Es ist, als ob die Dichterin Marion Poschmann eine Seherin wäre. Ihre Fähigkeit, durch die Dinge zu sehen, ist bestechend. In «Die Winterschwimmerin» begegnet man einer Sprache, die in Bilder zu fassen vermag, was sonst unfassbar bleibt. Dieses schmale Buch ist ein tiefer Tauchgang in die Vielschichtigkeit des Lebens!
Vor ein paar Wintern war ich einquartiert in ein kleines Haus an einem Baggersee. Es regnete und schneite oft. Auf der anderen Seite des Sees sammelten sich immer wieder Wildgänse auf dem offenen Feld und am Ufer des kleinen Sees hartgesottene Gestalten, die sich mit offenkundiger Regelmässigkeit am Ufer trafen, um kurz und schmerzlos ins kalte Nass zu tauchen. Nur ein paar Züge lang, nachdem man die Kleider zuvor sorgfältig in eine Tasche unter einem Schirm auf einer Bank eingelagert hatte. Ich hinter der grossen Fensterfront mit Bodenheizung und einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie dort draussen, fest entschlossen, alle Annehmlichkeiten winterlicher Zivilisation für ein paar Minuten abzustreifen. Ein Warmduscher hinter Glas, unerschrockene Winterschwimmer zwischen dünnen Eisinseln.
Grenzen verbrennen.
Grenzen, die nichts sind als Vorurteile.
Nicht mehr hier enden.
Marion Poschmann, in der deutschen Literaturszene so reich dekoriert wie kaum eine andere, schrieb eine Verslegende, kein Langgedicht, aber auch kein Märchen, keine Sage, auch wenn in ihrem Text immer wieder ein Tiger auftaucht. Vielleicht ist es die Szenerie, aber vielmehr die Sprache, die eigenartig oszilliert zwischen Bildern und Empfindungen, zwischen einer beschaulichen Erzählstimme und beinah metaphysischen Bildern. Thekla, eine literarische Figur aus dem zweiten Jahrhundert, begibt sich eines Tages in die Welten zwischen den Elementen. Zwischen Hitze und Kälte, Feuer und Wasser, genau das, was man empfindet, wenn man als Winterschwimmerin abtaucht.

Marion Poschmann, die während der Coronazeit zur Winterschwimmerin wurde, während des Lockdowns an einem ruhigen See in aller Abgeschiedenheit. Grenzerfahrungen in einer Zeit der Grenzerfahrungen. Den inneren Tiger loslassen, während rundum alles zurückgebunden wird. Thekla will den Tiger suchen, den Tiger in sich, diese Urkraft. Auf dem Umschlag des wunderschön gestalteten Buches sieht man sie Rückenansicht einer Frau mit Streifenmuster auf der Haut. Die Verschmelzung von Frauen- und Tigerkörper, eine Darstellung aus einer mittelalterlichen Schrift aus dem Mittelalter.
Winterschwimmerinnen tauchen aber nicht einfach zu Abhärtung ins kühle Nass. Es ist das, was während des Eintauchens und danach passiert, was Endorphine auslösen und an Beseelung, Erkenntnis und inneren Bildern zurücklassen. «Die Winterschwimmerin» ist ein üppiges Sprachkunstwerk, vielfach unterlegt, das Zeugnis einer sprachlichen Erleuchtung.
Es ist so klar,
so wahr
wie dunkel. Nicht zu fassen.
Ein Vers, ein Gedicht ist ein gestreiftes Wesen, ein in Zeilen geteiltes Ganzes, das in der Realität genauso wie in den Zwischen- und Traumwelten durch unser Bewusstsein streift. Der Tiger hat sich befreit. Marion Poschmanns Tiger hat sich befreit und streift durch ihre Seelenlandschaft. «Die Winterschwimmerin», ein ungemein mutiges Buch, ist eine sprachliche Offenbarung. Anspruchsvoll, voller Anspielungen. Ein Buch, das auf der letzten Seite noch lange nicht zu Ende gelesen ist.
Marion Poschmann (1969) wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband «Nimbus» und im selben Jahr mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.
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Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag







„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…
sich trägt, den „Complete Manual of Suicide“ (Den gibt es wirklich!). Den Sprung vor den fahrenden Zug verhindert, nimmt Gilbert den jungen Mann mit auf sein Hotelzimmer. Yosa ist Student, getrieben von seiner Angst des Scheiterns. Beide machen sich auf den Weg, Gilbert auf eine Pilgerreise auf den Spuren des klassischen Dichters Bashõ, Yosa mit seiner ganz anderen Reiselektüre von einem zum nächsten Selbsttötungshotspot. Eine Reise nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung. Wie einst japanische Wandermönche. Eine Reise nach ganz ungewöhnlichen Massstäben, an Orte der absoluten Gegensätze, nicht zuletzt europäischer und japanischer Lebensauffassung und Wahrnehmung. An Orte wie jenen Wald am Fusse des Fuji, den Aokigahara-Wald, den Wald der Erhängten. (Auch den gibt es!) Ein Wald, der mit Verbotstafeln warnt, voll mit Zurückgelassenem, Schuhen, Kleidern und Taschen, Hängengelassenem, abgeschnittenen Stricken und Überresten. Gilbert begleitet Yosa, hofft, dass der Schrecken, das Grauen sie beide vertreibt. Ausgerechnet hier geraten sie in eine Sackgasse, sie, die nichts anderes wollen, als das Ende ihrer Sackgassen. Sie verlieren sich im Wald, verirren sich auf dem Rückweg, müssen im Freien, ohne Licht im Wald der Erhängten übernachten. Zwei Verlorene, Verirrte, Vergessene. So wie die Kieferninseln an der Küste von Matsushima ein Ende einer Reise werden, ist das Buch voller Doppelbödigkeiten.
Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.