst zusammenreimt und jenen, die das Leben schreibt. Er schreibt von einem in die Jahre gekommenen Mann, den das Leben mit einer unbekannten Nichte noch einmal aufrüttelt, dem sich mit einem Mal doch noch die Chance bietet, an dem teilzunehmen, was an ihm vorbeigegangen schien.

Und Thommie Bayer tut dies witzig und gekonnt. Ein Schriftsteller, dem man die Songwriter-, Liedermachervergangenheit anmerkt, denn da wird auf engstem Raum ein Kleinkosmos beschrieben. Ein Schriftsteller, der weiss, wie Dialoge funktionieren, der verdichtet erzählt, in manchen „Einstellungen“ so nah, dass ich nicht nur sehe, sondern rieche.

Unbedingt lesen! Perfekte Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang und Liebe fürs Detail!

Ein kleines Interview mit Thommie Bayer:

Andreas Vollmann ist ein Archetyp, der in Zukunft immer häufiger anzutreffen ist; Jemand, dem es in seinem Leben nicht gelingen wollte, sich in Menschen und Beziehungen zu verankern. Jemand, der beim Tod der einzigen Bezugsperson droht, in Einsamkeit und Isolation zu versinken. Jemand, der sich irgendwann nur noch um sich selbst kümmert, der ganze „Rest“ ihn nichts mehr anzugehen scheint. Wohin, wenn nur noch Karriere (so wie bei seiner Nichte Malin) und der eigene Frieden (so wie scheinbar bei Andreas Vollmann) zählt?
Wir haben hier bei uns die Familie so lange denunziert und dekonstruiert, dass wir sie nicht mehr als Wert ansehen, sondern als etwas Zerstörerisches. In Südeuropa und den USA ist das noch nicht so – die amerikanische Literatur macht einen regelrechten Kult um die Familie, in italienischen Geschichten ist sie eine Selbstverständlichkeit – aber der Weg dorthin scheint auch dort schon zügig beschritten zu werden. Die Folge ist Vereinzelung, Freiheit, Individualität. Und wenn Individualität und Nachdenklichkeit zusammenkommen, dann folgt daraus ein Bewusstsein des Andersseins, des Nicht-dazu-passens, des Außenseitertums. Der eine wird diesen existenziellen Schrecken mit einer Ersatzfamilie zu kompensieren versuchen, sich anpassen an Kollegen, Freunde, Vereinsbrüder, der andere mag sein Leben lang nach einem Zweierbündnis suchen, der romantischen Liebe, einer unverbrüchlichen Freundschaft, und selbst wenn ihm das gelingt, wird er eines Tages – im Alter oder schon früher – mit dem Verlust dieses einzigen Menschen konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen sein.  Mir scheint, dass heute schon viele alte Menschen so leben. Und vielleicht auch zunehmend jüngere.

Die Bühne Ihres Romans ist klein, ein Weiler irgendwo in Südfrankreich. Das Personal schmal, ein Pensionist, seine Nichte, ein paar kleine Nebenrollen wie die Putzfrau, der Hund des Nachbarn, der immer dann kläfft, wenn sich mehr als die Blätter bewegen und die Katze. Trotzdem machen Sie im Geschehen die Welt auf. Es sind die grossen Themen eines Lebens: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Wo liegt der Sinn? Wo lag der Initialgedanke zu diesem Roman?
Die Anfangsideen für meine Bücher sind oft simpel und oft nur formal. Ich erinnere mich, dass ich diesmal eine Geschwisterliebe mit einer „abwesenden Hauptfigur“ schreiben wollte. Dass es ein Familienroman ohne Familie werden würde, merkte ich dann bald, dieses Thema brachte sich selbst ein. So geht es oft beim Schreiben. Das Wichtige wächst einfach dazu.

„Not schweisst zusammen.“ Das galt für Nina und Andreas, als sie kleine Kinder waren und zuerst die Mutter durch einen Unfall, später den Vater durch eine Krankheit verloren. Das galt für Nina und Andreas später, weil Nina ihren Lebensmut zwischenzeitlich verlor und die Konstanz ihres Bruders brauchte und für Andreas als Pensionist, weil ihm mit der fehlenden Aufgabe fast alles genommen wurde, was er hatte. Das gilt für Malin, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit Antworten braucht. Diese Redewendung scheint nicht nur im kleinen zu gelten, sondern bis in die Politik. Sie halten sich in Ihrem Roman an die guten Seiten des „Zusammengeschweisstseins“.
Ich halte mich wohl immer an die guten Seiten, das ist meine Art zu schreiben, meine Utopie wenn man so will. Freundlichkeit, Guter Wille, Respekt und Empathie existieren im Prinzip ungeachtet all der Psychopathen, Egomanen, Fanatiker und Menschenbenutzer, das will ich nie vergessen und nie geringschätzen.

Sie haben mehr als zwei Dutzend Bücher verfasst, ein Dutzend Tonträger mit Musik und sie malen. Es gibt viele Schriftsteller, die sich in mehreren Disziplinen ausdrücken, aber nur ganz wenige, die so vielseitig sind wie sie. Friedrich Dürrenmatt schrieb und malte, Silvio Blatter schreibt und malt. Erica Pedretti ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin Objektkünstlerin und Malerin. Wie vertragen sich die Disziplinen nebeneinander? Streiten sich die Disziplinen?
Sie gehen sich eher aus dem Weg. Meine Malerei ist ungegenständlich, erzählt oder schildert oder symbolisiert nichts, sie existiert einfach für sich selbst und spricht Gefühl und Verstand an ohne entschlüsselt oder verstanden werden zu wollen. Beim instrumentalen Teil der Musik ist es ähnlich, nur die Texte der Lieder sind verwandt mit dem Schreiben von Romanen. Aber sie sind auch durch ihre knappe, lyrische Form so weit entfernt davon, die Art ihrer Entstehung ist so anders, dass auch hier nichts einander ins Gehege kommt. Das einzige, was sie alle drei gemeinsam haben, ist die Kraft, die ich dafür brauche und mein Wesen, das sich in allen drei Formen manifestiert.

Eine der grossen Qualitäten Ihres Romans ist die Nähe. Nicht nur die Nähe zu den Protagonisten, die Nähe zum Ort, dem Haus, bis hinein ins Badezimmer. Es ist die Nähe, mit der Sie mit sprachlicher und erzählerischer Linse herangehen, wie nahe sie fokussieren. Wer Lieder schreibt, die etwas erzählen, wer malt und etwas zeigen möchte, muss die Dinge auf den Punkt bringen. Was sind die Eckpfeiler Ihres Schreibens?
Was die Form betrifft, denke ich, es sind Genauigkeit, Lakonie, Musikalität und Lesbarkeit. Die Themen sind wohl allesamt romantisch. Die Liebe, das Individuum, die Kunst, die Einsamkeit, die Sinnlichkeit und die Freiheit.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Seltene Affären».

Rezension «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Sandra Kottonau