Lorenz Langenegger «Stoffe», Plattform Gegenzauber

Stoffe finden ist die einfachste Sache der Welt. Sie liegen überall herum. Sie lächeln einem aus der Zeitung entgegen. Sie flimmern über Bildschirme. Stoffe wollen gefunden werden. Ich habe keine Ahnung, weshalb sich das Märchen von den Stoffen, die sich in den hintersten und letzten Winkel verstecken, so hartnäckig hält.

Natürlich ist es immer der Schriftsteller, der den Stoff finden muss. Stoffe finden keine Schriftsteller. Das liegt daran, dass sich Schriftsteller in der Öffentlichkeit gerne unauffällig benehmen, durch die Strassen gehen, wie normale Menschen, einkaufen, was alle kaufen, lesen, was alle lesen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Stoff. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich so hübsch wie möglich zu präsentieren, damit ein vorbeigehender Schriftsteller auf Sie aufmerksam wird. Denn woher wollen Sie wissen, wer von den Vorbeigehenden ein Schriftsteller ist.

Stoffe finden ist kein Problem. Viel schwieriger ist der Umgang mit einem Stoff. Haben Sie einen Stoff für gut befunden und mit nach Hause genommen, bildet er sich schnell etwas darauf ein. Stoffe sind ganz schön eitel und alles andere als pflegeleicht. Der grösste Fehler, den Sie machen können, ist, dem Stoff alles zu geben, was er will. Gehen Sie von Anfang an intensiv auf den Stoff ein, verwandelt sich der gleiche Stoff, den sie eben noch in einem schmutzigen Hinterhof zwischen Abfalleimern gefunden haben, in ein grössenwahnsinniges Ungetüm, weil er sich für unersetzlich hält. Das Wesen des Stoffes neigt zum Grössenwahn. Das muss man leider sagen. Arbeiten Sie also nie mit nur einem Stoff. Nehmen Sie von verschiedenen Stoffen, so viel Sie brauchen, aber nie von einem einzigen so viel, dass Sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Das spürt ein Stoff sofort. Und ist es erst so weit, macht er Ihnen die Arbeit zur Hölle. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Er bestimmt Ihre Gedanken und Handlungen. Er führt Sie an Orte, wo Sie nie im Leben hin wollten.
Ein Schriftsteller darf die Kontrolle über seinen Stoff nicht verlieren, weil sich der Stoff ansonsten entfaltet, wie es ihm passt und nicht wie es der Schriftsteller vorgesehen hat. Und Stoffe sind keine guten Erzähler, das kann ich Ihnen versichern, dazu sie sind viel zu selbstsüchtig.

Mindestens ebenso wichtig, wie der richtige Umgang mit einem Stoff, ist es für den Schriftsteller, die richtigen Stoffe auszusuchen. Die Stoffe, die zu ihm passen. Was selbstverständlich und banal daherkommt, ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich ein exponential ansteigendes Stoffwachstum beobachten. Von Schriftstellerverbänden anfangs begrüsst, werden schon seit einigen Jahren kritische Stimmen laut, die sich gegen den unkontrollierten Stoffwachstum erheben. Die Stoffe haben im ständigen Konkurrenzkampf mit ihresgleichen inzwischen derart geschickte Strategien der Tarnung und Täuschung entwickelt, dass selbst gestandene Schriftsteller nicht davor gefeit sind, daneben zu greifen und einen oberflächlichen Stoff, der sich nur geschickt genug verkleidet, für einen Jahrhundertstoff zu halten. Gerade jungen Schriftstellern sei es deshalb ans Herz gelegt, sich nicht von vermeintlich grossen Stoffen blenden zu lassen, sondern sich kleine, feine Stoffe auszusuchen, mit denen sie umgehen können.

Lorenz Langenegger lebt und schreibt in Zürich und Wien. Davor einige Semester Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern. Mitglied der Autören. Verschiedene Arbeiten fürs Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin. Bei Jung und Jung in Salzburg erscheint im Frühjahr 2009 der erste Roman «Hier im Regen». 2014 erschien «Bei 30 Grad im Schatten» und 2019 der Roman «Jahr ohne Winter.

Beitragsbild © Richard Obermayr

17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter