Didi Drobna «Ostblockherz», Piper

Wie weit das Nächste vom Jetzt entfernt sein kann und wie tief diese Entfernung bis in die Familie wirken kann, davon erzählt Didi Drobna in einem Roman, der sehr biographisch wirkt und die Geschichte vieler Familien erzählt, die ihren Kern, ihr Herz in einem anderen Land, in der Vergangenheit zurücklassen mussten.

Als erstes war es die Mutter, die eine Stelle hinter der Grenze in Wien fand, besser bezahlt als alles, was sie, selbst mit akademischer Ausbildung, in der Slowakei verdient hätte. Nach dem Zusammenbruch der DDR, der Sowjetunion, öffneten sich mit einem Mal Grenzen, die über Jahrzehnte Gegenden und Menschen hermetisch voneinander trennten. Mit einem Mal rückte der Westen in erreichbare Nähe und mit ihm der Traum, auch etwas vom grossen kapitalistischen Kuchen abschneiden zu können.
Nachdem die Mutter Fuss gefasst, eine feste Stelle gefunden hatte, zogen Vater und Tochter nach. Und nachdem auch noch ein kleiner Bruder die Familie vergrössert hatte, wenn auch mit einem Jahrzehnt Abstand zur Erzählerin, wären alle Voraussetzungen da gewesen, um ein kleines Stück Glück zu finden.

Didi Drobna «Ostblockherz», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07280-9

Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre. Wenn der Vater in Österreich eine Stelle gefunden hätte, die seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung entsprochen hätte. Wenn der Vater den Zugang zur deutschen Sprache gefunden hätte. Wenn er seine Ostblock-Unterwürfigkeit, seine Ergebenheit nicht beibehalten hätte und seine Familie zum „Schlachtfeld“ seiner Kompensierungen geworden wäre. Wenn ein tief verankertes Patriarchat, ein versteinertes Familienverständnis nicht alles blockiert hätte, die an den Grenzen gefallenen Mauern unzerstörbar weiterwirkten an den Grenzen zum scheinbar Unmöglichen.

Didi Drobna erzählt in „Ostblockherz“ ihre ganz persönliche Geschichte. Ein literarischer Versuch, das zu verstehen, was sich über Jahrzehnte in ihre Seele brannte und erst viel zu spät zu einer Versöhnung wurde. Erst als ihr Vater schwer krank wird, bittet er seine Tochter, ihm zu helfen, ihm zur Seite zu stehen. Sie weiss, dass sie sich nicht um die Verpflichtungen einer Tochter drücken kann, obwohl ein Jahrzehnt vergangen war, währenddem sie sich mit gegenseitigem Schweigen straften, jeder verschanzt in seinem Schützengraben, auch wenn man sich zu Feierlichkeiten in der Wohnung der Eltern traf. Dazwischen die Mutter und der kleine Bruder.

Die Wut lebte in unserer Familie, sie war das fünfte Familienmitglied.

Der Vater gehört zu einer Sorte Mensch, die es nie gelernt hat, zu eigenen Gefühlen, eigenen Wünschen, eigenen Bedürfnissen zu stehen. Man spricht nicht, findet keine Worte. Familie hat nach einem vorgegebenen Muster zu funktionieren. Und in diesem Muster ist der Vater das Oberhaupt und alle weiblichen Mitglieder dienend, folgsam und untertänig. Und wenn die Situation unerträglich wird, dann ergreift man die Flucht, weg zur Sippe auf der anderen Seite der Grenze, weg in die innere Emigration, unerreichbar verbarrikadiert. Um dann irgendwann wieder aufzutauchen und Familie zu spielen.

Didi Drobna schildert behutsam einen schmerzlichen Kampf um Eigenständigkeit, Anerkennung und Verständnis – um nichts anderes als um Liebe und Respekt. Warum ist es so schwer, Schwäche zu zeigen? Einen Fehler zuzugeben? Den ersten Schritt zu tun. „Ostblockherz“ ist mit Nichten eine Abrechnung, sondern ein inniger Versuch zu verstehen. Als der Vater krank wird, seine Schwäche und Hilflosigkeit unübersehbar ist, wird er, der ein Leben lang den Starken zu repräsentieren hatte, der Hilfsbedürftige. „Ostblockherz“ erzählt von all den Zwängen, den Rollen, in die man eingeschlossen ist, von den stillen Kräften, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken und eine Zukunft in Freiheit zu blockieren drohen.

Mir grossem Feingefühl und viel Liebe geschrieben!

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava (ehem. Tschechoslowakei) geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Förderpreis Literatur der Stadt Wien 2023. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe (Literaturbiennale Floriana, Literatur-Stipendium Stadt Linz, FM4 Wortlaut, Literaturwettbewerb Wartholz) und lehrt 2024/25 erneut am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Informatik-Forschungszentrum in Wien.

Rezension von «Was uns bleibt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Barbara Wirl

Tommie Goerz «Im Schnee», Piper

Auf seiner Homepace nennt sich Tommie Goerz „fränkischer Krimiautor“, was bis zu seiner Veröffentlichung von „Im Tal“ 2023 auch stimmte. Aber mit diesem ersten, von der Presse „literarisch“ bezeichneten Roman und dem eben erschienen „Im Schnee“ gehört der kreative Tausendsassa mit einem Mal zu einer schreibenden Elite, einem Meister der Stimmungen und Figurenzeichnung.

Tommie Goerz heisst eigentlich Marius Kliesch, legte sich das Pseudonym zu, weil ein Krimiautor mit einer ernsthaften Professur unvereinbar schien. 15 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, nach 18 Krimis, nun zwei ganz unspektakuläre Romane über das einfache, zurückgezogene Leben. „Im Tal“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, „Im Schnee“ in allernächster Vergangenheit.

Max steht am Fenster und schaut in den Winter. Er lebt allein, schon sein ganzes Leben in diesem Haus, seinem Elternhaus, in diesem Dorf, dass er kaum je verlassen hatte. Er sieht auf seine Apfelbäume, draussen im Garten, den Martini, den Rheinischen Krummstil – und Schorsch, seinen einzigen wirklichen Kumpel, der im letzten Herbst wie jedes Jahr noch von den Äpfeln geholt hatte. Jetzt ist Schorsch tot, liegt in seinem Haus. Im Dorf hört man die Totenglocke, Gunda läutet nur noch, wenn der Tod sie dazu ordert. 

Glück ist, wenn alles vorbei ist.

Max trauert still. Der Tod ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch weil das Dorf schon lange zu sterben begonnen hat; kein Laden, kein Bäcker, kein Metzger mehr. Irgendwann schleifte man gar das Schulhaus in einer Nacht- und Nebelaktion, weil sich das Gerücht im Dorf festgehakt hatte, es würden Flüchtlinge in dem leeren Haus einquartiert werden. Auch am kleinen Bahnhof hält nur nach im Morgen und am Abend ein Zug. So wie das Dorf sterben auch die Höfe. Was früher noch ganze Familien ernährte, schrumpfte über die Zeit. Man verschuldete sich, stellte um, stellte ein, zog weg oder verkümmerte. Max ist geblieben. So wie Schorsch.

Thommie Goerz "Im Schnee", Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6
Tommie Goerz «Im Schnee», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6

Max macht sich auf zum Haus von Schorsch, der dort aufgebahrt liegt, bis zur Beerdigung, die dann stattfinden muss, wenn der Pfarrer Zeit hat. Man trifft einander zur Wache, sitzt dort und erzählt, isst und trinkt und erinnert sich. Man erzählt sich Geschichten und denkt an all das, was man nicht erzählen kann, nicht zu erzählen traut. Geschichten, die eigentlich nur die Deckel all jener Geschichten sind, die man sich nicht erzählt, von denen aber alle wissen. Schon gar nicht über Liebeszeug. Zumindest die Einheimischen, die Hiesigen, nicht die Neubürger aus der Siedlung. Und schon gar nicht jene, die es immer wieder einmal im Dorf versuchten, aber eigentlich hier nichts verloren hatten. Max bringt zwei Äpfel mit, einen Martini und einen Rheinischen Krummstil.

Max bleibt die ganze Nacht, nicht weil er es dem Schorsch schuldig wäre, sondern weil es nur mit dem Schorsch jene Momente der Zweisamkeit gab, die es nur mit Schorsch gab, weil mit Schorsch auch ein Stück seines Lebens zu Grabe getragen wird, Geschichten, Erinnerungen und jenes immer dünner werdende Gefühl der Vertrautheit; nie wieder Tee trinken im Garten, nie wieder in der Werkstatt oder auf der Chaislongue, den Vögeln oder dem Knacken des Ofens lauschen.

Was bleibt, ist die Einsamkeit, ein Geist, der sich mit dem Sterben im Dorf wie ein Myzel ausbreitet, der einen immer dicker werdenden Teppich aus Schweigen über die Verbliebenen und dieses Dorf legt. Ein Dorf, in dem man Tiere und Motoren wesentlich mehr Zuwendung schenkte, weil es sein musste. Und doch ist und war das Dorf der einzige Ort, an dem Max sich sein Leben hätte vorstellen können.

„Im Schnee“ ist ein Roman von uriger Kraft, holzschnittartig geschrieben, ein Roman über die Bruchstelle zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tommie Goerz hat das Zeug für ganz grosse Klasse!

Interview

„Im Schnee“ ist ein Buch über aussterbende Welten, eine fest in Rituale und Traditionen eingegrenzte Welt, von der man auf dem Land, in Dörfern noch immer etwas spürt, einer Welt, die man aber in urbaner Umgebung vergessen hat. „Im Schnee“ ist kein romantisierender Blick auf diese Welt. Und trotzdem stirbt die Welt von Max. In Ihrem Roman tauchen Binnengeschichten auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – und trotzdem spürt man so viel Verbundenheit, so viel Respekt. Ist genau das die Spanne zwischen Krimi und Anti-Heimatroman?
In »Im Schnee« versuche ich mich einer Welt zu nähern, die uns gerade zwischen den Fingern zerrinnt, ja schon fast ausgestorben ist und deren immanente Regeln und Selbstverständlichkeiten uns oft gar nicht mehr begreiflich sind. Aber wenn die letzten Alten aus den Dörfern einmal gestorben sind, ist diese Welt unwiederbringlich weg. In diesem Kosmos, vor dem ich sehr grosse Achtung empfinde, habe ich versucht, den Roman anzusiedeln. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichten der Alten sind manchmal spannend wie ein Krimi – und gleichzeitig sind es Heimatgeschichten. Aber so ist eben Heimat: sie duftet verlockend süss – und stinkt gleichzeitig erbärmlich.

Aquarell des Schriftstellers

Sie sind seit einigen Jahren in Rente. Warum jetzt Bücher wie „Im Tal“ und „Im Schnee“? Brauchte es den weisen Blick des Alters, um so schreiben zu können? Oder lenkt der Blick auf ein Verbrechen zu sehr ab von dem, wovon man auch noch erzählen will? Eine Abkehr vom Krimi?
Gar keine Frage: Für ein Buch wie »Im Schnee« braucht es einen Erzähler mit einem gewissen Alter, und das habe ich nun mal. Und ja, »Im Schnee« ist in gewissem Sinn eine Abkehr vom Krimi, aber aus einem für mich letztlich ganz profanen Grund: Nach dem Gewinn des Glauser mit »Meier« war ich in der Jury für den nächsten Glauser – und da mussten wir über 450 Krimis sichten. Seitdem bin ich absolut Krimi-übersättigt. Geschichten aber habe ich noch genug im Kopf – und wer weiss, vielleicht kommt auch nochmal ein Krimi.

Max lebt schon lange allein, fast nur in seiner einfach eingerichteten Küche. Er fährt nicht einmal in den nächst grösseren Ort, sondern wartet geduldig, bis ihm einer seiner immer weniger werdenden Nachbarn vom nahen Ort bringt, was er zum Leben braucht. Er schaut und sinniert, legt immer wieder einmal ein Scheit nach in seinen Ofen, liest keine Zeitung, schaut und hört keine Nachrichten. Was er durchs Fenster sieht, in der einzigen noch ab und an offenen Gaststube hört oder durch die Totenglocke vernimmt, reicht ihm. Eine Genügsamkeit, die weit weg von der meinigen ist. Steckt da auch eine Portion Sehnsucht?
Wer sehnt sich nicht nach Ruhe – doch was machen wir? Knallen uns jede Minute zu mit irgendwelchen »Aktivitäten«. So wird das aber nichts mit der Ruhe. Dabei kann man die so leicht haben – wenn man sich einfach einmal hinsetzt und nichts tut. Der Sonne zuschaut und den Schatten beim Wandern. Kann keiner. Weil kaum einer mehr bei sich zuhause ist. Stille erträgt keiner mehr, Zeit erst recht nicht. Genügsamkeit aber beginnt beispielsweise schon in dem Moment, in dem man begreift, dass es nicht eine einzige Anschaffung gibt, die glücklich macht. Das erzählt uns nur die Werbung. Zeit und Ruhe zu haben, kann also eigentlich unheimlich einfach sein. Was man dann mit der Zeit macht? Ich nutze sie zum Schreiben, das kostet nicht einmal etwas. Manchmal guck ich dabei stundenlang aus dem Fenster … vielfach auch völlig umsonst. Macht aber nichts, ich kann das gut ertragen.

Man ist in diesem Dorf gewandter im Umgang mit Tieren und Maschinen, als mit Menschen, selbst mit seinen Nächsten. Obwohl die Kirche einst zentrale Kraft in einem solchen Dorf war, ist Nächstenliebe keine Selbstverständlichkeit, oder wird zumindest ganz anders interpretiert. Obwohl alle nur ein einziges Leben zur Verfügung haben, tun wir alles, um es uns möglichst schwer zu machen. Ist Schreiben ein Verdauungsvorgang?
Ich würde es eher so sagen: Schreiben ist ein Findungsvorgang, ein Verstehensvorgang, ein Ein-, Mitfühl- und Durchdringungsvorgang, alles in Einem. Doch zur Frage. Klar, man mutet sich in »meinem« Dorf – aber das ist nicht selten so, wo man auf engstem Raum zusammenlebt und aufeinander angewiesen ist – einiges zu. Einem Aussenstehenden mag das wie mangelnde Nächstenliebe erscheinen, doch ist es schlicht ein Modus vivendi, das Leben ist hart. Mit seinen Nachbarn oder Nächsten muss man klarkommen, man kann ja nicht einfach weg. Das aber kann nur gelingen, indem man vieles hinnimmt, so sein lässt, wie es ist, und über vieles schlicht schweigt. Das gewährt das Funktionieren des Zusammenlebens. Irgendwie weiss jeder alles, aber offiziell weiss keiner etwas. Das macht das Leben erst lebensmöglich. Es hilft. Ich vermute ja, dass das in der Stadt kaum anders ist, als es in der Enge eines Dorfes war, nur erscheint es uns auf dem Dorf vielleicht offensichtlicher, weil die Welt scheinbar übersichtlicher ist. In der Stadt rettet uns die Anonymität.

Arbeitszimmer

Ziemlich am Anfang und fast am Ende ihres Romans taucht ein junger Mann auf. Ein Wanderer. Max lässt ihn in seine Küche, gibt ihm etwas zu essen, sie kommen zaghaft ins Gespräch. Ein Wanderer aus einer anderen Welt, einer Welt, die mit der Welt von Max nur wenig gemein hat. Eine Begegnung, die auch mit den BewohnerInnen der Neubausiedlung im Dorf zu einer Begegnung der „anderen Art“ wird. Sie wohnen auch in einem Dorf. Begegnet man ihrem neuen Roman nicht mit Argwohn oder Skepsis, weil sie so gar nichts Landleben-Verherrlichendes präsentieren?
Das Land ist keine Idylle, das wissen die auf dem Land am allerbesten. Das Landleben war nie ein Ponyhof und wer diesem verklärenden Unsinn aufsitzt, macht es sich halt lieber in seiner Illusion gemütlich als in der Realität. Jeder wie er will, nur: Süssliche Geschichten werden Sie aus meiner Feder nie lesen. Max› Begegnung mit dem jungen Mann thematisiert, wie weit sich beide Welten schon voneinander entfernt haben. Inzwischen liegt die eine im Sterben und wird in absehbarer Zukunft endgültig aus der Zeit gefallen sein, und die andere steht vor ihr mit Staunen, ja fast schon Verständnislosigkeit und findet sie vielleicht skurril. Was bleibt, sind ein paar letzte Bilder. Vielleicht atmosphärisch stark, aber sind sie auch dokumentarisch? Oder doch wieder nur verklärend? 

Tommie Goerz (1954) ist gebürtiger Erlanger. Über Jahre machte er sich als mehrfach ausgezeichneter Krimiautor einen Namen. Auch sein literarisches Debüt „Im Tal“ (2023) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Goerz war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Automatenwart und Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Almknecht, erfolgreicher Werber und mehr. Bis heute wohnt er in Erlangen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gaby Gerster

«Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?» – Szczepan Twardochs «Kälte» (15)

Lieber Gallus

Dieses Buch, mein erstes dieses Autors, hat mich tief bewegt, verunsichert, begeistert und verwirrt. Ist es ein gutes, lesenswertes Buch? Warum schreibt Twardoch oft so brutal, müssen die Szenen von Folter und Vergewaltigung so genüsslich-sinnlich dargestellt werden? Manchmal war es für mich zu viel des Schrecklichen. Insgesamt bin ich aber sehr beeindruckt und habe neben dem ungemein spannenden Abenteuer von Konrad Widuch im Packeis viel vom Kriegsgeschehen der Zeit der Russischen Revolution und des zweiten Weltkriegs mitbekommen, auch mit einem beeindruckenden Einblick in das damalige Leben der nordsibirischen Völker. Der Überlebenskampf gegen die eisige unwirtliche Natur und die Auseinandersetzung mit anderen Völkern des Polarkreises lassen keine «Wohlfühlpassagen» zu. Auch die oft grobe Sprache unterstreicht dies literarisch, lässt mich in Abgründe blicken.

Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

So beginnt das Notizbuch des Konrad Widuch, des Protagonisten, und eine einfache Antwort ist auch nach 400 Seiten nicht gegeben. Das Mitschwingen dieser Frage im Hintergrund macht die Tiefe und die Bedeutung dieses Werks aus. Scharfe Dissonanzen und wilde Rhythmen finden nur selten in Dur-Tonart ein wenig Trost, am ehesten in der Erinnerung an seine verlassene Sonja mit den Töchtern Wilena und Linel, von denen er sich aus strategischen Gründen getrennt hat. Die Erinnerung an sie geben dem Protagonisten Halt. Der ehemals fanatische Bolschewist macht eine tiefe Wandlung durch und sucht seinen Weg, was nicht ohne Mord und Totschlag, ohne Entbehrung und Verzicht geht. Oft in Eis erstarrte Einsamkeit ohne Lichtblick. Die Menschlichkeit schimmert neben dem Tierischen immer wieder durch, oft geht es aber ums pure Überleben, wo selbst Kannibalismus ins Spiel kommt.

Denn wenn Russland kommt, dann kommt hier jemand her wie der, der ich einmal war, er wird euren Dejwas stürzen und wird euch sagen, was ihr zu tun habt, und jeder von euch wird Sklave sein.

Leider ist dies aktueller denn je!
Klug verwoben ist die Geschichte mit dem Segelturn des Erzählers von Svalberg gegen Osten. Eigentlich wollte er dem eintönigen Alltag entfliehen und Einsamkeit erleben auf den Spitzbergen. Dort trifft er auf eine Frau mit Segelboot, kommt so zur Lektüre der Notizen des ebenso aus Schlesien stammenden Konrad Widuchs. Rätselhafter Zufall?

Das wunderschön gestaltete Literaturblatt No 67 hat mich wahrlich in eine abenteuerliche «Kälte» geführt, die ich trotz der manchmal kaum zu ertragenden Schrecken nicht missen möchte.

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Wie ich mich freue, dass ich Dich mit meinen Lesetipps zur Lektüre von Szczepan Twardochs Roman verführen konnte. Und wie sehr ich mich freue, dass Du meine selbst gezeichneten und von Hand geschriebenen Literaturblätter gar in Deiner feinen Bibliothek aufhängst. Was für eine Ehre.

«Kälte» ist ein grosser Schlüsselroman zur Gegenwart, eine Reise durchs kollektive Unbewusste Europas … Es ist Weltliteratur, aus familienbiografischen Ereignissen gespeist, stand in der NZZ. In diesem kollektiven Unbewusstsein schlummern und modern seit Jahrtausenden all die Menschheitskatastrophen, die einzig die Gattung Mensch verursachte. Katastrophen, die sich in den Code des Menschseins unauslöschlich eingegraben haben. 

Aufgabe der Kunst, der Literatur ist es, sich diesen Katastrophen zu stellen, sich mit ihnen direkt zu konfrontieren, seien dies die kleinen Katastrophen oder die ganz grossen. Vielleicht ist genau das eines der Unterscheidungsmerkmale von guten und schlechten Büchern. Echte Literatur konfrontiert. Alles andere deckt bloss zu, spielt mit einer glatten Oberfläche, täuscht und gaukelt vor. Nicht dass es reine Unterhaltung nicht geben soll, aber echte Literatur, gute Bücher sollen und müssen reiben, sollen und müssen etwas von der wirklichen Welt spürbar und sichtbar machen.

Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Piper, 2009, übersetzt von Hainer Kober, 1392 Seiten, CHF. ca. 31.90, ISBN 978-3-8333-0628-0

Vor einigen Jahren las ist mit tiefer Bestürzung und unsäglicher Betroffenheit den Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, den fiktiven Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, eines Unbelehrbaren, Uneinsichtigen. Ein bizarres Epos, das ein detailliertes und nur schwer ertragbares Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet. Nichts an diesem Protagonisten ruft nur einen Funken Sympathie hervor. Wer dieses Buch liest, steigt in die dunkelsten Höhlen menschlicher Abgründe. Wer sich beim Lesen nach einem Protagonisten sehnt, mit dem man sich solidarisieren, dem man wenigstens Mitgefühl entgegenbringen kann, wird gnadenlos enttäuscht. Und doch; der Roman konfrontiert mit der Wahrheit, einem Stück Mensch, dem wir uns ganz offensichtlich nur schwer stellen können.

«Kälte» konfrontiert. „Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Vielleicht ist das der grosse Wandel in der Kunst. Es genügt nicht mehr, Schönes zu schaffen, weder in der Bildenden Kunst noch in der Musik. Es muss reiben. Szczepan Twardoch tut es in allen seinen Romanen. Und deshalb zählt er mit Recht zu den ganz Grossen der Weltliteratur.

Liebe Grüsse

Gallus

Rezension von «Kälte» auf literaturblatt.ch

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preisausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper

Mit ihrer Trilogie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“ hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil „Liebesleben“ wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Zeruya Shalevs Erstling, der bereits 1993 unter dem Titel „Dancing, Standing Still“ in Israel erschien und damals im Vergleich zu „Liebesleben“ niemals jene Resonanz erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk. 

Als Zeruya Shalev diesen Roman in Israel schrieb, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort der Autorin erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch. Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse die Autorin „verwundet und verängstigt zurück“, so sehr dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Zwei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer ganzen Reihe Bestseller im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Zeit ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass „Nicht ich“ derart Wellen verursacht, eben darum, weil der Umstand seines Erscheinens viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags. Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke „Zeruya Shalev“. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. „Nicht ich“ ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich verloren, ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel „Nicht ich“ macht sie unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist, eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird. 

„Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor mehr als 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und verletzte sich dabei sehr. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine „zerstörte Frau“, der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben „falsch“ angegangen zu sein. „Nicht ich“ ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus Bildern, die zwischen Wahn und Realität flirren. Eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. Zu viele unterirdiche Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind. Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt. Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Und trotzdem ist „Nicht ich“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt jemand, der die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. „Nicht ich“ ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und übersetzt u.a. Aharon Appelfeld, Chaim Be`er, Daniella Carmi, David Grossman, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.

Beitragsbild © Jonathan Bloom

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper

Mit der Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später» brannte sich Angelika Klüssendorf in meine literarischen Erinnerungen. Nicht weil ihre Romane einem Zeitgeist, dem autofiktionalen Schreiben entsprechen, sondern weil die Autorin mit der Rückkehr zu ihrem grossen Thema eine Art des Schreibens kultiviert, die trotz aller Verwundung und Entblössung die Hoffnung nie zerstört.

Wie ist es möglich, dass Menschen, die durch die Hölle gehen, trotz allem aufrecht, offen und emphatisch durchs Leben schreiten können? Wie schaffen es Menschen, die angesichts grassierender Gewalt ein Leben aushalten müssen, das Feuer brennen zu lassen, nicht aufzugeben, zu resignieren?

Angelika Klüssendorf, die mit ihrem neuen Roman «Risse» an ihre Trilogie anknüpft, kehrt zu ihrem grossen Thema zurück. Aber nicht, um an alte schriftstellerische Erfolge anzuknüpfen, sondern weil die Autorin mit «Risse» in eine neue Dimension ihrer Auseinandersetzung tritt. Angelika Klüssendorf schildert in drastischen Bildern eine verlorene Kindheit, Menschen, die der Zerstörung trotzen. Aber sie versucht auch zu ordnen. Sie reflektiert, stellt sich über ein Geschehen, das ganz offensichtlich ein halbes Leben lang Schmerz verursachte. Sie schildert die Kindheit einer Frau, die sich in sich selbst zurückzieht, mit aller Kraft sich selbst nicht verlieren will und damit auch die letzte Hoffnung, dass es aus der Hölle auch einen Ausweg geben muss.

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-492-05991-6

Wenn das «durch die Hölle gehen» eine Kindheit ist, dann schmerzt die Lektüre ganz besonders. Und Angelika Klüssendorf macht keinen Hehl daraus, dass es ihre eigene Kindheit ist. Eine in der Einsamkeit des Eingeschlossenseins, ob physisch oder psychisch. In den Ruinen einer «Familie», in der Mutter und Vater mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind, Liebe und Zuwendung fremd ist, Beziehungen in erster Linie Gefahr bedeuten, jede Regung ein Risiko birgt.
Als kleines Kind bei der geliebten Grossmutter aufgewachsen, einer Frau, mit der sie sogar das Bett teilte, unmittelbare Nähe, kam das Mädchen mit ihrer kleinen Schwester zu ihrer Mutter und einem gewalttätigen Vater. Was die beiden bei der Grossmutter an Geborgenheit und Verbundenheit erlebten, ist bei der getriebenen Mutter verschüttet und irgendwann ganz verloren. Angelika Klüssendorf erzählt, wie jenes Mädchen schon damals im Lesen, in Geschichten, in Büchern jene Welt suchte, die ihr in ihrer direkten Umgebung verwehrt blieb. Während die Mutter immer wieder mal für mehrere Tage von der Bildfläche verschwindet und die Kinder sich selbst überlässt, ist das Mädchen zum reinen Überleben gezwungen. Das Mädchen zieht sich mehr und mehr in ihren eigenen Kosmos zurück, kapselt sich auch emotional ab, «autonomisiert» sich. Auch zu ihrem Vater, zu dem sie abgeschoben wird, der als Aushilfskellner jobbt, verbindet sie bloss das Gefühl der Angst, die permanente Furcht eines Übergriffs.

«Risse» zu lesen, ist nicht einfach. Angelika Klüssendorf schmeisst einem aber nicht einfach das Schicksal einer ungeheuerlichen Kindheit vor die Füsse. Sie kommentiert ihren Weg damals aus dem Heute, setzt dem Ungeheuerlichen einen Kommentar aus der Gegenwart entgegen. Nicht dass sie sich mit dem Erlebten versöhnt hätte, schon gar nicht mit Mutter oder Vater (Schon allein diese Begriffe, Mutter und Vater, scheinen so gar nicht zu passen!), aber die Autorin gewinnt jene Distanz, die auch mir als Leser hilft. Keine Distanz, die die Kindheit damals unter Folie verpacken will, aber eine Distanz, die im eigenen Leben zu reflektieren hilft.

«Risse» ist ein ungemein starkes Buch. Geschrieben von einer Frau, die aus Verletzungen Stärke entwickelte, auch eine starke Sprache mit ungemein starken Bildern.

2 Fragen an Angelika Klüssendorf:

Ich arbeite seit Jahrzehnten als Pädagoge. Schicksale wie das von Ihnen beschriebene finden noch immer in den verschiedensten Varianten statt. Kinder, die sich selbst überlassen sind. Kinder, die nichts von dem geschenkt bekommen, was so gerne als „Familie“ idealisiert wird. Das schmerzt deshalb so sehr, weil nicht alle Kinder die Geister einer solchen Vergangenheit „besiegen“. Oder lassen sich diese Geister allerhöchstens bannen? Wie viele Menschen stecken in einem Mühlenrad fest, aus dem sie nicht aussteigen können.
Ich weiss nicht, wie viele Menschen feststecken, wie Sie selbst sagen, die Schicksale gibt es in den verschiedensten Varianten. Ich glaube, die infamsten Übergriffe, finden im Namen der Liebe statt. Denn Brutalitäten sind erkennbar, Menschen können sich ihnen stellen, wenn auch nicht als Kind. Der erste Schritt einer Befreiung wäre vielleicht, das Erkennen, das Erkennen der Muster in denen wir gefangen sind. Das sich bewusst werden, wer wir sind, die Defekte erkennen und nicht in den vertrauten Tunnel rasen, eben weil der so schön vertraut ist. Vielleicht auch das, was kaputt ist (ich sage extra kaputt, weil es an ein Spielzeug in der Kindheit erinnert und da werden ja die prägenden Grausamkeiten gesetzt, für das spätere Leben) zu akzeptieren, manches kann nicht geheilt werden, aber wir können lernen damit zu leben.

Sie schreiben auch von der Scham der Armut. Eine Scham, der die Kinder sehr oft äusserst unbarmherzig ausgesetzt sind, weil selbst Kinder untereinander alles andere als zurückhaltend sind. Zur Scham gesellt sich noch die Angst, nie davon befreit zu werden. Ein Angst, mit der sich auch viele Künstler auseinandersetzen müssen, weil es nicht reichte, sich um eine satte Altersvorsorge zu bemühen. Wird man als Verfasserin solcher Romane zu einer Klagemauer? Oder gar zu einer Anwältin?
Weder Anwalt noch Klagemauer. Allerdings ist die Armut eine Sache für sich. Wer in wirklicher Armut aufgewachsen ist, hat ein innerliches Stigma, äusserlich vielleicht nicht zu erkennen, weil es gut verborgen ist. Doch die Angst wieder arm zu sein, hat mich nie verlassen. Ich hatte lange Zeit die Vorstellung, obdachlos zu werden und meinen Gefährten die Goldfüllung in meinem Mund zu zeigen, als Beweis dafür, dass es mir einmal besser ging.

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres Romans „Vierunddreißigster September“ stand auf der Longlist des Prix Femina 2022. Ihr Roman „Risse“ wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert.

Beitragsbild © Sarah Wolff.

„Für jede Mutter ist Krieg die Hölle“ Zeruya Shalev in St. Gallen

Der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev fehlen die Worte, wenn es um den Angriff der Hamas geht. Trotzdem setzt sich die dreifache Mutter, die selbst einmal Opfer eines Anschlags war, für Versöhnung ein.

Gastbeitrag von Manuela Tschida-Swoboda

Ihr Debütroman «Nicht ich» erschien schon vor 30 Jahren auf Hebräisch, aber erst jetzt auf Deutsch. Beim Lesen hat man das Gefühl, in einen seltsamen Traum geraten zu sein.
ZERUYA SHALEV: Ja, das Buch unterscheidet sich in vielem von meinen späteren. Manchmal ist es realistisch, manchmal nicht, manchmal ist es ein Traum, dann wieder ein Albtraum. Das Buch ist bruchstückhaft, aber die seelischen Inhalte sind dicht gepresst.

Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die Mann und Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem dann aber nichts wird. Das Thema des Verlusts zieht sich von Beginn an durch Ihr Werk. Wieso eigentlich?
Hm. Ich denke, weil es eines der wesentlichsten Themen im Leben ist. In meinem Roman trägt die Frau besonders schwer an der Last des Verlusts, weil es vermutlich auch noch ihre Schuld war. Auf der anderen Seite gibt sie ihrem großen Traum nach, findet sich letztlich aber in einer unglaublichen Leere wieder. Sie hat alles verloren und muss fortan mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben, und das bringt sie fast um.

Ihr Roman ist wie eine Traumnovelle, die von Sigmund Freud interpretiert werden will, oder?
Ja, vielleicht. In gewisser Weise ist das Buch auch ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom. Als ich den Roman nach 30 Jahren noch einmal gelesen habe, mochte ich die Zerbrechlichkeit meiner Hauptfigur sehr, und auch ihren Galgenhumor.

Der Holocaust und der Konflikt mit den Palästinensern durch- dringen diesen Roman, ohne dass beides explizit erwähnt wird. Ge- schah das bewusst oder unbewusst?
Alles in diesem Roman ist hauptsächlich unbewusst passiert. Ich schrieb das Buch als junge Mutter. Meine Tochter war drei, vier Jahre alt. Und ich erinnere ich mich noch gut daran, wie ängstlich ich als Mutter plötzlich wurde. In Israel gab es immer schon Krieg, Terror und schreckliche Erinnerungen, aber für eine Mutter ist das alles ein Albtraum.

Als Sie das erste Mal Mutter wurden, brach die erste Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Wie war das?
Ich sehe noch die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf meinem Bett im Krankenhaus lagen, während ich meine Tochter stillte. Der Terror rundum wurde von da an immer stärker. Als meine Tochter drei wurde, kam es zum Golfkrieg. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, eine Gasmaske auf ihren kleinen Kopf zu bekommen.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8270-1476-4

Es gibt eine starke politische Komponente in Ihrem Buch. Die Tochter wird entführt, sie wird von Soldaten vom Spielplatz weggeholt. Sie schreiben von unterirdischen Gängen unter dem Kindergarten, in denen Kinder verschwinden – unheimlich aktuell. Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Es schockiert mich, dass etwas, das ich eigentlich nur metaphorisch verwendet habe, plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Im Buch spielt sich alles in der Fantasie der Mutter ab, aber jetzt, nach der schrecklichen Attacke der Hamas, ist plötzlich alles real. Was soll ich sagen? Es ist alles so traurig.

Sie haben drei Kinder: Wo sind die jetzt?
Sie sind nicht in der Armee. Mein jüngster Sohn, er ist erst 17, muss erst im nächsten Jahr dahin. Und der ältere war in keiner Kampfeinheit, er war Lehrer in der Armee. Für jede Mutter ist Krieg die Hölle.

Wollten Sie nie weg von Israel, wo Trauer und Schmerz so treue Gefährten sind?
Nein. Das Leben hier ist wirklich schwierig, aber ich spüre ganz stark: Das ist mein Land, das ist mein Platz. Wir erinnern uns alle daran, was mit jüdischen Menschen passiert, wenn sie kein Land haben. Das war ja auch der Grund, warum Israel gegründet wurde. Unglücklicherweise sind wir aber auch hier nicht sicher. Aber ich kann nicht aufgeben, auch die anderen können das nicht. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Land. Und ich hoffe, dass es für Israelis einmal besser wird, und auch für die Palästinenser.

Der ehemalige israelische Premier Yitzhak Rabin war davon überzeugt, dass sich Israels Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen lasse, sondern nur managen. Wie sehen Sie das?
Aber ich denke, man muss versuchen, diesen Konflikt zu lösen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das je gelingt. Wir müssen versuchen, eine Vereinbarung zu finden, denn auf Dauer kann dieser Konflikt nicht gemanagt werden, ohne eine klare Vereinbarung. Wir haben letztlich keine andere Wahl.

Sie selbst wurden 2004 bei einem Attentat eines Palästinensers schwer verletzt, setzen sich aber trotzdem immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Wie geht es Ihnen jetzt?
Ich sehe nicht hinter jedem Araber einen Terroristen. Natürlich bin ich tief schockiert von der sadistischen, barbarischen Attacke der Hamas. Mir fehlen die Worte für dieses Grauen. Ich bin tief schockiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hamas und der arabischen Zivilbevölkerung. Es gibt so viele Menschen, auch viele Frauen, die sich dafür starkmachen, dass der jüdisch-arabische Dialog nicht abbricht. Letztlich habe ich die Hoffnung, dass es nach diesen furchtbaren Schrecken doch auch die Chance auf Frieden gibt.

Kann aus soviel Schrecklichem je etwas Gutes entstehen?
Ich bin keine große Historikerin, aber überall in der Welt kam nach dem Krieg auch wieder der Friede. Meine Hoffnung gilt auch den nächsten Wahlen und einer neuen Regierung in Israel. Denn die ist notwendig, wenn der Staat wieder gesund werden soll. In Israel folgt auf den Krieg nicht immer gleich Friede, aber die Kriege haben immer zu Wahlen geführt. Ich hoffe, dass dieser fürchterliche Krieg dazu führt, dass sich alle in der Region gegen die extremen Fundamentalisten vereinen, auch die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas, die die Menschen dort als Schutzschilde missbraucht. Und ich hoffe, dass wir Netanyahu und seine Regierung loswerden.

Ein Leitmotiv in Ihren Büchern ist stets die Melancholie, a kind of blue: Ist der Sound von Shalev letztlich der Sound von Israel?
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn ich das jetzt so höre, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor.

Wie ist Ihr Leben in Haifa seit dem Angriff der Hamas?
Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich schreibe nichts, außer kleine Artikel. Die Zeit von damals bis heute fühlt sich an wie ein einziger langer Tag. Es scheint, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte. Und diese Geschichte ist lang und tragisch.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

erschienen in «Kleine Zeitung», Sonntagsbeilage, 14. Januar 2024
© Kleine Zeitung

Beitragsfotos © Jonathan Bloom

Thommie Bayer und «Sieben Tage Sommer» im Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.

Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.

Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler

30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.

Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.

Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!

«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper

Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!

Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.

Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7

Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.

Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.

„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Webseite des Autors

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Im Koffer ein Weltuntergang» Zum 80. Todestag von Irène Némirovsky

Irène Némirovsky geboren 11. Februar 1903,
gestorben am 17. August 1942

Morgens nach dem Frühstück geht sie los. Die Töchter sind in der Schule, der Mann bleibt zu Hause im Dorf. Manchmal wandert sie zehn Kilometer, bis sie einen Platz findet, der sich zum Arbeiten eignet. Setzt sich auf ihren blauen Pullover, schaut in das stille Tal im Burgund. Liest und schreibt bis zum Abend. Das Tschechow-Buch wurde auf diese Weise fertig, auch der Roman «Feuer im Herbst», der zwischen 1914 und 1939 spielt. Nun nähert sie sich der Gegenwart: Anfang der Vierzigerjahre; Frankreich ist zur Hälfte besetzt, zur Gänze geschlagen. Niemand weiß, wie es weitergehen wird, aber die meisten richten sich ein: Wenn wir uns mit den Deutschen arrangieren – die sich, grosso modo, doch ganz anständig benehmen –, dann fahren wir weltpolitisch besser, als wenn wir den Aufstand markieren. Der Franzose dieser Kaste, notiert sie im Jahr 1942, empfindet gegen niemanden Hass; er ist weder von Neid noch von enttäuschtem Ehrgeiz noch von wirklichem Rachedurst erfüllt. Er hat Schiss. Wer wird ihm am wenigsten weh tun (nicht in Zukunft, nicht abstrakt, sondern sofort und in Form von Tritten in den Arsch und Ohrfeigen)?

Sie bereitet auch dieses neue Buch vor, indem sie sich Notizen macht – zur politischen Situation, zu ihren Figuren. Der Roman ist auf fünf Teile angelegt, ihr bisher ehrgeizigstes Projekt. Ein Blick auf die Gesellschaft, wie ein Ameisenforscher ihn hat, der die Sprache der Tiere versteht. Schau, wie sie laufen, man hat ihren Bau zerstört! Was nehmen sie mit? Wer rettet wen? Wer bricht sich auf der Flucht ein Bein? Wer stirbt, und wie bestatten sie ihn?

Sie, die selbst eine Ameise ist, beschreibt mit kühlem Verständnis, was in den Leuten vor sich geht, wenn es ernst wird. Jahrelang hieß es, jenseits der Linken, es gibt keinen Krieg. Sie werden das doch nicht wagen … die Verhandlungen waren erfolgreich … jetzt, mit der Tschechoslowakei, ist Schluss … es fehlt ihnen an Munition … es fehlt ihnen an Geld … wir haben ihnen doch nichts getan … Doch am 10. Juni 1940, als die deutschen Panzer sich der französischen Hauptstadt nähern, wollen sich unzählige Pariser in Sicherheit bringen, plötzlich verhakt in hektische Fragen: Schmuck mitnehmen oder verstecken? Wohin mit den Papieren? Nehmen wir das Auto? Gibt es noch Benzin? Und dann, wenn alles fertig ist, der Wagen bepackt bis unter das Dach, auf dem sie die Matratzen festgeklemmt haben, muss der gelähmte Opa noch einmal pinkeln …

So war es, so hat sie es beobachtet, denn sie war selbst dabei. Sie floh mit den Töchtern in die Provinz; da lebt sie jetzt. Sie ist eine Ameise wie alle anderen, und doch nicht: Sie ist behördlicherseits keine Französin. Und sie, ihre Töchter und ihr Mann Michel Epstein, tragen den gelben Stern.

Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert. Und was bedeuten mir die anderen? Die Reiche vergehen. Nichts ist wichtig. Ob man es nun aus mystischer oder persönlicher Sicht betrachtet, es ist alles eins. Bewahren wir einen kühlen Kopf. Verhärten wir unser Herz. Warten wir.

Sie wartet, und sie arbeitet. Sie ist zu dieser Zeit bekannt, beinahe berühmt. Der Name Irène Némirovsky, so meint ihr treuer Verleger Albin Michel in Paris, sollte genügen, ihr alle Türen zu öffnen. Sie schreibt in der Provinz, im Departement Saone-et-Loire, für Zeitungen, um ein wenig Geld zu verdienen. Als das unter ihrem Namen nicht mehr möglich ist, wählt sie männliche Pseudonyme. Sie lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in der besetzten Zone; anfangs in einem Hotel, in dem französische Flüchtlinge mit Offizieren und Soldaten der Wehrmacht wohnen, später in einem gemieteten Haus, in dem sich wiederum deutsche Soldaten einquartieren. Das Zeugnis, das sie hinterlassen, eineinhalb Jahre vor der Wannsee-Konferenz:

O. U. den I. VII. 41

Kameraden. Wir haben längere Zeit mit der Familie Epstein zusammengelebt und sie als eine sehr anständige und zuvorkommende Familie kennengelernt. Wir bitten Euch daher, sie dementsprechend zu behandeln. Heil Hitler!
Hammberger, Feldw. 23599 A.

Das Zeugnis wird nicht helfen. Am 13. Juli 1942 holen französische Gendarmen Irène Némirovsky ab, drei Tage später wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie einige Wochen später stirbt. Ihr letzter Brief an ihren Lektor ist vom 11. Juli datiert: Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein postumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit.

Den Quellen nach hat sie nichts unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen. Kein Fluchtversuch in die Schweiz; keine Anstalten, an gefälschte Papiere zu gelangen. Nur Gesten der Sorge für ihre Töchter: ein detailliertes Testament, genaue Instruktionen für die Pflegemutter, die – nachdem auch der Vater nach Auschwitz deportiert worden ist – mit beiden Kindern untertaucht.

Das Manuskript, an dem sie gearbeitet hat, war im Fluchtgepäck mit dabei. Gut 60 Jahre später entziffert die Tochter Denise die winzige Schrift, die sie für Tagebuchnotizen hielt. Sie liest die ersten beiden Teile des Romans, der auf fünf Teile angelegt war; sie heißen: »Sturm im Juni« und »Dolce«. Stilistisch kühl, voller mokanter Heiterkeit beschreiben sie die Flucht der Pariser vor den Deutschen in die Provinz und die Zeit der Besatzung bis zu dem Zeitpunkt, als die meisten deutschen Soldaten nach Russland abkommandiert werden. Es ist ein Werk, das an Präzision und Schönheit seinesgleichen sucht; ein überragendes Romanfragment, das im kollektiven Gedächtnis eine bedeutende Lücke füllt. Das dichte Gewebe aus Angst und Kalkül, aus Anpassung und Widerstand im besetzten Frankreich wird genau beschrieben. Dem Buch fehlt nur: eine wie sie. Das Schicksal der Juden in Frankreich kommt in «Suite française» nicht vor.

Ursprünglich war die jüdische Gesellschaft ihr Thema. Ihr erster Roman aus dem Jahr 1929, «David Golder», behandelt den Zusammenbruch eines russischstämmigen Bankiers in Paris. Von alldem verstand sie viel: Ihr Vater, ein Privatbankier, floh mit seiner Frau und dem einzigen Kind im Verlauf der Russischen Revolution über Skandinavien in die französische Hauptstadt. Es gelang ihm, dort erneut zu Vermögen zu kommen. Irène Némirovsky führte ein luxuriöses, äußerlich behütetes Leben, schloss ihr Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne mit Auszeichnung ab und begann mit 18 Jahren, Prosa zu schreiben.

Sie galt als anmutig und charmant, glamourös, gebildet und immens begabt. Ihre Mutter, die von monströser narzisstischer Kälte gewesen sein muss (sie starb hochbetagt und reich im französischen Süden; ihre verwaisten Enkelkinder verwies sie an die öffentliche Fürsorge), machte sie mit der genialen Novelle «Der Ball», erschienen 1930, den literarischen Prozess. Snobismus und Vulgarität, Empfindungslosigkeit und Ehrgeiz französischer Juden sind wiederkehrende Motive in ihrem Werk, mit dem sie sofort erfolgreich war – und zur Kronzeugin der Antisemiten wurde. Jüdische Kritiker machten ihr den Vorwurf, dass sie mit einer Figur wie «David Golder» Vorurteile schüre; sie verteidigte sich damit, dass sie bei ihrer Beobachtung geblieben sei: Mein Vater war Bankier, Geldkonflikte waren die ersten Dramen, denen ich beiwohnte. Im Rückblick erscheint politisch naiv, wie wahllos sie Zeitschriften mit ihren Novellen und Kurzgeschichten bedachte – harmlose Frauenmagazine, aber auch reaktionäre und judenfeindliche Publikationen.

Die in rascher Folge publizierten Romane sind konventionell erzählt, an Maupassant und Flaubert geschult und von unterschiedlicher Qualität: Dichte Beschreibung, psychologische Intelligenz, Eleganz im Ton und sichere Konstruktion kämpfen, nicht immer erfolgreich, mit ihrem Hang zur spektakulären Fabel und zum Klischee. Sie heiratete mit 23 Jahren und führte ein produktives Leben, und über lange Zeit deutete für sie offenbar nichts darauf hin, dass sich das Drama von Flucht und Vertreibung ihrer Kindheit wiederholen sollte. 1939 ließ sie, noch immer staatenlos, sich und die Töchter katholisch taufen; ihre Bemühungen um die französische Staatsbürgerschaft allerdings scheiterten. Im Jahr darauf adressierte sie einen Brief an Marschall Pétain, Staatschef des Vichy-Regimes: Zwar sei sie Russin jüdischer Abstammung, aber immer eine Gegnerin des Sozialismus gewesen. Man möge sie und ihre Familie nicht der Kategorie der unerwünschten, sondern der ehrenhaften Ausländer zuordnen.

Ihre künstlerische Aufmerksamkeit aber galt zuletzt nicht ihr selbst und dem Schicksal der Juden, sondern jener bourgeoisen Gesellschaft, die sie aussonderte. Über den gegenwärtigen Krieg«, heißt es in der «Suite française», die 2004 in Frankreich erschien, wurde wenig gesprochen. Die Katastrophe war den Leuten noch nicht ins Bewusstsein gedrungen, sie würde erst Monate, vielleicht Jahre später ihre lebendige, schreckliche Form annehmen, vielleicht wenn die verschmutzten Kinder, die Jean-Marie über dem kleinen Holzzaun vor ihrer Tür auftauchen sah, erwachsen wären.

Es sollte noch länger dauern.

Elke Schmitter

«100 Autorinnen in Porträts»
Von Atwood bis Sappho,
von Adichie bis Zeh
Eine Auswahl der 100 bedeutendsten schreibenden Frauen aus zwei Jahrtausenden und der ganzen Welt, vorgelegt von den renommierten Kritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Julia Encke. Von Sappho bis Atwood, von Adichie bis Zeh porträtieren sie Schriftstellerinnen und ihren Weg zum Schreiben, betten ihr Werk in Lebens- und Zeitumstände ein und positionieren sie innerhalb literarischer Traditionen.
Mit Beiträgen von Verena Austermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter

© Stefan Fertig / Piper Verlag

Elke Schmitter wurde 1961 in Krefeld geboren. Sie studierte in München Philosophie und war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin der taz. Seitdem schreibt sie als freie Autorin, unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. 1981 veröffentlichte sie den Lyrikband «Windschatten im Konjunktiv», 1998 einen Essayband über Heinrich Heine, «Und grüß› mich nicht unter den Linden» und den Roman «Frau Sartoris» (2000), der bislang in 17 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten der Roman «Leichte Verfehlungen», und der Lyrikband «Kein Spaniel». 2021 erschien bei C. H. Beck ihr Roman «Inneres Wetter».