Wacholder
Kratzer vom Windspiel an der Haustüre
ein verstopfter Tränenkanal & Treppenhausgeschwätz.
Von irgendwo die Erinnerung an Wacholder. Wirst du
mich auch lieben wenn ich das Gedächtnis verliere?
Über die Küchenablage flattern Dämonen wie kleine
schwarze Schmetterlinge ihre Schuppen fächern auf.
Nie weiss man wo als nächstes das Licht hin fällt und was
im Schatten liegen bleibt aber man bittet weiter
um die Zuversicht des Himmels.
(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)
In Spuren
Am späten Sonntagnachmittag ist es still
in der Siedlung man hört nur selten
eine Stimme die etwas ruft ein schwaches
Zirpen von einem Vogel. Die Septembersonne
wärmt noch einmal kräftig und die Sonnenblumen
der Nachbarin leuchten. Von Weitem hörst du
das Knattern eines Mopeds bis es sich am
Waldrand verliert du denkst an deine
Schwiegermutter wie sie auf ihrem Solex
über die Grenze fuhr um sich eine Dauerwelle
machen zu lassen vor über sechzig Jahren.
Du besuchst sie oft in diesem Herbst du kannst
ihre verbleibende Zeit sehen ein Haufen Schnee
der in der Septembersonne glitzert. Sie würde
noch immer all deine Pflanzen retten das hat sie
schon oft getan mit Stirnrunzeln und grosser Hingabe.
Gebt mir noch einen Frühling und einen Sommer in
diesem Haus sagt sie seit Jahren. Ich halte doch alles
in einem tadellosen Zustand. Eine Hornisse
knallt gegen das Fenster und von irgendwo
kommt Glockengeläut. Du denkst an die Karpfen
im Lengnauer Weiher wie langsam sie
an die Oberfläche schwimmen fast bewegungslos
lassen sie sich treiben im Sonnenlicht. Du versuchst
dir vorzustellen wie sie Zeit wahrnehmen die Tage
im Regen fallende Blätter die Dunkelheit. Wieder Tage.
Eisschichten auf dem Weiher die unterschiedlichen
Temperaturen von Wasser. Du hast es gesehen
ganz nahe kommen sie einander als folgten sie
einer Spur als vergewisserten sie sich ständig
um die Anwesenheit des Anderen.
(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)
mutters legende grace
mit vornehmer distanz wollte sie
für ihren vater von bedeutung sein
im gegensatz zu ihrem vater war sie
mehr eine künstlernatur versprühte
mal eleganz mal insektenmittel
ein neuer formtyp grace
hat eine schwäche für vaterfiguren bringt
diese aus dem gleichgewicht wenn
das brave mädchen plötzlich im nachthemd
und das war diese art von heldin
ich brauche damen die im schlafzimmer
zu nutten werden
man hält an sich mit disziplin
wird es möglich einen leibhaftigen
fürsten für den vater wie gross
ist monaco? 4 schrankkoffer 56 weitere
gepäckstücke 72 verwandte freunde
und 110 journalisten
hat sie besondere gedanken
wenn sie ihre heimat verlässt?
sie muss viele qualitäten haben
weil er einen fürchterlichen charakter hat
überflüssig und unterbeschäftigt
und einfach kein glücksgefühl mehr
fällt zur staatskrise das comeback aus
bleiben gepresste blumen einer liebenden
aber strengen mutter
auf bettwäsche und tapeten
es gab keinen grund für diesen unfall
es gab den ersten trauergottesdienst
für eine frau der im fernsehen
übertragen worden ist
(aus dem Gedichtband «Die Kindheit ist eine Libelle»)
Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen, zuletzt «Gletscherstück» (Wolfbach, 2019), «Atlantis lokalisieren» (Wolfbach, 2011); davor «Die Kindheit ist eine Libelle» (Lyrikedition 2000, 2005).. «Lass es gut sein» (Geparden Verlag) ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literatur-Wettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.
Beitragsbild © Claudia Herzog








Zum Beispiel die 1973 in Frankfurt geborene und in Zürich wohnende Svenja Herrmann mit ihren Gedichten aus den Büchern «Ausschwärmen» und «Die Ankunft der Bäume». Svenja Herrmann schweift mit ihrem inneren Auge, überzeugt mit starken Bildern, erzählt fast ohne Abstraktion, dafür mit leisen, zarten Verschiebungen im Blick, der Wahrnehmung. Ihre Gedichte sind voller Emotionen, so stark, dass die Dichterin selbst beim Vortagen mit ihnen zu ringen hat. Es sind vielschichtige Bilder, helle und dunkle Gedichte, engagiert und stark, voll vom Schmerz über das Vergehen.
Zum Beispiel die 1959 in Split geborene Dragica Rajčić, die 1991, nach Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien, mit ihren Kindern in die Schweiz flüchtete, aber schon seit 1972 schreibt. Unter anderem Gedichte über einen fast vergessenen Krieg, von dem ich damals auf dem Sofa im Wohnzimmer mithörte, der Dichterin in der Seele ein Trümmerfeld hinterliess. Ein Friedhof von Gefühlen, Geschichten und Gesichtern, die selbst im ausgesprochenen Schmerz nicht schwächer zu werden scheinen. Ihre Gedichte sind voller Sehnsüchte nach Vergangenem und Vergessenem.
Zum Beispiel Thilo Krause, der, 1977 in Dresden geboren, 2012 den Schweizer Literaturpreis erhielt für sein Debüt «Und das ist alles genug» (poetenladen Verlag). Sein auch in seiner äusseren Form wunderbares Buch «Um Dinge ganz zu lassen» ist ein Gedichtband der Erinnerungen. Erinnerungen an die Kindheit, eine Stadt, an die Frisöse im Erdgeschoss seiner Eltern, an Friedhöfe oder an die Elbe. Geschichten in Gedichten mit vielen Leerstellen, Klangbilder in vollendeter Sprache.
Auf dem schwarzen T-shirt des ukrainischen Dichters und Schriftstellers Serhij Zhadan stand neben der Illustration eines offenen Kopfes «read the best mind of my generation»! Eine Aufforderung! Und wer die Romane und Gedichte von Serhij Zhadan liest, dessen Roman «Die Erfindung des Jazz im Donbass» von der BBC zum Buch des Jahrzehnts erkührt wurde, erahnt, wie viel Zündstoff im Engagement eines Dichters liegen kann. »Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Serhij Zhadan beschreibt, was mit ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet passiert. Lyrische Momentaufnahmen, Kürzestgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll. Serhij Zhadan las ukrainisch aus seinem aktuellen Roman «Mesopotanien», einem Roman, der zwischendurch immer wieder mit lyrische Stimme erzählt. Vorgetragen wurde der deutsche Text von der Schriftstellerkollegin Esther Kinsky.
