Leon de Winter «Geronimo», Diogenes

Ich gebe zu, ich kaufe und lese jedes Buch von Leon de Winter, auch wenn sich die Presse mockiert über seinen Stil, fehlende «Subtilität» und Spuren von Kitsch. Vielleicht ist es genau das, was sein Schreiben ausmacht; das unverkrampfte Erzählen. Er tut dies, ohne sich einem Genre verschreiben zu wollen. Was den einen zu viel U ist, ist den andern oder den selben zu wenig E. So ist der Wankelmut in der Kritik nicht zuletzt Zeichen der grassierenden Verkrampfung in der Deutschsprachigen Literatur. Unvermeidbar wird sein, dass Leon de Winter weiter schreibt, trotz aller Mäkeleien, ganz zu meiner Freude.

Leon de Winter erzählt Geschichten, die bestens unterhalten, nicht bloss betäuben und wegtragen, sondern Anlass geben zu Auseinandersetzungen. «Geronimo» lautete der Auftrag jener us-amerikanischen Elitetruppe, die in einer spektakulären und minuziös geplanten Aktion im Mai 2011 Osama bin Laden in seinem pakistanischen Versteck eliminierten. Leon de Winter erzählt aber nicht einfach die Geschichte dieser von der Weltöffentlichkeit gefeierten Heldentat. Er mischt geschickt Realität und Fiktion, stellt Fragen, z. B. jene, was es für einen Sinn gehabt haben muss, jenen Mann zu töten. Der Leser kippt unmerklich aus der Realität in die Fiktion, wird in eine Welt katapultiert, die pulsiert von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Leon degeronimo-9783257069716 Winter spielt mit dem Leser, weiss genau, wie leicht er sich von Vermutungen und Misstrauen fesseln lässt, erst recht rund um die Geschehnisse um und nach 9/11. Wer nur ganz kurz im Netz seiner Neugier freien Lauf lässt, staunt, woran sich Millionen aufgeilen und klammern, wie minuziös man sucht und findet, wie leidenschaftlich man widerlegt und widerspricht.

Dabei will Leon de Winter am wenigsten Öl ins Feuer giessen. Er erzählt bloss eine Geschichte, eine spannende Geschichte. Eine Geschichte, die sich in weiten Teilen an Tatsachen, an dem von der ganzen Welt ertragenen Terror der al Qaida hält. Es ist die Geschichte von vier Menschen und die nie schlüssig zu beantwortenden Fragen: Wer trägt die Schuld? Wie viel Freiheit braucht der Mensch? Wie sehr darf der Mensch des Westens nach seinen Massstäben eingreifen? Tut nicht der islamische Extremist genau das gleiche, wenn er seine Welt zur weltumspannenden Atmosphäre machen will? Gewalt gegen Terror, Terror gegen Gewalt.

Apana ist ein afghanisches Mädchen, das seine Familie verlor und zuletzt Schutz in einem us-amerikanischen Militärcamp findet. Dort hört sie Musik, die Goldberg-Variationen von Bach, Musik, die ihr wie Stimmen aus dem Himmel erscheinen. Tom, ein Seals-Soldat, nimmt sich ihrer an, ist aber genau dann nicht im Camp, als dieses von Taliban beschossen und das Mädchen verschleppt wird. Tom fühlt sich schuldig, eh schon mit viel Blut an seinen Händen und versehrt durch den Tod seiner kleinen Tochter. Während der Soldat Tom auf der einen Seite der Erde im Kampf gegen den Terror wütet, stirbt seine kleine Tochter in den Armen ihrer Mutter an den Folgen des Terrors. Und die Geschichte Jabbars, eines pakistanischen Jungen. Er ist eigentlich Christ, versteckt sich hinter einem muslimischen Namen und lebt zusammen mit seiner Mutter in der Nachbarschaft jenes Scheichs, der in Abbottabad hinter hohen Mauern zum grossen, finalen Schlag gegen die Ungläubigen ausholt. Nach «Geronimo», jener Nacht, die Jabbars Leben urplötzlich in den Brennpunkt lebensgefährlicher Interessen versetzt, verweben und verbrennen sich die vier in der Glut «Geronimos».

Leon de Winter mischt sich ein, hält sich nicht zurück in seinen Ansichten darüber, was die westliche Welt tun müsste, um zu verstehen und die östliche, um sich wirklich zu öffnen, nicht für den Westen, aber für die wirklichen Bedürfnisse des Menschen. Vielleicht auch das ein Grund, warum der Autor nicht nur antisemitischen Angriffen des Publizisten und Satirikers Theo van Goghs ausgesetzt war, sondern weil er sich nicht scheut, einen Dialog kontrovers anzuheizen. Gerade als Zeichen persönlicher Freiheit. Im Tagesanzeiger Magazin Nr. 39 schrieb Leon de Winter unter dem Titel Die Israelisierung Europas: «Im Weltbild des Islamisten gibt es immer einen Gegner, einen Widersacher, einen Feind, der besiegt werden muss; ein Kalifat kann nicht anders, als die Herrschaft über alle Muslime anzustreben und wird prinzipiell versuchen, die ganze Welt unterwerfen.»

Nederland, Bloemendaal, 06-06-2002 Schrijver Leon de Winter. Foto Marco Okhuizen / HH (Bildtechnik: sRGB, 11.62 MByte vorhanden)
Leon de Winter.
Foto Marco Okhuizen

Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, begann als Teenager, nach dem Tod seines Vaters, zu schreiben. Er arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher in Holland und den USA. Seine Romane erzielen nicht nur in den Niederlanden überwältigende Erfolge; einige wurden für Kino und Fernsehen verfilmt, so «Der Himmel von Hollywood» unter der Regie von Sönke Wortmann. Der Roman «SuperTex» wurde verfilmt von Jan Schütte. 2002 erhielt de Winter den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, und 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet. Leon de Winter ist verheiratet mit der Schriftstellerin Jessica Durlacher.

Leon de Winter dreht momentan die TV-Serie «Brüssel», das Pendant zum us-amerikanischen «House of Cards».

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