«Was unterscheidet dann noch einen Attentäter von einem Busfahrer, der dreissig Kinder mit sich in den Tod reisst, weil er den Bus an eine Wand fährt. Weil er sich umbringen wollte? Und was unterscheidet einen Attentäter von einem Piloten, der eine volle Maschine zum Absturz bringt, um sich das Leben zu nehmen? Was unterscheidet die Absicht von den Folgen? Was die Folgen von der Absicht? Wer bist du?» Armin Senser 2018
Dass es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen eine Begegnung mit Armin Senser geben wird, freut mich sehr. Das in grünem Farbton vorliegende Buch «Der ich bin» lese ich gerade mit Begeisterung. Im Sommer 2016 (oder 2017?) bin ich diesem Autor erstmals auf der Terrasse des «Alpina» am internationalen Literaturfestival in Leukerbad begegnet und auf den ersten Teil seiner autobiografischen Trilogie gestossen. Dass «Sensus, Chronik des Scheiterns» der erste Band einer Trilogie ist, wusste ich damals allerdings nicht. So ist das Erscheinen von «Der ich bin, Chronik des Vergessens» (2018) an mir vorübergegangen und erst jetzt vor meinen Augen. Aus dem dritten Teil «Requiem, Chronik des Erinnerns» wird der Autor in Solothurn lesen.

In diesen drei «Chroniken» wird Autobiografisches mit dem Geschehen um Autor herum nicht erzählt, sondern als Collage voller Assoziationen literarisch gestaltet. Unverkennbar ist ein Lyriker am Werk. Armin Senser stellt Fragen zur eigener Identität («Wer ist ich?»), zu seiner Beziehung zu den Angehörigen (Suizidversuch des Bruders, Tod der Mutter) und zum eigenen Schreiben, zur Auswirkung der täglichen Katastrophenmeldungen in den Medien auf das eigene Leben. Da Literatur langsamer reagiert als die Massenmedien wirkt sie nachhaltiger, weil erlebt oft fassbarer. Die Lektüre dieser Bücher ist anspruchsvoll, aber belohnt mich als Leser mit tiefer Erkenntnis über mich, mein Wesen und meine Beziehung zur Umwelt. Auch sind diese Bücher eine kritische Auseinandersetzung mit der Informationsflut der heutigen Zeit.
Es erstaunt mich, dass dieser bemerkenswerte Autor im Literaturblatt nicht vorkommt. Kannst du mir berichten, warum?
Herzliche Grüsse
Bär
***
Lieber Bär
Vielen Dank für Deine Gedanken, Deinen Tipp, Deinen überdeutlichen Schubser. Jedes Jahr, wenn die Gästeliste der Solothurner Literaturtage veröffentlicht wird, stürze ich mich auf die Namen: Sind Namen dabei, auf die ich warte? (Die Warteliste derer, auf die ich hoffe, wird nicht kleiner!) Welche Namen überraschen mich? (Manchmal mischen Namen die Literaturszene auf, die bisher meine Wahrnehmung verfehlten, von denen ich keine Ahnung hatte.) Und welche Namen tauchen überraschend auf, hätten eigentlich schon lange meine Beachtung verdient? Armin Senser gehört zu jenen. Seit ich weiss, das er liest, liegen seine Bücher auf meinem Nachttisch. Ich freue mich ungemein auf die Begegnung mit dem Autor.
Stimmt, Armin Senser hätte eine Auseinandersetzung auf dem Literaturblatt längstens verdient. Aber ich habe keine Chance, all jenen gerecht zu werden, die man pushen sollte, denen man eine Plattform bieten müsste, die man ins Rampenlicht setzen sollte, bevor ihr Stern im unbarmherzigen Kosmos der literarischen Sternbilder wieder verlöscht. Zu viele Sterne leuchten nicht mit jener Kraft, die sie ausstrahlen würden, wären nicht Störnebel in ihrer Nähe. Zuviele Sterne sind längst wieder ins kollektive Vergessen gerutscht. Wie gut, dass es Literaturvermittler wie Charles Linsmayer gibt, die mit ihren Büchern auch jenen einen Platz geben, die ihre Leuchtkraft verloren haben. Aber selbst so engagierte Kämpfer wie Charles Linsmayer hinterlassen einen Schweif, der Namen schwärzt, die seinem Geschmack missfallen. Einmal von relevanten Literaturkritiken geschwärzt, scheinen Namen auf ewig gezeichnet.
Darum mache ich mich alljährlich nach Solothurn auf, um mich von all jenen Namen überzeugen zu lassen, die bisher meiner beschränkten Lesekapazität entgingen. Ich freue mich auf die Tage im Epizentrum der nationalen Literaturszene – und die Streifzüge von Gallus und dem Bär.
Auf bald!
Gallus
Armin Senser, geboren 1964 in Biel. Der Lyriker und Schriftsteller studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik an der Universität Bern. Nebenbei ist er als Übersetzer und Dramatiker tätig. Sein literarisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Senser lebt in Berlin.


Als ich vor vielen Jahren die Schriftstellerin und Dichterin zum ersten Mal traf und mit meinen Büchern nach der Lesung bei ihr zum Signieren hinstand, bestätigte sich, was zuerst bei der stillen Lektüre und dann in der ersten Begegnung mit der Künstlerin sicht- und spürbar wurde; jene Liebenswürdigkeit, jene Sorgfalt, jene Empathie, die die Künstlerin ihrem Gegenüber zeigt, sei das nun in ihren Büchern, oder in den Begegnungen über die Bücher hinaus.






Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.
Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.
«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.



Die Kulturstiftung Thurgau gewährte der Dichterin, Hörspielautorin, Dramatikerin aus Wien ein zweimonatiges Stipendium im Bodmanhaus in Gottlieben. Zeit, um neue Ideen wachsen zu lassen, zu schreiben und mit Sicherheit auch das eigene Tun aus anderer Perspektive zu sehen. Für meine Moderation ihrer Lesung im Literaturhaus am Seerhein traf ich die Autorin schon ein paar Wochen zuvor in einem Café am Wasser. Zugegeben, ich war aufgeregt, denn eine Lyrik-Moderation schien mir wesentlich anspruchsvoller als eine, bei der man über einen Roman, eine Geschichte, einen Plot sprechen kann. Aber Margret Kreidl nahm vom ersten Augenblick alles Verkrampfte, alles rein Intellektuelle, zeigte, wie sehr ihre Lyrik nicht nur mit ihrem Blick auf die Unmittelbarkeit verknüpft ist, sondern wie sehr sie Biographisches mit den verschiedensten Stimmen aus der Welt verbindet. Margret Kreidl ist eine Verküpferin, eine sprachliche Verkupplerin.
Gahse, mit der Margret Kreidl freundschaftlich verbunden ist.
Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg, von 1983 bis 1996 in Graz, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Prosa und Lyrik: Sprachspiele, Lautpoesie, Genretravestien, Materialtexte. Textinstallationen im öffentlichen Raum. Veröffentlichungen seit 1986. Hörspiele, Theaterstücke, Minidramen. Zuletzt erschienen 2017 bei Edition Korrespondenzen der Band «Zitat, Zikade – Zu den Sätzen» und 2018 in der Reihe Neue Lyrik aus Österreich «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten».
Seit nunmehr 14 Jahren schreibt der Berner Schriftsteller und Dichter täglich weiter an einem endlosen Poem mit dem Übertitel «Nicht bei Trost». Zumindest bezieht sich der Titel nicht auf sein Unterfangen, viel mehr auf die Art wie er schreibt, wie sich Franz Dodel von seinen Gedanken treiben, wegtreiben, davondriften lässt.
Franz Dodel, geboren 1949 in Bern, studierte Theologie und schloss ab mit einer Dissertation über die Spiritualität der Wüstenväter. Er arbeitet als freier Autor und als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaften. Die bei der Edition Korrespondenzen erschienen Bände wurden 2004 im Wettbewerb «Die schönsten Bücher der Schweiz» und 2008 als «Eines der schönsten Bücher Österreichs» ausgezeichnet. 2003 erhielt Franz Dodel den Heinz-Weder-Preis für Lyrik.