Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes – Wortlaut St. Gallen

Jaap hat alles erreicht. Die Welt liegt ihm zu Füssen. Er ist ein Abräumer, ein Sieger. Bis seine Tochter mit ihrem Freund auf ihrer ersten grossen Reise spurlos verschwindet. Bis Jaap erfahren muss, dass das Schicksal sich einen Deut um die Erwartungen eines Siegers kümmert. Bis ein Hund ihm den Weg zeigt.

Jaap Hollander ist ein gefragter Gehirnchirurg, wahrscheinlich einer der besten in seinem Fach. Aber so aussergewöhnlich sein Talent mit dem Skalpell, so hölzern und wenig empathisch seine Beziehungen. Frauen sind Objekte der Selbstbestätigung, Projektionsflächen seiner Libido. Kein Wunder ist es dann eine Krankenschwester, die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter wird, eine Beziehung, die allerdings den Belastungen einer innerfamiliären Katastrophe nicht standhält. Ihre gemeinsame Tochter Lea, auf ihrer ersten grossen Reise allein mit ihrem Freund Joshua, verschwindet spurlos in Israel, weit weg von zuhause, in der Wüste Negev. Obwohl eine grossangelegte Suchaktion gestartet wird, bleibt diese erfolglos.

Erst recht nach seiner Pensionierung fährt Jaap jedes Jahr um die immer gleiche Zeit in die Wüste Negev zu dem einen Stein, auf dem er die beiden Namen der beiden spurlos Verschwundenen eingravieren liess. In das immer gleiche Hotel, auf den immer gleichen Strassen zu dem Ort, an dem sich die Spuren seiner einzigen Tochter verloren. Sein Schmerz um diesen Verlust ist ihm das einzige, das geblieben ist, das einzige, was zählt. Auch wenn er weiss, dass diese Endlosschlaufe auch das war, was seine Frau damals, die Mutter seiner Tochter, aus dem Haus vertrieb. Sie ist nicht geblieben. Stellvertretend dafür die grosse leere Villa in Holland, die trotz aller Umbauarbeiten nie zu einem Zuhause wird.

Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes, 2025, aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07281-5

Bei einem dieser jährlich wiederkehrenden Ausflüge in die Wüste Negev kommt es zur Begegnung mit einem Hund, einem Wesen, das ihn aus einer anderen Welt zu betrachten scheint. Gleichzeitig, mittlerweile sind es zehn Jahre seit dem Verschwinden seiner Tochter und ihrem Freund, erreicht ihn die Bitte des israelischen Ministerpräsidenten persönlich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er brauche seine Hilfe. Was will das israelische Staatsoberhaupt von einem pensionierten Gehirnchirurgen? In grösster Geheimhaltung wird ihm mitgeteilt, dass sie einzige Tochter des saudischen Prinzen an einer Missbildung im Gehirn leidet, die jederzeit das noch junge Leben auslöschen kann. Aber weil der saudische Prinz beabsichtigt, seine Tochter dereinst zur ersten weiblichen Nachfolgerin in seinem Land zu machen, eine Revolution von oben, ist Jaap Hollander die einzige Hoffnung, die der Zukunft der jungen Frau und ihres Heimatlandes geblieben ist. Jaap soll operieren, auch wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend klein sind.

Selbst wenn die Operation nicht gelingen sollte, würde Jaap so viel Geld verdienen, dass er ein Team von Archäologen damit beauftragen könnte, das noch unerforschte Höhlensystem am Ort des Verschwindens seiner Tochter zu finanzieren, erst recht, würde die Operation gelingen. Es würde eine Chance geben, endlich Klarheit zu schaffen, der einen grossen Frage seines Lebens eine Antwort entgegenzustellen.

Mag sein, dass „Stadt der Hunde“ jenen Leserinnen und Lesern nicht genügt, die wie ich sonst mit dem Bleistift lesen, die auf der Suche sind nach Sätzen, die bleiben, Szenen, die sich einbrennen. Leon de Winter ist ein Geschichtenerzähler. Einer, der sein ganzes Können einzusetzen weiss, wie eine Geschichte gebaut werden muss, dass ich als Leser auf seiner Spur bleibe. Versteckt baut der Meister der Spannung ein, was uns durch die Medien permanent mit Wirklichkeiten konfrontiert; ein Jude im Spannungsfeld zwischen arabischer Tradition und nahöstlicher Filigranität. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, den das Schicksal prügeln muss, um sich dessen bewusst zu werden, was Leben ausmacht. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, der alles erreicht und doch nichts gewonnen hat. Aber auch ein Roman darüber, dass es Wirklichkeiten gibt, die weder mit dem Skalpell wegzuschneiden, noch mit feinster Technik lokalisierbar zu machen sind.

Wie ich mich freue über die Begegnung mit dem Schriftsteller beim Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen, weil es Leon de Winter meisterhaft versteht, mich als Leser zu überraschen, die Grenzen des Wahrscheinlichen auszuloten.

Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ›Welt‹-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für «Das Recht auf Rückkehr» ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes «Ein gutes Herz» (2013) und «Geronimo» (2016).

Stefanie Schäfer studierte Dolmetschen und Übersetzen an den Universitäten Heidelberg und Köln. Für herausragende übersetzerische Leistungen wurde sie mit dem Hieronymusring ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.

Beitragsbild © Marco Okhuizen

Daniela Krien «Mein drittes Leben», Diogenes

Der Supergau in jeder Familie; ein Kind stirbt. Nichts ist mehr so wie zuvor. Es gibt das Leben davor und ein Restleben danach. Daniela Krien beschreibt ein Paar, das nach dem Tod der 17jährigen Tochter feststellen muss, dass da viel mehr ist, als bloss eine Lücke, ein Verlust. Linda und Richard fallen aus ihrem Leben, aber nicht als Paar, sondern in die Einzelteile.

Linda hat sich in ein altes Haus zurückgezogen, in einem Strassenkaff unter einer Anflugschneise zu einem Flughafen, in vier Wände, in denen nichts an Sonja spiegelt, weit weg von den Menschen, die sie an sie erinnern, von den Strassen und Plätzen, auf denen sich das Leben ihrer Tochter abspielte. Linda erträgt weder sich selbst, noch ihren Mann, der so ganz anders mit der Trauer und dem Schmerz umgeht wie sie selbst. Der nach ihr blossem Aktionismus verfällt. Noch viel weniger erträgt sie die Ermahnungen ihrer Mutter, nach vorne zu schauen, sich dem Leben nicht zu verschliessen, sich zusammenzureissen, ihre Aufsässigkeit am Telefon. Aber am allerwenigsten erträgt sie sich selbst, das Treten am Ort, den Blick in den Spiegel, dass sich die Welt einfach so weiterdreht. Sie hadert mit sich, fühlt sich schuldig, ihre Tochter nicht wirklich gekannt, sie missverstanden zu haben, Erinnerungen an sie zu verlieren. Es gibt keine Normalität mehr, weder in ihrer Gefühlswelt, nicht im Blick auf das, was übrig geblieben ist.

Richard, ihr Mann, der zu Beginn noch im gemeinsamen Haus geblieben ist, besucht sie immer wieder, bringt ungefragt, was er glaubt, brauche sie, bleibt, in der Hoffnung, es würde ein Gespräch entstehen, wieder ein Miteinander. In den Tagen und Wochen nach dem Tod funktionierte man noch gemeinsam, stellte sich den Aufgaben und Pflichten, bis zusammenbrach, was nur noch als Gerippe übriggeblieben war. Mittlerweile ist da neben dem Schmerz um die Tochter ein ebenso grosser um den Verlust einer Liebe. Es scheint nichts geblieben zu sein. Nicht dass die Liebe verschwunden wäre. Aber sie hat das Gegenüber verloren. Da hilft auch sein Flehen nicht, schon gar nicht sein Bitten und Drängen.

Daniela Krien «Mein drittes Leben», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07305-8

Selbst in dem Dorf, in dem sie das Haus einer Mitpatientin bewohnt, einer Frau, die wie sie an Krebs erkrankte, aber im Gegensatz zu ihr sterben musste, begegnet man Linda mit respektvoller Distanz. Sieht, dass sich da eine Frau um Haus und Garten kümmert, sogar um den Hund und die Hühner, die von den einstigen Tieren geblieben sind. Im Haus hängen die Fotos jener Frau, eines Lebens, das nicht das ihre ist. Linda ist aus der Haut gefahren, während ihr Mann sich mit einem neuen Leben, irgendwann gar mit einer neuen Frau an seiner Seite, zurechtzufinden versucht.

Einzige Bezugsperson ist Natascha und ihre authistische Tochter. Eine Frau, die es schafft, in ihrer ganz direkten, ungeschönten Art, die Linda die Tür zur Welt doch immer wieder aufzureissen, eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt und alles versucht, ihrer Tochter die Mutter zu sein, die sie braucht.

Durch den Verkauf des gemeinsamen Hauses zu Geld gekommen, eröffnet sich für Linda mit einem Mal die Möglichkeit, Menschen aus der Enge zu befreien. Der selbstzerstörerische Blick auf sie selbst wird herumgerissen oder weicht zumindest auf. Obwohl der Schmerz bleibt, der Verlust noch immer nagt, beginnt Linda zaghaft ein neues Leben.

Obwohl „Mein drittes Leben“ ein Roman über Verlust ist, ist dieses Buch vor allem eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte eines Paares, aus deren Liebe eine Tochter wurde, der man die Tochter genommen hatte und das verzweifelt versucht, das Leben irgendwie zurückzugewinnen. Obwohl sich Linda in ihrem Schmerz einigelt, sind die zaghaft vorsichtigen Besuche ihres Mannes im Restleben seiner Frau etwas vom Ergreifendsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe. Sie schildern derart viel Zartheit, Geduld, Menschlichkeit und Trauer darüber, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, dass man das Buch an solchen Stellen für einige Momente ablegen muss.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane «Die Liebe im Ernstfall» und «Der Brand» standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.

Beitragsbild: Maurice Haas © Diogenes Verlag

Sasha Filipenko «Der Schatten einer offenen Tür», Diogenes

Ostrog ist eine russische Provinzstadt im Nirgendwo. Kommissar Alexander Koslov wird zusammen mit seinem Assistenten von Moskau dorthin geschickt, nachdem eine Reihe Suizide von Jugendlichen nicht nur die Stadt in Aufruhr versetzt. „Der Schatten einer offenen Tür“ als Krimi zu bezeichnen, genügt nicht. Aber der Roman ist auch weder Milieustudie noch Psychodrama. Der Roman verunsichert, schockiert und lässt einem nach der Lektüre ziemlich allein.

Seit ein paar Jahren lebt der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko mit seiner Familie in der Schweiz im Exil. Solange die Bruderschaft zwischen Putin und Lukaschenko Russland und Belarus zur Front gegen den „westlichen Aggressor“ zusammenschweisst, wird Sasha Filipenko nicht mehr in seine Heimat zurückkehren können. Seit der Schriftsteller mit den Romanen „Die Jagd“ und „Rote Kreuze“ die Szene überraschte, erwartet man viel von dem Mann, der sich ausgezeichnet auskennt in den Mechanismen Russlands. Nicht weniger als deutliche Argumente dafür, wie korrupt, totalitär und manipulativ der Machtapparat in jenem Land ist, dass sich mehr und mehr in einen immer bedrohlicher werdenden Krieg verbeisst. Aber der neue Roman bricht aus, erfüllt zumindest meine Erwartungen nicht. Erwartungen, denen der Autor aber vielleicht gar nicht genügen will.

Alexander Koslov war schon einmal in der ehemaligen Gefängnisstadt Ostrop. Damals brachte er den amtierenden Bürgermeister hinter Gitter. Eine Ermittlung, die ihm wenig neue Freunde machte. Nun schickt ihn Moskau erneut in dieses Nest, in Begleitung von Fortow, seinem Assistenten, der zum ersten Mal an einer solchen Ermittlung teilnimmt und wenig Interesse zeigt, die Dinge mehrfach umzudrehen, um zu einem abschliessenden Urteil zu kommen. Aber nicht nur für Fortow liegt ziemlich schnell auf der Hand, wer mit den toten Judgendlichen, den Suiziden zu tun haben muss; Pjotr Petrowitsch Pawlow, kurz Petja. Von ihm wird in der Nähe aller Toten seine DNA gefunden. Petja war wie die toten Jugendlichen einst Insasse jenes Heims, aus dem die Toten stammen. Nicht dass er es geschafft hätte. Petja, von allen in der Stadt wie ein naiver Trottel behandelt, ein junger Mann, der eigentlich nur Gutes tun will und nicht verstehen kann, dass die Welt nicht nach seinen Vorstellungen ticken will, lebt in einem heruntergekommenen Wohnsilo, arbeitet in einer Fabrik und ist wahrloses Opfer, als ihn die örtliche Polizei einsperrt, foltert und zu einem Geständnis zwingt. Die Sache scheint klar. Auch für die Journalistinnen und Journalisten, die in der einzigen Kneipe in der Stadt, die etwas hergibt, auf Neuigkeiten warten. Nur für Alexander Koslov nicht.

Sasha Filipenko «Der Schatten einer offenen Tür», Diogenes, 2024, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, 272 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-257-07159-7

Die Toten und Petja kommen aus dem städtischen Kinderheim. Kein warmes Nest, in dem man sich mit Liebe und Fürsoge um die sich selbst überlassenen Kinder kümmert. Viel mehr noch so eine Art Gefängnis, eine Anstalt, ein Apparat für Kinder und Jugendliche ohne Perspektive. Selbst solche, die mit Ach und Krach eine Pflegefamilie finden, werden „zurückgebracht“. Eine kalte Institution, für die die Toten die denkbar schlechteste Werbung bedeuten.

Aber auch Alexander Koslov hat sich verloren. Seine Frau, die sich von ihm tennte, ist mit einem angesehenen Richter liiert. Selbst ihre Offenbarung, dass sie schwanger ist, ein Telefonat, unmissverständlich, endlich zu akzeptieren, bringt Koslov nicht weg von seiner verzweifelten Liebe zu einer verlorenen Frau. Diese eine Woche in Ostrop, für die ihm Moskau Zeit gibt, die Ursachen für die mittlerweile vier Suizide zu klären, wird für Koslov zur Probe, denn für ihn ist klar, dass nicht das, was auf der Hand liegt, in diesem Sumpf der Wahrheit entspricht.

„Der Schatten einer offenen Tür“ ist ein hartes Buch. Ein Roman, der Abgründe zeigt, weder klären noch enträtseln will. Kein Geschichtchen mit Aufklärung und sauber aufgelöstem Plott. Der Roman lässt einem so ratlos zurück wie vieles, was dort geschieht, einem Land, das nicht aus den Mühlen des Immergleichen ausbrechen kann, selbst dann, wenn sich die Türen für einen Augenblick öffnen. Wer nur einen Krimi lesen will, ist schlecht bedient. Wer Enthüllung will, wird enttäuscht. Man muss sich selbst aus diesem Sumpf ziehen. Wer aber jene Portion Verunsicherung mag, wer sich traut, in den Abgrund zu schauen, in die Trostlosigkeit der Verlorenheit, der ist mit diesem Buch genau richtig.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman «Die Jagd» war ein Spiegel-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

Ruth Altenhofer hat an der Universität Wien, in Rostow am Don und in Odessa Slawistik studiert. 2015 hat sie sich als Übersetzerin selbständig gemacht. Sie dolmetscht in der Psychotherapie für Flüchtlinge, übersetzt Fachtexte (oft Tourismus) und Comics/Graphic Novels. Als Literaturübersetzerin wurde sie 2012 und 2015 mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

«Rote Kreuze», Rezension

Beitragsbild © Lukas Lienhard Diogenes

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes

«Martha und die Ihrigen» ist Lukas Hartmanns persönlichstes Buch, ein Buch über seine Herkunft. Ein Buch, aus dem viel Dankbarkeit spricht, weil Martha, die Grossmutter von Lukas Hartmann, die einzige Person im Roman, die den wirklichen Namen auch im Buch trägt, mit ihrem kargen Leben alles in den Dienst ihrer Familie steckte. Ein Buch – ein Denkmal.

Lukas Hartmann ist ein Mann der starken Biographien, ob über Le Corbusier und seinen Cousin, den Maler Louis Soutter („Schattentanz“), über Lydia Welti-Escher, die reiche Erbin Alfred Eschers („Ein Bild von Lydia“), über John Webber, einen Schweizer Expeditionsmaler, der 1788/89 an der Seite des Entdeckers James Cook bis „Ans Ende der Meere“ vorstiess oder vor bald einem halben Jahrhundert über den Pädagogen und Schulreformer Heinrich Pestalozzi („Pestalozzis Berg“). Lukas Hartmann ist ein literarisches Urgestein der Schweiz. Wer liest, begegnet ihm immer wieder, ob in Kinder- und Jugendbüchern oder in Romanen, die mit umsichtiger und penibler Recherche Vergangenheiten öffnen, ob an Schullesungen oder in Botanischen Gärten für Erwachsene. Was Lukas Hartmann in seinem künstlerischen Schaffen gelungen ist, ist in der Form nur ihm und Franz Hohler gelungen: Generationen von Fans.

Dass nach einer schwierigen, gesundheitlichen Phase nun zum ersten Mal ein Roman aus seiner Feder erscheint, der sich ganz offensichtlich mit seiner eigenen Herkunft und Geschichte auseinandersetzt, erstaunt nicht. Lukas Hartmann feierte am 29. August seinen 80. Geburtstag. Vielleicht einer der Gründe, warum sich Lukas Hartmann nach fast 50 Romanen für Kinder und Erwachsene mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzt. Aber vielleicht auch, weil die Geschichte seiner eigenen Familie beispielhaft ist für viele Familiengeschichten; Geschichten, die aus Armut, Zwängen und Mühsal in die Freiheiten der modernen Zeit münden, auch wenn diese Freiheiten trügerisch bleiben.

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-257-07273-0

In seinem neusten Roman ist Martha, seine Grossmutter, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Martha wächst auf einem bitterarmen Bauernhof auf, der Vater nach einem Unfall schwach und kränklich, die Mutter stets kurz vor dem Zusammenbruch. Man reisst die Familie amtlich auseinander und verteilt die Kinder als Verdingkinder in alle Richtungen. Martha kommt wieder in eine Bauernfamilie, zeichnet sich als willige und flinke Arbeitskraft aus, selbst dort, wo niemand sonst die Hände schmutzig machen will. Sie glänzt in der Schule, aber niemand hat das Geld, sie länger als notwendig in die Schule gehen zu lassen. Sie schuftet in der Fabrik, heiratet einen Schuhmacher, der aber bald mehr und mehr krank stirbt und sie mit Kindern alleine lässt. Martha lässt sich nicht unterkriegen, tut alles, dass es ihren zwei Söhnen besser als ihr ergeht, heiratet ein zweites Mal und erweist sich als geschickte Geschäftsfrau, auch wenn das Eheglück erneut nicht auf ihrer Seite steht.

Toni, der ältere Sohn von Martha, wird nach den Wirren des Weltkriegs Postbeamter, eine sichere Stelle, heiratet und wird selbst auch Vater zweier Söhne, von denen der ältere, im Buch Bastian, unverkennbar die Züge des Autors hat.

Martha ist genau das, was viele Grossmütter damals waren; aufopfernd, fleissig, anpassungsfähig und zäh. Martha ist weit weg von den Idealen einer modernen Frau, auch wenn nicht einmal ein Jahrhundert dazwischensteht. Ein Leben voller Grenzen, Zwänge und Erwartungen. Ein Leben in Arbeit und Pflicht. So sehr darin trainiert und von Schicksalschlägen gepeitscht, dass selbst in Zeiten, in denen es wirtschaftlich besser geht, über Jahrzehnte Eingefleischtes nicht einfach abgelegt werden kann. Ein Leben in absoluter Disziplin, ohne Ansprüche, schon gar kein Luxus. Liegenbleiben erst, wenn man krank oder ernsthaft verletzt ist.

Toni, ihr Sohn, Bastians Vater, schnuppert in seinem Leben an den Annehmlichkeiten der Moderne, auch wenn ihm das Beispiel seiner Mutter lehrt, dass man es nur unter Aufbietung aller Kräfte zu etwas bringen kann. Toni macht Karriere bei der Post. Aber weil auch ihm seine Gesundheit, die durch masslosen Kräfteverschleiss kontinuierlich schlechter wird, den Lebensabend schwer macht, er sich zerreiben lässt in den Pflichten eines Sohnes, eines Ehemanns und Vaters, wird aus Bastians Elternhaus, wie damals im Haus seiner Mutter Martha, kein Nest. Das Leben ist Kampf.

Was den Roman besonders macht, ist die Sachlichkeit, mit der Lukas Hartmann erzählt. Der Erzählton ist in eine fast trockene Schicksalshaftigkeit getaucht, genau wie die Leben seiner Grossmutter und seines Vaters. Sie hatten nie die Chance einer Wahl. Sie hatten zu funktionieren. Erst seine Generation, erst Bastian, kann sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen formen. Nichts nach dem Motto „Früher war alles viel besser“. Die Lektüre dieses Romans macht unsäglich demütig und dankbar.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

Lukas Hartmann «Der Sänger», Rezension mit Interview

Lukas Hartmann «Ein passender Mieter», Rezension

Beitragsbild © Bernard van Dierendonck

«Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» (6)

Lieber Bär

Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.

Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.

H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5

Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.

Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9

Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.

Douna Loup «Verwildern»
Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.

Ich bin gespannt auf deine Meinung!



Liebe Grüsse
Gallus

***

«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Lieber Gallus

Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.

Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.

Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6

Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.

Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.

An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:

O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige!
Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst,
Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest,
Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon.

Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.

Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier

Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.

«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»

Herzlich

Bär

Hansjörg Schneider „Spatzen am Brunnen“, Diogenes – ein Geburtstagsgeschenk an seine LeserInnen

„Spatzen am Brunnen“ ist nicht das erste Alterswerk des Schriftstellers Hansjörg Schneiders, das zurückschaut, hineinschaut und dabei weit mehr als in der klein gewordenen Welt eines alten Mannes bleibt, stets ehrlich und äusserst sympathisch. Hansjörg Schneider interpretiert nicht. Er ist und bleibt ein feiner Erzähler – und feiert heute seinen 85. Geburtstag!

Seit einem halben Jahrhundert veröffentlicht Hansjörg Schneider Romane, Theaterstücke, Hörspiele. Seit der Verfilmung seiner Hunkeler-Krimis mit dem 2015 verstorbenen, unverwechselbaren Hunkeler-Darsteller Mathias Gnädinger, kennen ihn auch jene LeserInnen, denen das breite Werk des Schriftstellers bisher verschlossen blieb. Für Theaterbegeisterte unvergessen bleibt Hansjörg Schneiders Stück „Sennentuntschi“, das 1981 als Theaterübertragung im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und zu einem Skandalstück wurde. Ebenso unvergessen bleibt der Film „Der Erfinder“ mit dem Schauspieler Bruno Ganz in der Hauptrolle, ein Spielfilm, der auf dem gleichnamigen Theaterstück Hansjörg Schneiders basiert. In den Jahren nach „Sennentuntschi“ und „Der Erfinder“ galt Hansjörg Schneider nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den meistgespielten Dramatikern der Schweiz.

2020 erschien der zehnte und bislang letzte Hunkeler-Krimi unter dem Titel „Hunkeler in der Wildnis“. Nicht dass es danach ruhig um den Schriftsteller geworden wäre, Hansjörg Schneider veröffentlicht munter weiter, aber ganz offensichtlich hat das literarische Bewusstsein eines Landes bloss ein Kurzzeitgedächnis und man vergisst schnell, wer einst im Land die Literaturszene aufmischte und mit seinem breiten Œuvre durchaus das Zeug hätte, dass man wenigstens einen Platz in seinem Geburtsort oder seinem Wohnort nach dem Schriftsteller benennen könnte.

Hansjörg Schneider «Spatzen am Brunnen», Diogenes, 2023, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07241-9

In Coronazeiten begann Hansjörg Schneider ein Tagebuch zu führen. Nicht aus einer Not und schon gar nicht als Auseinandersetzung mit der Pandemie. Vielleicht weil ein Mann von über 80 Jahren unvermittelt spürt, dass jeder Tag zu einem Geschenk wird, der mitansehen und miterleben muss, wie einstige Freundschaften durch Krankheit, Sterben und Tod ein Ende finden. Ganz bestimmt, weil das Schreiben für Hansjörg Schneider längst zu einer Lebensnotwendigkeit geworden ist, weil Schreiben seine Form der Auseinandersetzung mit seiner Welt, seinen Erinnerungen, seinen Träumen und Befürchtungen geworden ist.

„Sprache als ordnende, rettende Kraft.“

Hansjörg Schneiders Tage sind still, verlaufen langsam. Seine täglichen Spaziergänge gehören zu seinem Schreiben. Gehen, Sitzen, Kaffee trinken, Beobachten, und sei es auch nur das gesellige Treiben der Spatzen am Brunnen – das braucht der Autor, um später am Küchentisch seinen Stift in die Hand zu nehmen und wie seit Jahrzehnten stets Heft um Heft damit zu füllen. Schreiben bestimmt seinen Tag. Schreiben ist seine Art des Sehens, des Erinnerns, seine Auseinandersetzung mit einer Welt, die nicht nur ihm immer fremder und unzugänglicher wird. „Spatzen am Brunnen“ ist ein Füllhorn an Kleinstgeschichten, Anekdoten, kleinen Denkmälern für Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Theater, Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden drohen, eine Welt, die mit dem Autor ins Vergessen rutscht.

„Es gibt für mich nur die erhellende Klarheit der Sprache. Sprache wirft Licht in die Welt, auf das Leben, auf das Sterben.“

Ich liebe Hansjörg Schneiders unaufgeregten Blick auf das, was passiert, selbst auf die Auswirkungen der Pandemie, die ihn in seinem Leben nur rudimentär betreffen. Um den Autor ist es ruhig geworden, auch wenn sich die Gedanken im Autor sebst manchmal zu Stürmen auftürmen, nicht zuletzt dann, wenn er sich unverstanden fühlt, sei es als Autor, als Zeitgenosse oder als Rädchen im (Kultur-) Getriebe. Trotz allem spricht keine Bitterkeit, kein Weltschmerz. Hansjörg Schneiders Fenster zur Welt wird wohl kleiner, die Tiefenschärfe aber nimmt zu. Und mich selbst ermuntert sein Buch, sein Tagebuch, meinen eigenen Blick zu weiten, weg von meinem Nabel, meinen Befindlichkeiten, dem Unveränderbaren.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter «Sennentuntschi» und «Der liebe Augustin», war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine «Hunkeler»-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel Diogenes

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes

Alles ist eine Frage der Zeit. Wohl auch das Ende der Menschheit. Dieses schmale, unscheinbare Buch, dass daherhommt, wie eines der unzähligen Katzenbücher, die sich auf Büchertischen ausbreiten, seziert mit messerscharfer Klinge und Spitze am noch lebenden Objekt. „Gegenangriff“ ist das Protokoll eines Untergangs.

Nadja Niemeyer ist ein Pseudonym. Angesichts dessen, womit mich die Schreibende konfrontiert, verstehe ist diesen Schritt. Sie wolle nicht an Debatten teilnehmen, habe dem Buch nichts hinzuzufügen. Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, vielleicht auch nur, um nach der Lektüre ihres Buches meine Fantasie zu beruhigen. Ihr Pamphlet hat nichts Beschwörendes, ist weder Drohung noch Warnung, vielleicht nicht einmal als Gedankenspiel zu verstehen. Nadja Niemeyer beschreibt mit aller verfügbarer Sachlichkeit nicht weniger als das baldige Ende der Spezies Mensch, das schnelle Ende eines Schädlings, der sich über die Jahrtausende wie ein Geschwür über diesen einen Globus ausbreitete.

Ameisen leben in riesigen Gemeinschaften. Wälder sind nicht bloss Ansammlungen von Bäumen und Gesträuch, sondern Pflanzengemeinschaften, die miteinander verbunden sind. Pilze ebenfalls. Wie irrig zu glauben, diese Art von kollektiver Intelligenz wäre der unsrigen weit unterlegen, zumal man beim Menschen in keiner Weise von einer kollektiven Intelligenz sprechen kann. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, hat durchaus das Zeug, das Gift für seinen Untergang zu werden. Die Geschichte und die Gegenwart macht überdeutlich, wie sehr die Menschen in den Würgegriff eines einzelnen Individuums geraten können, wie leicht die Intelligenz seiner Untergebenen in soldatischen Gehorsam ausgelöscht werden kann. Indizien gibt es genug, dass das Horrorszenario, das Nadja Niemeyer beschreibt, einen bedrückenden Anteil Wirklichkeit in sich trägt.

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes, 2022, 176 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-257-07183-2

Bis vor zweihundert Jahren waren es die Menschen, die sich in Städten einschlossen, um sich vor der Natur zu schützen. Besiedlung war ein Kampf gegen die Tücken der Natur. In der Gegenwart ist es die Natur, die man vor den Menschen und ihrer aggressiven Ausbreitung schützen muss, mit Stacheldraht und Mauern. Warum sollte sich der Rest, der geblieben ist, die kollektive Intelligenz, über die das Tier- und Pflanzenreich verfügt, nicht mit einem Mal kurzschliessen, um sich in einem finalen Kraftakt gegen jene Spezies zu stemmen, die alles unternimmt, um diesen Planeten für restlos alle und alles unbewohnbar zu machen?

Zuerst sind es die Ratten in den grossen Städten, zum Beispiel in New York. Es gibt Millionen von ihnen, kampferprobt. Sie zerbeissen Stromleitungen. Das genügt nicht nur, um das Leben in der riesigen Stadt zum Erlahmen zu bringen; die U-Bahn bleibt stehen, Menschen verhungern in Aufzügen, selbst Notstromaggregate können nicht verhindern, dass Menschen in Spitälern reihenweise sterben, auch das Internet regt sich nicht mehr. Alle Informationsströme sind gekappt, Panik bricht aus.

Ich glaube ebenso an eine kollektive Intelligenz der Natur wie an die grenzenlose Naivität und Dummheit der Menschheit. Solange wir mit einem SUV zum Einkaufen fahren, zum Shopping nach New York fliegen, Kleidungsstücke wie Souvenirs kaufen und unser Geld in Bitcoins investieren, statt in direkte Projekte, die sich um den Fortbestand eines friedlichen Miteinanders von Menschheit und Natur bemühen, solange der Mensch dem Untertan Natur noch mit dem immer gleichen Prinzip der Unterwerfung und Ausbeutung an den Kragen geht, sind Szenarien, wie denen von Nadja Niemeyer nur wenig entgegenzuhalten. Und wenn sich die Autorin durch ein Pseudonym vor all den Entschuldigungen, Beteuerungen und Verniedlichungen schützen will, verstehe ich das sehr wohl. Nichts desto Trotz ist „Gegenangriff“ absolut lesenswert, auch wenn das Buch mit den zwei niedlichen Kätzchen auf dem Cover das Zeug hat, sich in Alpträume zu mischen!

Die Autorin schreibt absolut sachlich, ohne jeden Pathos, schildert das Fallen der Dominosteine. Irgendwann wird es wieder ruhig auf dem Planeten, denn die eigentliche Ausrottung der Menschheit übernimmt der Mensch selbst – Männer.

Nadja Niemeyer heisst in Wirklichkeit anders. 

Beitragsbild © Sandra Kottonau

«so viel gefüll» Simone Lappert und Andreas Bissig, eine Performance

Es sollte ein Abenteuer sein, ein Experiment. Ein solches könnte scheitern, das Abenteuer in einem Fiasko enden. Aber da ich sowohl die Lyrikerin Simone Lappert wie den Musiker und Komponisten Andreas Bissig kannte, beide schon erlebt hatte, wusste ich, es würde klappen.

Ich hörte Simone Lappert mit ihrem ersten Gedichtband am Internationalen Lyrikfestival 2022 in Basel. Ich hatte mir ihren Gedichtband «längst fällige verwilderung» schon länger besorgt, wollte mit der Lektüre aber so lange warten, bis ich den Sound ihrer Stimme in meinem Kopf haben würde. Ich wusste, Gedichte und Stimme würden sich unauslöschlich miteinander verzahnen. Was dann auch wirklich geschah, was noch immer geschieht, wenn ich ihren Gedichtband zu Hand nehme und darin lese. Jetzt noch viel mehr, nach mehrmaliger Lektüre, nach einer Performance mit der Bassisten Martina Berther an den Solothurner Literaturtagen 2022 und nun nach der einen im Literaturhaus Thurgau mit dem Saxophonisten Andreas Bissig.

Eindrücke aus dem Prozess:

Simone Lappert beweist, dass Lyrik weit weg sein kann von vergeistigter, intellektuell verstiegener Wortkunst, die sich mehr verschliesst als offenbart. Simone Lappert Gedichte sind Sinn-Bilder, sinnlich im wahrsten Sinne des Wortes, atmosphärisch dicht, mit Worten und Sätzen gezeichnet, die sich wie Fahrten durch innere und äussere Landschaften anfühlen, manchmal gar in Breibandmanier, durch die Waagrechten der Zeit und die Senkrechten des Seins. Bilder voller Leidenschaft, Liebeserklärungen an Sprache, Klang, das Bild, den Moment und das Gefühl.

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

 

lieblingsmensch

ich stürze mich in deinen brombeerblick,
will wurzeln schlagen hinter deinen ohren,
wo du nach katze riechst und sommerfell,
ich will moosraufen und mohnwälzen mit dir
und ohne adresse hausen am hang.
ich will all deine schatten streicheln,
in deinen dunklen ecken singen,
ich will dir sämtliche monde kaufen,
eine veranda und einen schaukelstuhl,
ich will dich einatmen und aussprechen,
mich rau reden an dir.

Die beiden KünstlerInnen Simone Lappert und der Saxophonist Andreas Bissig kannten sich bis zur Begrüssung am Morgen dieses gemeinsamen Tages nicht. Es gab wohl die eine oder andere Absprache. Aber als ich die beiden nach einem Begrüssungskaffee am Seerhein in ihre Arbeit entliess, war es ein Abenteuer, ein Weg ins Unbekannte. 

Andreas Bissig verstand es vorzüglich, den Text mit seiner Musik zu unterstreichen. Sie beide, Simone Lappert und Andreas Bissig, sind keine KünstlerInnen der lauten Töne, sehr wohl aber der feinen Zwischentöne, der Untermalungen, der filigranen Klang- und Wortkasskaden.

«Auszug aus meiner Improvisations-Partitur für den gemeinsamen Auftritt mit Simone Lappert vom 8. Juli 2022: Zeit, dunkel, knacken -> Auto-Groove -> leise, zerzaust, warm -> (stop) -> Moon-Raggae -> Glühmotten -> […] -> Rückblende, optimistisch -> (stille) -> AUSRASTEN […] Herzlichen Dank an alle für die inspirierenden Begegnungen.» Andreas Bissig

 

2013

es ist nur noch ein leises da:
hinter dem zaun das haus und die geschrumpften zimmer,
die hierarchie der birken leicht verschoben,
zwischen den zweigen lücken, die es damals schon gab.
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten,
und was kümmert den Hasel sein wachsender schatten,
was die hagebutte der fortgang der zeit,
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre auf der abgespielten haut.

 

Simone Lappert «längst fällige verwilderung», Diogenes, 2022, 80 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-257-07189-4

«In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter? Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.»

literaturblatt.ch und das Literaturhaus Thurgau danken der Autorin und dem Diogenes Verlag herzlich für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «längst fällige verwilderung» veröffentlichen zu dürfen.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau, Gallus Frei / Literaturhaus Thurgau

„längst fällige verwilderung“ Die Dichterin Simone Lappert und der Musiker Andreas Bissig in einem Experiment

Freitag, 8. Juli, 19.30 Uhr – die Performance im Literaturhaus Thurgau

„Simone Lapperts erster Lyrikband legt einen brodelnden Untergrund frei.“

Simone Lappert (1985) war mit ihrem letzten Roman „Der Sprung“ 2019 auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis. Schon bei den Lesungen zu diesem Roman machte sie auf den Literaturbühnen im In- und Ausland klar, dass es ihr bei der Präsentation ihrer Spracharbeit nicht um blosse Wiedergabe geht. Simone Lappert macht ihre Sprache zu Ausdruck, zu Gestik, zu Lautmusik. Da bringt eine junge Frau Atmosphäre zum Wabern!Schon alleine deshalb konnte man nur gespannt sein auf ihren aktuellen Lyrikband „längst fällige verwilderung“. Und was Simone Lappert schreibt, euphorisiert!

Zusammen mit Andreas Bissig (1985), der sich als Musiker, Komponist, Sound- und Gamedesigner profiliert und seit 2017 an der Hochschule Luzern unterrichtet, experimentieren die zwei einen ganzen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Sie steigen, ohne je miteinander gearbeitet zu haben, in dieses Unternehmen ein und präsentieren abends die Performance! Ein Abenteuer!

«Eine transdisziplinäre Kooperation ist für mich immer auch eine Begegnung, ein künstlerisches Experiment, ein Dialog zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. Im besten Fall neugierig und ergebnisoffen.» Simone Lappert

Simone Lappert, Schriftstellerin und Dichterin ist auch Mitorganisatorin der Basler Lyriktage, an denen jedes Jahr der Basler Lyrikpreis vergeben wird. Simone Lappert weiss aus vielfacher Erfahrung sehr genau, was mit solchen experimentellen Gefässen zu erreichen ist. Allen Gästen an diesem Freitag wird ein einmaliges, nicht zu wiederholendes Kunststück der Extraklasse geboten!

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Tell revisited

In seinem neuen Roman Tell kreiert Joachim B. Schmidt eine alternative Erzählung des Tellmythos, die mit dem Altbekannten nur wenig zu tun hat. 

Gastbeitrag von Sophie Waldner
Sophie Waldner studiert an der Universität Basel Deutsche Philologie und Mathematik. Literatur und was man mit ihr machen kann, fasziniert sie schon immer. Dieses Seminar war ihre erste Berührung mit Literaturkritik, aber bestimmt nicht ihre letzte.

Düster, eigensinnig, einzelgängerisch, so wirkt Joachim B. Schmidts Wilhelm Tell. Tatsächlich hat seine Version kaum Gemeinsamkeiten mit Friedrich Schillers Werk. Während bei Schiller die Befreiung der Schweiz eine essenzielle Rolle spielt, konzentriert sich Schmidt in seiner Erzählung vielmehr auf die Schicksale der einzelnen Charaktere.

Schiller und Schmidt stimmen bei den Hauptfiguren und der Erzählung des traditionellen Mythos überein. So finden sich bei Schmidt natürlich auch Hedwig, Tells Frau, Walter, ihr Sohn, und Gessler, der Landvogt, wieder. Auch muss Tell einen Apfel von Walters Kopf schiessen, weil er sich nicht vor Gesslers Hut verbeugt und wird anschliessend verhaftet. Er kann sich mitten im Sturm vom Boot retten und rächt sich schliesslich an den Habsburgern.

Doch die Dynamik ist eine neue. Ganz anders als Schillers Helden, meiden die Leute Schmidts Tell. Selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, beobachtet der kleine Walter. Die Menschen fürchten ihn: Es jagt mir jedes Mal einen Schauder über den Rücken, wenn ich diesen Burschen zu Gesicht bekomme.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Episodenweise beschreibt Schmidt die Gedanken und Motivationen aus der Perspektive verschiedener Figuren. Nach und nach setzt sich ein Bild von Wilhelm Tell zusammen, das wahrlich tragisch ist. Von insgesamt 87 solcher Unterkapitel sind nur drei aus Tells Sicht verfasst, alle seine Gedanken richtet er an Peter, seinen Bruder. Dieser ist auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen verunglückt. Danach hat Willhelm die Aufgaben seines Bruders übernommen, ist in dessen viel zu grosse Fussstapfen getreten. Dabei geht es in erster Linie um die Arbeit auf dem Tellhof. Zudem kümmert er sich um die bereits schwangere Hedwig und heiratet sie noch vor der Entbindung.

Auch Gessler gleicht kaum dem herrischen, boshaften Landvogt aus Schillers Drama. Die Brutalität meiner Männer stösst mich ab. Er sehnt sich viel mehr nach seiner Frau und seiner Tochter, welche erst nach seiner Abreise auf die Welt gekommen ist.

Der legendäre Apfelschuss ist einzig darin zu begründen, dass Gessler unglücklicherweise gerade anwesend ist, als Tell vor dem Hut stehen bleibt, ohne sich zu verbeugen – also muss Gessler sein Gesicht vor den Soldaten wahren. Nur weil zwei Männer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende.

Die Sprache ist einfach und unverblümt. So denkt einer der Soldaten bei sich: Er glaubt wohl, der Allvater dieser dreckigen Meute zu sein. So ein Mondkalb!. Schmidt tabuisiert auch nichts. Vergewaltigung und Kindsmissbrauch sowie deren Folgen sind genauso Thema wie der brutale Kampf zwischen Tell und einem von Gesslers Männern.

Die unterschiedlichen Perspektiven erinnern durchaus an Szenenwechsel in einem Blockbuster, mit dem Tell auf dem Einband verglichen wird. Ob dies jedoch tatsächlich ein Gewinn ist, ist fragwürdig.

Zwar lassen die Episodenhaftigkeit und deren Kürze nicht zu, dass während der Lektüre Langeweile aufkommt. Doch die Häufigkeit der Wechsel und die Anzahl der Protagonisten nehmen dem Buch wieder einiges an Schwung. 20 Figuren erzählen aus ihrer Sicht, wobei die Hälfte völlig ausgereicht hätte. Sie alle brauchen eine Hintergrundgeschichte, um ihren Auftritt zu rechtfertigen. Dass die Perspektive alle zwei bis drei Seiten wechselt, macht es des Weiteren etwas schwierig, im Blick zu behalten, welche Sicht gerade eingenommen wird.

Dennoch ist Schmidts Grundidee, Tell als einen von Schicksalsschlägen geprägten Charakter darzustellen, erfrischend. Sie passt hervorragend zum Puls der Zeit: Männer, insbesondere Helden, auch einmal von einer verletzlichen Seite zu zeigen. Tell ist eine geeignete Lektüre für alle, die offen für einen Bruch mit der traditionellen Tellerzählung sind und am Abend mal ein paar Stunden freihaben. Denn das Buch aus der Hand zu legen ist schier unmöglich.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane «Tell» und «Kalmann» waren Bestseller; mit «Kalmann» erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. «Tell» war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

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Beitragsbild © Eva Schram