Andreas Maier «Die Familie», Suhrkamp

«Die Familie» ist ein zu tiefst beeindruckender Roman über Brüche; jene in der Geschichte, jene zwischen den Generationen. «Die Familie» ist das Protokoll einer Zerstörung, die Auswirkungen dessen, was ein Familientsunami ausrichten kann, auch wenn zwischen Erschütterung und Überflutung Jahrzehnte liegen. Exhumierung von Geschichte!

«Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen», steht vor dem Epilog zu Andreas Maiers neuem Roman «Die Familie». «Wir sind Kinder der Schweigekinder», in einem Dialog, nachdem es dem Erzähler wie Schuppen von den Augen fällt. Schlüsselsätze für den Autor, Schlüsselsätze für mich als Leser. Ob autobiographisch oder nicht, was letztlich keine Rolle spielt, beschreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman ein weit verbreitetes Familienphänomen; das Schweigen. Ausgerechnet dort, in jenem Gefüge, der Wiege des Staates, dem Nest aus dem jeder Vogel ausfliegt, werden Schweigen kultiviert und Geheimnisse gehütet. In einer deutschen Familie jenes Deutschland ausgeblendet, das sich tausend Jahre lang auf einen mehr als gewaltigen Marsch durch die Geschichte aufmachen wollte und glücklicherweise, aber zu einem unsäglich hohen Preis, scheiterte.

«Die Familie» erzählt Geschichte, auch jene, die nicht stattgefunden haben darf. Andreas wächst als eines von drei Kindern in einer Kleinstadt auf, am Ufer eines Flusses, auf einem grossen Grundstück, auf dem einst ein Mühle stand, später die Hallen einer Fabrik. Andreas Vater ist Jurist, gefragter CDU-Mann, hochgeachtetes Mitglied der Gesellschaft. Das familieneigene Grundstück, das seit Generationen der Familie gehören soll, von Mauern und Gewächs umgeben, steht in Kontrast zu all den kleinen Wohneinheiten rundum und versinnbildlichendes Zeichen für Erfolg, Wohlstand und eine grosse Portion Überlegenheit. Man ist sich seines Standes bewusst.

In dieser Welt wächst Andreas auf, auch wenn er schon als Kind merkt, dass sich Risse in den Grundfesten bilden. Zum einen, weil sich der um ein paar Jahre ältere Bruder partout nicht zähmen lässt, als Kind lieber auf dem Kinderplaneten spielt, als Jugendlicher lieber im Jugendzentrum hockt und vom Sozialkundelehrer Krafft «schlecht beeinflusst» wird und schlussendlich sogar ganz mit der Familie bricht. Zum andern, weil sich auch die Schwester niemals fassen lässt, der Onkel, der Bruder seiner Mutter angeblich nur noch die Konfrontation sucht.

Das mit allen Mitteln verteidigte Familienidyll, das der Vater wenn nötig auch mit juristischen Mittel zu verteidigen weiss, kippt endgültig, als die Mauern der alten Mühle fallen, des letzten Überbleibsels einer Geschichte, die man mit viel Strategie unter einer soliden Grabplatte verschwinden lassen wollte. Der Fall jener Mauern hört nicht mehr auf, sie decken alles zu, was Mutter und Vater mit ihrem Schweigen im Verborgenen belassen wollten. Bis der mittlerweile zum Schriftsteller gewordene Erzähler durch eine Freundin erfährt, dass nichts von der angeblichen Familiengeschichte und hochgehaltenen Familientradition so ist, wie der Schein es wahren sollte.

«Die Familie» ist durchaus exemplarisch. Fast am Schluss steht der Erzähler vor einem Grab. Nicht jenem seiner Familie, aber am Grab einer jüdischen Familie, die wie Hunderttausende anderer unter der Hakenkreuzfahne enteignet und vernichtet wurde. So wie sich damals Familien «pulverisierten», tut dies die Wahrheit mit der Familie des Erzählers.

«Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt.»

Andreas Maiers Roman fesselte mich! Kaum ein Gefüge ist derart zerbrechlich wie «Familie». In keinem Gefüge kann ein Virus derart katastrophale Auswirkungen haben wie in der Familie. Viren, die durch Lüge und Schweigen freigesetzt werden und dieses Gefüge über Generationen vergiften. Andreas Maier schrieb keine Anklage, aber man spürt sein Leiden. Wie in keinem seiner Bücher bisher.

© Jürgen Bauer

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Rezension über «Der Kreis» (2016) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau