17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Andreas Maier «Die Familie», Suhrkamp

«Die Familie» ist ein zu tiefst beeindruckender Roman über Brüche; jene in der Geschichte, jene zwischen den Generationen. «Die Familie» ist das Protokoll einer Zerstörung, die Auswirkungen dessen, was ein Familientsunami ausrichten kann, auch wenn zwischen Erschütterung und Überflutung Jahrzehnte liegen. Exhumierung von Geschichte!

«Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen», steht vor dem Epilog zu Andreas Maiers neuem Roman «Die Familie». «Wir sind Kinder der Schweigekinder», in einem Dialog, nachdem es dem Erzähler wie Schuppen von den Augen fällt. Schlüsselsätze für den Autor, Schlüsselsätze für mich als Leser. Ob autobiographisch oder nicht, was letztlich keine Rolle spielt, beschreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman ein weit verbreitetes Familienphänomen; das Schweigen. Ausgerechnet dort, in jenem Gefüge, der Wiege des Staates, dem Nest aus dem jeder Vogel ausfliegt, werden Schweigen kultiviert und Geheimnisse gehütet. In einer deutschen Familie jenes Deutschland ausgeblendet, das sich tausend Jahre lang auf einen mehr als gewaltigen Marsch durch die Geschichte aufmachen wollte und glücklicherweise, aber zu einem unsäglich hohen Preis, scheiterte.

«Die Familie» erzählt Geschichte, auch jene, die nicht stattgefunden haben darf. Andreas wächst als eines von drei Kindern in einer Kleinstadt auf, am Ufer eines Flusses, auf einem grossen Grundstück, auf dem einst ein Mühle stand, später die Hallen einer Fabrik. Andreas Vater ist Jurist, gefragter CDU-Mann, hochgeachtetes Mitglied der Gesellschaft. Das familieneigene Grundstück, das seit Generationen der Familie gehören soll, von Mauern und Gewächs umgeben, steht in Kontrast zu all den kleinen Wohneinheiten rundum und versinnbildlichendes Zeichen für Erfolg, Wohlstand und eine grosse Portion Überlegenheit. Man ist sich seines Standes bewusst.

In dieser Welt wächst Andreas auf, auch wenn er schon als Kind merkt, dass sich Risse in den Grundfesten bilden. Zum einen, weil sich der um ein paar Jahre ältere Bruder partout nicht zähmen lässt, als Kind lieber auf dem Kinderplaneten spielt, als Jugendlicher lieber im Jugendzentrum hockt und vom Sozialkundelehrer Krafft «schlecht beeinflusst» wird und schlussendlich sogar ganz mit der Familie bricht. Zum andern, weil sich auch die Schwester niemals fassen lässt, der Onkel, der Bruder seiner Mutter angeblich nur noch die Konfrontation sucht.

Das mit allen Mitteln verteidigte Familienidyll, das der Vater wenn nötig auch mit juristischen Mittel zu verteidigen weiss, kippt endgültig, als die Mauern der alten Mühle fallen, des letzten Überbleibsels einer Geschichte, die man mit viel Strategie unter einer soliden Grabplatte verschwinden lassen wollte. Der Fall jener Mauern hört nicht mehr auf, sie decken alles zu, was Mutter und Vater mit ihrem Schweigen im Verborgenen belassen wollten. Bis der mittlerweile zum Schriftsteller gewordene Erzähler durch eine Freundin erfährt, dass nichts von der angeblichen Familiengeschichte und hochgehaltenen Familientradition so ist, wie der Schein es wahren sollte.

«Die Familie» ist durchaus exemplarisch. Fast am Schluss steht der Erzähler vor einem Grab. Nicht jenem seiner Familie, aber am Grab einer jüdischen Familie, die wie Hunderttausende anderer unter der Hakenkreuzfahne enteignet und vernichtet wurde. So wie sich damals Familien «pulverisierten», tut dies die Wahrheit mit der Familie des Erzählers.

«Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt.»

Andreas Maiers Roman fesselte mich! Kaum ein Gefüge ist derart zerbrechlich wie «Familie». In keinem Gefüge kann ein Virus derart katastrophale Auswirkungen haben wie in der Familie. Viren, die durch Lüge und Schweigen freigesetzt werden und dieses Gefüge über Generationen vergiften. Andreas Maier schrieb keine Anklage, aber man spürt sein Leiden. Wie in keinem seiner Bücher bisher.

© Jürgen Bauer

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Rezension über «Der Kreis» (2016) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 1/3

Eine grosse Qualität der langen Festivaltradition in den Walliser Alpen ist die Vielfalt der Gäste, die nicht nach deren Publizität eingeladen werden, sondern ob sie etwas zu sagen haben, sei es literarisch, gesellschaftlich oder kulturell. So kreisen Gespräche in verschiedenen Formaten weit über Literatur, Kultur hinaus, um existenzielle Fragen, nicht zuletzt darum, ob und wie die Welt zu retten ist.

Immer und immer wieder dreht sich Literatur um Erinnerungen. Literatur ist die Kunst des Erinnerns, sei es im Zusammenhang mit Historie oder um das, was man in sich trägt, eingegraben bis in die Gene. Historisches Erinnern, das sich unweigerlich und gleichermassen mit Deutung und Wertung verbindet, ist wie persönliche, individuelle Erinnerung Motor des Tuns und Denkens. Literatur, selbst wenn sie sich oberflächlich betrachtet mit Gegenwart oder Zukunft beschäftigt, ist immer transformierte Erinnerung. Und wenn sich Aleida und Jan Assmann, gemeinsam Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in Leukerbad mit ihrem Schreiben vorstellen, dann gleich mehrfach und ineinander verwoben. Über ihre Forschungen zum Thema „Kollektives Gedächtnis“ wird in verschiedenen Gesprächsformationen diskutiert und schnell klar, dass sich Literatur nicht nur mit Erinnerung befasst, sondern mit ihrem Niederschlag ganz deutlich zu „kollektiven Erinnerung“ beiträgt, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine kollektive Erinnerung, die in eine ganze Generation wirkt.

Der Umbruch unserer Zeit manifestiert sich nicht nur in der Walliser Vegetation, den Bäumen, die nach einem trockenen Jahrhundertsommer und permanenter Klimaerwärmung von Hitzstress und Trockentod bedroht werden, nicht nur in der Umkehrung einer digitalen Gesellschaft, die nach der Freude über globale Internetvernetzung immer mehr zur Desinformationsgesellschaft wird, sondern in Unwahrheit und Lüge, die das kollektive Bewusstsein bedroht. Man misstraut scheinbaren Wahrheiten mit Recht, stellt kollektive Erinnerung in Frage, die an nationale Interessen gebunden ist.
Der Umbruch zeigt sich auch in der Literatur, der im Hitzestress der Gegenwart ihre Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit genommen ist, nicht zuletzt wegen der schwindenden Zahl von Leserinnen und Lesern, solchen die bereit sind, sich nicht bloss unterhalten zu lassen, sondern sich mit Literatur den Fragen der Zeit zu stellen.

Zoltán Danyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Für Zoltán Danyi, 1972 als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Senta, damals Jugoslawien, geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt, ist das Erinnern an den Zerfall Jugoslawiens ein Trauma, ein kollektives Trauma einer ganzen Generation. Was in seiner Heimat geschah, verstörte ihn, weil er sich permanent mit der Frage konfrontiert sah, für welche Seite er sich in diesem jahrelangen Konflikt zu entscheiden hatte. Als Schriftsteller schaffte er sich die Situation eines Aussenstehenden, der beobachtet und beschreibt, eine Position, die ihm als Mensch ganz offensichtlich nicht wirklich gelingen wollte.
Zoltán Danyi las in Leukerbad aus seinem bei Suhrkamp erschienenen ersten Roman „Der Kadaverräumer“. Der Erzähler wird in der Vojvodina in die serbische Armee eingezogen und Augenzeuge kriegerischer Gräuel, wird nach dem Krieg „Kadaverräumer“, der tote Tiere von den Strassenrändern zu sammeln hat, wird Schmuggler, Flüchtling, unglücklich Liebender, Leidender an seinem Körper. Ein Mann, der nicht verdauen kann. „Der Kadaverräumer“ ist aber nicht einfach nacherzählte Erinnerung, sondern in langen mäandernden Sätzen ein in sieben Klagelieder gefasster Gedankenstrom. Er erschliesst sich mir als Leser nicht so einfach, da die Schichten des Fliessens vielfach sind, starke Bildern und Sätze zeigen, was der Wahnsinn eines Krieges und dessen Folgen in einem Menschen für Katastrophen anrichten können, auch dann, wenn die offensichtliche Aggression längst Erinnerung ist.

Johanna Lier, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Dass es aber nicht zwingend die Internationalität sein muss, der grosse Verlag, die Verbindung mit einem Krieg, der sich zu einem kontinentalen Trauma auswächst, beweist die Ostschweizerin Johanna Lier, die ihr künstlerisches Schaffen zuerst als Schauspielerin begann (Bekannt wurde sie in der Rolle der Tochter Belli in Fredi Murers Film Höhenfeuer.) In ihrem beim umtriebigen Kleinverlag „die brotsuppe“ erschienenen Roman „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ macht sich die Erzählerin und Protagonistin Selma auf die Suche nach ihrer Herkunft. Nach dem Tod ihrer Grossmutter findet Selma unerwartet in einer Tupperware-Box Papiere und Hinterlassenschaften, die klar machen, dass nichts so ist, wie es schien. Selma macht sich auf eine lange Reise, sowohl zeitlich wie geographisch, weit zurück ins 19. Jahrhundert, tief hinein in die bäuerliche Welt des thurgauischen Donzhausen, weit weg bis in die Ukraine und nach Israel.
Familiengeschichte ist ein dauerndes Verschwinden in Tabus oder blosses Vergessen. Johanna Lier erzählt von starken Frauen, von Geschichten und Geschichte, davon, was mit Lücken in der Erinnerung geschieht, wie Abgründe in der Vergangenheit, ob ausgesprochen oder nicht, bis in die Gegenwart wirken. „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ ist ein schwergewichtiges Stück Literatur in starken Sätzen, raumfüllend und mit grossem Gestus erzählt.

Webseite von Johanna Lier

Beitragsbild Aleš Šteger und Akkordeonist Jure Tori © Literaturfestival Leukerbad

«Schweiget, wenn andere pochen auf ihr heiliges Recht.» Ein Rückblick auf die 41. Soloturner Literaturtage

Auch wenn ich als Blogger schreibe, besuche ich die Solothurner Literaturtage in erster Linie als Leser, als Büchermensch, als Perlensucher und ewig Erwartender. Solothurn tat genau das, was ich mir erhoffte; es schenkte mir Lesestoff und Begegnungen, die nur in Solothurn stattfinden können, Garanten aus der Vergangenheit und Versprechen in die Zukunft.

Gut, wenn der Erfolg nicht Garantie dafür ist, an den Solothurner Literaturtagen eingeladen zu werden. Dafür gibt es Bühnen genug in den Zentren kulturellen Lebens. Dort schweben sie in unsäglicher Entfernung vom Publikum über Leserinnen und Lesern und pflegen ihr Image als Ikonen der zeitgenössischen Literatur. Hier in Solothurn setzen sie sich an den gleichen Tisch, auf die gleiche Bank; Lukas Hartmann, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder Nelly Zink, die auf Lesereise in Europa in Solothurn und Leukerbad Station macht.

Eine der Grossen, die alles versprechen und alles halten, ist Judith Schalansky, mit der ich im letzten Sommer ein Interview in Leukerbad führte und die damals noch in den letzten Arbeiten steckte vor der finalen Fertigung ihres Buches «Verzeichnis einiger Verluste». Judith Schalansky reiste vor Jahren anlässlich eines Stipendiums in die Walliser Alpen, um in der Abgeschiedenheit einen «Naturführer der Monster» zu schreiben, angelehnt an ihren international erfolgreichen Bestseller «Atlas der abgelegenen Inseln», eine aus Fiktion und Fakten gemischte Sammlung fünfzig entlegenster Inseln. Allerdings scheiterte das Schreiben eines «Naturführers der Monster» angesichts der begrenzten Vielfalt menschlicher Vorstellungskraft. Aber es war der Beginn eines viel grösseren Wagnisses, dass schon jetzt seinen sicheren Platz im Kanon zeitgenössischer Literatur gefunden hat. Bestechend allerdings ist nicht nur der Inhalt, die Sprache, der Plan, der dem Buch zugrunde liegt, sondern das Buch als Objekt selbst. Judith Schalansky ist viel mehr als Schriftstellerin. Sie ist Buchgestalterin, Buchkünstlerin, macht aus einem Buch ein Gesamtkunstwerk, durchkomponiert bis zur Art und Weise, wie sie ihre Bücher signiert. Was Judith Schalansky tut ist Offenbarung! (Rezension auf literaturblatt.ch)

Neben Lesungen aller Art von Literatur vielfältigster Couleur ist das Format «Skriptor», bei dem Autorinnen und Autoren zur Textarbeit zusammen über unveröffentlichte Texte diskutieren, ein ganz besonderes Setting. So sassen neben dem Moderator und Schriftsteller Donat Blum, die Schreibenden Viola Rohner, Ruth Schweikert, Micha Friesel, Ralph Tharayil und Rolf Hermann einer zukünftigen Literaturdebütantin gegenüber, die vier Kapitel ihres Romanmanuskripts dem Sextett und dem Publikum zur Diskussion vorlegte. Ein Romanentwurf, der viel verspricht, von Mariann Bühler, die für einmal nicht den gerne kritisierten Schreibschulen der Schweiz entsprang. Ohne viel verraten zu dürfen; auf diesen Namen darf man gespannt sein. Da entsteht ein Roman (Arbeitstitel: Camoghè), der begeistern wird, da wächst eine Schreibe, die viel Talent verspricht. Spannend, wenn man als Leser und Besucher der Literaturtage nicht nur mit fertigen Büchern konfrontiert wird, sondern ungefiltert in Entstehungsprozesse hineinblicken kann, in Auseinandersetzung, in die sonst geschlossenen Räume dessen, was mir Leser verborgen bleiben.

Ebenso vielversprechend, spannend und einmalig war das von Tim Krohn vorgestellte Projekt DuftBar. In Zusammenarbeit mit dem SNF-Projekt «Smelling more, smelling differently» der Berner Fachhochschule schrieb Tim Krohn während der Literaturtage zwei Dutzend Texte zu Düften in kleinen Flakons, die von Duftkünstlern und Meisterparfümeurs zusammengestellt wurden. Immer nach der gleichen Vorgehensweise: Tim Krohn nahm sich einen Duft, schnupperte nach einer Stunde noch einmal an dem Duftstreifen, nach drei Stunden ein weiters und nach acht Stunden ein letztes Mal, weil sich komplexe Düfte mit der Zeit verändern. Aus den Notizen, Assoziationen und aufgestiegenen Bildern schuf Tim Krohn Texte, Kurzgeschichten, Sprachskizzen, die einen ganzen Saal bestens zu unterhalten wussten. Zu wünschen ist nur, dass diese kunstvollen Miniaturen irgendwann einem breiten Publikum zugänglich werden, denn sie beweisen auf eindrückliche Weise, wie einmalig Tim Krohns Fähigkeit ist, aus Bildern Sprache und Geschichten werden zu lassen. So freue ich mich vorerst einmal auf die beiden bei Kampa im kommenden Herbstprogramm erscheinenden Bücher! («Der See der Seelen» und unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder «Endstation Engadin»)

Weitere Empfehlungen folgen!

Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Das Zitat im Titel des Artikel entstammt dem neuen Gedichtband «Zwiegesicht» von Ernst Halter

György Dragomán «Löwenchor», Novellen, Suhrkamp

György Dragománs deutsch erschienene Romane «Der weisse König» und «Der Scheiterhaufen» sind Eckpfeiler in meiner Bibliothek. Zum einen, weil er mit ungeheurer Kraft zu erzählen vermag, zum andern, weil sich Bilder aus seinen Romanen tief in meine Erinnerungen einbrannten. Seine Bücher beschreiben die Sehnsucht nach Heimat. Und wer sie im Umfeld, im Zuhause, am Geburtsort nicht findet, findet sie vielleicht in der Kunst.

György Dragomán ist mit 15 weggefahren aus seinem rumänischen Heimatort Târgu Mureş, dem Ort, an dem er aufwuchs und zu schreiben begann. Weg vom Ceaușescu-Rumänien ins benachbarte Ungarn. Seine Novellen erzählen vom Wegfahren, vom Fremdsein, vom Verlassensein. Von Menschen, die einzig in der Musik jenes Stück Heimat und Zuhause finden, das es zum Leben, zum Überleben braucht. Kurze Geschichten wie jene von einem jungen Mann, der gezwungen ist, für seine Ehe, seine Liebe, die Familie zurück-, den Kontakt sterben zu lassen. Über eine Mutter, die eine junge Liebe mit einem Fluch belegt, der sich dann auch wirklich zwischen den beiden Jungvermählten einzunisten scheint und sich wie ein Geschwür auswächst, zu wuchern beginnt und einen Fötus nach dem andern sterben lässt. Wie die Musik, der Gesang, das einzige ist, was gegen solches Gift antreten kann.

Es sind kurze Geschichten, vielstimmig, überraschend, sanfte und lärmende, kräftige und ganz zarte. György Dragomán spielt polyphon, wechselt von einem Instrument zum andern. Manchmal erzählend, manchmal anklagend, manchmal monologisierend, manchmal dramatisch. So wie es in der Musik Menschen gibt, die aus einer Vielzahl von Instrumenten die unterschiedlichsten Klangformen, tonalen Erzählweisen extrahieren können, so schafft es György Dragomán mich von seinem grossartigen Können zu überzeugen. Er spielt mit Sprache so wie Musiker mit ihrem Instrument. Seine Sprache ist mehr als Instrument. Er vermag in mir als Leser so unterschiedliche und divergente Resonanzen zu erzeugen, dass ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass es ein und derselbe Autor ist.

Die Übersetzerin Timea Tankó, 1978 geboren, arbeitet seit 2003 als literarische Übersetzerin aus dem Französischen und dem Ungarischen (u.a. Andor Endre Gelléri, István Kemény und Antal Szerb). Timea Tankós Übersetzung von György Dragománs «Löwenchor» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Kurzrezension auf dem 28. Literaturblatt von György Dragománs Roman «Der Scheiterhaufen»: Rumänien im Umbruch, ein Land am Zerbrechen. Emma ist dreizehn, lebt noch nicht lange in einem Internat, weil ihre Eltern angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein sollen. Völlig überraschend taucht im Internat eine alte Frau auf, behauptet, ihre Grossmutter zu sein und nimmt Emma weg aus dem Internat, obwohl Emma von ihren Eltern nie etwas von einer Grossmutter gehört hatte. Herausgerissen in eine unbekannte Welt am Rand einer Kleinstadt, hinein in ein Haus voller Geheimnisse, erobert Emma ihre neue Umgebung. In der Schule, zuerst verachtet und geschimpft als Enkelin einer Irren, aus einer Familie von Verrätern, lernt Emma sich zu behaupten. Sie lernt, dass hinter allem verborgen Wahrheiten stecken. Auch bei ihrer Grossmutter, zu der sie sich immer mehr hingezogen fühlt, die ihr ein Nest gibt, eine Burg vor den Anfeindungen des Mobs. Wie in seinem letzten Roman «Der weisse König» beweist der Autor, wie hoch seine Meisterschaft der eindringlichen Bilder, an den Grenzen zum Surrealen, ist. «Der Scheiterhaufen» ist ein Buch, das man riechen kann, das sprachlich auf der Zunge zergeht.

© Ekko von Schwichow

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. «Der weisse König» (2005; dt. 2008) ist in dreissig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.

 

Christoph Hein «Verwirrnis», Suhrkamp

Zugegeben, ich verehre diesen Schriftsteller. Und je mehr ich von ihm lese, desto tiefer brennt sich der Respekt ein. Christoph Hein erzählt mit derart viel Selbstverständlichkeit, als wäre jedes Buch mehrfach durchlebt und jedes für sich das Resultat eines ganzen Lebens. «Verwirrnis» ist die Geschichte einer Liebe, die ihren Platz nicht findet, nicht in der Geschichte, nicht in der Gesellschaft, nicht einmal im Leben der Geliebten.

Friedeward Ringeling ist ein Sonderling. Professor, ein gefeierter Intellektueller, selbst ohne Parteizugehörigkeit in der DDR von fast allen geschätzt und verehrt, aber stets ein wenig steif, distanziert, äusserst korrekt und auf dem Campus seiner Universität respektiert, auch wenn man ihn «kleiner Professor» heisst. Doch Friedeward trägt einen Schmerz mit sich herum. Er ist ein Versehrter, ein vom übermächtigen Vater Bestrafter, ein vom steinernen Katholizismus Ausgesperrter, ein Mann, der nie zu seiner Liebe zu Wolfgang stehen konnte, sie im Verborgenen leben und verlieren musste. Ein von der Geschichte Überrollter, ein Einsamer mitten in der Gesellschaft.

Friedeward lernt als Schüler Wolfgang kennen und lieben, ein ganzes Leben lang, in einer Zeit, in der eine solche Neigung nicht nur von Kirche und Gesellschaft unterdrückt wurde, sondern ein vom Staat geahndetes Verbrechen war. Seine Liebe bleibt unglücklich, auch wenn er sie mit Hilfe eines lesbischen Paars zumindest an der Oberfläche zu kaschieren vermag. Permanent in der Angst vor der Denunziation, vor dem Siebenstriemer seines Vaters, stürzt sich Friedewald in seine Arbeit und in ein geschlossenes Seelenleben, von dem nur wenige wissen.

«Verwirrnis» ist die Geschichte einer Freundschaft, einer verbotenen, nicht tolerierten Liebe zwischen Friedeward und Wolfgang. Einer Liebe, die sich im Verborgenen halten muss, hinter Mauern, am Rand der Gesellschaft. Es ist die Geschichte der DDR, ebenso eine Geschichte der Abgrenzungen und Mauern. Es ist die Geschichte einer Familie, jene Friedewards, einer Familie die sich hinter unumstösslichen Mauern der Strenge und Unduldsamkeit von einer aufbrechenden Gesellschaft abgrenzt.

„Verwirrnis“ ist als Titel des Romans genau so treffend wie verwirrend, denn zumindest im Duden scheint dieses Wort in der Form nicht zu existieren. Und trotzdem beschreibt es nicht nur das Leben Friedewards, sondern eine ganze Zeit, ein ganzes Jahrhundert.

Fiedewards Kindheit und Erziehung war geprägt von Angst, Schmerz und Verwirrungen. Sein Vater, ein Pädagoge, erzog seine Kinder mit eiserner Hand und schreckte auch nicht vor drastischen Körperstrafen zurück, selbst dann, als die DDR die Körperstrafe in Schulen schon längst gesetzlich gebannt hatte. Die Schläge des Vaters wirkten ein ganzes Leben. Friedeward fürchtet sie selbst noch vor seinem eigenen Ende, obwohl der Vater Jahrzehnte tot ist.
Der grosse „Fehler“ im Leben von Friedewards Vater war nicht so sehr die Peitsche, sondern seine Uneinsichtigkeit, des Vaters unumstössliche Überzeugung gut und richtig gehandelt zu haben. Genau die Haltung, die auch viele Überzeugte nach der Nazizeit mit in ein „neues“ Leben nahmen.

Der erste Weltkrieg war nicht mit den Unterschriften 1918 im Wald von Compiègne bei Paris beendet, der zweite Weltkrieg nicht mit der bedingungslosen Kapitulation am 7. Mai 1945, noch viel weniger die DDR mit dem Mauerfall. Jede Zeit hallt nach, so wie der erste Weltkrieg im Tod Friedewards Vater, der ein halbes Jahrhundert nach dem „Ende“ des 1. Weltkriegs an den Folgen eines Giftgasangriff starb. «Verwirrtes» ist ein Roman über Folgen und Auswirkungen.

Unglaublich mit welcher Selbstverständlichkeit Christoph Hein schreibt. Wenn ich seine Roman lese, überwältigt mich der Ton. Hein zelebrieren weder Sprache, Konstruktion noch Inhalt. Er erzählt. Und das mit derart schlafwandlerischer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, dass es mich tief beeindruckt. Wenn ich dann feststelle, dass die Lektüre und die Gespräche darüber zu einer Entdeckungsreise werden, Schicht für Schicht, verstärkt das den Respekt vor dem Schreiben Christoph Heins noch mehr.

Grosse Literatur, einmal mehr!

© Heike Steinweg

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle «Der fremde Freund / Drachenblut».
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Rezension von «Trutz» von Christoph Hein auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Urs Faes «Ins Schweigen reden»

Du bist allein im Haus, allein mit dem, was du jetzt ahnst, weißt und nicht annehmen willst: dass du nicht die grosse Liebe seines Lebens gewesen bist, sondern eine andere: Virginie. Oder einfach Ini. Sie und er, damals, und jetzt wieder. Schmerzt dich das?

Liebste Ini… so haben die Briefe angefangen. Das tönt zärtlich, vertraut, innig. Ja, innig ist das richtige Wort. Beeinander aufgehoben. Janek und Ini. Das tönt wie Hero und Leander. Des Meeres und der Liebe Wellen. Vom Winde verweht. Der grosse Gatsby. Janek und Ini. Wie die grossen Liebesgeschichten in der Literatur. Im Film.

Nicht grübeln. 

Eliane und Dorit kommen wieder. Sie lassen dich nicht im Stich. 

Jetzt bist du allein. In der Stille. In Gedanken. Im Schmerz. Das musst du mit dir austragen. Das nimmt dir keiner ab. Auch Eliane nicht.

Und Jakov?

Wo mag er sein? Auch allein? In einem Zimmer, das er nicht kennt? Ohne Worte für das, was ist. Fremd die Gesichter, die um ihn sind, die er nicht mehr erkennt. Irgend jemand könnte ihn besuchen, und er würde lachen, wie er immer Besuchern entgegengelacht hatte, freundlich, zuvorkommend, herzlich, ein zärtlicher Händedruck, eine sanfte Umarmung, ein gutes Wort. Jakov hatte für jeden ein gutes Wort, er war ein herzlicher Mensch, mit einem zärtlichen Blick auf die Menschen, auch auf dich. Vergiss das nicht. Wie liebevoll er sein konnte, fürsorglich, einer, der in den Augen der andern las, nicht nur ihre Wünsche, auch ihre Nachdenklichkeiten.

Und was ist mit diesem Kind? Jakovs Kind? Oder das Kind seines Vaters: Emily Mary Blumental. Ist Jakovs Vater der Vater oder der Grossvater des Kindes? Emily? Der Name ist nie gefallen. 

Du schüttelst dich, als könntest du abschütteln, was da ist, auf dir liegt, dir aufliegt.

Wie kannst du dich an Bilder halten, die nur eure sind, die Reisen, die vielen Reisen? Die Monate an der Baltischen See, Klaipeda, das Kurische Haff, das Ostseebad Cranz, eure Gänge durch die Birkenhaine bis zum Haff, in dem das Wasser im Sommer richtig heiss wurde, ein Dampfbad zwischen den Wanderdünen. Auch ihr habt eine Geschichte, du und Jakov. Aber du bist mit diesen Erinnerungen allein. In Jakov sind sie gelöscht, auch eure erste Begegnung im Rhein-Main-Flughafen. Auch eure Wanderferien im Bergell, das stundenlange Gehen, von Stampa über die Bogenbrücke der Maira und hinauf nach Coltura, zum Palazzo Castelmur. Jakov gefiel das Bild von Augusto Giacometti in San Pietro: Der Morgen der Auferstehung. Er buchstabierte das Wort: Risurrezione. Und er deutete auf das Epitaph unter dem Bild: Johannes und Magdalena. Ein Liebespaar, das aufersteht. Wer liebt, aufersteht. Jakov schien völlig fasziniert von diesem Gedanken und fotografierte das Bild zusammen mit dem Epitaph.

Langsam seid ihr dahingewandert, oft mit dem Blick ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen, den Piz Cam und den Pizzo Cengalo. In den Bergen war Jakov daheim, mountains home, sagte er, als wäre er in den geliebten Bighorn Mountains, wo ihr auf euren Ausritten dem Gros Ventre River gefolgt und hinauf auf die Spitze des Sleeping Indian Berges vorgedrungen seid, und ihr euch verloren habt im Hinunterblicken auf das Tal von Jackson Hole, an die Waipitis gedacht habt, die ihr auf eurer zweiten Reise, zum Schneeschuhfahren auf der Gros Ventre River Ranch, in der Nacht habt vor Hunger heulen hören, dieser unvergessliche Anblick: diese eng aneinander gelehnten Tiere im Schnee. 

Bilder, von denen Jakov nicht mehr spricht, die erdrückt und entrückt sind in ihm, vergessen, vergangen, versunken, in den Schutthalden seines Gehirns. Nur das ganz fern Erinnerte ist ihm noch nah, ein Frauenname, eine grosse Liebe.

Du bist allein mit euren Erinnerungsbildern, mit allem, was ihr gelebt habt: Du und Jakov, Herta und Jan. Das klingt nüchtern, alltäglich praktisch, zwei, die sich verstehen, sich arrangieren. Aber Janek und Ini, das bebt, das rührt an Traum und grosse Gefühle.

Du rufst allein eure Bilder zurück, kein „Weißt du noch, Jakov, die Gabelhorn-Antilopen unter den Laubbäumen im Boysen Park, nah am Ufer des Shoshoni, über dieser kleinen Bucht, in der das Schilf vom Licht angeblitzt wurde, ein heller Schein, gleissend hell…“. 

Nur bei dir ist das von euch Gelebte aufgehoben, euer Lebensbuch.

Ist das schon ein Nachruf? Jakov nachgerufen? Als wäre er schon nicht mehr da? Für dich ist er nicht mehr da, auch wenn er noch da ist. Gelöscht in Jakov, was dich, was euch betrifft, wie auf einem Bildschirm ein Text gelöscht wird, eine Melodie, ein Bild, ein Tastendruck und nichts mehr da, Leere.

Ini ist geblieben, erhalten, bewahrt, wie in Karneol unzerstört, zum unverhofften Wiedersehen, wundersam heil geblieben zwischen Gedächtnisablagerungen und Gehirnschuttverwicklungen, Denkhalden und Müllbergen.

Die Bildfolge Ini ist geblieben, lebt und atmet, weil die Liebe sie erhalten, stark gemacht hat, so stark, dass sie den Jahren trotzt, der Krankheit, dem Vergessen und Verlöschen, unsterblich ist, ewig.

Diese Vergangenheit ist geblieben und Gegenwart geworden. Janek und Ini, eine unsterbliche Liebe, das letzte Refugium eines verlorenen Gedächtnisses. Vielleicht wird sie auch bleiben, wenn Jakovs Gestalt still geworden ist, weil bleibt, was von der Liebe gebildet, getragen, unzerstörbar geworden ist. Weil die Liebe nicht vergeht, nie vergeht, auch  über den Tod hinaus? Ist es das, was uns antreibt, was in uns als Sehnsucht glüht, unstillbar? 

Auch dich hat das angetrieben, und du hast geglaubt, in Jakov diese Nähe gefunden zu haben, all die Jahre hast du das geglaubt. Du hast nicht geahnt, dass sie in ihm schon gefunden und verwahrt war und einen Namen trug: Ini.

Du wischst mit der Hand langsam durch die Luft, als wüsche deine Hand die Nacht, wüsche sie die Welt, wüsche herunter, was trübte, die Aussicht, die Fernsicht, die Rücksicht. Du musst sie waschen, die verwüstete Welt, die unter Schlacken, Ablagerungen siechende Welt da draussen; und die Welt in Jakovs Kopf, in Jakovs Gehirn, in Jakovs Gedächtnis, die wüst ist und fast leer, glanzlos geworden, stumpf, de-mens, von Sinnen, jetzt, erst jetzt verstehst du das Wort.

Du bist allein. Und wer allein ist mit den Erinnerungen und mit der wüsten Welt, der ist wirklich allein. So stehst du in diesem Korridor, so gehst du durch die Räume, greifst nach dem Halte-Tau an der Wand, das Jakov vom Schlafzimmer ins Bad und durch die Räume geleitet hat.
Du musst dich festhalten, dich anklammern am rauen Tau, gegen diesen Sturm, der weht, von einem verlorenen Paradies, von den Erinnerungen her, die dich aus dem Leben mit Jakov umweben und dem, was sie trübt: Janek und Ini. Du gerätst von Sinnen im Sinnen; wonach steht dir noch der Sinn?

Was kannst du dem entgegenstellen, was da weht, stürmt, heult, dich forttreibt?

Bleibt nur die Müdigkeit, und darin ein letzter Aufruhr, ein Dennoch, das schon nicht mehr trotzig, sondern nur noch ein Flügelschlagen ist, Einsicht?

Dieser Vers, den dir Eliane einmal aufgeschrieben hat, eine Frucht ihrer Theaterarbeit, als Trost gemeint, auch in der Bitterkeit: „Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar,/ Schatten, Worte, Wünsche, Taten,/ Die Gedanken nur sind wahr// Und die Liebe, die du fühltest,/ Und das Gute, das du tust;/ Und kein Wachen als im Schlafe,/ Wenn du einst im Grabe ruhst.// Possen! Possen! Andre Bilder/ Werden im Innern wach!“

Lachen über die Possenspiele des Lebens, zum Lächeln finden, zum Lassen, Loslassen, Zulassen, Ablassen?

Und einmal gelassen sein, Gelassenheit finden?

Und darin eingestehen, deine grosse Liebe war nicht, was du dachtest, war weniger, Schatten, ja ein Schatten, unter dem Schatten einer andern?

Und Jakov? Ist er jetzt leicht, zurück in der frühen Liebe, da wieder eingekehrt, darin jetzt gelassen, losgelassen von allem andern, von all dem, was lastet oder lasten könnte? Vom Leben?

Back home? War das nur diese im Kokon verwahrte Liebe?

Und du hast geglaubt, das gelte dem Heimweh nach den Weiten Wyomings, den Wäldern des Teton, dem gewundenen Lauf des Snake River, den kleinen Seen um Boulder Flats. Es hat, ohne dass er es nennen konnte, nur ihr gegolten, Virginie, der frühen, der grossen Liebe, nach der ihn ein Sehnen verzehrte; das war der Heart Lake, in dessen Wasser er getaucht ist und darin weiterschwimmt.

Hast du ihn für den genommen, der er gewesen ist, den versprengten Reiter, einer, der immer ein Reisender gewesen ist, einer, der von irgendwoher kam und nach irgendwohin aufbrach, getrieben von der unbestimmten Hoffnung, es gebe irgendwo eine Ankunft, beschlichen von der Ahnung, keine Ankunft zu finden. Vielleicht war es diese unbestimmte, diese unstillbare Sehnsucht, die ihn antrieb, die ihn reisen liess und nur einen Namen hatte. Vielleicht hat ihn das letztlich auch seine Statistiken schreiben lassen, dieser unbestimmte Leerraum, in dem alles entschwunden schien, in dem es keine Gewissheit gab, in Fülle verfügbar war nur der Mangel, der Mangel an Selbstgewissheit, an Heimat und menschlicher Bedingung in der Welt. Hat ihn dieser Mangel angetrieben, nach den früh erfahrenen Toten, der Mutter, von Virginie, von Ken, vielleicht auch von Emily? Und die immerwährende Angst vor Verlusten, immer neuen Verlusten, auch von dem, was man ist und lebt? 

Du zitterst. Du sagst so oft vielleicht? Vielleicht, weil du so wenig weißt, mit Gewissheit weißt: von Jakov, von dir selbst. Auch du hast Angst. Nichts ist sicher. Nur das Gefährdetsein, auch in der Liebe, die fragile Aussicht, den Alltag halten zu können, wenn überhaupt. Kannst du es noch? Noch weiter? Immer weiter? Gehen. Gehst du noch, oder stehst du?

Du gehst durch die Wohnung; durch die Ratlosigkeit gehst du, deine Ratlosigkeit. Deine Schritte widerhallen, dumpf patschend auf dem Parkett, ein Eichenparkett, hohl klingt das, als wäre alles hohl unter dir, voller Leerräume, mit Geheimnissen und Untaten, voller Archive, die jemand angelegt hat, von deinen Wegen, Schritten, deinen Sehnsüchten, das ist abgelegt in Schachteln und Mappen, du brauchst sie bloss zu öffnen, einzutreten in die Archive, in dir, unter dir, Archive, tief in die Erde hinein, unterkellert ist das alles, immer neue Räume mit Dokumenten, Mappen, Statistiken, die alles enthalten, was dich angeht, die infragestellen, was du empfunden, was du entschieden, was du gesprochen hast. Überall Papiere, Virginie-Papiere, Jakov-Papiere, Eliane- und Dorit-Papiere, alles ist voller Papiere, Buchstaben, Zeichen, Schriftzeichen, Wandzeichen, Menetekel. 

Soviel an Spuren aus einem Leben, soviel an Zeugnissen, Leidenschaften und Leiden, an Glück und Scheitern, an Ahnungen und Vermutungen, und so wenig an Gewissheit, an Klarheit, selbst da, wo Zahlen und Namen und Daten sind, so flüchtig, so undurchschaubar, so dämmerhaft und unzugänglich bleibt, was einer gelebt, du, Jakov, Ini.

Du gehst, und von draussen fällt jetzt das Licht herein, fällt auf den Boden, stumpf, dumpf, wie die Schritte, die du machst, behutsam, ängstlich. Dünn ist die Kruste über diesem Hohlraum unter dir, das Echo verrät es, das ist hohl da unten, du kannst jederzeit einbrechen, durchbrechen wie durch das Eis auf dem See, das voller brüchiger Stellen ist, die nicht tragen, die dich in die Tiefe fallen lassen, in die Archivschächte des Erdachten, mit den Schachteln des Erinnerten, mit den Statistiken deiner Irrtümer, Irrwege und Irrfahrten, mit diesen Papieren, Virginie-Papieren, Jakov-Papieren, mit den Rechnungen, Statistiken, Zahlen, alles ist voller Zahlen, als zählten nur noch die Zahlen.

Dieser Text, den mir Urs Faes freundlicherweise zur Verfügung stellt, ist ein erster Blick in seinen neuen Roman.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Er ist einer der Grossen der Schweizer Literatur. 1983, vor 35 Jahren, erschien sein erster Roman «Webfehler» bei Lenos. 1989 wechselte er zu Suhrkamp und veröffentlicht dort seit 30 Jahren Romane und Erzählungen. 2017 erschien «Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch» in dem er seine Erfahrungen mit einer schweren Krankheit mit der Geschichte seiner Herkunft verwob. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis. Zuletzt erschien in der Insel Bücherei die Erzählung «Raunächte».

«Urs Faes’ Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.«

Rezension von «Raunächte»  auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Urs Faes im Logbuch von Suhrkamp

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ekko von Schwichow

Judith Schalansky «Verzeichnis einiger Verluste», Suhrkamp

Buchkunst – inhaltlich und formal! Judith Schalansky nimmt mich mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. In zwölf Kapiteln in zwölf Welten, jedes Kapitel im Buch je ein Bund, zu einem grossen Ganzen gebunden. Zwölf Reisen in zwölf verschiedene Welten, von den Rändern der Mondkrater über ihre Heimat rund um Greifswald bis zu einem untergegangenen Atoll mitten im Ozean. Judith Schalansky ist eine Türöffnerin und literarische Weltenbummlerin.

Ich traf Judith Schalansky im vergangenen Sommer am Literaturfestival in Leukerbad. Während eines Interviews über ihre Arbeit als Herausgeberin der  Naturkunden-Reihe, einer ganz speziellen Sachbuchreihe, mit der der Berliner Verlag Matthes und Seitz seit ein paar Jahren Furore macht, erzählte mir Judith Schalansky von ihrem neuen Buchprojekt bei Suhrkamp. Ein Buch, das bald herauskommen werde, aber noch gar nicht zu Ende geschrieben sei. Aber da sprach weder Hektik noch Sorge. Judith Schalansky ist Sammlerin. So wie sie in ihrem Buch «Fraktur, mon amour» (2006) Schriften sammelte oder «Atlas der abgelegenen Inseln. 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde.» (2009) Eilande mit phantastischen Geschichten, sammelt die Autorin in «Verzeichnis einiger Verluste» Abhanden-Gekommenes, Nachgesagtes und Legenden, Vergessenes.

Doch diesmal ist es nicht blosses Sammeln und Fantasieren. Judith Schalansky setzt jede Erzählung in ein Leben, gibt den Protagonisten mit schlafwandlerischer Sicherheit eine eigene Stimme, Kapitel für Kapitel, Bund für Bund. So wie auf den beiden Raumsonden Voyager I und II zwei goldenen Platten die Zeichen unserer Zivilisation in den galaktischen Raum getragen werden, beschreibt die Autorin die schattenhaften Errungenschaften der Menschheit, hinausgetragen aus dem Astralleib des Vergessenen in eine dargebotene Perle der Literatur.

Judith Schalansky kann sich regelrecht in Rage schreiben, wenn sie von ihren Beobachtungen, Forschungen und Begegnungen erzählt, als Zeuge in einem Stall bei der Geburt eines jungen Schafs, auf der Suche nach Monstern im Wallis, über dem Wunder zerstörter Architektur oder einem bei gezeigten Film. Ob in der Haut der alt gewordenen Garbo, einer schlecht gelaunten, alten Schachtel mitten in Manhatten auf der Suche nach Trost oder in jener einer jungen Mutter, die mit dem Kind im Arm auf den scheinbar untreuen Mann wartet – Judith Schalansky schafft sie alle.

Und jedem Kapitel, jedem Bund ist ein Vorsatz vorangestellt ein grauschwarz schimmerndes Papier mit dem gerade noch sichtbaren Bild zu den jeweiligen verloren gegangenen Dingen, dem Palast der Republik, dem Kaspischen Tiger oder dem Kosmos eines Armand Schulthess, der in den 70er Jahren im Tessiner Valle Onsernone seine ganz eigene Weltordnung errichtete. Bilder, die verschwinden. Geschichten, die Judith Schalansky vor dem Vergessen rettet, zurückholt, und dabei aber alle Endlichkeit deutlich macht.

Aber nicht einfach geflissentlich produzierte Recherchestücke, Splitter aus dem Suchen der Autorin, weder chronologisch, noch logisch, dafür alle mehrschichtig im Leben der Schriftstellerin und «Buchmacherin» verankert, ob mit unauslöschlichen Kindheitsbildern oder mit lebendig gewordener Geschichte!

«Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schrieben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.» Judith Schalansky

Was für ein Buch!

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.

Grosses literaturblatt-Interview mit Judith Schalansky zu ihrer Arbeit als Herausgeberin der «Naturkunden»-Reihe bei Matthes & Seitz

Beitragsbild © Sandra Kottonau