20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

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Fotos © Samuel Bramley

Basler Lyrikpreis 2024 geht an Carla Cerda

Die Preisverleihung findet im Rahmen des 20. Internationalen Lyrikfestivals Basel am Samstag, 27. Januar 2024 um 19:00 Uhr im Literaturhaus Basel statt. Die Laudatio hält Rudolf Bussmann.

Carla Cerda wagt sich mit ihren Gedichten in Bereiche vor, die für Lyrik weitgehend unentdeckt sind. Sie interessiert sich für automatisierte Nachrichten gleichermassen wie für Wettermessgeräte oder Enzyme. Mit frechem Witz mischt sie die Formeln der Computer- und Wissenschaftssprache auf, lässt ein Sprachassistenzprogramm als Person auftreten, unterhält sich mit einem Bot. Mit leichter Hand hebt sie die Grenzen zwischen Logik, Algorithmenregeln und Fantasie auf. Dass ihre Gedichte dabei die Formstrenge wahren, erhöht ihren Reiz. Die Lektüre ihres noch schmalen Werks ist ein Vergnügen.

Carla Cerda (*1990) ist Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: Loops (2020) und Ausgleichsflächen (2023), beide bei roughbooks.

Mit dem Basler Lyrikpreis zeichnen die Mitglieder der Basler Lyrikgruppe (aktuell Rudolf Bussmann, Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin und Ariane von Graffenried) jährlich das Werk eines/einer* Kolleg*in aus. Der Basler Lyrikpreis wird an Dichter*innen verliehen, deren Werk sich durch Innovationskraft auszeichnet und durch den Mut zu konsequentem und eigenwilligem Arbeiten mit Sprache. Er soll dazu beitragen, herausragende Stimmen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Der mit Fr. 10’000 dotierte Basler Lyrikpreis wird von der GGG gestiftet. Frühere Preisträger*innen waren u. a. Anna Hetzer (2023), Nadja Küchenmeister (2022), Hans Thill (2021), Eva Maria Leuenberger (2020) Katharina Schulthens (2019), Dagmara Kraus (2018), Walle Sayer (2017), Ron Winkler (2016) und José F. A. Oliver (2015).

Vom 25. bis zum 28. Januar 2024 findet das Basler Lyrikfestival bereits zum zwanzigsten Mal statt. Aus dezentral organisierten Veranstaltungen einer Gruppe von Basler Lyriker*innen hat sich im Verlauf der Jahre ein etabliertes Festival entwickelt. Bis heute kuratiert die Lyrikgruppe das Programm. Zum Jubiläum bietet das Festival u. a. Nora Gomringer, Dinçer Güçyeter und Klima-Lyrik eine Bühne.

Schon am 19. Januar präsentieren Schüler*innen im Rahmen der Museumsnacht Basel die Ergebnisse eines Schreibworkshops mit Sarah Altenaichinger in der Fondation Beyeler. Nach einem Lyrikspaziergang gibt es am Freitag den Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter im Porträt zu erleben. Darauf folgen waghalsige Sprachperformances im Late Night Varieté. Das 20. Jubiläum wird gebührend gefeiert: am Samstag finden sich aktuelle und ehemalige Mitglieder der Lyrikgruppe zu einer kurzweiligen Gruppenlesung ein, und für den Sonntagnachmittag hat Nora Gomringer eine Carte blanche erhalten. Sie tritt mit der Dichterin und Festivalmacherin Augusta Laar in den Dialog. Auf dem Podium zum Thema Lyrik im Kontext Klima/Wandel diskutieren Daniel Falb, Marion Poschmann und Steinunn Sigurðardóttir. Ausserdem: ein Workshop mit Dinçer Güçyeter, Begegnungen mit Martin Piekar und Verena Stauffer sowie die Verleihung des Basler Lyrikpreises 2024 mit anschliessendem Konzert von Fitzgerald & Rimini. Das Festival endet mit einer Sofalesung von Anna Ospelt.

(aus der Medienmitteilung des Festivals)

Informationen zum Lyrikfestival Basel

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, der Siegertext von «Wortmeldungen», dem Literaturpreis für kritische Kurztexte

WORTMELDUNGEN-Preisträgerin Marion Poschmann im Gespräch mit der Crespo Foundation zu ihrem Text «Laubwerk»: «Das Ferne nah heranholen, das Abwesende in die Gegenwart bringen, das Unsichtbare sichtbar machen, dem Unsagbaren Ausdruck verleihen!»

Marin Poschmann hat mit ihrem Text «Laubwerk» einen eindringlichen Text darüber geschrieben, wie eine veränderte Wahrnehmung auf die Zeichen der Natur unser Handeln ganz direkt beeinflussen kann. Marion Poschmann zeigt, dass «Engagierte Literatur» direkt in den gesellschaftspolitischen und sozialen Diskurs eingreifen will und kann.

Ihr Text Laubwerk wird mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Mir ist diese Auszeichnung wichtig, weil sie nicht nur einen literarischen Text hervorhebt, sondern auch meinem Anliegen einen besonderen Nachdruck verleiht. Ich bin dankbar, dass mit diesem Preis die Stadtbäume etwas stärker in den Fokus rücken, dass diese Bäume und all das, wofür sie stehen, ein Forum erhalten.

Ihr Schreiben wird häufig dem Nature Writing zugeordnet. Welche Parallelen und welche Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrem Schreiben und der angloamerikanischen Tradition des Nature Writings? Was macht zeitgenössisches Nature Writing aus?

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, 2021, 69 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-95732-489-4

Ich selbst verwende für einige Aspekte meines Schreibens eher den Begriff Naturdichtung, aber ich sehe zum Nature Writing durchaus einige Gemeinsamkeiten. Der literarische Naturbezug hat in Deutschland spätestens seit der Romantik eine Tradition, die allerdings nicht so kontinuierlich fortgesetzt wurde wie im angelsächsischen Raum. In Deutschland gab es immer wieder und ganz besonders in der Nachkriegszeit ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Natur als einem Sujet der Kunst. Schnell kam der Verdacht auf, sich in eine falsche Idylle zurückzuziehen, wenn man „Petersil und Dill“ besang oder sich ausgerechnet mit Bäumen beschäftigte. Bertolt Brecht hat diese Zeitstimmung in dem berühmten Zitat aus dem Gedicht «An die Nachgebo- renen» zusammengefasst:
«Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!»
In der Ökobewegung der 1980er Jahre kam die Natur zwar wieder als Thema vor, aber mit der zunehmenden Dringlichkeit des Naturschutzes verlor sich auf der Seite der Kunst die ästhetische Qualität. Das Spezifische am Nature Writing ist vielleicht, dass beim Schreiben über Natur der Kunstanspruch nicht vernachlässigt wird, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, weil es zu den Kriterien dieses Schreibansatzes gehört, genaue Beobachtung mit Sorgfalt und Konzentration im Ausdruck zu verbinden. Nature Writing geht mit einer Verfeinerung der Wahrnehmung einher, und diese Sensibilität, sowohl der Welt als auch der Sprache gegenüber, trägt dazu bei, sorgsamer mit dem umzugehen, was wir gewöhnlich unter „Natur“ subsumieren.

„Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich“, schreiben Sie. Was meinen Sie mit einer solchen Romantisierung konkret und was kann durch sie erreicht werden?

Ich möchte Romantisierung als einen Teilaspekt der Aufklärung verstanden wissen. „Die Welt romantisieren heisst, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, schreibt Novalis in seinen Fragmenten. In der Aufklärung war die Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat unter anderem den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt befördert, bis zu dem Punkt des Übermasses, an dem wir heute sind. Die Romantik hat den Aspekt der Empfindung hinzugefügt: Das Subjekt kann sich aus seiner Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien, indem es einen unendlichen Gefühlsraum betritt. Diese Empfindsamkeit könnte dazu beitragen, sich selbst als einen Teilhaber im Kontinuum der Welt zu akzeptieren, den Punkt, von dem aus alles mit allem zusammenhängt. Das ökologische Ungleichgewicht geht durch den menschlichen Körper hindurch, die Probleme der Natur spiegeln sich in Geist und Psyche, Romantisierung könnte auch ein Schritt sein, dies überhaupt zu bemerken.

Unter dem Schlagwort Anthropozän findet das Thema Natur derzeit wieder stärker Beachtung. Natur ist nicht mehr Idylle und Moment des Schönen, vielmehr Schauplatz von Umweltproblemen, Verkehrspolitik und Klimawandel. Was ist die besondere Qualität von Kunst in Bezug auf den Klimawandel? Was kann sie – insbesondere auch in Abgrenzung zur Wissenschaft – erreichen?

Ein auffälliger Aspekt am Anthropozän ist die Ungreifbarkeit. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und den damit verbundenen Problemen lassen sich schwer kommunizieren, sie sind oft abstrakt, und die konkreten Auswirkungen für den Einzelnen bleiben vage oder schlagen sich anderswo nieder, weit weg. Die Informationen der Wissenschaft erreichen viele Leute kaum, sie treffen, plakativ gesagt, die Menschen nicht ins Herz. Hier läge das Potential von Kunst: das Ferne nah heranzuholen, das Abwesende in die Gegenwart zu bringen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen.

Die Fragen stellten Sandra Poppe und Katja Schaffer (WORTMELDUNGEN-Team der Crespo Foundation).

Das vollständige Gespräch ist im Band «Laubwerk» von Marion Poschmann erschienen als Band 2 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag abgedruckt.

WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor:innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner:innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.

Marion Poschmann (geb. 1969 in Essen) studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, zuletzt 2021 den Bremer Literaturpreis für den Gedichtband «Nimbus». 2019 hielt sie die Zürcher Poetikvorlesungen und 2020 hatte sie die Kieler Liliencron-Poetikdozentur inne. Ihr Roman «Die Kieferninseln» stand 2017 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2019 auf der Shortlist des Man Booker International Prize.

Beitragsbild © Heike Steinweg / Crespo Foundation

4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Marion Poschmann «Die Kieferninseln», Suhrkamp

Gilbert Silvester nimmt seinen Traum ernst, sehr ernst. Ihm träumte, seine Frau Mathilde hätte ihn betrogen. Und weil ihre Vehemenz, die Aufgeregtheit, als er ihr ihre Untreue vorwirft, ihn nur bestärken, packt er seine Sachen, fährt zum Flughafen und besteigt eine Maschine nach Tokjo, möglichst weit weg.

“Als läge die Schuld plötzlich bei ihm. Sie ging zu weit. Das liess er nicht mit sich machen.“

Marion Poschmann schrieb mit viel Lust eine Parabel darüber, wodurch unsere Welt zugrunde geht. In keinem Moment der Menschheitsgeschichte waren wir weniger Herr über die Wahrheit wie in der absolut vernetzt scheinenden Gegenwart. Nie verschoben sich, verfransten Realität und Fiktion so sehr wie jetzt, wo man bei jeder Gelegenheit nachprüfen zu können glaubt. Die verschiedensten Seiten schwören uns auf ihre Wahrheit ein. Wahrheit als vielseitige Projektionsfläche. Und ausgerechnet der Traum, vom dem wir wissen, dass er gelesen werden muss, katapultiert den Wissenschaftler und Dozenten aus seiner Wirklichkeit. In ein Flugzeug, das ihn in ein Land trägt, das sich eigentlich in maximaler Distanz, weit entfernt und kaum lesbar von der seinigen zeigt. Er fühlt sich hintergangen, überzeugt, „aus dem Echten“ ausgesperrt zu sein. Nicht nur von seiner Frau Mathilde, der er sich nie ebenbürtig fühlte, sondern einer ganzen Welt, die ihn wegschiebt. Nicht zuletzt in seinen halbherzigen Studien zur „Wirkung von Bartdarstellungen im Film, Aspekte der Kulturwissenschaft, Gendertheorie und religiösen Ikonographie“. Er, der Experte für Bartfrisuren, ein bis ins Innerste Altbackener, fliegt in ein Land, wo Bärte allerhöchstens Zeichen mangelnder Hygiene sind oder wenn, dann schütter und spärlich bleiben. Er flieht in der Überzeugung, seine Frau sei verrückt geworden, sei sich „der fundamentalen Konstanten zwischenmenschlichen Umgangs“ nicht mehr im Klaren, zwinge ihn, auf grösstmögliche Distanz zu gehen.

Und ausgerechnet er, Gilbert Silvester, gabelt an einem japanischen Hochgeschwindigkeitsbahnhof einen zögerlichen Selbstmörder auf. Einen jungen Studenten, der in seiner Tasche ein Handbuch mit sich trägt, den „Complete Manual of Suicide“ (Den gibt es wirklich!). Den Sprung vor den fahrenden Zug verhindert, nimmt Gilbert den jungen Mann mit auf sein Hotelzimmer. Yosa ist Student, getrieben von seiner Angst des Scheiterns. Beide machen sich auf den Weg, Gilbert auf eine Pilgerreise auf den Spuren des klassischen Dichters Bashõ, Yosa mit seiner ganz anderen Reiselektüre von einem zum nächsten Selbsttötungshotspot. Eine Reise nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung. Wie einst japanische Wandermönche. Eine Reise nach ganz ungewöhnlichen Massstäben, an Orte der absoluten Gegensätze, nicht zuletzt europäischer und japanischer Lebensauffassung und Wahrnehmung. An Orte wie jenen Wald am Fusse des Fuji, den Aokigahara-Wald, den Wald der Erhängten. (Auch den gibt es!) Ein Wald, der mit Verbotstafeln warnt, voll mit Zurückgelassenem, Schuhen, Kleidern und Taschen, Hängengelassenem, abgeschnittenen Stricken und Überresten. Gilbert begleitet Yosa, hofft, dass der Schrecken, das Grauen sie beide vertreibt. Ausgerechnet hier geraten sie in eine Sackgasse, sie, die nichts anderes wollen, als das Ende ihrer Sackgassen. Sie verlieren sich im Wald, verirren sich auf dem Rückweg, müssen im Freien, ohne Licht im Wald der Erhängten übernachten. Zwei Verlorene, Verirrte, Vergessene. So wie die Kieferninseln an der Küste von Matsushima ein Ende einer Reise werden, ist das Buch voller Doppelbödigkeiten.

Gilbert Silvester ist vollkommen isoliert. Auch wenn er auf seiner Reise durch Japan seiner Frau eine Reihe Briefe schreibt. Keine Silbe steht da, mit der er auf die Gründe und Ursachen seiner Reise eingeht, kein Wort, das seine Frau anspricht, kein Satz, der über die eigenen Kopfverschlingungen hinausgeht. Briefe eines Immunen. Einer Gattung, von der es in der Gegenwart immer mehr zu geben scheint. Menschen, die nicht wirklich zu leben scheinen, selbst dann nicht, wenn sie mit dem Elementarsten konfrontiert sind.

So skurril die Handlung, so knirschend das Geräusch der kulturtektonischen Kontinentalplatten, die sich reiben und reissen, so poetisch das Buch. Dann, wenn Marion Poschmann ihren Silvester dichten lässt. Dann, wenn sie ihn die japanische Hochkultur suchen lässt. Dann, wenn die begnadete Schriftstellerin beschreibt, Bilder erzeugt, die genau wiedergeben, was Irrsinn zu erzeugen vermag. Grosse Literatur!

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.