Laura Freudenthaler „Die Königin schweigt“, Droschl

Fanny ist alt geworden. Nur ihre Enkelin und Hanna besuchen sie noch. Ihre Enkelin, weil sie erfahren möchte, was vor ihrer Zeit geschah und Hanna, weil sie von Fanny sagt, sie hätte ihr Leben gerettet. Ein sensibel geschriebener Roman über das Schweigen, über die verschiedenen Schichten von Wahrheit und die Angst vor drohendem Unglück.

“Die Königin schweigt“ ist eines jener Bücher, das mich reich belohnt. Ein Buch, das ein Versprechen einlöst. Eine mir bislang unbekannte Autorin, der ich von Herzen all die Kraft wünsche, die es braucht, um weiterzuschreiben. Eine Autorin, die es verdient hätte, zumindest in die Shortlist des Österreichischen Buchpreises aufgenommen zu werden.

“Was es bedeutet, dass einer tot war, verstand eigentlich niemand jemals.“

Fanny wohnt nach einem langen Leben zurückgezogen in ihrem Haus, das sie nach dem Tod ihres Mannes vor Jahrzehnten gebaut hatte. Ein Haus mit einem Sommerzimmer. Manchmal noch bekommt sie Besuch. Nicht nur von Hanna und ihrer Enkelin, sondern immer öfter auch von den Geistern ihrer Vergangenheit. Sie wuchs nicht weit von ihrem Haus in einem Dorf auf. Ihrer Eltern waren Bauern. Als Fannys Bruder Tony im grossen Krieg sein Leben liess, starb auch auf dem Hof ein grosses Stück Leben. Zwar tat Fanny danach alles, um den Eltern zu helfen, auch als sie den Dorflehrer geheiratet hatte und die Kinder nach der Schule mit Essen versorgte, selbst als sie selbst einen Sohn bekam, ihn wie ihren toten Bruder taufte.

Aber das Glück stellte sich nur halbherzig ein. Obwohl die Tochter den Eltern auf dem Hof nach Leibeskräften half, strafte der Vater sie mit offenherziger Verachtung für ihren Mann. Ihr Mann, der in Partei und Gesellschaft nach dem Krieg Karriere machte, abends öfters in Wirtshäusern als zuhause war und das Tanzen mit seiner Frau vergessen hatte, verwickelte sich in Spielschulden. Der Hof der Eltern in der Senke musste verkauft werden. Die Eltern hatten wohl noch das Wohnrecht auf „ihrem“ Hof. Die neuen Bauern allerdings taten alles, um dem Sterben Fannys Vaters Vorschub zu leisten. Aus dem einst so starken Vater war ein Geist geworden. Und dann, eines Morgens, nachdem ihr Mann nicht zurückgekommen war, tauchten im Schulhaus drei Männer auf, unter ihnen der Pfarrer. Ein Unfall mit Todesfolge. Fanny würde mit ihrem Sohn ausziehen müssen. Weg vom Dorf. Weg vom Hof ihrer Eltern. Weg vom Getratsche des Dorfes. Vielleicht auch weg vom Gefühl, für alles Unglück verantwortlich zu sein.

Doch das neue Leben stellte sich nicht mehr ein, trotz der neuen Bekanntschaft zu einem Oberförster. Trotz der Enkelin, Tonys Tochter, die zuerst nur in Begleitung ihres Vaters, später auch alleine im Haus ihrer Grossmutter auftauchte. Aber auch diese Besuche wurden seltener. Nicht weil die Enkelin undankbar gewesen wäre, sondern Fanny ihr Leben mit Schichten umsponnen hatte. Nur nichts mehr tun, was das lauernde Unglück provozieren könnte.

Beeindruckend, wie Laura Freudenthaler beschreibt, wie sie mit überzeugendem Einfühlungsvermögen in die Personen in ihrem Roman schlüpfen kann, wie nahe sie dem Geschehen kommt, wie absolut glaubhaft sie in die Haut einer alten Frau schlüpft, die immer weniger wird. Laura Freudenthaler erzählt von einem halben Jahrhundert auf dem Land, von Frauen, allein mit den Kindern zuhause, auf den Mann wartend, später auf den Sohn, den Morgen, eine Antwort, die Erlösung. Fanny ist gefangen von ihrem Unglück. Sie ergab sich der Erkenntnis, Unglück förmlich anzuziehen, obwohl sie sich stets mit Strenge davor zu schützen versuchte. So wie sich die Kälte in Fannys alt gewordenen Körper einnistete, ist da stets die Angst, etwas falsch zu machen. Die Urangst, was andere Laute denken könnten, zwängte sie ein. Nicht einmal die Versuche ihrer Enkelin, die Hüllen zu durchbrechen, glücken.

“Das Unglück war ein Wesen, das manchmal verschwunden zu sein schien, weit weg und nicht zu sehen, aber es verlor nie die Spur.“

Und doch ist es viel mehr als nur die Geschichte, die fasziniert. Laura Freudenthalers Sprache ist fein, von grosser Bildhaftigkeit und Musikalität. Kein Buch, das mich in den Keller zieht. Ein Buch, das mit ungeheurer Kraft beweist, was Sprache kann; ganz still und stilvoll bezaubern! Unbedingt lesen.

5 Fragen an Laura Freudenthaler:

Sie sind jung und es gelingt Ihnen mit bemerkenswerter Sicherheit ganz nahe an die alt gewordene Fanny und ihre Lebensgeschichte zu kommen, ebenso zart und vorsichtig wie beklemmend. Worin liegt der Schlüssel dazu?
Ähnliche Fragen kamen auch zum ersten Buch, obwohl darin kein alter Mensch als Protagonist auftritt: Woher wissen Sie all diese Dinge, Sie sind doch noch so jung. Wie könnte ich eine Antwort darauf haben? Es hat vielleicht mit meiner Wahrnehmung zu tun, die übergenau ist, sodass ich die Welt, Menschen auch, gewissermaßen in mich aufnehme. Das Schreiben ist die einzige Art, damit umzugehen, ich kann ja all das nicht behalten und muss es wieder heraus und in die Welt bringen.

Fanny nennt all jene, die noch einmal „zurückfahren“ wollen, sei dies nun im Kopf oder tat-sächlich abschätzig „Vergangenheitsfahrer“. Ist Fanny einer jener Nachkriegsmenschen, die gestraft durch eine kollektive Schuld nicht zu reflektieren trauen? Oder ist Fanny das Opfer ihrer selbst! Gefangen zwischen sich reibenden Wahrheitsschichten?
Mit Vergangenheitsfahrer bezeichnet Fanny ihren Sohn und die Enkeltochter, die dorthin zurückfahren, wo Fanny einen Teil ihrer Vergangenheit zurückgelassen hat, und die etwas herausfinden wollen über diese Vergangenheit. Für Fanny aber ist es ihre Lebensgeschichte – ich glaube, es geht hier um einen sozusagen narrativen Generationenkonflikt. Die ältere Generation beansprucht das Recht auf das eigene Leben und auch das Verschweigen für sich, die jüngere Generation verlangt zu wissen, um sich selbst, die eigene Herkunft besser zu verstehen. Diese Forderung der Jüngeren nach einer Vergangenheit, die sie selbst nur indirekt betrifft, hat etwas Übergriffiges (zugleich legitim, da die Vergangenheit ja auch auf sie übergreift, von einer Generation auf die nächste und übernächste und so fort). Auch meine Erzählung ist eine Anmassung.

Fannys Enkelin traut sich einiges. Einmal schenkt sie ihrer Grossmutter sogar ein Tagebuch, von dem sie hofft, dass die Grossmutter es mit all dem fülle, über das sie nicht reden will. Fanny schlägt fast alles aus. Muss man erlöst werden?
Es ist fraglich, ob Erzählen Erlösung bringen kann, ist doch Erlösung etwas Letztgültiges, ein Abschluss. Das Erzählen befreit nicht von dem Bösen, verurteilt es nicht einmal, sondern nimmt alles in sich auf. Das Erzählen dauert.

Fanny halst sich ein halbes Leben lang Schuldgefühle auf, die sie mehr und mehr in einen starren Kokon einwickeln. Heute therapiert ein Heer aus Psychologen und Psychiatern. Und social media lädt ein, das Innerste nach aussen zu kehren. Trotzdem scheint es nicht besser zu werden. Oder doch?
Es kann dann nicht besser werden, glaube ich, wenn Therapie und Selbstdarstellung im Sinne des „happy consciousness“ erfolgen, wenn, um auf den Begriff aus der vorigen Frage zurückzukommen, Erlösung und Glück Zweck und Ziel der Bemühungen sind und Therapieerfolg als Tauschwert des bezahlten Stundenhonorars erwartet wird.

Viele Episoden und Kleinstgeschichten in ihrem Roman wirken derart authentisch, als hätten sie sie selbst erlebt, als hätten sie sie über Jahrzehnte mitgetragen. Sicherlich die Leistung einer wirklich guten Schriftstellerin. Geschah das alles im Kopf?
Man kann wohl nichts schreiben, was man nicht in sich trägt. Auch Beobachtungen, auch Geschichten, die man gelesen oder von anderen erzählt bekommen hat oder die man sich vorstellt, trägt man in sich. Für mich war sehr erhellend, was Siri Hustvedt über diese Körper-Geist-Frage in Bezug auf das Schreiben sagt: sich zuerst einmal vor Augen zu führen, dass das Hirn ebenso Teil des Körpers ist wie die Niere oder der Magen. Das bedeutet auch, dass alles Gelesene, womit man sich „intellektuell“ auseinandersetzt, in das Unbewusste und den Körper eingeht. Und wie irrig ist die Vorstellung (der Schriftstellerin!), das Schreiben sei ein kontrollierter, intellektueller, bewusster Vorgang. Dies führt letztlich auch zu dem, worum es mir in diesem Roman ging: Alle Erfahrungen, Erinnerungen, alle Wahrnehmung, das Gesehene und auch das Geträumte sind im Körper aufbewahrt. Die Lebensgeschichte ist in den Körper eingeschrieben.

Noch einmal meine Verneigung vor Ihrem Roman und Ihrer Leistung.
Ich werde Ihr erstes Buch auch noch lesen und hoffe, dass Sie irgendwann einmal in meiner Nähe zu hören sind.

Laura Freudenthaler, geboren 1984 in Salzburg. Studium der Germanistik, Philosophie und Gender Studies, lebt in Wien. Die Erzählungen „Der Schädel
von Madeleine. Paargeschichten“ erschienen 2014 beim Verlag müry salzmann in Salzburg.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!