Sommerfest im Literaturhaus Thurgau

«Der Wod» mit Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger und «Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

Frédéric Zwicker, Karl Rühmann, Urs Faes, Peter Stamm, Usama Al Shahmani, Michael Hugentobler, Annette Hug, Stefan Keller, Jochen Kelter, Dragica Rajčić Holzner, Annina Haab, Zsuzsanna Gahse, Ivna Zic, Lubna Abou Kheir, Michael Fehr, Thomas Kunst, Christoph Luchsinger, Christine Zureich, Christian Uetz, Charles Linsmayer, Silvia Tschui, Klaus Merz, Isabella Krainer, Lea Frei, Marianne Künzle, Sasha Filipenko, Nora Bossong, Peter Weibel, Rudolf Bussmann, Simone Lappert, Andreas Bissig

Das waren die Gäste in der vergangenen Spielzeit: Prosa, Lyrik, Musik, Installation, Illustration

Die Quellen, aus denen ein Literaturhaus schöpfen kann, sind unermesslich. Das, was kommen wird, wird nicht nur die Besucherinnen und Besucher der einzelnen Veranstaltungen begeistern, sondern auch all jene, die etwas von ihrer Kunst in diesem Haus zum besten geben werden.

Silvia Tschui mit ihrem Roman «Der Wod»

Urs Faes schrieb zum 20. Jubiläumsjahr unseres Literaturhauses:
„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben ist immer beides.

Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden und Hörenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.»

Zusammen mit Urs Faes machte ich manchen Spaziergang. Schreiben und Lesen in diesem Haus ist ein Geschenk. Nicht nur für Urs Faes. Mit allen Gästen, die hier wirken mit denen ich ins Gespräch kam, schwärmen diese von den Besonderheiten, der Magie dieses Ortes. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schriftstellerin Mercedes Lauenstein, die sich zum Schreiben für ein paar Wochen in diesem Haus einquartierte. Sie erzählte davon, wie sehr dieses Haus zu einem Resonanzraum werden kann, Empfindungen verstärkt, dem Stillen eine Stimme geben kann.
Vielleicht wirkt ja noch etwas von dem Geist, den Emanuel von Bodman vor mehr als 100 Jahren erwirken wollte, gingen doch damals schon Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse in diesem Haus ein und aus. Es sollte ein Ort der Begegnung sein, ein Ort der Muse, ein Ort des gegenseitigen Beschenkens.

Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger

Das Literaturhaus Thurgau ist ein Leuchtturm in der Literaturlandschaft Schweiz. Ein unverzichtbarer, ein weit in die Ferne leuchtender.

Auch wenn mich im Gespräch mit durchaus Leseinteressierten immer wieder die Überraschung trifft, dass viele von der Existenz dieses Hauses gar nicht wissen, bin ich überzeugt, dass wir in diesem Kanton mit diesem Haus allen Grund hätten, uns mit geschwellter Brust in der Kulturlandschaft Schweiz zu positionieren. Nicht nur weil die Bodman-Stiftung und der kleine Kanton Thurgau seit 22 Jahren ein eigenes Literaturhaus tragen, sondern weil die Liste derer, die in diesem Haus lasen, für mich als Literaturliebhaber und -geniesser mehr als beeindruckend ist. Weil ich jedes Mal, wenn ich im Haus oder ums Haus bin, wenn ich Menschen durch die Räume führe, wenn sich alles aufs Wort fokussiert, spüre, dass dieser Ort, dieses Haus ein Kraftort ist.

Klar wünschte ich diesem Haus mit jeder Veranstaltung ein volles Haus, ein Publikum, das sich auf Abenteuer einlässt. Klar weiss ich, dass mit den Geschehnissen in den vergangen zwei Jahren viele, vor allem ältere Stammgäste dieses Hauses, aus lauter Vorsicht den Weg nach Gottlieben nicht mehr so oft oder gar nicht mehr auf sich nehmen. Umso mehr danke ich ihnen, die sie hier sind und mit uns dieses kleine Sommerfest feiern. Dass sie hier sind und dem Haus mit jedem Besuch die Ehre erweisen, auf dass es seinen Platz in der Kulturlandschaft rechtfertigen kann, auch wenn Medien kaum Notiz von dieser Quelle nehmen.

«Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

An diesem Sommerfest bieten wir ihnen ein ganz besonderes Geschenk, nicht nur Speis und Trank, sondern Literatur in vielfacher Form und Musik. Um 20 Uhr mit Lesung und Konzert mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger, die ihnen bereits eine Kostprobe gaben und bis 20 Uhr mit dem Textkiosk, mit und von Laura Vogt und Karsten Redmann. Laura Vogt, die mit ihrem letzten Roman „Was uns betrifft“ schon einmal Gast hier war und Karsten Redmann, der mit dem Erzählband „An einem dieser Tage“ Vorfreude auf seinen Roman schürt, schreiben für sie im «Textkiosk“ Texte. Besuchen sie den Tisch mit den beiden SchriftstellerInnen. Erstehen Sie sich kostenlos ein Unikat, ein literarisches Kleinod, ein ganz besondere Erinnerung an den denkwürdigen Sommer 2022. Seien Sie mutig! Zwei, drei Wörter an die beiden und ihr Schreibmaschinengeklapper geht los. Und natürlich dürfen Sie den beiden über die Schulter gucken. Wenn hat man schon die Gelegenheit, SchriftstellerInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen!

Zum Schluss, liebe Gäste, möchte auch ich danken. Zum einen der Bodman-Stiftung, seinen Stiftungsräten, bei der Kulturstiftung Thurgau, dem Kulturamt Thurgau, bei Sandra Merten, der Buchbinderin im Erdgeschoss für die Betreuung der Webseite und die Freundlichkeiten allen Gästen des Hauses gegenüber. Ganz besonders aber Brigitte Conrad, die für dieses Haus viel mehr als eine Sekretärin ist. Brigitte Conrad ist das Rückgrat dieses Hauses. Ich verneige mich.

Und dann ganz zum Schluss: Das neue Programm ist in Druck. Wenn Sie es erhalten, tragen Sie es hinaus zu all jenen, die nicht einmal wissen, dass in Gottlieben der Nabel der Muse zu finden ist. Und vergessen sie nicht: Das aktuelle Programm bietet im September drei ultimative Highlights!

Geniessen Sie die Perlen!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter Literaturhaus Thurgau

Samstag, 20. August, Sommerfest im Literaturhaus Thurgau: «Der Wod» mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger & «Textkiosk» mit Laura Vogt und Karsten Redmann

Jeden Sommer feiert das Literaturhaus mit einem Sommerfest die Literatur, die Bodman-Stiftung, all die Zugewandten und FreudInnen – und sich selbst. Auch Sie sind eingeladen zu Speis, Trank und einem ordentlichen «Gutsch» Kultur mit:

Silvia Tschui – «Der Wod» mit Philipp Schaufelberger – Text, Sound und Gesang

In «Der Wod» (Rowohlt 2021) erzählt Silvia Tschui die Geschichte einer schweizerisch-deutschen Unternehmerfamilie, die von einem lange zurückliegenden Sündenfall bis in die Gegenwart verfolgt wird. Tschui, die 2019 für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert war, berichtet von Geheimdienst-Agenten und Nazi-Widerständlern, von Berner Künstlerkreisen und Hell’s Angels – und nicht zuletzt vom Wod, dem Jäger einer norddeutschen Sage, der den Figuren dieser Familiensaga immer wieder als Personifikation der Angst erscheint. Das reichhaltige Personal ihres vielstimmigen neuen Romans präsentiert die Autorin in einer etwas anderen Form, nämlich mit Lesung, Gesang und Zufallsgenerator, begleitet von Philipp Schaufelberger an der Gitarre.


„Textkiosk“ mit den SchriftstellerInnen Laura Vogt und Karsten Redmann

Laura Vogt und Karsten Redmann schreiben Texte auf Bestellung. Ob kurze Briefe, Gedichte, kleine Geschichten – stets hantieren sie mit kunstvoll gedrechselten Satzgirlanden; allzeit das verbale Risiko suchend. Andere jonglieren mit bunten Bällen, wir werfen Worte in die Luft und wirbeln sie wild herum. Bei „Textkiosk“ heisst es: Jeder Text ein Unikat. Und alle Texte zusammen ergeben eine wunderbare Erinnerung an Ihr Fest. Mal surreal, mal witzig, mal tiefgehend, mal Dada; alles ist möglich. Neue literarische Welten zu erschaffen ist ihrer täglich Brot.

Der Anlass ist kostenfrei!

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«20/21 Synchron» Silvia Tschui, Klaus Merz und Texte von Helen Meier und Raphael Urweider

Charles Linsmayer veröffentlichte mit seinem gewichtigen Lesebuch «20/21 Synchron» nicht nur einen persönlichen Überblick über die Schweizer Literatur der letzten hundert Jahre, sondern mit jeder von ihm verfassten Kurzbiographie eine Liebeserklärung an die Literatur der jeweiligen Dichterinnen und Dichter!

Im Gespräch zwischen Moderator Peter Surber und Charles Linsmayer konnte sich der Fragende die Bemerkung nicht verkneifen, warum denn so gewichtigen Stimmen aus der Gegend wie jene von Zsuszanna Gahse, Michelle Minelli oder Christian Uetz der Eingang zu diesem Buch verwehrt blieb. Charles Linsmayers sympathischer Erklärungsversuch bewies wie all sein Tun seinen Respekt vor der grossen Vielfalt der hiesigen Literaturszene. Hätte er all jene in den Band mitgenommen, die es verdient hätten, wäre aus dem Band ein Koloss geworden. Seine Auswahl war eine subjektive Wertung, aber niemals ein Ausschliessen. So wichtig es ihm war, Stimmen aus dem Vergessen zu tragen, so wichtig war ihm die Viersprachigkeit, selbst sie Ausgewogenheit der Geschlechter («Das muss heute ja so sein.»).

«Es gab schon Veranstaltungen zu meinem Buch «20/21 Synchron» in Bern, Basel, Zürich und St. Gallen. Aber so geglückt wie der Abend im heimeligen Dachgeschoss des Literaturhauses Thurgau war keine von ihnen. Es stimmte einfach alles: die mit Emphase vorgetragenen Beiträge von Silvia Tschui und Klaus Merz, die zu ihren eigenen Texten noch je einen von Raphael Urweider und Helen Meier gestellt und gelesen haben. Die musikalische Begleitung durch den Gitarristen Philipp Schaufelberger und die Lieder, die Silvia Tschui aus ihrem Text herauszauberte und zur Freude des Publikums gekonnt und mit Verve vortrug, und nicht zuletzt das Gespräch, das Peter Surber als Moderator mit mir führte und das mir Gelegenheit gab, meiner eigenen Freude über das geglückte Buch und die Aufnahme durch die beteiligten Autorinnen und Autoren Ausdruck zu geben.  Auch das Publikum, das den Saal bis zum letzten Platz füllte, schien in die schöne Bewegung, die das Buch unter den Anwesenden auslöste, mit einbezogen zu sein, und am schönsten für mich war wohl Gallus Freis Erklärung in seiner Begrüssung, dass man das Gefühl, das mich mit der Schweizer Literatur verbinde, Liebe nennen müsse. Der Abend vom 10.März 2022 in Gottlieben wird mir jedenfalls für immer in schöner und dankbarer Erinnerung bleiben.» Charles Linsmayer

«20/21 Synchron» ist kein Kanon der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Charles Linsmayer, der als Autor und Herausgeber von mehr als 120 Buchveröffentlichungen über die Jahrzehnte ein Leuchtturm in der Schweizer Literaturszene wurde, wählte für diesen 40. Band der Reihe «Reprinted by Huber» seine ganz persönlichen Favoriten, all jenen, denen er in seinen unzähligen Begegnungen, seien sie nun persönlich oder schriftlich, nahe gekommen war. 

Und nicht zuletzt ist «20/21 Synchron» ein Gegenentwurf zur «um sich greifender Lesemüdigkeit und dunkler Prognosen vom Ende des Buchzeitalters und dem Heraufziehen einer digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur». Nicht nur Charles Linsmayer, auch Silvia Tschui und Klaus Merz vermochten im Gespräch ihre pessimistische Sicht auf die Zukunft des Buches nicht zu verbergen. Der beinahe volle Veranstaltungssaal des Literaturhauses an diesem Abend konnte das bisschen nötige Hoffnung nicht wecken, denn junges Publikum ist rar.

Besonders beeindruckend war «Oben», der Text von Helen Meier, der grossen Dichterin, die im Februar 2021 ganz still und leise aus dem Leben schied, die mit ihren Erzählungen und Romanen eine ganz Grosse der Schweizer Literatur wurde und mit der Charles Linsmayer in den letzten zehn Jahren ihres Lebens eine tiefe Freundschaft verband. Mit der Stimme von Klaus Merz hörte man ihr beim Schreiben zu.

Wie sehr Charles Linsmayer seine Liebe zur Literatur mit sich trägt, wurde an einer Lesung aus seinem Lesebuch in St. Gallen zusammen mit Ilma Rakusa sichtbar, als der Herausgeber mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nicht nur weil ihn der Text berührte, sondern die Intensität der Sprache und die vollendete Komposition der Geschichte.

«Wie schön der gestrige Abend zur Feier von Charles Linsmayers überwältigendem Werk «20/21 Synchron» im schönen Gottlieben doch war! Ein neugieriges, offenes Publikum, und ein Veranstalter, der sich auf Experimente einlässt. Man kann sich mehr nicht wünschen. Danke!» Silvia Tschui

Silvia Tschui wird zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger das traditionelle Sommerfest in und ums Literaturhaus Thurgau am 20. August 2022 mitgestalten. Reservieren Sie sich den Termin!

Beitragsbilder @ Philipp Frei

Wenn sie jodelt – Silvia Tschui mit „Der Wod“

Wie gegensätzlich Literatur, wie unterschiedlich die Motivation ein Buch zu schreiben sein kann, bewiesen die Literaturtage Zofingen, die den Umständen geschuldet, den Fokus ganz auf die CH-Literatur richteten. Zwei Bücher zeigen die Breite des Spektrums ganz deutlich: «Der Wod», ein Gehörnter, der durch ein Jahrhundert Familie wütet und «Lamento», ein Abschiedsbrief an einen guten Vater.

Klar, man kann zuhause auf dem Sofa lesen. Dieser Tage erst recht, weil Spaziergänge kürzer werden, der Winterschal aus der Versenkung geholt wird und geprüft werden muss, ob das Schuhwerk, das vor der Eingangstür steht, dem Wetter entsprechend ist. Die beiden Schriftstellerinnen Susanna Schwager und Silvia Tschui bewiesen ziemlich deutlich, warum man einen Spaziergang manchmal länger werden lassen muss, um sich an einem Literaturfest wie in Zofingen von gemachten Vorstellungen zu trennen. Zum einen davon, dass die Auseinandersetzung mit Vätern und Müttern nicht immer aus Übergriffen, Schmerz und Verletzungen resultieren müssen. Und zum andern, dass Lesungen aus Büchern gut gepolstert, mit bedeutungsreichen Gesten und stets besonnen und brav vorgetragen werden müssen, sogenannte „Wasserglaslesungen“ längst nicht mehr Darbietungen von verdichteter Sprache allein repräsentieren.

© Ayse Yavas

Susanna Schwager hat mit ihren literarischen Reportagen, Büchern wie «Fleisch und Blut» oder «Das volle Leben» eine breite und treue Leserschaft gefunden. Bücher, die sich mit Menschen befassen, Bücher, bei denen die Autorin nach Antworten sucht. «Lamento – Brief an einen Vater» schert für einmal gleich mehrfach aus Mustern aus. «Lamento» ist keine Abrechnung an einen Vater, den man gerne anders gehabt hätte, an dem man ein Leben lang leiden musste. «Lamento» ist ein langer Brief an einen guten Vater, eine Ode an die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Eine Liebe allerdings, die es in den letzten Monaten vor dem Tod des Vaters immer schwerer hatte, die akzeptieren musste, dass nicht nur eine Krankheit Stück für Stück des Vaters entfernt, sondern auch die Maschinerie einer auf Effizienz getrimmten Medizin und ihrer Institutionen. Zum andern musste sich Susanna Schwager für dieses eine Buch, das mit Sicherheit ihr persönlichstes ist, die Antworten auf ihre Fragen selber geben. «Lamento» ist ein zärtliches, behutsames Buch, das trotz alles Intimität Lesende zwingt, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.

Susanna Schwager im Gespräch mit der Moderatorin Nicola Steiner und der Schriftstellerin Ariela Sarbacher («Der Sommer im Garten meiner Mutter«)

Wie anders «Der Wod» von Silvia Tschui! Wann gibt es das schon: eine Schriftstellerin singt, jodelt, rockt, interagiert mit dem Publikum. Keine Spur von «Liebreiz» und sprachlichen Streicheleinheiten. Silvia Tschui schöpft aus dem Ganzen, macht Literatur zu einem Feuerwerk. Sie lässt ein ganzes Jahrhundert auftanzen, lässt es krachen, treibt einen wilden Wod, einen Gehörnten, den man nicht ungestraft aus dem Verborgenen holt, der eine Familie durch ein ganzes Jahrhundert jagt, durch Krieg und Vertreibung, Lügen und Tod. Silvia Tschui bricht aus, nicht nur in ihrer Performance auf der Bühne zusammen mit dem Gitarristen und Komponisten Philipp Schaufelberger, auch sprachlich, denn es ist, als ob das von ihr ausgebreitete Jahrhundert nur die Bühne sei, um ihrer virtuosen Sprache den nötigen Platz zu verschaffen. Silvia Tschui ist ein Tausendsassa, erfrischen vielseitig, ein Paradiesvogel in der sonst manchmal etwas biederen Literaturlandschaft Schweiz.

«Ich habe kein Buch in der Schweizer Literatur angetroffen, das solch einen Sog entwickelt.» Julian Schütt, Buchzeichen SRF

Webseite von Susanna Schwager

Webseite von Silvia Tschui