«Martha und die Ihrigen» ist Lukas Hartmanns persönlichstes Buch, ein Buch über seine Herkunft. Ein Buch, aus dem viel Dankbarkeit spricht, weil Martha, die Grossmutter von Lukas Hartmann, die einzige Person im Roman, die den wirklichen Namen auch im Buch trägt, mit ihrem kargen Leben alles in den Dienst ihrer Familie steckte. Ein Buch – ein Denkmal.
Lukas Hartmann ist ein Mann der starken Biographien, ob über Le Corbusier und seinen Cousin, den Maler Louis Soutter („Schattentanz“), über Lydia Welti-Escher, die reiche Erbin Alfred Eschers („Ein Bild von Lydia“), über John Webber, einen Schweizer Expeditionsmaler, der 1788/89 an der Seite des Entdeckers James Cook bis „Ans Ende der Meere“ vorstiess oder vor bald einem halben Jahrhundert über den Pädagogen und Schulreformer Heinrich Pestalozzi („Pestalozzis Berg“). Lukas Hartmann ist ein literarisches Urgestein der Schweiz. Wer liest, begegnet ihm immer wieder, ob in Kinder- und Jugendbüchern oder in Romanen, die mit umsichtiger und penibler Recherche Vergangenheiten öffnen, ob an Schullesungen oder in Botanischen Gärten für Erwachsene. Was Lukas Hartmann in seinem künstlerischen Schaffen gelungen ist, ist in der Form nur ihm und Franz Hohler gelungen: Generationen von Fans.
Dass nach einer schwierigen, gesundheitlichen Phase nun zum ersten Mal ein Roman aus seiner Feder erscheint, der sich ganz offensichtlich mit seiner eigenen Herkunft und Geschichte auseinandersetzt, erstaunt nicht. Lukas Hartmann feierte am 29. August seinen 80. Geburtstag. Vielleicht einer der Gründe, warum sich Lukas Hartmann nach fast 50 Romanen für Kinder und Erwachsene mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzt. Aber vielleicht auch, weil die Geschichte seiner eigenen Familie beispielhaft ist für viele Familiengeschichten; Geschichten, die aus Armut, Zwängen und Mühsal in die Freiheiten der modernen Zeit münden, auch wenn diese Freiheiten trügerisch bleiben.
In seinem neusten Roman ist Martha, seine Grossmutter, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Martha wächst auf einem bitterarmen Bauernhof auf, der Vater nach einem Unfall schwach und kränklich, die Mutter stets kurz vor dem Zusammenbruch. Man reisst die Familie amtlich auseinander und verteilt die Kinder als Verdingkinder in alle Richtungen. Martha kommt wieder in eine Bauernfamilie, zeichnet sich als willige und flinke Arbeitskraft aus, selbst dort, wo niemand sonst die Hände schmutzig machen will. Sie glänzt in der Schule, aber niemand hat das Geld, sie länger als notwendig in die Schule gehen zu lassen. Sie schuftet in der Fabrik, heiratet einen Schuhmacher, der aber bald mehr und mehr krank stirbt und sie mit Kindern alleine lässt. Martha lässt sich nicht unterkriegen, tut alles, dass es ihren zwei Söhnen besser als ihr ergeht, heiratet ein zweites Mal und erweist sich als geschickte Geschäftsfrau, auch wenn das Eheglück erneut nicht auf ihrer Seite steht.
Toni, der ältere Sohn von Martha, wird nach den Wirren des Weltkriegs Postbeamter, eine sichere Stelle, heiratet und wird selbst auch Vater zweier Söhne, von denen der ältere, im Buch Bastian, unverkennbar die Züge des Autors hat.
Martha ist genau das, was viele Grossmütter damals waren; aufopfernd, fleissig, anpassungsfähig und zäh. Martha ist weit weg von den Idealen einer modernen Frau, auch wenn nicht einmal ein Jahrhundert dazwischensteht. Ein Leben voller Grenzen, Zwänge und Erwartungen. Ein Leben in Arbeit und Pflicht. So sehr darin trainiert und von Schicksalschlägen gepeitscht, dass selbst in Zeiten, in denen es wirtschaftlich besser geht, über Jahrzehnte Eingefleischtes nicht einfach abgelegt werden kann. Ein Leben in absoluter Disziplin, ohne Ansprüche, schon gar kein Luxus. Liegenbleiben erst, wenn man krank oder ernsthaft verletzt ist.
Toni, ihr Sohn, Bastians Vater, schnuppert in seinem Leben an den Annehmlichkeiten der Moderne, auch wenn ihm das Beispiel seiner Mutter lehrt, dass man es nur unter Aufbietung aller Kräfte zu etwas bringen kann. Toni macht Karriere bei der Post. Aber weil auch ihm seine Gesundheit, die durch masslosen Kräfteverschleiss kontinuierlich schlechter wird, den Lebensabend schwer macht, er sich zerreiben lässt in den Pflichten eines Sohnes, eines Ehemanns und Vaters, wird aus Bastians Elternhaus, wie damals im Haus seiner Mutter Martha, kein Nest. Das Leben ist Kampf.
Was den Roman besonders macht, ist die Sachlichkeit, mit der Lukas Hartmann erzählt. Der Erzählton ist in eine fast trockene Schicksalshaftigkeit getaucht, genau wie die Leben seiner Grossmutter und seines Vaters. Sie hatten nie die Chance einer Wahl. Sie hatten zu funktionieren. Erst seine Generation, erst Bastian, kann sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen formen. Nichts nach dem Motto „Früher war alles viel besser“. Die Lektüre dieses Romans macht unsäglich demütig und dankbar.
Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.
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Beitragsbild © Bernard van Dierendonck