Peter Bichsel im Gespräch mit Sieglinde Geisel «Was wäre, wenn?», Kampa

Heute feiert Peter Bichsel, der «Grand Old Man der Schweizer Literatur», seinen 85. Geburtstag. Alle, die lesen, gratulieren! Alle, die nicht lesen, haben zu viele Geschenke versäumt. Aber die Tür ist nicht zugeschlagen. Wer das Buch von Sieglinde Geisel liest, das sich ganz eng an die aufgezeichneten Gespräche mit Peter Bichsel hält, betritt den feinen, klugen und mit viel Leidenschaft besetzten Kosmos eines grossen Schriftstellers, der sich seines Erfolgs beinah zu schämen scheint.

Man sieht ihn jedes Jahr an den Solothurner Literaturtagen. Kein Wunder, seine Schreibstube ist in unmittelbarer Nähe und sein Stammlokal in Solothurn für die Dauer der Literaturtage der heimliche Mittelpunkt des Geschehens. Kein Wunder, denn Peter Bichsel ist einer der Gründerväter der Solothurner Literaturtage, die seit 1979 alljährlich stattfinden. Wenn man ihn bei schönem Wetter auf den Bänken vor dem «Kreuz» sitzen sieht, dann ist es ein Familientreffen. All die Kinder und Kindeskinder der Literatur scharen sich um den Dichterfürsten, der einem wie kein anderer das Gefühl gibt, dass Literatur Leben ist, dass Literatur Politik ist, dass Literatur Schule ist, dass Literatur Genuss ist, dass Literatur Gemeinschaft bedeutet, auch wenn Schreiben und Lesen meist Tätigkeiten der Stille und Zurückgezogenheit sind.

«Gute Geschichten sind immer tröstlich.»

Sieglinde Geisels Buch «Was wäre, wenn?» ist das Resultat vieler Gespräche zusammen mit Peter Bichsel, in seinem Arbeitszimmer in der Solothurner Altstadt oder bei Peter Bichsel zuhause. Sorgfältig transkribiert, aufgelockert mit Anekdoten. Und genau diese Nähe macht den Wert dieses Buches aus. Wer Peter Bichsel kennt, hört den Sound seiner nasalen Stimme, darf sich als schweigender Zuhörer mit an den Tisch setzen. Wer Peter Bichsel nicht kennt, dem offenbart sich ein Schriftsteller, dessen Kunst sich durch sein ganzes Wesen zieht, sein Denken, seinen Blick. Dem offenbaren sich die Gründe, warum es Peter Bichsel gelungen ist, sich in den Jahrzehnten als Kolumnist und Geschichtenschreiber ins Bewusstsein einer ganzen Nation geschrieben zu haben. Nicht mit beissender Kritik, nicht mit scharfer Zunge, nicht mit Intellekt und dem Bewusstsein dem grossen Rest der Welt etwas voraus zu haben, sondern mit «urschweizerischer» Bescheidenheit, klugem Witz, träfem Schalk und in vielen Bereichen fast kindlicher Unvoreingenommenheit.

«Lesen ist nicht nützlich, und Schreiben ist auch nicht nützlich.»

Peter Bichsel schafft, was kaum einem Autor sonst gelingt. Obwohl er seit Jahren von sich sagt, er habe das Schreiben aufgegeben, erscheint bei Suhrkamp ein dickes Buch («Auch der Esel hat eine Seele – Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971«) und bei Kampa dieses wunderbare Gesprächsporträt. Man wird ihn mit Recht feiern als einer der Grossen der deutschsprachigen Literatur, obwohl er von sich selbst sagt, er sei mehr Sentimentalist als Schriftsteller und: «Ich schreibe, weil ich es nicht kann. Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können.» Eine Aussage, die nichts mit Koketterie zu tun hat, sondern damit, dass Peter Bichsels Schreiben nie Selbstzweck oder Resultat von Selbstliebe und Selbstverzückung war, sondern Resultat einer unmittelbaren Auseinandersetzung.

«Einsam ist man, wenn am keine Geschichten mehr zu erzählen hat.»

Ich habe schon oft den Geschichten des bescheidenen Meisters gelauscht. Einmal besuchte ich eine Lesung im Literaturhaus Thurgau. Der Raum im Dachgeschoss war bis in den letzten Winkel gefüllt, das Publikum erstaunlich gemischt. Meine jüngste Tochter, damals noch nicht zwanzig, begleitete mich, weil ich ihr kurz zuvor ein Buch von ihm geschenkt hatte. Sie ging nach der Lesung zusammen mit mir nach vorne an den Tisch, an dem er fast bewegungslos gelesen hatte, in der Hoffnung, er würde uns unsere Bücher signieren. Und weil Peter Bichsel Peter Bichsel ist, schaute er meine Tochter erst eine Weile an, um dann, nach der Bemerkung, ob das Buch denn wert genug sei, es durch sein Gekritzel zu verschandeln, sich mit aller Sorgfalt an seine Signatur zu machen, eine die seit Jahrzehnten immer gleich aussieht, vielleicht wie eine Blume – eben ein Geschenk!

Ich gratuliere Peter Bichsel von ganzem Herzen. Nicht für die 85 Lebensjahre, sondern für die vielen Geschenke, die er in diesen Jahren machte, mir dem grossen Bewunderer und allen, denen Peter Bichsel zur Identifikationsfigur wurde, auch darum, weil in seinem Tun, in seinem Schreiben immer eine Portion Subversivität mitschwingt. DANKE!

«Jedes Erzählen ist eine Bitte um Geliebtwerden.»

Sieglinde Geisel, 1965 in Rüti im Kanton Zürich geboren, lebt als Kulturjournalistin in Berlin. Sie arbeitet u. a. für Deutschlandfunk Kultur, NZZ am Sonntag, WOZ, Süddeutsche Zeitung und ist Dozentin für Schreibwerkstätten (Freie Universität Berlin, Universität St. Gallen). 2016 hat sie das Online-Literaturmagazin tell (www.tell-review.de) gegründet. Buchveröffentlichungen: «Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert» (2008), «Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille» (2010).

Webseite Sieglinde Geisel

Beitragsbild © Lea Frei

Den „Welttag des Buches“ mit Peter Bichsel

Wahrscheinlich wurde noch nie so viel gelesen wie heute. Züge sind voll mit Zeitungen, Menschen unentwegt in digitale Lektüre vertieft und wer eine der Grossbuchhandlungen besucht, mag denken: „Wer soll das alles lesen?“ So unbeirrt Kleinverlage mutig veröffentlichen, so gross das Angebot von Veranstaltungen rund um das Buch, so sehr Schriftstellerei noch immer ein Traumberuf in den Köpfen von Kindern, so unaufhaltsam das Verschwinden des Buches.

Noch gibt es sie, die Dinosaurier des Geschriebenen. Auch wenn Peter Bichsel kaum mehr von Hand schreibt, ist sein Medium das Buch, das gedruckte Buch, das Buch, das Geschichten auf Papier gedruckt erzählt. Ein Mann, der die Langweile liebt, sich einen Pessimisten heisst, weil alles Unheil von Optimisten herrühre. Ein Mann, den man gern den Beobachter nennt, der aber einer sein will, der schaut, der sich mit dem Gegenüber einlässt, der sich nicht drängen lässt, schon gar nicht von einer fremden Absicht.

Der Dichter, der Schöpfer von Büchern mit wunderschönen Titeln wie „Ein Tisch ist ein Tisch“, „Das süsse Gift der Buchstaben“ oder „Über das Wetter reden“ las aus Anlass des diesjährigen Welttag des Buches in der Buchhandlung Gutenberg im St. Gallischen Gossau.

Und als hätte er darauf gewartet, liest Peter Bichsel seine Kolumne „Der Beste und der Schlechteste“ aus seinem Buch „Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule“. Ob wir den Unsinn im Radio gehört hätten und er beginnt zu lesen : Die Frage, welches mein Lieblingsbuch sei, finde ich beleidigend. Ich bin ein Leser. Ich lese gern. Ich lese viel. Mein Lieblingsbuch ist jenes, das ich jetzt lese. Mein Lieblingswein ist der, den ich jetzt trinke. Ja, es gibt besseren als den, den ich jetzt trinke. Aber warum soll jetzt ausgerechnet jener Wein, den ich jetzt nicht habe, mein Lieblingswein sein.“

Peter Bichsel raucht seine Zigarette unter dem kleinen Vordach der Buchhandlung bis zum Filter. Dann drückt er sie in einem kleinen portablen Aschenbecher aus und steckt diesen zurück in seine schwarze, lederne Weste, die er stets zu tragen scheint. Ich frage ihn, woher er seine eigenwillige Signatur habe. „Zum ersten Mal zeichnete ich sie bei einer Lesung in St. Gallen, vor vielen, vielen Jahren, als die „Kindergeschichten“ als Taschenbuch erschienen. Damals wollten dermassen viele von mir eine Widmung und ich als Legastheniker hatte meine Mühe bei all den THs und CKs. Seither ist es eine Blume und dazu mein Name. Als ich in Zürich einmal fragte, welches die beste Buchhandlung sei, antwortete man mir; die Fehr’sche in St. Gallen, jene legendäre, in der alles las, was Rang und Namen hatte.“

Peter Bichsel ist ein Ereignis, seine Lesungen sind es genauso, seine Bücher sowieso. Der Gutenberg Buchhandlung in Gossau herzlichen Dank für das kostbare Geschenk am Welttag des Buches 2018!