Lesebuch für KomplizInnen

100 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Charles Linsmayers Anthologie «20/21 Synchron» besichtigt die viersprachige Buchschweiz.

von Peter Surber, Kulturredaktor

«Boden unter den Füssen zu gewinnen, flüchtet man in Erinnerung, sieht sich, wie Lenz, der den 20. Jänner durchs Gebirg ging, als kleiner Bub mit Vater nach dem Vesperbrot, wenn der diffuse Tag unmerklich in die Nacht überzukippen beginnt, vom Dorf durch den frischen Schnee die Aufforstung hinauf zum Glaspass stapfen…» – ein erster Satz, der hier noch lange nicht zu Ende ist, ein typischer Hänny-Satz. Reto Hänny, 1947 im bündnerischen Tschappina geboren, hat vor wenigen Tagen den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 zugesprochen erhalten. Darum haben wir ihn als ersten gesucht im Lesebuch zu hundert Jahren Schweizer Literatur, das Charles Linsmayer herausgegeben hat. Hänny ist natürlich drin – aber nicht mit einem Auszug aus seinen Romanen mit den rabiaten Kurztiteln Ruch, Flug oder Sturz, sondern mit einem original für das Lesebuch geschriebenen Text: Glaspass.

Von «überraschend vielen» noch lebenden Autorinnen und Autoren habe er solche bisher unveröffentlichten Beiträge für die Anthologie erhalten, schreibt Linsmayer im Nachwort und bedankt sich für das «intensive Jahr» mit Schweizer Literatur, das ihm die Gespräche mit den Angefragten und die Arbeit am Buch beschert hätten.

Kanon und Entdeckungen
Eine solche intensive Entdeckungsreise durch Regionen, Themen und Jahrzehnte bietet das Buch auch den Leserinnen und Lesern. Es schlägt einen gewaltigen Bogen von 1920 bis 2020, aber geordnet ist es nicht chronologisch, sondern thematisch in kleinen, eher ad hoc gebildeten als systematisch wirkenden Gruppen. «Frühe Erfahrungen» stehen am Anfang, es folgen Texte über die Liebe, über «Väter und Mütter», «Freundschaften», «Städte und Landschaften», die Schweiz wird verhandelt oder der Tod, Schicksale «Auf der Schattenseite» oder Erlebnisse «Jenseits des Realen», Witziges steht neben Tragischem – ein beinah unerschöpfliches Kaleidoskop von Stimmen und Stimmungen.

Walser, Hesse, Ramuz, Hohl, Inglin und so weiter: Die Klassiker sind drin, die Grossschriftsteller von Frisch bis Dürrenmatt bis Burger bis Nizon, die erste Autorinnengarde von Annemarie Schwarzenbach, Alice Rivaz, Amélie Plume, Agota Kristof, Luisa Famos bis Helen Meier. Linsmayer hat den (inoffiziellen, aber über ein Jahrhundert herauskristallisierten) Kanon des viersprachigen Literaturschaffens intus und teils mitgeprägt: Er erinnert auch an Namen, die vermutlich vergessen wären, wenn er sie nicht selber seit den Achtzigerjahren in den 30 Bänden der Reihe «Frühling der Gegenwart» oder in der vierzigbändigen Edition «Reprinted by Huber» ans Licht geholt hätte: Francis Giauque, Cilette Ofaire, Monique Saint-Hélier, Kurt Guggenheim…

Man kommt mit Aufzählen nicht nach. Die Jüngsten? Arno Camenisch, Dorothee Elmiger, Meral Kureishi, Anna Stern, alles Achtzigerjahrgänge. Die Ostschweiz? Neben Elmiger, Meier und Stern sind Regina Ullmann, Niklaus Meienberg, Eveline Hasler, Peter Stamm und Peter Weber in Linsmayers «Long List aufgenommen. Dagegen fehlen wichtige regionale Stimmen wie Christoph Keller, Christian Uetz, Christine Fischer, Renato Kaiser, Lara Stoll und andere.

Generell sind Spoken-Word-Stimmen rar, wohl dem ausdrücklichen Lesebuch-Charakter geschuldet. «Vollständigkeit wurde nicht angestrebt», schreibt Linsmayer gleich selber im Nachwort – bei schweizweit rund 2500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern wäre das auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Auswahl habe sich aus seinen Vorlieben und Erfahrungen ergeben. Begründungen, Gewichtungen und Tonalitäten, Wahlverwandtschaften und Kontraste schält das Nachwort heraus, und eine unübertreffliche Leistung sind die 135 Kurzbiografien, je eine Seite lang, die alle im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren samt Bild vorstellen.

Vögel und Pilze
Am besten folgt man also als Leser ebenfalls seinen Vorlieben. Findet zum Beispiel Dorothee Elmigers Lockdown-Reflexion Schlafprotokoll, verfasst für eine Produktion am Zürcher Schauspielhaus 2020. Oder einen gespenstisch apokalyptischen Text mit dem Titel Vögel, frittiert der Zürcher Romanautorin Silvia Tschui. Darin ist die Welt, überhitzt und zu Tode ausgebeutet, am Ende, die Farben verloren, der Boden ausgetrocknet, die Wörter vergessen, «und man hatte nie eine Chance». «Verhängnis und Vision» heisst das Kapitel, in dem auch eines der wenigen Gedichte im Band zu finden ist, Raphael Urweiders tropische Trauer. Zur Aufheiterung folgt ein paar Seiten weiter Peter Webers Pilzöffentlichkeit, in der die Hallimasche das letzte Wort haben.

In einer kulturpessimistischen Schlussbetrachtung warnt der Herausgeber vor der «digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur globalen Zuschnitts», die das gedruckte Wort zunehmend «in eine Randexistenz» dränge. Er hofft im Gegenzug auf ein Lesepublikum, das, statt «Trends und Moden» zu folgen, dem Geschriebenen wieder mehr Zeit widmet und «zu neugierigen, aufnahmebereiten, geduldigen Adressaten und echten, begeisterungsfähigen Komplizen der Schreibenden» wird. Sein Lesebuch will dazu einen Beitrag leisten.

Dieser Bericht erschien in der Märzausgabe der Kuturzeitschrift Saiten.

Bei der Veranstaltung vom 10. März im Literaturhaus Thurgau sind Klaus Merz uns Silvia Tschui mit auf der Bühne. Begleitet werden Sie vom Gitarristen Philipp Schaufelberger. Moderation Peter Surber

Silvia Tschui, geb. 1974 in Zürich, studierte Germanistik und Grafikdesign. Ihr erster Roman „Jakobs Ross“ war in der Schweiz ein preisgekrönter Bestseller. Ihr aktueller Roman „Der Wod“ erschien bei Rowohlt.
Klaus Merz, geb. 1945, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018).

Ein Leben für die Kunst – Sophie Taeuber-Arp», Silvia Boadella, Skira Verlag

Die ganzheitliche Suche nach Schönheit
Silvia Boadella widmet sich mit einem lesens- und betrachtungswerten Buch dem Leben der Künstlerin und ihrer Großtante Sophie Taeuber-Arp.

Interview von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Auf dem leider nicht mehr im Umlauf befindlichen 50-Franken-Geldschein war Sophie Taeuber-Arp abgebildet. Haben Sie als deren Grossnichte noch ein paar von diesen Scheinen aufbewahrt?

Silvia Boadella: Ja, ich habe einige davon zurückgelegt und werde sie später verschenken. Was mir darauf besonders gefällt ist ihr aufmerksamer Blick, mit dem sie uns anschaut.

Aerni: Durch Retrospektiven im Kunstmuseum Basel, in der Tate Modern in London und im Museum of Modern Art in New York wird die Künstlerin, die auch im Zentrum der Zürcher Dada-Bewegung stand, wieder ins mediale Bewusstsein gerückt. Sie widmen ihr nun mit diesem Buch in Ihrer eigenen literarischen Sprache eine Hommage. Was hat Sie dazu bewogen?

Boadella: Ich bin aufgewachsen mit Sophie Taeuber-Arps Kunst und mit Menschen, die ihr sehr nahe standen. In Erzählungen über sie und in ihrem Werk habe ich immer eine enorme Lebensenergie dieser Frau und Künstlerin wahrgenommen. Dieser Kraft wollte ich in einem eigenen Werk nachspüren. Auch hatte ich einen entscheidenden Traum über sie. Darin hörte ich den Satz: „Sophie hat einen Albtraum in einen Traum verwandelt.“ Ich wollte in diesem Buch ergründen, was es damit auf sich hat und wie Sophie dies geschafft hat. Ich habe das Buch also auch aus einem eigenen Interesse heraus geschrieben, um von Sophie zu lernen.

Aerni: Sie wurden fünf Jahre nach dem Tod Ihrer Grosstante Sophie Taeuber-Arp, 1943, geboren. Wie präsent war sie in Ihrer Familie?

Boadella: Die Erinnerung an Sophie war sehr wach und es wurde vieles über sie erzählt, gerade weil sie eine so lebendige und vielseitige Frau war und ein aussergewöhnliches Leben führte. Sophie war eine Ausnahmekünstlerin unter den Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie war schon zu ihren Lebzeiten sehr bekannt, renommiert und international angesehen. So wurde sie zum Beispiel bereits damals vom Museum of Modern Art in New York ausgestellt. In den 13 Jahren, in denen sie nicht mehr unterrichten musste – 1929-1943, nahm sie an vierzig internationalen Ausstellungen teil – auch das zeigt ihre enorme Lebenskraft.

Aerni: In Ihrem Buch zeigen Sie nicht nur ausgesuchte Werke und Illustrationen von Taeuber-Arp, Sie verknüpfen diese mit Ihrer persönlichen Art der Poesie. Eigentlich im Sinne der porträtierten Künstlerin, da sie ebenso interdisziplinär gestaltete. Oder anders gefragt: Warum keine klassische Biografie?

«Sophie Taeuber-Arp – Ein Leben für die Kunst» von Silvia Boadella, zweisprachige Ausgabe (Englisch – Deutsch) 224 Seiten mit 80 Abbildungen, Skira Verlag, 2021, ISBN 978-88-572-4332-0

Boadella: Ich habe in meinem Buch eine neue Form des Porträtierens entwickelt. Biografische Details werden mit den Prozessen verflochten, die Sophie Taeuber-Arps vielseitiges Schaffen antrieben. Das Buch fühlt sich wie ein Roman an und hat auch dessen Form, basiert aber eher auf Fakten als auf Fiktion. Und doch wagt es zugleich, uns einen Einblick in das Denken und Fühlen der Künstlerin zu geben. Es soll gleichzeitig persönlich und informativ sein. Ich habe versucht, es mit genauso viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit fürs Detail zu schaffen wie Sophie Taeuber-Arp ihre eigenen Werke. So pflege ich das Vermächtnis der Künstlerin und beschreibe es auf eine poetische und innige Weise, die ebenso voller Sehnsucht ist wie die Werke der Künstlerin.

Aerni: Die Welt, in der Sophie Taeuber-Arp lebte, geriet aus den Fugen. Flucht, Angst und Unsicherheiten hinderten sie nicht, künstlerisch aktiv zu bleiben. Vielleicht nicht auch ein Weg, das alles ertragen zu können?

Boadella: Ja, es war ihr Weg, dies alles auszuhalten. Trotz der Bedrohung durch zwei Weltkriege widmete sie sich leidenschaftlich ihrer Kunst. Sie fand und bewahrte durch ihre Arbeit nicht nur unter äusserst schwierigen Umständen ihr inneres Selbst und ihre Freude, sondern schöpfte daraus auch eine grosse Kraft, um zu überleben, den Herausforderungen standzuhalten und sich selbst treu zu bleiben.

Aerni: Bewirkte Ihre erzählerische Hinwendung an Taeuber-Arp eine Veränderung in Ihrem Verhältnis zu ihr?

Boadella: Es vertiefte meine Beziehung zu ihr. Beim Schreiben über sie fühlte es sich so an, als würden wir uns in einem gemeinsamen Resonanzraum befinden. Wenn ich also die Entstehung eines Werkes von ihr beschrieb, versuchte ich in den Raum einzutauchen, aus dem heraus sie ihre Kunst erschuf. Was mir bei der Arbeit am Buch besonders bewusst wurde, ist ihre holistischer Weltsicht. Sophie hat ganzheitlich nach Schönheit gesucht. Mit Schönheit meine ich hier nicht etwas rein Visuelles, auch nichts Fertiges, sondern ein Handeln. Schönheit ist für Sophie ein Vollzug, ein Lebensbezug. Zudem findet in ihrer Arbeitsweise ein Ausscheidungsprozess von Überflüssigen und ein Einkreisungsprozess auf das Wesentliche statt – wie es in einem japanischen Lehrspruch heisst: Beschränke dich auf das Wesentliche, ohne die Poesie zu entfernen. Diese Einstellung hat mich sowohl für meine Arbeit als Schriftstellerin als auch als Psychotherapeutin beeinflusst.

Aerni: Sie selber stammen aus Basel und leben als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Zudem studierten Sie Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. In welchen Bereichen finden Sie denn die Energie und Inspiration, um mit den Unabwägbarkeiten der Zeit umgehen zu können?

Boadella: Alle diese Bereiche inspirieren mich und vitalisieren meine Kreativität. Inspiration und Kreativität sind mein Schutz und geben mir Stabilität, denn sie verbinden mich mit meinen inneren Ressourcen. Ein Leitsatz auch von unserer psychotherapeutischen Arbeit ist: Anstelle von burn out: light up! Anstelle von Ausbrennen: aufleuchten lassen.

Aerni: Sie entwickelten zusammen mit Ihrem Ehemann David Boadella die psychotherapeutische Methode «Biosynthese». In den grossen Krisenjahren anfangs des 20. Jahrhunderts reagierten viele Kunstschaffende auf die Industrialisierung und den Nationalismus mit der Suche nach neuen Formen der Kunst und des Lebens, wenn wir an den Dadaismus oder an den Monte Verità denken. Wie sehen Sie heute die Kraft der Kunst als Kontrastmittel zur jetzigen Gesellschaft?

Boadella: Die Kunst hat die Fähigkeit, eine Gegenwelt zu bestehenden Verhältnissen aufzubauen, sei dies zu allgemeinen Gesellschaftsformen oder zu persönlichen Lebensweisen. Insofern wohnt ihr eine subversive Kraft inne, die das Bewusstsein für Missverhältnisse schärft und dadurch Veränderung anregen kann – heute auch gerade in Bezug auf die zunehmende „Instrumentalisierung“ von Mensch und Welt. Ich habe dies in meinem Buch „Erinnerung als Veränderung“ ausgeführt.

Aerni: Wenn Sie die Chance hätten, Ihrer Grosstante Sophie Taeuber-Arp eine Frage stellen zu können, wie würde sie lauten?

Boadella: Sophie, du bist durch deinen Unfalltod – einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung – mitten aus deinem Leben und deinem künstlerischen Schaffen herausgerissen worden. Würdest du es trotzdem als erfüllt anschauen? Wie würde ein Neubeginn in der jetzigen Zeit für dich aussehen, als Frau und als Künstlerin?

Das Buch: «Sophie Taeuber-Arp – Ein Leben für die Kunst» von Silvia Boadella, zweisprachige Ausgabe (Englisch – Deutsch) 224 Seiten mit 80 Abbildungen, Skira Verlag Mailand, ISBN 978-88-572-4332-0, 2021

Silvia Boadella ist die Grossnichte von Sophie Taeuber-Arp, wurde 1948 geboren und lebt heute als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in Heiden. Nach dem Studium der Philosophie, Literatur, Psychologie und Kunstgeschichte in Basel promovierte sie in Philosophie an der Universität Tübingen. Sie war Gastprofessorin an der Universität Kanazawa in Japan und lehrte Philosophie am Goethe-Institut in Neu-Delhi. Seit 1985 leitet sie zusammen mit ihrem Ehemann David Boadella das internationale Institut für Biosynthese in Heiden. 2014 erschien von ihr der Roman «Die tragende Haut».

Martin Kunz «Vom Adel der Alltagsfragen» Edtion Baes, Interview mit Urs Heinz Aerni

In seinem neuen Buch setzte der Philosoph Martin Kunz den Untertitel: «Philosophische und andere Notizen in einem merkwürdigen Jahr». Was machte die Pandemiezeit mit einem Philosophen und wie könnte der Alltag eine neue Qualität erhalten?

Interview: Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Ich beginne mit einem Zitat: «Vom Einzelnen wird Autonomie verlangt, diese ist aber im Grunde eine Bürde». Wissen Sie, wo ich diesen Satz las?

Martin Kunz: Alle, die über Autonomie nachdenken, kommen darauf zu sprechen, dass sie, also die Konkretisierung der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, eine Aufgabe ist und nicht einfach ein Geschenk. Autonom bin ich, wenn ich den Willen habe zu wollen. Das heisst, ich muss nachdenken können, und zwar so, dass schliesslich das, was ich will, handlungsleitend wird.
Aber nun zu Ihrer Frage. Ich habe das so oder ähnlich sicher in einem meiner Essays geschrieben.

Aerni: Dieser Satz findet sich auf Seite 55 in Ihrem Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Ich komme auf dieses Buch zurück. Doch nun zu diesem hier vorliegenden, das ja mitten in eine Zeit hinein oder aus ihr heraus geschrieben worden ist, in der die Frage nach Freiheit und Autonomie eine zusätzliche Brisanz bekommt. Das Buch enthält aber durchaus auch Notate, wie «Was koche ich für Vera?». Es scheint, dass Alltagsfragen wie diese, durch die Pandemiekrise geadelt werden. Weisst du noch, was du ihr dann gekocht hast?

Kunz: Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich gab‘s zwei Gänge, etwas Vegetarisches und dann vielleicht einen Fisch. Sie sagen es übrigen sehr eindrücklich: Alltagsfragen werden in einer solchen Krise geadelt. Viele Verrichtungen habe ich bewusster ausgeführt. Das scheinbar Unwichtige erhält einen besonderen Glanz.

Aerni: Auch in diesem Buch hier reflektieren Sie über Ihre Existenz – mit Fragen und Gedankenspielen. Die letzten Bücher sind entstanden in Zeiten, in denen die Welt pulsierte: mit Events, Kinos, offenen Konzerthäusern und Theatern. Könnte es sein, dass Ihre Zurückgeworfenheit in die eigenen vier Wände mit Tätigkeiten wie Entkalken der Kaffeemaschine das Schreiben gelähmt hat? Oder war es für Sie eine Art Rettung?

Kunz: Das Warten der Kaffeemaschine habe ich gewissermassen zelebriert. Wenn die Grossräume des Heiligen, also Kirchen, Kinos und Wellnesstempel, geschlossen sind, stellt sich die Frage, ob andere seelische Verdichtungen bzw. Öffnungen gefunden werden können. Vielleicht eben Würdigungen des Nebensächlichen. Als es hiess ‹Bleibt zu Hause›, habe ich zunächst gedacht, dass ich ja nun etwas Grösseres anpacken könnte, ein Buch über den utopischen Aspekt der Romantik zum Beispiel.

Aerni: Da höre ich nun das berühmte «Aber»…

Martin Kunz «Alltag – Philosophische und andere Notizen in einem seltsamen Jahr» mit einem Vorwort von Zora del Buono. Edtion Baes, 2021, ISBN 978-3-9519872-7-9

Kunz: Genau … Ich habe dann eben gemerkt, dass ich energetisch dazu nicht in der Lage war, und kam deshalb aufs Tagebuchschreiben wie viele andere ja auch. Es wurde für mich existentiell wichtig. Man könnte geradezu sagen, dass das Tagebuchschreiben Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung ist. Ich schreibe, also bin ich im Quadrat. Dazu kommt noch das Klavierspielen, künstlerische Arbeit und die Kunst des alltäglichen Tuns. Deshalb schreibe ich auch übers Essen, über Liebesgefühle und nicht nur über die Kopfarbeit. Interessant dabei auch die Frage, worüber ich nicht schreibe …

Aerni: … was vielleicht durch das Lesen erahnt werden könnte…

Kunz: Auch habe ich mich Immer wieder gefragt, wie andere Alleinlebende, denen all das nicht zur Verfügung steht, mit der Situation umgehen. Ich bin in dieser Hinsicht privilegiert.

Aerni: Ob es Ihr persönlichstes Buch von allen ist, sei hier mal offengelassen, aber wir erfahren zwischen den Zeilen allerhand über Ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Gab es auch Momente, in denen Sie die Philosophie und die Kunst als gescheiterte Stützen empfandest?

Kunz: Noch in der ärmlichsten Hütte wird sich ein Väschen mit einem Zweig, die Figur einer Gottheit oder ein einfaches Spielzeug finden. Genau dies, Anteil zu haben am Reich des Ästhetischen, der Phantasie, des Sakralen, trägt hindurch. Fragen zu stellen, Gedankenreichtum, Spiel, Schönheit und die Erfahrung von Sprengendem, von etwas, das uns aus unserem Weltimmanenzgefängnis hinausschauen lässt, das hilft. Und es ist kein Widerspruch zum Gedanken der Nobilitierung des Alltags. All dies mit Fragezeichen. Mich beflügelt`s. Meistens.

Aerni: «Weltimmanenzgefängnis», ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Wir erleben hier, bei der Lektüre, nicht nur eine Reise durch Ihre Gedanken, sondern erfahren auch, was Sie gelesen haben. Befanden sich darunter Titel oder Texte, die Sie als Gewinn empfunden haben oder die Sie vielleicht enttäuscht haben?

Kunz: Enttäuscht haben mich jene Intellektuellen, die vorschnell wissen, wie alles ist, es besser wissen als die Experten, die in der Regel bescheiden sind. Schreibende, die zu Kurzschlüssen neigen, mag ich nicht besonders. Ein Kurzschluss ist das Ergebnis eines Zusammenbruchs der Spannung zwischen zwei Schaltungspunkten mit verschiedenem Potential. Oder anders gesagt: Wem der Doppelblick mangelt, der denkt nicht.

Aerni: Zum Glück gibt es auch noch andere Geister…

Kunz: In der Tat, ich bin bewegt worden durch Philosophen, die letztlich angetrieben sind vom Versuch, «alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten» – so Adorno. Immer wieder hat mich da auch der Philosoph Ernst Bloch vereinnahmt mit seiner Utopie des transzendenzlosen Transzendierens. Jetzt verwende ich wohl wieder eine etwas strapazierende Formel. Nun ja, Philosophen sind in den Fragen der seelisch-geistigen Vertikalspannung manchmal mutiger als Theologen.

Aerni: Und die Kunst am Text, sprich Literatur?

Kunz: Philosophisches zu lesen genügt mir, wie Sie ahnen, noch nicht. Hölderlin, Trakl, Celan – Poesie, gehört dazu. Auch eigene Versuche. Und Klavier zu spielen, mich mit Kunst auseinanderzusetzen und nach dem Göttlichen zu fragen, unabhängig davon, ob es dieses gibt. All dies hat, wie schon erwähnt, rettende Kraft. Und ich habe es nie ganz aufgegeben, Menschen zu treffen. Zu spüren, dass es Menschen gibt, die uns mögen, ist lebenswichtig. Es gibt keine Kunst des Seins ohne Mitsein.

Aerni: Was hat Sie mehr verändert, die zwei Lockdowns, das Leben auf Halbmast oder das Schreiben dieses Textes?

Kunz: Wir stecken ja noch ziemlich in der Krise. Zurzeit sind meine Gedanken gerade dort, wo Menschen ins Elend gestürzt werden; bei den Kindern – es sind weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde, die nicht zur Schule gehen dürfen; bei den Mädchen, die statt sich emanzipieren zu können, ungewollt schwanger werden …

Aerni: Ein gewaltiges Thema, das uns wohl noch lange beschäftigen wird. Währenddessen verbeissen sich viele Flachdenker in festgezurrte Thesen und Weltbilder…

Kunz: Nun, wir denken immer lokal, schauen auf die Entwicklung der Zahlen bei uns, jammern, wenn wir nicht shoppen gehen können und die Bars geschlossen sind. Einzelne verrennen sich da gedanklich, kommen auf abstruse Behauptungen. «Scheinmeinungen» nannte das ein Vorsokratiker. Wir wissen leider nicht genau, welcher Umgang mit der Krise wirklich gut wäre. Und ich verstehe, dass es schwierig ist, Nichtwissen auszuhalten.

Aerni: Zudem wurde auch unsere Endlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein gerückt.

Kunz: Sie sagen es. Ich denke über den Tod nach, ohne da sehr weit zu kommen. Und ich bin selbstverständlich besorgt, was die rettenden Massnahmen in unserer Gesellschaft für Schäden hinterlassen werden, ökonomische, soziale, psychische. Und ja, philosophisch stellt sich die Frage der Autonomie durchaus, um nochmals auf diese Frage zurückzukommen. Darf und soll «der Staat», den wir unversehens als strenges Gegenüber wahrnehmen, derart eingreifen in unsere Lebenswirklichkeit?

Aerni: Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen…

Kunz: Was mich verändert habe?

Aerni: Ja genau.

Kunz: Stellen Sie mir die Frage in ein paar Jahren nochmals.

Aerni: Sehr gerne. Das Lesen dieses Textes führte mich bei aller Neugier auf Ihre persönlichen Erlebnisse auch hin zum Mitdenken über Hegel, Adorno usw., aber auch in Phasen der Rat- ja sogar Hilflosigkeit bin ich geraten, bis hin zur Melancholie. Ich denke an Ihr bereits erwähntes Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Hand aufs Herz, wie viel Erotik steckt nach diesem Jahr noch in ihr?

Kunz: Wir sind wohl nicht fürs Alleinsein vorgesehen. Etwas drängt zum Leben in einem Stamm, in einer Sippe, einer Gruppe und seit noch nicht langer Zeit zur Dialektik in einer Zweierkiste. Ich halte es aber für eine gute Übung, sich dem Alleinsein auszusetzen. Komme ich in ein weiterführendes Gespräch mit mir? Oder gerate ich in die Seelenwüste der Einsamkeit? In einem meiner Bücher

Aerni: … im «Wider die Selbstvergessenheit» …

Kunz: Genau, da habe ich ja nachgedacht über die sogenannte Individuation, also den Imperativ Werde, der du bist. Werde die, die du bist. Damit ist gemeint, den Weg der Schatten-Erkenntnis und Ichdistanzierung zu gehen, was der Ganzwerdung dient. Wir müssten wieder ernstnehmen, was Seele ist: das Medium, durch das sich etwas zeigt, was nicht meiner Wenigkeit zu verdanken ist. Trotzdem: Nur für den mystischen Menschen ist Einsamsein Eins-Sein. Einsam kann man sich übrigens auch mitten unter Menschen fühlen.

Aerni: Und für mich als Nichtmystiker?

Kunz: Ungewollte soziale Isolation ist keineswegs mehr süsse Melancholie, darauf wollen Sie wohl hinaus, sondern kann krank machen. Sprachlich und gedanklich unsorgfältig hat man uns soziale Distanz empfohlen.

Aerni: Irgendwo karikieren Sie «Freunde», die nur über sich selber reden, aber sich nie nach der Befindlichkeit des Gegenübers erkundigen. Nun, welche Fragen würden Sie den Leserinnen und Lesern dieses Buches gerne stellen wollen?

Kunz: Das will ich so abstrakt gar nicht beantworten. Ich käme gerne ins Gespräch mit einzelnen Lesenden. Und dieses Gespräch würde sich abhängig vom jeweils entstehenden Resonanzraum ganz anders entfalten.

Aerni: Trotzdem…

Kunz: Ja, um Ihrer Frage doch noch gerecht zu werden: Mich würde interessieren, welche Passagen beeindruckt, irritiert, geärgert, zum Staunen bewegt oder zu was auch immer angeregt haben.

Aerni: Danke, Martin Kunz, bleiben wir im Austausch. Über die fragile Freiheit, über das, was wir wollen und können. Unser Leben und unsere Welt befinden sich im Kippzustand, um so wichtiger bleiben das Lächeln und die Gelassenheit als unsere Stützen, und Bücher, wie dieses hier.

Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Ferner studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liess sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich.
Publikationen (Auswahl): «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (2017), «Die stille Erotik der Melancholie» mit Bildern von Jeanine Osborne (2018), «Wider die Selbstvergessenheit»(2020).

Webseite von Martin Kunz

Beitragsbild © Urs Heinz Aerni

Joachim Sartorius «Eidechsen», Naturkunden, Matthes & Seitz

Was entstehen kann, wenn sich Buchkunst, Poesie, Wissenschaft und Leidenschaft treffen, das beweisen die Herausgeberin Judith Schalansky in ihrer Reihe „Naturkunden“, der Verlag Matthes & Seitz in Berlin und der Dichter Joachim Sartorius, der seit Jahrzehnten zu den Eminenzen der deutschen Dichtkunst zählt.

Vor nicht langer Zeit war ich im Tessin in den Ferien, in einem kleinen Steinhaus über dem Tal, umgeben von Steinmauern, die über Generationen angelegt wurden, um die Hänge der Täler nutzbar zu machen. Dort, wo ich sass, lag und las, sonnten sich auch Eidechsen. Und manchmal auch die grosse Schwester der häufig anzutreffenden Zauneidechse, die grün schimmernde, um einiges grössere Smaragdeidechse. Die Tiere faszinieren. Nicht nur wegen ihrer Eleganz, der Schnelligkeit ihrer Bewegungen und der Verwandtschaft mit den faszinierendsten Tieren der Gegenwart und Vergangenheit wegen, sondern weil die kleinen überaus wendigen Echsen Bindeglied zu einer Welt sind, die in Geschichte, Mythen und Märchen Echsen zu symbolreichen Tieren machen. Sei es die Faszination, die Dinosaurier auslösen, die Mythen und Legenden um feuerspeiende Drachen, die Geheimnisse um ihre Nähe zur Unterwelt. Sei es die Kühle ihrer Haut, die Fähigkeiten, sich Extremen anzupassen, selbst einen Körperteil abzuwerfen – Eidechsen sind Geschöpfe, die mit anderen Ebenen verbinden, Zeugen einer dies- und jenseitigen Existenz.

Joachim Sartorius, Judith Schalansky (Hg.) «Eidechsen
Ein Portrait», Naturkunden, Matthes & Seitz, 2019, 136 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-95757-791-7

Und wenn sich für einmal kein Wissenschaftler an das Wesen eines Tieres annähert, auch kein Journalist, kein Lehrbuchautor, wenn sich ein Dichter, ein Künstler an dieses filigrane Wesen heranwagt und es mit ebenso filigraner Sprache zu zeichnen vermag, dann entsteht ein Kunstwerk, ein Kleinod, das seinesgleichen sucht, dass die Lektüre zum multiplen Genuss macht. So sehr man in der Vergangenheit Echsen mit Schlangen ud Kröten in einen Topf warf und ihnen einen Platz auf der Arche Noah absprach, sie in den Dienst des Bösen und Üblen schob, so sehr gibt Joachim Sartorius den Eidechsen jenen Platz zurück, der ihnen gebührt.

Joachim Sartorius malt mit grosser Geste bis ins kleinste Detail, ohne je nur ansatzweise zu langweilen. Weil ich als Leser in jeder Seite die Leidenschaft des Autors und die Akribie der Herausgeberin spüre, wird die Lektüre dieses Buches zum Hochgenuss. Inhaltlich sowieso – aber in Vollendung auch haptisch: ein geprägter Einband, ein farblich passender Schnitt, schwarze Fadenheftung, sorgfältig vielfarbig illustriert und ediert!

Wer in seinem Bücherregal noch keine kleine Bibliothek der „Naturkunden“ begonnen hat, der sei gewarnt: Wie kaum eine andere Reihe birgt diese Reihe den Zwang zu Vollständigkeit – durchaus Suchtcharakter!

Joachim Sartorius, geboren 1946 in Fürth, wuchs in Tunis auf und lebt heute, nach langen Aufenthalten in New York, Istanbul und Nicosia, in Berlin und Syrakus. Er veröffentlichte acht Gedichtbände, die sich immer wieder mit der Levante und ihren Kulturen befassen. Joachim Sartorius ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2019 erhielt Sartorius den August Graf von Platen Literaturpreis.

Judith Schalansky, die Herausgeberin der Buchreihe «Naturkunden», 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr «Atlas der abgelegenen Inseln» als auch ihr Bildungsroman «Der Hals der Giraffe» wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr «Verzeichnis einiger Verluste» erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe «Naturkunden» heraus.

Falk Nordmann, Zeichner und Illustrator, lebt und arbeitet in Berlin. Ab 2007 Umschlaggestaltungen und Autorenportraits, seit 2013 Tierillustrationen der Reihe Naturkunden für Matthes & Seitz Berlin.

Beitragsbild: Joachim Sartorius am Literaturfestival Leukerbad 2015 im Gespräch mit Christine Lötscher © Literaturfestival Leukerbad

Louise Brown «Was bleibt, wenn wir sterben» Erfahrungen einer Trauerrednerin, Diogenes

Sterben, Tod und Trauer sind Tatsachen, mit denen man sich schwer tut, weil sie den Menschen mit seiner Endlichkeit konfrontieren, selbst dann, wenn man ihnen beruflich und professionell begegnet. Louise Brown, ausgebildete Journalistin, wuchs in einen ganz speziellen Beruf hinein, in den der Trauerrednerin. In „Was bleibt, wenn wir sterben“ erzählt sie von ihren Beweggründen, den Begegnungen und all dem was Sterben und Tod aufreisst.

Als mein Vater im Sterben lag, rief man mir an und bat mich zu kommen. Ich stieg ins Auto und fuhr wie in Trance zum Spital, in dem man mit schwindender Hoffnung um das Leben meines Vaters kämpfte. Zusammen mit meiner Mutter sass ich in den Fluren vor dem Zimmer, in dem mein Vater lag. Man hatte erklärt, es sei nicht schön, dem beizuwohnen, was man mit dem Körper meines Vater mache, um ihn ins Leben zurückzuholen. Eine gefühlte Ewigkeit später liess man uns dann ein, weil man alle Maschinen entfernt hatte. Er lag da, bis zur Brust zugedeckt. Er war tot, seine Augen geschlossen, seine Haut schon kalt. Bis zu jenem Zeitpunkt, ich war selbst schon Vater, schon öfters Zeuge einer Beerdigung und mir durchaus bewusst, dass das Leben endlich ist, schlug mir das Unumstössliche, das absolut Endgültige und die Tatsache der endgültig gekappten Verbindung zu meinem Vater wie eine Faust in Magengrube und Gesicht zugleich. Fassungslos versuchte ich einzuordnen, was nicht sein sollte. Er lag da und war unsäglich weit weg. Es hatte ihn weggenommen, meiner Mutter, meiner Familie, mir. Es würde keine Blicke mehr geben, keine Umarmungen, kein Erwidern, bloss noch die Erinnerung.

Louise Brown «Was bleibt, wenn wir sterben. Erfahrungen einer Trauerrednerin», Diogenes, 2021, 256 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-257-07176-4

Wahrscheinlich ist das die eigentliche Qualität dieses Buches. Louise Brown konfrontiert und ruft in Erinnerung. „Was bleibt, wenn wir sterben“ ist keine literarische Prosa, keine Sammlung von Trauerreden und auch keine Lebenshilfe. Louise Brown begleitet mich zu meiner Erinnerung, ruft zurück, was in meiner Erinnerung in ganz speziellen Räumen eingelagert zu sein schein. Ich habe jenen Tag, als mein Vater starb, nicht vergessen. Auch nicht die Tage danach, als meine Mutter und ich am Tisch sassen und taten, was nach dem Tod eines Vaters und Ehemannes zu tun ist. Ich habe auch nicht vergessen, wie ich um Worte, Sätze und Erinnerungen rang, als ich mich entschloss, die Trauerrede meines Vaters selbst zu schreiben und zu halten. Das erschreckende Bewusstsein, dass viele Erinnerungen, viel Wissen mit dem Tod eines Menschen unwiederbringlich verloren ist, dass jene Sätze, die man dann möglichst gefasst vor der Trauergemeinde vom Blatt liest, um nicht allzu oft in die Gesichter von Familie und Freunden schauen zu müssen, nur ein ganz kleines Fenster sind in ein Leben, dass in jenem Zimmer im Krankenhaus mit dem Ausschalten von Maschinen endete. Aber Louise Brown macht jene Räume, in denen meine Erinnerungen an das Sterben und den Tod eingelagert sind, weit auf. Sie ermuntert mich, sie nicht gleich wieder einzulagern, etwas aus ihnen zu formen und wenn es nur die Absicht ist, mich endlich mit meinem eigenen Ende auseinanderzusetzen.

Bei Louise Brown war es wohl ganz ähnlich. Selbst mit dem Tod konfrontiert, von Trauer gepeinigt und erstmal sprachlos gemacht, versucht sie als Trauerrednerin dem Sterben und dem Tod jenen Stellenwert zurückgeben, dem ihm eigentlich gebührt. Sterben werden wir alle. Der Tod ist unleugbar. Louise Brown erzählt, wie sie von der Journalistin zur Trauerrednerin wurde. Von vielen Begegnungen mit Hinterbliebenen, Zurückgebliebenen, Trauernden. Von der Konfrontation mit jenem letzten Kapitel des Lebens, das oft mit viel Schmerz und Leid verbunden ist. Mit Fragen: Was macht den Menschen, der gestorben ist, aus? Sind es die blossen Lebensdaten, die Karriere oder die kleinen und grossen Liebenswürdigkeiten, die jene schmunzeln lassen, die sich erinnern? Die Güte und das Gute?

Louise Browns Buch macht demütig.

Louise Brown, geboren 1975 in London, zog als Jugendliche mit ihrer Familie ins norddeutsche Ostholstein. Sie studierte Politikwissenschaft in Nordengland, Kiel und Berlin. Sie ist Journalistin und seit einigen Jahren auch als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Dort moderierte sie auch das erste «Death Café». In ihrem Podcast «Meine perfekte Beerdigung» spricht sie mit Menschen darüber, wie sie einmal verabschiedet werden wollen. Louise Brown lebt mit ihrem Partner, zwei Kindern und Hund in Hamburg.

Beitragsbild © Gene Glover / Diogenes

Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung», Wallstein

Das Selbstverständnis „Die Krone der Schöpfung“ zu sein, ist angesichts der aktuellen Lage der Menschheit manchmal nur noch schwer nachzuvollziehen. In seinem neuen Essayband sind Beiträge aus dem Zeitraum von 2018 bis 2020 gesammelt. So etwas wie den Jahren vor und nach der „neuen Zeitrechnung“.

Die meisten dieser gesammelten Essays sind im Sonntags-Blick erschienen und garantieren schon einmal für adäquate Länge und Verständlichkeit, auch wenn das Lukas Bärfuss gar nicht beweisen muss. Lukas Bärfuss ist nicht der klassische Intellektuelle, studiert, promoviert, gebettet und gepolstert. Lukas Bärfuss ist feiner Beobachter, weder aus der Vogel- noch aus elitärer Perspektive. Kein Polterer, der sich in seinem übervollen Büro hinter seinen Papieren filmen lässt und die Welt mit ein paar Behauptungen und kernigen Sätzen erklärt. Keiner der Besserwisser, die sich auf Privatkanälen tummeln und ihren FollowerInnen den Kopf verdrehen.

Lukas Bärfuss «Die Krone der Schöpfung» Essays, Wallstein, 2020, 174 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3831-9

Und trotzdem sind seine Essays mit reichlich Pfeffer und Salz geschrieben, keine kopflastigen Pamphlete, sondern feinsinnige Analysen zu aktuellen Fragen der Zeit, von scheinbar kleinen Themen, hinter denen sich die grossen verstecken. Lukas Barfuss will verstehen und nimmt mich mit. Er sieht tief und will verstehen. Er denkt nach und schreibt. Fähigkeiten, die immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden, weil Selbstinszenierung und Selbstüberschätzung grassieren, sei es im Kleinen bis hin zur Weltpolitik. Die Wirren um Trumps Präsidentschaft sind ein Beispiel dafür.

«Die Geschichte bewegt sich nicht im Ochsengang, nicht in einem gleichmässigen Trott. Sie gleicht eher den wilden Sprüngen eines Pferdes, das nach Tagen im Stall wieder auf die Weide gelassen wird.»

Und Lukas Bärfuss ist Leser von Klassikern, wohl auch dort Vertreter einer aussterbenden Kaste, die sich nicht von Aktualität und Moderne, von Hype und Pointe leiten. Er liest und kombiniert. Er denkt nach, weiss um die menschlichen Schwächen und schlägt mir damit nicht um die Ohren. Was er schreibt, spornt mich an, nimmt mich mit. Bärfuss moralisiert nur rudimentär. Was als Moral durchscheint, ist an seine tiefe Betroffenheit gebunden.

„Die Krone der Schöpfung“ ist Lesegenuss und Denkfutter, vielleicht auch Lesefutter und Denkgenuss, auch wenn in manchen seiner Texte unterschwellig eine ganz ordentliche Portion Wut steckt. Aber nie eine destruktive Wut, nie eine Wut, die sich bei mir als Leser fortsetzen soll. Sondern in allen seinen Texten, Essays schwingt viel Respekt!

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht 2019 den
Georg-Büchner-Preis an Lukas Bärfuss, der mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum stets neu und anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens erkundet. In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache durchdringen sich in seinen Dramen und Romanen nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit. Diese Qualitäten prägen zugleich Lukas Bärfuss‘ Essays, in denen er die heutige Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennendem Blick begleitet.

© Stefano de Marchi

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun / Schweiz, ist Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.
Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt u. a.: Berliner Literaturpreis (2013), Schweizer Buchpreis (für «Koala», 2014), Nicolas-Born-Preis (2015). Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Hagard» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Meienberg

Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz», Edition Baes

Die Schweizer Literatur ist ein einziges Kleinod! Für die Abrundung dieser Würdigung braucht es dann noch die Begriffe pingelig, verschmitzt-kindlich und unschuldig-intellektuell. Die ideale Erzählposition für die Schweizer Literatur ist immer noch das Traumpaar Heidi-Oheim. Die eine fragt klug, und der andere antwortet altklug. 

Gastbeitrag
von Helmut Schönauer, Innsbruck

Urs Heinz Aerni ist ein Buchbesessener, der mit Händen und Füssen Themen zusammenträgt, um daraus ein Buch zusammenzustellen. Seine Genre-Beschreibung für dieses Tun nennt er «eine Art Feuilleton oder Sammelsurium als Buch». Da Literatur zudem überall auftreten kann, wird man ihrer nur Herr, wenn man mit ihr eine Lesereise plant. «Lugano – Konstanz» ist also eine Art Fahrplan für Lektüre. Aufregend, dass dabei das stille Leseörtchen Innsbruck dabei ist.

Einem Buchfan macht es nichts aus, wenn man die angebotenen Bücher mit starken Wörtern auffrisiert, ja selbst das Klischee nimmt er in Kauf, wenn dadurch jemand ins Innere eines Buches gelockt werden kann. Auch hier gilt die kluge Schweizer Tugend: Promotion darf wie ein Schweizermesser alles, wenn dadurch ein überdimensioniertes Ganzes in menschlich kleine Portionen zerlegt werden kann.

Urs Heinz Aerni hat gewissermassen eine eigene Literaturform erfunden. Es handelt sich dabei um einen essayistischen Kurzimpuls, der verlässlich in einen Buchtipp mündet. «Wann immer der Vortragende vorne den Mund aufmacht, kommt hinten ein Buch heraus», lachen die Kenner seiner Vorgehensweise.

Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz. Mit Umwegen nach Innsbruck, Lenzerheide, Nonnenhorn und…», 2020, 154 Seiten. EUR 14.90, ISBN 978-3-9504833-3-8.

Öffentliches Telefonieren, Gespräche bei einer Zugspanne, Orientierungslosigkeit in einer Grossbuchhandlung, Nebenbemerkungen zu einem Jazzabend oder Suche nach einem verlorenen Buchstaben: Eine Begebenheit kann im Sinne Robert Walsers nicht klein genug sein, dass sich nicht daraus jene feine Stimmung komponieren liesse, mit der im Herbst ein Blatt zu Boden segelt. Diese ‘Verniedlichungsmethode’ hat den Vorteil, dass auch grosse Unglücke dadurch erträglich werden und Menschen unterschiedlichsten Charakters miteinander ins Gespräch kommen. Denn sollte der Diskurs nicht in Gang kommen, ist bei der Kleinheit des Themas nichts verloren.

Mit diesem Denkansatz unterscheidet sich der Autor vehement von den germanistischen Grossanalysten, die immer erst eine Stunde lang Hegel oder Heidegger zitieren, ehe dann daraus ein Sprachproblem herausgefiltert wird, dass verlässlich nichts mit der Menschheit zu tun hat.
Innsbruck kommt durch diese Zuneigung des Büchernarren zu einer Würdigung, die seiner intellektuellen Grösse entspricht. Der Autor zitiert nämlich: «Soeben komme ich zurück aus Innsbruck!» Dann hört man nichts mehr von der Stadt. Es wirkt, als sei der Autor froh, daraus entflohen zu sein, um wieder etwas Vernünftiges denken zu können. «Digitales Grüssen» etwa, mit passendem Buchtipp.

An seine Grenzen kommt der Schweizer Allrounder freilich, als er dem Witz etwas Positives abgewinnen soll. Ein Buch namens «Soll das ein Witz sein?» bringt Aerni an den Rand des Gelächters. Er versucht, den Witz für die Schweiz zu retten, indem er ihn zur Kunst erklärt.
In einem Bonus-Track gibt es Ausschnitte aus früheren Archiven. Als ob Archive nicht immer früher angelegt sein müssten, die Zukunftsarchive wären nämlich für die Literaturbranche ziemlich harte Kost. Aus der Vergangenheit werden einige Interviews hervorgeholt, worin die  längst verstummten Autoren um die Jahrhundertwende herum noch einmal eine Stimme kriegen, ehe dann der hintere Buchdeckel kommt und alles verstummen lässt.

«Aerni: So sitze ich nun mit zwei Dinosauriern hier am Tisch. Thomas Hettche: Dass Sie hier so ein Gespräch aufzeichnen, das länger als zwei Minuten dauert, qualifiziert Sie auch als Dinosaurier.» Schreiben als Verlangsamung des Lebens!
Und die finale Erkenntnis des Urs Heinz Aerni: Bücher, die nicht gelesen werden, sind so, wie wenn sie nicht da wären.

Helmut Schönauer wurde 1953 geboren und lebt heute als Autor und Dramatiker in Innsbruck. 

Beitragsbild © Jacqueline Aerni-Sanfratello

Peter Bichsel im Gespräch mit Sieglinde Geisel «Was wäre, wenn?», Kampa

Heute feiert Peter Bichsel, der «Grand Old Man der Schweizer Literatur», seinen 85. Geburtstag. Alle, die lesen, gratulieren! Alle, die nicht lesen, haben zu viele Geschenke versäumt. Aber die Tür ist nicht zugeschlagen. Wer das Buch von Sieglinde Geisel liest, das sich ganz eng an die aufgezeichneten Gespräche mit Peter Bichsel hält, betritt den feinen, klugen und mit viel Leidenschaft besetzten Kosmos eines grossen Schriftstellers, der sich seines Erfolgs beinah zu schämen scheint.

Man sieht ihn jedes Jahr an den Solothurner Literaturtagen. Kein Wunder, seine Schreibstube ist in unmittelbarer Nähe und sein Stammlokal in Solothurn für die Dauer der Literaturtage der heimliche Mittelpunkt des Geschehens. Kein Wunder, denn Peter Bichsel ist einer der Gründerväter der Solothurner Literaturtage, die seit 1979 alljährlich stattfinden. Wenn man ihn bei schönem Wetter auf den Bänken vor dem «Kreuz» sitzen sieht, dann ist es ein Familientreffen. All die Kinder und Kindeskinder der Literatur scharen sich um den Dichterfürsten, der einem wie kein anderer das Gefühl gibt, dass Literatur Leben ist, dass Literatur Politik ist, dass Literatur Schule ist, dass Literatur Genuss ist, dass Literatur Gemeinschaft bedeutet, auch wenn Schreiben und Lesen meist Tätigkeiten der Stille und Zurückgezogenheit sind.

«Gute Geschichten sind immer tröstlich.»

Sieglinde Geisels Buch «Was wäre, wenn?» ist das Resultat vieler Gespräche zusammen mit Peter Bichsel, in seinem Arbeitszimmer in der Solothurner Altstadt oder bei Peter Bichsel zuhause. Sorgfältig transkribiert, aufgelockert mit Anekdoten. Und genau diese Nähe macht den Wert dieses Buches aus. Wer Peter Bichsel kennt, hört den Sound seiner nasalen Stimme, darf sich als schweigender Zuhörer mit an den Tisch setzen. Wer Peter Bichsel nicht kennt, dem offenbart sich ein Schriftsteller, dessen Kunst sich durch sein ganzes Wesen zieht, sein Denken, seinen Blick. Dem offenbaren sich die Gründe, warum es Peter Bichsel gelungen ist, sich in den Jahrzehnten als Kolumnist und Geschichtenschreiber ins Bewusstsein einer ganzen Nation geschrieben zu haben. Nicht mit beissender Kritik, nicht mit scharfer Zunge, nicht mit Intellekt und dem Bewusstsein dem grossen Rest der Welt etwas voraus zu haben, sondern mit «urschweizerischer» Bescheidenheit, klugem Witz, träfem Schalk und in vielen Bereichen fast kindlicher Unvoreingenommenheit.

«Lesen ist nicht nützlich, und Schreiben ist auch nicht nützlich.»

Peter Bichsel schafft, was kaum einem Autor sonst gelingt. Obwohl er seit Jahren von sich sagt, er habe das Schreiben aufgegeben, erscheint bei Suhrkamp ein dickes Buch («Auch der Esel hat eine Seele – Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971«) und bei Kampa dieses wunderbare Gesprächsporträt. Man wird ihn mit Recht feiern als einer der Grossen der deutschsprachigen Literatur, obwohl er von sich selbst sagt, er sei mehr Sentimentalist als Schriftsteller und: «Ich schreibe, weil ich es nicht kann. Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können.» Eine Aussage, die nichts mit Koketterie zu tun hat, sondern damit, dass Peter Bichsels Schreiben nie Selbstzweck oder Resultat von Selbstliebe und Selbstverzückung war, sondern Resultat einer unmittelbaren Auseinandersetzung.

«Einsam ist man, wenn am keine Geschichten mehr zu erzählen hat.»

Ich habe schon oft den Geschichten des bescheidenen Meisters gelauscht. Einmal besuchte ich eine Lesung im Literaturhaus Thurgau. Der Raum im Dachgeschoss war bis in den letzten Winkel gefüllt, das Publikum erstaunlich gemischt. Meine jüngste Tochter, damals noch nicht zwanzig, begleitete mich, weil ich ihr kurz zuvor ein Buch von ihm geschenkt hatte. Sie ging nach der Lesung zusammen mit mir nach vorne an den Tisch, an dem er fast bewegungslos gelesen hatte, in der Hoffnung, er würde uns unsere Bücher signieren. Und weil Peter Bichsel Peter Bichsel ist, schaute er meine Tochter erst eine Weile an, um dann, nach der Bemerkung, ob das Buch denn wert genug sei, es durch sein Gekritzel zu verschandeln, sich mit aller Sorgfalt an seine Signatur zu machen, eine die seit Jahrzehnten immer gleich aussieht, vielleicht wie eine Blume – eben ein Geschenk!

Ich gratuliere Peter Bichsel von ganzem Herzen. Nicht für die 85 Lebensjahre, sondern für die vielen Geschenke, die er in diesen Jahren machte, mir dem grossen Bewunderer und allen, denen Peter Bichsel zur Identifikationsfigur wurde, auch darum, weil in seinem Tun, in seinem Schreiben immer eine Portion Subversivität mitschwingt. DANKE!

«Jedes Erzählen ist eine Bitte um Geliebtwerden.»

Sieglinde Geisel, 1965 in Rüti im Kanton Zürich geboren, lebt als Kulturjournalistin in Berlin. Sie arbeitet u. a. für Deutschlandfunk Kultur, NZZ am Sonntag, WOZ, Süddeutsche Zeitung und ist Dozentin für Schreibwerkstätten (Freie Universität Berlin, Universität St. Gallen). 2016 hat sie das Online-Literaturmagazin tell (www.tell-review.de) gegründet. Buchveröffentlichungen: «Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert» (2008), «Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille» (2010).

Webseite Sieglinde Geisel

Beitragsbild © Lea Frei

Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Michael Köhlmeier «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle», dtv

Am 5. Mai 2018 hielt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in der Wiener Hofburg eine Rede zum Holocaust-Gedenken. Eine Rede, die nur sechs Minuten dauerte und ebenso viel Applaus und Zustimmung erntete wie Kritik und Unterstellung. Genau das, was eine Rede soll, wenn sie nicht bloss mit freundlicher Zustimmung liebäugelt. Michael Köhlmeier traut sich, auch dann, wenn die Kritisierten vor ihm stehen.

Österreich wird von einer schwarz-blauen Regierung geführt, einem jugendlich scheinenden Kanzler, der sich mit dem FPÖ Vizekanzler Strache verbrüdert, der sich in keiner Weise schämt, antisemitisch und fremdenfeindlich aufzutreten. Strache sass mit anderen seiner «freiheitlichen» Partei im Publikum, als Michael Köhlmeier in sechs Minuten ruhig und gelassen einer Regierung die Leviten las, die Verantwortung und historisches Bewusstsein mit Füssen tritt, die mit Argumenten hantiert, mit denen vor 70 Jahren schon einmal die Massen in Wallung gebracht wurden.

Michael Köhlmeier tat es nicht als Intellektueller, sondern als schreibender, denkender und mitfühlender Bürger. Was er sagte, war keine Beschuldigung, keine Mutmassung, keine Interpretation, sondern Spiegel einer Ungeheuerlichkeit. Kein Wunder keifte die FPÖ, schimpfte die ÖVP und applaudierten Linke und Grüne. In Presse und sozialen Medien zeigten die sechs Minuten erstaunliche Resonanz, etwas, was Reden in heeren Hallen sonst nicht zu erreichen vermögen. Michael Köhlmeier tat es nicht als Polterer, sondern als einer, der in einem ganzen Leben und Wirken Empathie zur Lebensspur macht.

Ich lernte Michael Köhlmeier an einer Lesung zusammen mit seiner Frau Monika Helfer kennen, als sie aus ihrem gemeinsamen Buch «Der Mensch ist verschieden» lasen und erzählten. Das Schriftstellerpaar ist Sinnbild für Respekt und Menschenliebe. Ihre beiden Stimmen sind fein ziseliert, klar und bestimmt, spüren auf, was man unter Wahrhaftigkeit versteht. Sie tun, wie sie schreiben. Sie schrieben, wie sie leben.

In den in diesem Band gesammelten Reden schweift Michael Köhlmeier nicht ab. Er bleibt beim Erzählen; von dem Ort, an dem erlebt, den Menschen, die ihn begleiten, seiner Mutter, seiner Grossmutter. Er sieht im Kleinen das Grosse, schildert behutsam und ohne eine Spur von Arroganz. Er liebt seine Figuren, seine Welt, erst recht dann, wenn sie von Hetze, Ignoranz und Menschenfeindlichkeit bedroht sind. Michael Köhlmeiers Reden trösten, wie sie Zeugnis sind, dass der Mut nicht stirbt.

Reden gegen das Vergessen, mit einem Nachwort von Hanno Loewy
«Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.»
Michael Köhlmeier

© Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren und lebt heute in Hohenems/Vorarlberg. Er studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Michael Köhlmeier schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele und Lieder und trat sehr erfolgreich als Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe und biblischer Geschichten auf. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen, u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis, dem Johann-Peter-Hebel-Preis, dem Manès-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur.

Fotos © Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier mit «Das Mädchen mit dem Fingerhut» auf dem 30. Literaturblatt: