Jessica Lind «Kleine Monster», Hanser Berlin

Wie filigran die Normalität ist, wie leicht scheinbare Harmonie in Schieflage geraten kann und wie nagend und zerstörerisch Schuldgefühle sein können, davon erzählt Jessica Linds Roman „Kleine Monster“. Familie ist alles. Aber eben nicht nur im Guten.

Pia und Jakob werden für ein Gespräch in die Schule geordert. Man glaubt, dass es zwischen Luca, ihrem Sohn, und einem Mädchen in der gleichen Klasse zu einem Übergriff gekommen sein muss. Luca ist sieben und ein „lieber Junge“. So sehr Jakob davon überzeugt ist, dass das, was zwischen den Kindern vielleicht passiert war, nur eine Bagatelle sein kann, so sehr lässt sich Pia verunsichern, weil sie nicht erst seit diesem Vorfall und der Verstocktheit ihres Sohnes, der Weigerung, endlich zu erzählen, was in jenem unbeobachteten Moment passiert war, spürt, dass der Anteil dessen, was ihr an ihrem Sohn fremd, immer grösser wird. Es wächst die Erkenntnis, dass ihr Sohn mehr und mehr ein eigenes Leben führt, dass der Anteil an deckungsgleichem Leben, an Harmonie und totaler Verbundenheit immer kleiner wird. Da wächst ein Mensch, der eigenständig wird, mit all dem Hellen und Dunklen.

Pias Verunsicherung gründet in ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihrer Familie, ihrer Kindheit, jenem einen Trauma, jenem einen Tag, den die Familie damals zerriss. Was mit Luca passiert, spiegelt die Verwundung aus einer Zeit, die sie lange überwunden glaubte. Pias Eltern wollten Kinder. Weil der Kinderwunsch aber nicht gleich in Erfüllung gehen wollte, entschlossen sich ihre Eltern zu einer Adoption, obwohl sich dann doch noch Kindersegen einstellte. So hatte Pia eine grosse Schwester, Romi – und etwas später gar eine kleine Schwester, Linda. Bis zu jenem Tag, als Pia krank zuhause war. Romi und Linda liefen in den Wald hinterm Haus, zum kleinen See. Pia wunderte sich noch über eine offen gelassene Haustür, dass niemand mehr zuhause war und Romi plötzlich ohne Linda nach Hause kam, alles drunter und drüber ging, Vater und Mutter am Abend am Tisch weinten und man ihr erklärte, es wäre etwas Schlimmes passiert. Linda sei ertrunken. 

Jessica Lind «Kleine Monster», Hanser Berlin, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28144-8

Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf die Einsicht, dass sich selbst in kleinen Kindern kleine „Monster“, Ungeheuerlichkeiten verbergen können. Viel mehr sind es die kleinen Monster in jedem von uns, die uns blenden, verleiten, die uns Dinge tun lassen, die wir sonst so niemals gedacht oder getan hätten, die die Wahrnehmung verzerren und uns zu Handlungen nötigen, die eigentlich nicht unserem Naturell entsprechen.

Pia sieht in ihrem Sohn ihre kleine Schwester, einen Engel, der ein Geheimnis birgt. Gleichzeitig spült die Verstimmung zwischen Pia und ihrem Sohn Luca ein altes Schuldgefühl hoch. 

Pias Mutter liebte ihre Kinder alle, wenn auch die leiblichen anders wie das adoptierte. Die drei Schwestern empfanden sich stets als Einheit und Linda tat alles, um ihrer grossen Schwester Romi zu gefallen. Mit jener Katastrophe zerbrach, was zuvor fast alles ausmachte; jenes untrennbare Dreiergespann, die Liebe ihrer Mutter, die in masslose Strenge kippte und nicht zuletzt die Ehe zwischen den Eltern. Irgendwann verschwand Romi aus der Familie, weil man sie für den Tod der Jüngsten verantwortlich machte, weil jener schwarze Tag den Eltern die Gewissheit brachte, einen Kuckuck ausgebrütet zu haben, die drohende Katastrophe nicht früh genug erkannt zu haben.

Zwar weiss Pia auch als Erwachsene von Romi, die mittlerweile zu einer erfolgreichen Influenzerin geworden ist, aber da ist nicht mehr, keine Verbindung. Genauso wie zu den Eltern, die zwar da sind, aber hinter dem schweren Vorhang des Schweigens verborgen.

Mit dem Konflikt Mutter Sohn bricht auf, was im Untergrund über Jahrzehnte mottete. Warum fühlt man sich so sehr ausgeschlossen von der Welt der Nächsten? Warum hat man so wenig Einfluss auf die Reaktionen dessen, was ein Unglück auslöst? Jessica Lind verwebt geschickt zwei Handlungsstränge, die sich gegenseitig spiegeln, die sichtbar machen, wie sehr man geführt, geleitet und bestimmt wird von Erfahrungen und Erlebtem aus der Vergangenheit. Jessica Lind erzählt, ohne zu psychologisieren, ohne die Szenerie über die Massen aufzuladen. Aber weil die Autorin durch ihre Erfahrungen als Drehbuchschreiberin sehr gut weiss, dass gut dosiertes Erzählen reicht, um im Kopf von Leserinnen und Lesern Kaskaden von Deutungen auszulösen, leuchtet die Autorin mit Bedacht aus. 

„Kleine Monster“ ist auch ein Roman über das überstrapazierte Soziobiotop Familie. In diesem kleinen, vermeintlich stillen See blubbert es ganz ordentlich aus dem Untergrund. Ein Roman, der mich begeisterte!

Interview 

Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Titel Ihres Buches so sehr auf die unguten, verborgenen Schattenseiten eines Kindes, auf die Art und Weise, wie Kinder die Situation so ganz anders einschätzen können, bezieht. Sind kleine Monster nicht auch all die Schuldgefühle, Versäumnisse, die wir ein Leben lang mit uns herumschleppen, die dauernd in unser Tun eingreifen?
Ich verstehe meine Texte immer als Einladung an die Lesenden, mitzufabulieren. Dafür arbeite ich sehr gerne mit Leerstellen, Versatzstücken aus der Mythologie und auch Metaphern. Ich freue mich also, wenn der Titel auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann. Auch das Cover, auf dem eine Kinderhand die Idylle durchbricht, hat einen doppelten Boden. Ihre Interpretation trifft den Kern der Erzählung sehr gut, wenn wir uns nicht mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, wird sie uns irgendwann einholen.
 
Familien sind heikle Gebilde. Ich bin Vater von fünf Kindern. Zusammen mit meiner Frau haben wir es geschafft, uns einigermassen schadlos durch die intensivste Familienzeit zu schiffen. Wobei ich mir dessen nicht restlos sicher bin, würden wir wirklich in die Tiefe tauchen. Geholfen hat uns damals unsere unverkrampfte, instinktive Art, mit Problemen umzugehen. Und doch gibt es kein Rezept, wie man an Katastrophen vorbeischippern kann. Was wird sein, wenn dereinst Ihre Kinder Ihre Romane lesen?
Mir ist es sehr wichtig, meinen Kindern die Freude am Lesen zu vermitteln. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt und ich hoffe, dass sie zu neugierigen Lesern heranwachsen werden. Bücher sind eine hervorragende Übung zur Empathiebildung und ermöglichen in ganz verschiedene Lebensrealitäten einzutauchen. Ich bin gespannt, in welchem Alter sie sich für die Probleme meiner Hauptfigur interessieren werden.
 
Familie wird seit Jahrhunderten idealisiert. Die „heilige Familie“ steht ganz oben an der Spitze aller Ideale. Heute macht es den Eindruck, als wäre für viele Paare die Familie ein Projekt. Man hat eine Familie, ohne je eine Familie zu sein. Familie ist Arbeit, Auseinandersetzung, Konfrontation, Hingabe und Kraftakt. Die Angriffsflächen für Familien werden immer grösser, sei es der Einfluss der Medien, die düster scheinende Zukunft oder all die Ängste, die im Netz geschürt werden. Ist ihr Roman nicht auch ein verschriftlichter Kippzustand zwischen den Extremen?
Für meine Arbeit sind Familien vor allem ein wunderbares Experimentierfeld. Die Familie ist eine Kernzelle, in die sich von aussen schwer hineinschauen lässt, die einzelnen Rollen sind stark aufgeladen – jede*r hat eine Vorstellung davon, wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater zu sein hat. Diese grosse Nähe ist auch ein idealer Nährboden für alles Unheimliche, was ja meinem Schreiben auch innewohnt. Politisch betrachtet, finde ich es immer wieder Schade, wie eng Familien gedacht und wie sehr sie dazu benutzt werden, Entscheidungen auf die individuelle Ebene abzuwälzen, Stichwort Kinderbetreuung.
 
Pia ist eine Gefesselte, eine Mutter, die auf Abwehr geht, jenen Teil eines Geheimnisses nicht lüften will, das Pia wie einen Alp durch ihr Leben begleitet. Ein Mann, dem scheinbar alles viel leichter fällt, nicht zuletzt der Zugang zu seinem Sohn in einer schwierigen Zeit. Warum lassen wir uns so leicht fesseln, zurückbinden?
Was mich seit meinem ersten Roman sehr beschäftigt, sind Rollenbilder. Welche Erwartungen an eine Rolle sind in uns eingeschrieben? Und was passiert, wenn sie nicht erfüllt werden? Dabei braucht es die Verurteilung von aussen nicht einmal unbedingt, weil wir selbst streng mit uns ins Gericht gehen. Die Rolle des Vaters hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr verändert, als die der Mutter. Väter werden immer mehr in die Erziehung eingebunden. Dadurch ist das klassische Rollenbild aufgebrochen und mir kommt es vor, als könnten sie freier agieren. Zum Beispiel, bringt der Vater das Kind zu spät in den Kindergarten, wird er trotzdem gelobt, weil er sich kümmert. Ist die Mutter zu spät dran, hat sie ihr Leben nicht im Griff. Das ist natürlich überspitzt formuliert – aber ich schaffe ja auch in meinen Romanen Situationen, die die Figuren über ihre Grenzen hinaustreiben.
 
Sie sind selber Mutter. Dass man ihren Roman zu ihrer eigenen Geschichte machen will, kann leicht passieren. Es scheint in der Literatur zu einer Mode zu werden, Texte nach ihrem „Wahrheits-, Realitätsgehalt“ prüfen zu wollen. Man scheint der Fiktion nicht mehr zu trauen. Dabei ist doch alles ebenso Realität wie Fiktion. Aber in Zeiten, in denen Schreibende wie Annie Ernaux zu Göttinnen der Literatur erklärt werden und autobiographisches Schreiben zum Mass aller Dinge (zumindest bei einem Teil der LeserInnen). Braucht Literatur bald einen Beipackzettel?
Ich glaube, der Unterschied zwischen Fiktion und Autofiktion ist gar nicht so gross. Von der „Realität“ ist beides entfernt, weil ja jeder Roman gestaltet wird. Der Unterschied liegt im Material, benutze ich Selbst-Erlebtes, bediene ich mich an Fabeln oder mache ich eine ausgiebige Recherche und verwende die gewonnenen Erkenntnisse, um daraus meine Geschichte zu bauen? Beipackzettel halte ich für unnötig, weil ja so oder so das Ergebnis tragfähig sein muss.
 

Jessica Lind, 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren, lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film «Rubikon«. 2015 gewann sie mit der Erzählung «Mama» den open mike, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging. 

Beitragsbild © Pamela Russmann

Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin

Wenn Literatur fiktional erzählt, ist alles möglich. Dabei spielt auch die Frage, wie raelistisch eine solche Fiktion sein könnte, keine Rolle. Literatur darf alles, fast alles. Hans Augustin hat sich in „Als ich mit Z zu Abend aß“ keine Grenzen gesetzt, keine räumlichen, schon gar keine, die sich an der Realität messen müssten. Sein Roman ist köstlich!

Einen Tarnmantel nutzte schon Siegfried im Nibelungenlied, als er einen solchen vom Zwerg Alberich erringt. Die Vorstellung, was man mit einem solchen alles tun könnte, hat den Schriftsteller Hans Augustin so sehr fasziniert, dass er seinen Protagonisten etwas tun lässt, was sonst undenkbar wäre.

Noah Greenfield ist Regisseur einer Theatertruppe, die ganz überraschend eine Einladung ins russische W (Wladiwostok?) bekommt, um dort Shakespeares Sommernachtstraum aufzuführen. Man entschliesst sich hinzufliegen, obwohl ausgerechnet während der Hinreise der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine beginnt, Putins „militärische Spezialoperation“. Noah Greenfield spricht leidlich russisch und findet wegen einer zerrissenen Hose in der Maxim-Gorki-Ulica eine Änderungsschneiderei, Shlomo Stoff, wo ihm ein Sakko auffällt, das er anprobiert, obwohl ihn der Schneider darauf hinweist, es wäre für einen ganz bestimmten Kunden, der das Kleidungsstück aber erst noch abholen werde. Zu Greenfields Überraschung verspricht ihm der Schneider ein ganz exklusives Abenteuer, in jenem Sakko eine Begegnung mit Z, dem Präsidenten, dem Mann im Kreml. Greenfield, der die Inszenierung ungewöhnlicher Situationen liebt, lässt sich auf das Angebot ein und findet sich mit einem Mal, das Sakko angezogen, in den Räumen des russischen Präsidenten in Moskau.

Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin, 2024, 104 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903539-42-6

Schon als Greenfield die Schneiderei verlässt, merkt er, dass sein Spiegelbild in den Schaufenstern fehlt, dass man ihn im Supermarkt nicht bemerkt. Und als er sich am Empfang in den Regierungsräumen des Diktators unter den geladenen Gästen bewegt, bemerkt den unsichtbaren Gast niemand. Man wundert sich höchstens, dass immer wieder ein Häppchen auf einem Teller verschwindet oder der eine oder andere Gast einen ziemlich ungeschminkten Kommentar hinter seinem Rücken hören muss, Bemerkungen, die man nicht einmal auf den Strassen Moskaus ungestraft aussprechen könnte, nachdem mit dem Einmarsch der russischen Truppen ein Gesetz verabschiedet wurde, dass nur schon die Verwendung des Wortes Krieg mit 15 Jahren Gefängnis bestraft.

Greenfield kümmert das wenig. Er pirscht sich gar an den kleinen, gedrungenen Mann, dem ergebene Gefolgsleute und Speichellecker den Hof machen, flüstert auch dort, bis im Saal Unruhe ausbricht und der eine oder andere glaubt, dem Wahnsinn verfallen zu sein. Nach dieser ersten Konfrontation mit dem Präsidenten Z (auch wenn diese mit einem Unsichtbaren ungleich ist), einer eigentümlichen Nacht in einem Hotel und der Begegnung mit der Künstlerin Daria Bulak, schleicht sich Greenfield am nächsten Tag in Putins Privatvilla in der Rubljowka-Chaussee, vorbei am Wachpersonal, bis er im stillen Obergeschoss auf den einsamen kleinen Mann trifft, den ehemaligen Geheimdienstoffizier, der sich an einem kleinen Tisch an sein Abendessen macht. Greenfield nimmt sich ein zweites Gedeck und setzt sich dazu, ganz zur Verwunderung der Bediensteten Alissa, die sonst mit keinen Gästen in den Privatgemächern ihres Präsidenten rechnet.

So sitzen sich Greenfield und Z gegenüber. Greenfield zieht sein Sakko aus und konfrontiert den perplexen Mann mit Wahrheiten und Forderungen, die dem russischen Präsidenten sonst niemand zu formulieren traut, nicht zuletzt einem Ausweg, sich ungesehen zum Verschwinden zu bringen, um in seiner mehr und mehr verfahrenen Lage nicht irgendwann ein Ende mit Schrecken zu finden.

Was Hans Augustin auf seiner kleinen Bühne inszeniert, ist köstlich und befriedigt einem bei der Lesung wenigstens in der Fantasie, auch wenn die Realität damit nicht beschönigt werden kann. Hans Augustin beschreibt das Groteske, sowohl das Groteske der Realität, wie auch das Groteske des Fantastischen. So sehr die Argumentationen, das Gehabe und die Inszenierung einer alternativen Wahrheit aus offizieller russischer Perspektive eine Groteske ist, ein inszeniertes Theater mit Zehntausenden von Statisten, die ihren Einsatz am Rand der Bühne mit dem Leben bezahlen müssen und im Hintergrund, an der Front dieser „militärischen Spezialoperation“ für Generationen kein Stein auf dem anderen bleibt, so sehr ist die kleine Bühne in den Privatgemächern des Präsidenten eine Groteske. Der Mann, der Greenfield gegenübersitzt, ist bloss ein Mann.

Interview

Ich amüsierte mich köstlich, auch wenn mich bei meinem Spass ein beklemmendes Gefühl beschlich, ist doch Z der Kopf einer Maschinerie, der bisher Tausende zum Opfer fielen, unsägliche Grausamkeiten mit sich brachte und einen Landstrich so gross wie die Schweiz in Schutt und Asche legte. Aber einen Stellvertreter zu begleiten, der dem Mann in Moskau ungeschönt die Meinung sagt, das allein war die Fantasie wert. Und doch scheint in diesem Roman auch viel Ratlosigkeit zu stecken. Wie soll man angesichts der Ausweglosigkeit Hoffnung aufrecht erhalten?

Ratlosigkeit, insofern, als diese Geschichte mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden wird. Risiko, daß Greenfield im Moment des Sichtbarwerdens, eliminiert wird. Das habe ich – literarisch – ausgeschlossen. 

Die Frage nach der Aufrechterhaltung von Hoffnung, rührt stark an die Frage, warum ist mit dem Leben überhaupt die Erfahrung von Leiden verknüpft? Wie viele unserer Handlungen dienen der Vermeidung von Leiden und Schmerz? 
Selbst in der Erfahrung der Freude ist eine Ahnung von Schmerz verborgen, denn Freude ist oft nur von kurzer Dauer. Lao Tse äußert sich dahingehend, daß der Sieger (nach einer Schlacht) die Feier eher einer Totenklage ähnlich sein soll. Dieses Thema ist Kern der Theodizee: wie ist Leiden mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren? Falls Gott ein Thema ist.

Mit der Dauer unerfüllter Hoffnung, wird Ausweglosigkeit oder Hoffnungslosigkeit deutlicher. (Wie sieht der Widerstandswille in der Ukraine nach fünf Jahren Krieg aus?) Ist Ausweglosigkeit eine Koordinate des Schicksals? Wer oder was trägt Schuld daran? Sie beschäftigt die Menschen von jeher. 
Sind Leid und Hoffnung (vom Leiden befreit zu werden) der Schöpfung immanent? Muß man – als Hoffender – religiös sein? Hoffen Tiere auch? Bisweilen könnte man das durchaus in Betracht ziehen. Die Treue eines Hundes, der jahrelang auf die Rückkehr seines Besitzers am Bahnhof wartet, hofft. (Film: „Das Leben von Hachiko“)

Woran denken Menschen oder was empfinden sie, wenn sie von Hoffnung sprechen? Von der Beendigung einer un(aus)haltbaren Situation? Manche verwechseln Hoffnung mit der Erfüllung eines Wunsches (Lotto-Gewinn).
Was passiert, wenn Hoffnung enttäuscht wird? oder man nicht (mehr) hoffen kann? Es gibt in der Literatur nicht wenige Charaktere, an deren Schicksal Hoffnung – trotz allem – deutlich wird (Hiob); Hoffnung beinhaltet auch das Unerwartete.

Ist Hoffnung ausschließlich das Gefühl, daß etwas gut werden wird? Aber wie groß ist die Gewißheit? Die Frage nach dem Aufrechterhalten von Hoffnung angesichts einer ausweglosen Situation ist individuell, und allgemein schwer zu beantworten.

Und man darf die Fähigkeit des Menschen, sich etwas wünschen zu dürfen, nicht unterschätzen; auch wenn Wunschdenken bisweilen belächelt wird.
Unter Umständen ist der Wunsch der Bruder der Hoffnung.

Die Idee einer Tarnkappe, eines Tarnmantels ist alt und bis in die moderne Kriegsführung Ziel vieler Anstrengungen. Selbst bei Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es Elbenmäntel, mit denen man vor Blicken unliebsamer Augen bewahrt wird. Es gäbe auch in der hiesigen Politik Machtmenschen genug, denen ich beim Blick in den Spiegel gerne unsichtbar etwas ins Ohr flüstern würde. In ihrem Roman lese ich viel Vergnügen ihrerseits. Aber auch die Lust, den Machthaber in Moskau in seiner eigentlichen Normalität zu zeigen?

Ich habe beim Schreiben des Romans (eigentlich eine Art Märchen) sehr große Lust verspürt, jemandem, dem man unter normalen Umständen nie nahe kommen kann, mitzuteilen, was Sache ist. 

Normalität ist ein schwieriger Begriff; ist Normalität der „Standard“? Ist das Adjektiv “normal“ normal? Was bedeutet es, “abnormal“ zu sein? Wo verläuft hier die Grenze?
Waren Nero, Stalin, Pol Pot, Pinochet etc. normal? War Bonhoeffer – angesichts der Kenntnis der Folgen seines Widerstandes – normal? Wäre es nicht besser gewesen, in den USA zu bleiben; aber nein, er geht zurück nach Deutschland, in den „Widerstand“. War die Rückkehr des Alexej Nawalny „normal“? Was läßt diese Menschen eine Entscheidung treffen, die in uns Befremden und Unverständnis auslöst?
Z in seinem „normalen“ Umfeld zu zeigen, was realiter nicht möglich ist, war ein starkes Motiv; ich habe mir die Freiheit genommen, ein Abendessen mit Z – durch den Trick der Unsichtbarkeit – zu erzwingen. Es hat Z ratlos gemacht. (Auf so etwas sind Geheimdienstleute nicht vorbereitet).

Wir haben diplomatisch, politisch, wirtschaftlich (bis jetzt) keinen Erfolg erzielt; vielleicht gelingt es einer literarischen Herangehensweise; das „Entzaubern“ eines Präsidenten, der alle Anzeichen eines Diktators hat; Z ißt und trinkt wie jeder andere Mensch, er lebt abgeschirmt von der Öffentlichkeit, verfügt über mehrere Adressen, die nicht aufscheinen, um Attentaten aus dem Weg zu gehen, d.h. er hat auch Angst; er verfügt über eine große Anzahl an Geheimdienstleuten, und dennoch gelingt es einem Theaterregisseur, an seinem Tisch zu sitzen. Rein fiktiv, aber der Fiktion haftet eine gewisse Dimension realer Umsetzung an – es könnte sein, daß …

Der Konflikt rund um den kriegerischen Einmarsch der Russen in die Ukraine ist derart verfahren, dass pragmatische Lösungen kaum mehr möglich sind. Wie sollte Putin, ohne sein Gesicht zu verlieren, das Begonnene stoppen? Er führt einen „heiligen“ Krieg mit dem Segen seiner Vertauten, all jener, die wirtschaftlich und machtpolitisch von der Nähe zu Putin profitieren, die mit ihm untergehen werden, wenn sein Stern dereinst sinken oder gar fallen sollte. Die Stimme Greenfields könnte auch das Gewissen sein. Auch Putin wird eines haben. Kann man sich derart taub stellen?

Offenbar gibt es so etwas wie einen „Mechanismus“, der Mitgefühl ausblendet; dafür muß man ausgebildet sein; für mich ist das Verhalten von Z Beweis der Ausbildung zum KGB Offizier. Sie belegt ihre Faktizität, ihre Funktionalität. Was immer die Inhalte dieser Ausbildung gewesen sind, das Ergebnis beweist es. Z ist ein Geheimdienstoffizier (das übersehen Gesprächspartner ausländischer Regierungen ständig; Z ist als Präsident nicht vergleichbar mit dem Präsidenten von Norwegen oder Portugal).

Sich „taub-stellen“ wäre ein Hinweis auf eine bewußte Entscheidung, in bestimmten Momenten, bei Ereignissen taub zu sein; Taubheit und Blindheit sind physische Defekte, Einschränkungen, die (teilweise) medizinisch therapierbar sind; in diesem Fall ist die Medizin (mit Ausnahme der Psycho-Pathologie) außen vor. 
Wer sich taub stellt, hat ein Motiv. Und das ist auch antrainiert, um etwas zu erreichen. Und um gegen Empathie immun zu sein. 
Diese Fähigkeit außer Betrieb zu nehmen, ist eine bewußte Entscheidung.

Sie schicken Greenfield ihren Protagonisten als friedsamen Menschen in die Höhle des Löwen. Dieser nennt den Diktator bei seinen Einflüsterungen gar „Wobitschka“, wohl eine Art Kosewort. Hätten Sie den Mann mit einer Waffe geschickt, wäre das Buch ein ganz anderes geworden. Aber eines, das man auch schreiben könnte und das wahrscheinlich viel mehr Aufmerksamkeit und Leser*innen generieren könnte. Greenfield ist Theaterregisseur. Er inszeniert. Und mit einem Mal ist er mitten in einer ganz speziellen Inszenierung. Glaubt er tatsächlich, oder glauben Sie an die Macht der Vernunft?

Die Theaterliteratur oszilliert immer zwischen Sein und Schein; am Ende einer Tragödie stehen die Toten auf und gehen nach Hause (nach dem Applaus), in der Realität werden sie begraben.

Am Beginn des Interviews war die Frage nach der Hoffnung; Vernunft beinhaltet meistens die Sehnsucht nach Hoffnung einer Veränderung, ob sie erfüllt wird, ist ein anderes Thema. Ob die Vernunft siegt, ebenso.
Vernunft hat Macht, solange Vernunft anerkannt ist; solange keine Begehrlichkeiten als „Vernunft“ vorgeschoben werden; Greenfield glaubt als Mensch und Regisseur, daß über Vernunft etwas erreicht werden, was am Theater (oder Film) gezeigt werden kann, auch wenn das Ende nicht nach Vernunft aussieht; man darf nicht übersehen, daß Kunst eine Ersatz-Funktion hat; die Darstellung einer Realität, bedient sich der „Übersetzung“ und wirkt mehr als das direkte Erleben.
Die griechische Tragödie hat den Politikern vor Augen geführt, was passiert, wenn z.B. die Perser Athen angreifen. 
Zwischen „an die Vernunft glauben“ und sie umsetzen liegen bisweilen Kriege und Katastrophen.

In der Literatur scheint reine Fiktion aus der Mode gekommen zu sein. Man misstraut ihr. Dabei ist Literatur, Kunst doch genau der Ort, wo alles möglich sein sollte. Es geht Ihnen doch auch nicht nur darum, Ihrer Fantasie Platz zu geben. Ihr Roman soll doch auch zur Selbstreflexion animieren. Oder darf Literatur bloss noch unterhalten?

Es ist gar nicht die Frage des Dürfens; Literatur unterhält, das ist ihr immanent. Literatur bildet auch. Bereits der Titel eines Werkes ist Unterhaltung; das Problem scheint mir zu sein, daß der Begriff „Unterhaltung“ eine Bedeutung der Oberflächlichkeit hat. Als ob man Unterhaltung vermeiden sollte, weil der Inhalt viel zu ernst ist. Bei manchen Werken ist die Wirkung, die als Unterhaltung gesehen wird, peinlich, unangenehm.
Manchmal wirkt der erhobene Zeigefinger, aber die elegantere Form einer Kritik ist die Unterhaltung (mit Augenzwinkern).

Unterhaltung ist Mittel zur Selbstreflexion (s. z.B. Nestroy u.a.) Man darf das Lachen (bis in das Restaurant) und die „Unterhaltung“ danach, nicht unterschätzen; denn das auf der Bühne Erlebte wirkt lange nach. Je nach Ereignis (Theater, Oper, Lektüre): manche bringt eine Szene in einem Buch oder im Film zum Weinen; eine sterbende Desdemona ist im Moment ihrer Arie tragisch, aber mit dem Tod ist das Schicksal beendet; das Motiv (Eifersucht) der Ermordung weckt Abscheu. Und kommt trotzdem immer wieder vor. 
Über menschliche Schwächen der Anderen läßt sich vortrefflich lachen (und unterhält sich darüber), und lacht dabei mitunter über sich selbst.

Hans Augustin, 1949 in Salzburg geboren, Studium der Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Salzburg, Medizin- und Italienischstudium in Innsbruck, 1981 Gründung der Handpresse, lebt seit 1976 in Tirol, zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Auszeichnungen, zuletzt Salzburger Lyrikpreis 2006.

Beitragsbild © edition laurin

Monika Maron «Die Katze», Hoffman & Campe

Von Katzenhaltung zu sprechen, wird den meisten Beziehungen zwischen Katze und Mensch nicht gerecht. Wie kein anderes Tier schaffte es die Katze, trotz ihrer Eigenwilligkeit, Synonym für Wohlbefinden, Nähe und Zweisamkeit zu werden. Dass sich die Begegnung mit einer Katze aber auch zum Alptraum auswachsen kann, davon erzählt Monika Maron, eine der ganz Grossen der Deuschen Literatur.

Vielleicht ist es genau diese Eigenwilligkeit, die die Katze zu einem Kuscheltier macht. Man muss sich ihre Zuwendung verdienen. Katzen haben nichts von hündischer Ergebenheit. Und weil Katzen ihre Reinlichkeit ganz offen demonstrieren und damit ihren Jagdinstinkt zu kaschieren verstehen, wird die Katze, obwohl ursprünglich Raubtier, zum Kuschelprototypen. Dass Monika Maron keine Katzenhalterin ist, sondern seit Jahren begleitet von einem Hund, verwundert mich nicht. Zwei prägnante, eigenwillige Individuen unter gleichem Dach? Aber weil Monika Maron, oder zumindest die Erzählerin in diesem schmalen, schmucken Buch, ein Herz für Tiere hat, erweicht sie der Anblick einer räudigen Katze am Strassenrand, kurz vor einer Reise nach Budapest. Die nimmt sie mit nach Hause, tut alles, dass es der Katze wieder besser geht, unterschätzt aber die Eifersucht ihres Hundes. Und so kommt es, wie es kommen muss. Nur dass der Biss weder die Katze noch den Hund erwischt, sondern die Erzählerin.

Monika MAron «Die Katze», Hoffmann und Campe, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-455-01884-4

Wird man so für seine Fürsorge, seine Hingabe, die Hilfe, die Liebe belohnt? Ob dieses Buch auch eine Zustandsbeschreibung für die Trennung des ehemaligen „Heimatverlags“ S. Fischer nach 40 Jahren Veröffentlichungen mit der Autorin ist, weil sie bei einem rechtsnahen Verlag ein Essay veröffentlichte, weiss ich nicht, lässt dies aber im Hintergrund vermuten. Monika Maron war und ist eine eigenwillige Schriftstellerin, eine die polarisiert und sich mit ihrer eigenen Meinung nicht zurückhält, einer Meinung, die durchaus kontrovers und sperrig ist. Aber man kann die Erzählung auch einfach als Parabel lesen, wie schnell sich eine gute Absicht gegen einem selbst wenden kann. Raubtier bleibt Raubtier.

Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest, auch wenn sie schon auf dem Flughafen und noch mehr im Flugzeug spürt, dass sich die Entscheidung, den Biss auf die leichte Schulter zu nehmen, rächt. In Budapest angekommen, eingespannt in Termine, beginnt ein Amoklauf der Bakterien im Körper der Autorin. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Und obwohl ihr eine fürsogliche Begleitung zur Seite steht, wird aus dem Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen ein Kampf bis ganz nahe an die Katastrophe.

Klar liest man jedes neue Bücher dieser Autorin nach Zeichen jener Trennung, nach Ursachen und Wirkungen. Monika Maron wollte vielleicht auch bloss eine gute Geschichte erzählen, was ihr unzweifelhaft gelungen ist, sowohl handwerklich wie sprachlich. Ob ich als Leser dieser Geschichte nun die eine oder andere Bedeutungsebene unterschiebe, bleibt Leserinnen und Lesern überlassen. Aber ich traue der Autorin viel mehr zu. Auf jeden Fall hat die Erzählung Biss!

Interview

Man kann ihre Erzählung einfach als gute Geschichte lesen, weil jeder weiss, wie schnell sich eine gute Absicht in eine verfahrene Geschichte auswachsen kann. Das sind Geschichten, die Resonanz, durch eigene Erfahrung genügend Bestätigung finden. Dass die eigenwillige Schriftstellerin beinahe durch eine eigenwillige Katze ausgebremst wird, ist Stoff genug. Was entscheidet, ob ein Text zu einem Buch wird?
Geschichten mit katastrophalem Potenzial, die aber gut ausgehen, offenbaren nachträglich ja auch ihre Komik. Man erzählt sie natürlich seinen Freunden, und mit dem wiederholten Erzählen verdichten sie sich und man selbst entdeckt dahinter Zusammenhänge und Zeichen, an die man, während man es erlebt hat, gar nicht gedacht hat. Und irgendwann sagt dann jemand: die Geschichte solltest du eigentlich schreiben. Und dann schreibe ich sie, so war das mit Bonnie Propeller und mit der Katze auch. 

Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest. Es beginnt ein Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen bis zur drohenden Katastrophe. Bei uns in der Schweiz nennt man eine Katze „Büsi“, noch etwas niedlicher als in Deutschland „Schmusekatze“. Die Verkörperung der scheinbaren Harmlosigkeit beisst. Eine Metapher?
Nein, bestimmt nicht. Außerdem war diese Katze ja überhaupt nicht bösartig. Das war einfach ein Unfall. Die Katze wollte sich gegen den wütenden Hund verteidigen und traf versehentlich meine Hand.

Vor ein paar Jahren veröffentlichten Sie die Erzählung „Bonnie Propeller“, eine Liebeserklärung an den verstorbenen Hund und die Erklärung dafür, einen „Neuen“ anzuschaffen. So gross die Liebeserklärung an Bonnie Propeller, so gross die Ernüchterung darüber, was die Eifersucht seines Nachfolgers auslösen kann. Sie zählen zu den bedeutensten Schriftstellerinnen der Deutschen Gegenwartsliteratur, seit bald 45 Jahre, seit ihrem Debüt „Flugasche“. Die beiden Erzählungen sind aber nicht einfach die Hinwendung zum Kleinräumigen. Wir leben in einem Klima des überhöhten Harmoniebedarfs. Streiten ist keine Fähigkeit mehr. Die Katze beisst, das wars. Wie weit steckt Gesellschaftskritik in dieser Erzählung?
Das hieße, dieser Erzählung zu viel aufzuladen. Natürlich spielt sie nicht im luftleeren Raum, ich war nicht nur einfach in Budapest, sondern war eingeladen vom Matthias-Corvinus-Collegium, das oft als Orbans Kaderschmiede bezeichnet wird, das ich aber als eine großzügige Bildungsstätte mit offenem Meinungsstreit erlebt habe, was in der Geschichte auch vorkommt wie kleine Erinnerungen an Vergangenes oder Beobachtungen am Rande. Einen überhöhten Harmoniebedarf in der Gesellschaft erkenne ich eigentlich nicht, eher das Bedürfnis nach ergebnisoffenem Streit ohne Diffamierungen und Verdächtigungen. Die Katze hat damit nichts zu tun. Sie wollte sich verteidigen, das ist ihr Recht.

Nach 40 Jahren kündigte S. Fischer die Partnerschaft mit ihnen, weil sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Steckt in dieser Erzählung auch der Schmerz über jenen Biss?
Oh Gott, nein. Ich fühle mich bei Hoffmann und Campe gut aufgehoben. 

Sie schreiben Den Katzenbiss interpretiere ich als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine möglich Zukunft und nahm mir vor, mich in Sanftmut und Freundlichkeit zu üben. Beobachtet man die aktuellen Debatten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, wären das doch durchaus allgemeingültige Tugenden, die man sich vornehmen müsste. Gelingt es ihnen?
Sanftmut und Freundlichkeit in politischen Debatten halte ich für unangemessen. Da geht es eher um die Bereitschaft, andere Meinungen ernst zu nehmen und zu ertragen, auch wenn sie scharf und provozierend geäußert werden und den eigenen Positionen extrem widersprechen. Mir ging es um die Demut gegenüber der eigenen Sterblichkeit und ihren kränkenden Vorboten, womit ich zum ersten Mal leibhaftig konfrontiert war. 

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten
Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit zahlreichen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992) und der Deutsche Nationalpreis (2009).

weitere Besprechungen auf literaturblatt.ch zu Büchern von Monika Maron

Beitragsbild © Jonas Maron

Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann

Manchmal gibt es das eine nicht ohne das andere, selbst in der Liebe. In „Der blinde König und sein Narr“ verliebt sich der Erzähler, ein Schriftsteller, in eine Antiquarin. Beide lieben die Sprache, Bücher. Wenn Mara nur diesen Papagei nicht hätte, ein Tier, das sich mehr und mehr nicht nur zwischen die beiden stellt, sondern dem Schriftsteller all die lieben Gewohnheiten nimmt.

Jürg Beeler ist kein Plotschreiber. Seine Geschichten sind die Träger seiner Sprache. Seine Sprache ist sein Instrument. Welches Stück er spielt, ist sekundär. Wichtig ist, dass er spielt, dass ich Gelegenheit habe, seiner Sprachmusik zuzuhören. Es ist der Klang, die Melodie, es sind die leisen Töne, das Dazwischen, das mich an Jürg Beelers Schreiben fasziniert. Da sind die Störungen eines krächzenden Papageien sinnbildlich, eigentlich kaum zu übertreffen. Vor allem dann, wenn es der blinde König (Maras Papagei ist auf einem Auge blind und auch das andere trübt mehr und mehr ein.) schafft, seinen Narr zu seinem getreuen Untergebenen macht, wenn aus der unliebsamen Begleiterscheinung über die Zeit eine manchmal fast grotesk erscheinende Zweisamkeit wird, auf die der König nicht verzichten kann und sein Narr nicht verzichten darf.

Der Erzähler lebt als Schriftsteller schon einige Jahre im Norden Deutschlands, blieb wegen einer Frau hängen. Weil der Süden, das Meer, die lauen Winde, die mediterane Landschaft aber Sehnsuchtsort geblieben sind, setzt der Erzähler alles daran, seinen damals verlassenen Schreibort wieder zurückzugewinnen. Er kauft sich aus der Ferne ein Haus, an dem Ort, wo er die Stille wiederfindet, die Cafés, Bistros und Bars, die ihm zu Schreib- und Lebensorten wurden, weg aus der feuchten Kühle des Nordens.

Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann, 2024, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-03820-142-

Ausgerechnet in dieser Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung, verliebt sich der Erzähler in Mara, die in der Stadt ein Autiquariat führt. Und weil sie mit dem Gedanken spielt, ihr Antiquariat an einen Nachfolger, der bereits feststeht, weiterzugeben, ist der Gedanke, mit ihrem Liebsten in den Süden zu ziehen, ein durchaus reizvoller. Wenn da nur Friedolin nicht wäre. Ein gefiederter Schreihals, ein Krachmacher, ein Senegalpapagei, ein Tier, das an ihr hängengeblieben war und sich längst zum fixen Familienmitglied gemacht hatte. Friedolin mit ie strahlt so gar keinen Frieden aus. Da ist ein Tier, das durch sein besitzergreifendes Gehabe sehr schnell klar macht, dass mit keinerlei Entscheidungen an ihm vorbeigegangen werden kann. Friedolin schafft es mit Leichtigkeit, den Erzähler in seine Absichten einzubinden. Erst recht, als Mara ihn bittet, in der Zeit der Geschäftsübergabe für Fiedolin da zu sein. Noch viel mehr als Maras Nachfolger gesundheitliche Probleme bekommt und Maras Absenzen in der sich langsam auflösenden Wohnung immer länger werden.

Zwischen dem Tier und dem Erzähler entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Machtkampf, der bis zum Überlebenskampf wird. An Schreiben ist nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Der Erzähler wird mehr und mehr zum Narr des blinden Königs und als man sich mit dem Auto zu zweit unterwegs in den Süden macht, weil der Erzähler glaubt, seine Anwesenheit dort sei unbedingt erforderlich, wird aus dem ungleichen Miteinander in der Stadt ein wilder Roadtripp in den Süden. Was würden Sie sagen, wenn sie an einer Rezeption eines Hotels einem Mann mit einem Papagei auf der Schulter begegnen würden, einem sonst stillen Mann, dessen Vogel am Ohr seines „Herrchens“ knabbert und seinen Unwillen über dessen Entscheidungen mit lautem Krächzen quittiert.

So poetisch die Formulierungen, wenn es um das Daseins eines Schriftstellers geht, um die Ergebenheit in ein überstülptes Schicksal, in die Liebe zur Sprache, ebenso wie zur Stille, so witzig und grotesk sind die Szenerien mit dem Vogel. Es gab schon lange kein Lesevergnügen mehr, dass mir ein so nachhaltiges Lächeln schenkte, wie dieses Buch. „Der blinde König und sein Narr“ ist köstlich.

Und ganz nebenbei ist dieses Buch ein rührendes Porträt einer aussterbenden Gattung Mensch. Jürg Beelers Roman ist durchaus metaphorisch zu verstehen, wenn man die Präsenz der Gegenwart als aufsässiges Kreischen, besitzergreifendes Gehabe versteht.

Interview

Sie erzählen das Buch so, dass die Frage nach Fiktion schnell beantwortet werden kann, auch wenn man dieses Zugeständnis durchaus literarisch verstehen kann. Wie leben in einer Zeit, in der man der Fiktion nicht mehr zu trauen scheint, dabei ist Literatur doch die einzige Möglichkeit, stilvoll zu lügen. Aber im Zeitalter alternativer Fakten und Fakenews ist das Bedürfnis nach möglichst realem Erzählen gross, ob das nun autobiographisch oder autofiktional heisst. Mich ärgert diese Entwicklung. Nicht einmal die Bibel kann wörtlich genommen werden, auch wenn es welche gibt, die das versuchen. Darf Literatur, Kunst nicht viel, viel mehr, als bloss abzubilden?

Wer ist der König, wer der Narr? Der Ich-Erzähler oder der Autor? Eine schwierige Frage. Man setzt sich ein Krönchen auf, und bleibt doch ein Narr. Nun bin ich schon so alt geworden, und immer noch ist es mir nicht gelungen, mein durchsichtiges Krönchen abzulegen, das zum Glück niemandem auffällt.

Was ist fiktiv, was nicht? Das bleibt das Geheimnis des Autors. In diesem Sinne ist „Der blinde König und sein Narr“ ein zugleich offenes und verschlossenes Buch. Dichtung und Wahrheit zugleich, denn die eine ist nicht ohne die andere zu haben.

Natürlich verstehe ich mich mit meinem Ich-Erzähler gut. Aber da verstand ich mich auch mit den Protagonisten meiner früheren Romane. Trotzdem steht unzweifelhaft fest: hätte nicht auch ich mich mit einem Papagei angefreundet, wäre ich mit diesem Erzähler nicht so gnädig verfahren. Trotzdem ärgert er mich immer wieder, und ich erhebe Einspruch und sage ihm, nun, übertreib mal nicht. Natürlich hörte er nicht auf mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über ihn herziehe. Zum Glück führt er ein eigenständiges, anderes Leben als ich, das mildert mein Urteil ein wenig. 

Der Erzähler ist wegen einer Beziehung im Norden Deutschlands, weit weg von den Orten, an denen er weiss, dass sie ihm beim Schreiben helfen, weit weg vom Süden. Es kommt zur Trennung, weil jene Frau ihn einen Schriftsteller schimpft, der nichts für seine Karriere tut, der noch von Hand schreibt, keine Homepage bewirtschaftet, ohne Facebook oder Twitter. Mir sind solche Menschen höchst sympathisch. Und ich weiss von vielen jungen Menschen, die sich gerne aus den Schlingen der Neuzeit befreien würden. Schwierig bloss, dass sich der Kultur- und Literaturbetrieb ganz stark diesem Intrumentarium bedient, der einsame, stille Schiftsteller ein auslaufendes Modell zu sein scheint. Gibt es eine Angst vor dem Verschwinden?

Das ist eine weitläufige Frage. Was heißt verschwinden? Man kann aus den Medien verschwinden oder in die Medien verschwinden, in beiden Fällen ist man auf unterschiedliche Weise nicht mehr existent. Wir leben in beiden, im privaten wie im öffentlichen Raum. Ist aber das Spiel entschieden, ist die Öffentlichkeit der Sieger, wie das heute der Fall zu sein scheint, so nehmen die Ängste naturgemäß zu: Die Angst, sich selbst zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, im öffentlichen Raum niemand mehr zu sein. Das führt, wie der Literaturbetrieb lehrt, zu einer eigentümlichen, mich immer wieder erheiternden Hektik: Jeder versucht sich panisch der eigenen Präsenz im medialen, virtuellen Raum zu versichern. In solchen Zeiten hat es die Literatur schwer, denn die Revolte (oder die existentielle Selbstversicherung) kommt nicht aus dem öffentlichen Raum, sondern aus dem privaten. Und dieser private Raum ist nicht medial verhandelbar. Für eine jüngere Generation ist das nicht einfach. Der öffentliche Raum bietet ihr immer weniger Möglichkeiten der existentiellen Selbstversicherung. Das stimmt mich traurig. 

Die Liebe des Schriftstellers heisst Mara. Sie ist Antiquarin. Auch eine aussterbende Gattung Mensch. Auch Mara kannte die Stille. Die Stille der Bücherschluchten, die Stille der erzählenden Canyons. Still schon. Aber hinter all den Buchrücken rumort es ganz ordentlich. Alle, die lesen, befreien die aufgestauten Geschichten, Stimmen aus dem Papier. Bei mir zuhause ummanteln mich auch Bücher. Sie umarmen mich, betten mich und schützen mich vor der Oberflächlichkeit der Welt. Ob Jürg Beeler oder der Erzähler in ihrem Buch. Er sucht die Stille. Ist Schreiben die Spur durch diese Stille?

Schreiben kann die Spur durch diese Stille sein. Das hängt davon ab, was man unter Stille versteht. Stille ist kein akustisches Phänomen, nicht die Abwesenheit von Lärm. Darin bin ich mit dem Protagonisten einig. Sie ist auch kein Rückzug aus dem Leben. Mein Protagonist stellt fest, dass Stille in jedem Land anders wahrgenommen wird, so wie der Umgang mit der Zeit in verschiedenen Kulturen ein anderer ist. Er sucht, was ihm oft fehlt: die Stille. In diesem Sinne versetzt sie ihn immer wieder in Unruhe.  

Die Spur, die der Erzähler durch die Zeit gelegt hat, ist seine eigene und die durch Jahrhunderte. Sie ist zugleich persönlich und unpersönlich. Auf seinem Weg scheint er etwas gefunden zu haben, das ihm Gelassenheit gibt. Dieses Phänomen versucht er immer wieder in Worte zu fassen. Ich glaube, dass „Der blinde König und sein Narr“ ein gelasseneres Buch ist als seine Vorgänger, dass der Ich-Erzähler den Autor in gewisser Weise angesteckt hat. 

Eine Stille, die sich ausgerechnet in Cafés, Bistros oder Bars findet. Im gleichförmigen Teppich aus Stimmen und Geräuschen. Ein Teppich, der im Süden anders sein muss als im Norden. Warum?

Es ist weniger der Geräuschteppich, der den Norden vom Süden unterscheidet. Deutschland kennt die Tradition des Bistros und Cafés nicht. Es imitiert sie aus Modegründen, doch das Imitat ist immer etwas anderes als das Original. Dort, wo ich lebe, in Südfrankreich, in einer der ärmsten Gegenden des Landes, ist das Bistro oder das Café immer noch Treffpunkt für alle Generationen. Im Café oder Bistro sitzt die Oma mit der Enkelin, der Geschäftsmann, der Rentner und der Schüler. In Bremen oder Berlin war ich in einem Lokal oft nur von Rentnern umgeben oder von einer mehr oder weniger homogenen Altersklasse, die einer bestimmten Szene angehörte. In Berlin, viel schlimmer, gab es noch die Schriftstellercafés. Man ist gut sortiert in Deutschland. 

Es ist nicht der Geräuschteppich, der eine Bar, ein Bistro oder Café im Süden zu einem anderen Ort macht, sondern die andere Lebensweise. Wenn ich nun von mir rede, von mir als Schriftsteller, nicht vom Protagonisten meines Romans: Nicht von Anfang an waren Cafés meine Schreiborte. Ich bewohnte als Student und auch später nie ruhige Zimmer. Also flüchtete ich ins Café, um arbeiten zu können. Ich gewöhnte mich daran, und diese Gewohnheit ist mir geblieben. Alle meine bisherigen Versuche, dies wieder zu ändern, scheiterten bisher. 

Nicht immer ist der Geräuschteppich in einem Café angenehm oder dem Schreiben zuträglich. Doch das Café kann ich wechseln, meine Wohnung nicht. Diese Möglichkeit schafft eine ganz andere Leichtigkeit. Geräusche lullen ein, lenken ab, erlauben eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Man ist konzentriert und doch nicht, man läßt sich ablenken, und plötzlich schreibt sich der Text wie von selbst weiter. Menschen im Café sind meist friedlich, ich bin also an meinem kleinen Tisch von friedlichen Zeitgenossen umgeben. Ich sitze vor meinem kleinen Kaffee und denke, diese armen Teufel, die jetzt eingekerkert in ihrer Schreibstube sitzen, auf den Bildschirm starren und am nächsten Satz ihres Romans herumlaborieren. 

Der Papgei, der sich ziemlich entschlossen und deftig ins Leben des Erzählers einmischt, heisst Friedolin. Mit ie! „Der Friedensreiche“. Ein ziemlicher Gegensatz zu seiner Lebensweise, seinen Geräuschen, seiner Aufsässigkeit. Und trotzdem wird aus dem genervten Erzähler ein Kämpfer und Streiter, ein Tierfreund. Müsste ich es mit meiner Hundephobie ähnlich angehen?

Die Literatur kennt keine Ratschläge, die findet man in den Buchhandlungen unter „Lebenshilfe“. Dort findet man alles, was im Leben nicht hilft. 

Ihr Roman ist auch ein Roman über Ihr Schreiben. Eine Vergewisserung. Ein Sehnsuchtsroman?

Sehnsucht wonach? Nach einer Welt, wie sie war? Diese Art der Sehnsucht scheint mir ein Phänomen des Alterns zu sein. Es ist nicht mehr meine Generation, die das Sagen hat. Plötzlich entdeckt man, dass man alleine ist, immer alleine war. Schwierig, sehr schwierig, wenn einem das erst in vorgerücktem Alter aufgeht. 

Meist halten wir die Welt für schlecht, weil sie sich beim Älterwerden immer mehr von uns entfernt. Wir wollen die Welt so alt, wie wir selber sind, wir nehmen in unserer Umgebung meist nur uns selber wahr, aber selten die andern. Der Welt ein faltiges Gesicht zu wünschen, nur weil man selber runzelig geworden ist, gehört zu einer verbreiteten Verhaltensweise, deren Egozentrik merkwürdigerweise kaum je auffällt. 

Sehnsucht hat viele Farben. Sie ist und war auf jeden Fall eine literarische Triebkraft für viele Autoren. Augustinus und Rousseau, Stendhal, Baudelaire, Flaubert oder Joseph Roth kannten sie, auch Tolstoj und Turgenjew, ebenso viele japanische Autoren wie Tanizaki, Kawabata oder Soseki. Die Sehnsucht nach dem entschwundenen Paradies, von dem sie nur zu gut wußten, dass es auch eine Hölle war, schärfte ihren Blick für die Gegenwart und schürte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

Die Welt des Handels und der Werbung ist eine Welt ohne Zukunft und Vergangenheit, eine Welt purer Gegenwart, sie produziert täglich das immer Neue und Aktuelle. Ihre Sprache ist identisch mit dem Produkt, das sie verkauft. In dieser Dialektik ist das Aktuelle und Neue immer schon der Schrott von morgen. Es ist die Dialektik der virtuellen und medialen Welten, in denen wir uns immer mehr einrichten. Sie kennt keine Scham und keine Sehnsucht. 

Auch die Literatur und ihr Betrieb wird nicht davon verschont. Das weiß mein Protagonist natürlich. Nicht ohne Grund schreibt er noch von Hand, verzichtet auf Homepage und Handy, nicht ohne Grund ist er Nomade und schreibt in Cafés, Bistros oder Bars. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich kenne das Glück und den Rausch dieser Freiheit.

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Reisejournalist, Magaziner, bei verschiedenen Institutionen, u.a. Aids-Hilfe-Schweiz. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis 2003 für «Die Liebe, sagte Stradivari». Bei Dörlemann erschienen Zuvor erschien 2022 «Die Zartheit der Stühle«.

Beitragsfoto © Werner Gadliger

Christoph Keller «Blauer Sand», Limmat

Leo hat sich ausgeklinkt. Seit siebzehn Jahren haust und versteckt er sich in einem Bunker auf einer kleinen Insel in der Flensburger Förde an der deutsch-dänischen Grenze. Immer im Oktober sticht er aufs Festland, um seinen jährlichen Mord zu begehen. Er tötet jene, die der Welt Schaden zufügen.

Vorläufig blockieren die meisten nur Strassen oder demonstrieren sonst auf eine Art, Greenpeace schon seit Jahrzehnten. Aber wer weiss, zu welchen Massnahmen all die Verzweifelten greifen werden, wenn die Hoffnungslosigkeit die Massen ergreift, wenn aus Hoffnung- und Ratlosigkeit tödliche Radikalität wird?

Erstaunlich genug, dass die Menschheit die immer grösser werdende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Dahinsiechenden und unsäglich Privilegierten so einfach hinnimmt, dass man den Versprechen und Beschwichtigungen der Mächtigen noch immer glaubt, die die Massen zu betäuben wissen, damit sie, die in Objektive Lächelnden, weiterhin auf der Sonnenseite des Lebens ihren Luxus geniessen können.

Leo hat sich einer Aufgabe verschrieben, auch wenn ihm klar ist, dass er mit seinen Morden höchstens Verunsicherung erreicht, persönliche Genugtuung, der „Tropfen auf dem heissen Stein“ gleich wieder verdampft. Ich werde mich von keinem Kraken in die Tiefe ziehen lassen. Ich bin der Krake.

Einzig halbwegs Verbündete ist die todkranke Liv, die auf der grösseren Insel gleich daneben, die mit Bikes über eine schmale Holzbrücke befahren werden kann, eine Imbissbude betreibt. Bei Liv gibt es die besten Hotdogs der Welt. Aber Liv hat ALS, eine unheilbare Nervenkrankheit, Muskelschwund, der irgendwann unausweichlich zum Erstickungstod führt. Aber so wie Leo eine Strategie für seinen Rachefeldzug eingerichtet hat, wird es Liv tun, wenn es soweit sein wird. Die Dynamitstangen sind bereit; ein kurzes Ende mit Schrecken.

Christoph Keller «Blauer Sand», Limmat, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03926-077-5

Die Insel, auf der Leo sich seit Jahren versteckt, hat sich über die Jahre verändert, weil sich immer wieder Horden von Tagestouristen auf ihr breit machen, weil von dem einstmals rätselhaft blauen Sand nach den Posts eines Besuchers nichts geblieben ist.
Leo, der durchs Jahr das Leben eines Eremiten führt, der sich mehr oder weniger selbst versorgt, spürt aber nicht nur das drohende Ende Livs und die trampelnden Touristen auf der Insel. Dass etwas da ist, was bisher fern blieb; eine junge Frau auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters. Thea ist wie Leo auf einer Mission. Obwohl sie ihren Vater nicht mochte.

Es kommt zum Showdown auf der kleinen Insel, ein Showdown, der aber so gar nicht jene Wendung einnimmt, die die Protagonisten gleichermassen überrascht wie mich als Leser. Eine Begegnung, mit der Leo schon viel früher rechnete. Thea und Leo stehen sich gegenüber, so wie Leo seinen Opfern jeweils gegenübersteht. Es muss mehr sein als eine blosse Auslöschung, ein simpler Rachemord. So wie Liv in ihrer Hotdogbude mit einem lauten Knall von der Insel verschwinden will, so will Leo mit jedem seiner Morde ein Statement abgeben. Es müssen kleine Siege sein.
Wenn Leo einmal im Jahr in einem Flugzeug sitzt und sich in der Business Class einen Bourbon gönnt, hat er es wieder getan, jedes Jahr im Oktober. Wieder „einen Scheisskerl“ erledigt, von denen es auf der Welt genug gibt.

Leo sagt von sich selber, es sei nicht Rache, sein Motiv sei Schutz. Er sei der vernünftigste Mensch der Welt, einer, der die Typen ausschaltet, die am Ast sägen, auf dem wir alle sitzen.

Christoph Kellers Roman ist nicht blosse Versuchsanordnung. Wann wird aus Enttäuschung Radikalität? Kann man von einem eingeschlagenen Weg zurück, selbst auf einer Einbahnstrasse? Die Lektüre dieses Romans ist Auseinandersetzung. Nicht zuletzt die Literatur gewordene Reaktion eines Mannes, der seinen Zorn über die Gegenwart nicht verbergen kann. Ist das eine Töten amoralischer als das andere? Die Grenzen zwischen Heldentat und Verbrechen sind seit jeher fliessend und oft bloss Resultat einer eingenommenen Perspektive. Kellers Roman rüttelt auf und ist logische Konsequenz einer aus dem Ruder gelaufenen Gesellschaft. Womit sich Keller hier auseinandersetzt, wird über Kurz oder Lang Realität werden, wenn wir es nicht schaffen einer immer breiter werdenden Masse die Hoffnung zurückzugeben.

Ein wichtiges Buch!

Interview

Wir leben in einer Zeit, in der viele Leserinnen und Leser bei Büchern den Faktencheck machen. Ein Buch muss mit der Realität, mit dem Leben der Schreibenden fest verknüpft sein. Rein fiktionales Schreiben scheint regelrecht out zu sein. Dein Buch hat einen seltsamen Bezug zur Realtät, denn wir alle wissen, wie nah wir dem Szenario eines „Rächers“ gekommen sind, dass es wohl nicht mehr viel braucht, bis sich Klimaaktivist*innen noch ein paar Stufen mehr radikalisieren. Wie weit ist ein solcher Roman das Resultat Deiner eigenen Sorge, aber auch Deiner Wut? Ist das Buch Dein Versuch, Dich „zu retten“?
Diesen Kurs verdanke ich John Berger, der meinem Roman ein bisschen Pate stand. Ich kehre immer wieder zu seinen Essays zurück und wundere mich jedes Mal mehr: Wie kann einer ein so rigoroser Warner in der Wüste sein, aber nie zur Tat schreiten? Ein vergleichbares Gefühl packt einen ja auch beim täglichen Nachrichten hören. So viel Negatives, dass immer mehr nicht mehr ertragen, Burn-out kriegen oder sich ausklinken. So einer ist mein Leo Cavor, der sich ausgeklinkt hat, aber eben jedes Jahr im frühen Oktober loszieht, um jemanden zu eliminieren, der dem Planeten und der Menschheit enormen Schaden zufügt. Nur eben: Gewalt gebiert Gewalt. Ich würde das nicht tun. Ich bin ein Schreibtischtäter.

„Nichts ist schwieriger, als die Menschen zur Vernunft zu bringen, selbst wenn es um das eigene Überleben geht“, sagt Thea irgendwann zu Leo. Das wissen wir alle selbst. Wir konsumieren grenzenlos. Wir lenken uns strategisch ab von den tatsächlichen Problemen dieses Planeten und seiner Bewohner. Leo hat sich irgendwann entschieden, das scheinbar Unverrückbare nicht mehr einfach hinzunehmen. Auch Liv nimmt nicht einfach hin, wie die Krankheit sie tötet. Und Thea nimmt auch nicht bloss hin, auch wenn ihr Tun eine seltsame Wendung einnimmt. Wie weit glaubst Du, muss Literatur Stellung beziehen?
Das ist eine Paraphrase des berühmten Zitats von Bertrand Russell. Es ist schon schlimm zu sehen, wie die Menschen die Probleme ausblenden und weitermachen wie gehabt. Vor allem, wenn es um Reisen und Autos geht, setzt der Verstand aus. Nach mir die Sintflut, Tanz auf dem Vulkan. Ich kann mir keine andere Literatur vorstellen als eben jene, die zu den täglichen Schrecken Stellung bezieht. Das geht ja alles auf Tschechow zurück, der in «Onkel Wanja» den Arzt Astrow über das Abholzen der Wälder verzweifeln lässt. Das war visionär. Heute haben sich die Visionäre irgendwie erledigt, es ist ja alles offensichtlich, nur wollen wir es nicht wahrhaben. Mir hilft da die Fantasie – eine magische Insel zu schaffen oder einen sich mit jedem Schritt dehnenden Garten wie in «Der Boden unter den Füssen».

Wann ist Töten eine Heldentat?
Ach, im Krieg wohl. Wir befinden uns im Krieg – mit der Natur, die doch unser Verbündeter sein sollte. Aber eigentlich nie.

Jene kleine Insel in der Flensburger Förde, die Insel mit dem einstmals blauen Sand, ist Stellvertreterin für all jene Orte, die durch den Fokus der Öffentlichkeit zerstört werden, ein Fokus, der mitunter auch ganz uneigennützige und respektable Ursachen hatte. Aber kaum im Fokus ergisst sich eine Horde fotografierender und filmender Wilder über jene letzten Reste unberührter Natur und zerstören. In einer Zeit, in der man sich alles in die eigene Stube holen kann doch eigentlich seltsam. Ist es die Sucht, an etwas Besonderem teilhaben zu wollen?
Ja, das, und Rastlosigkeit. Der Mensch ist ein rastloses Wesen, muss immer in Bewegung sein. Aber weil wir immer mehr werden, stöhnt unser armer Planet auf. Da bin ich schon versucht, einen Zusammenhang mit den immer häufiger, immer stärker werdenden Unwettern zu sehen. Vielleicht will uns die Erde ja abschütteln. Kommt die Ironie dazu, dass unsere individuelle Sucht nach dem Besonderen immer mehr zum Massentourismus wird.

Leo ist nichts anderes als ein Umwelt- oder Klimaaktivist, wenn auch mit ganz radikalen Mitteln. Ich kann ihn durchaus verstehen. Und ich bin mir sicher, Du „spielst“ mit genau diesem Gefühl, diesem dauernden Kippen zwischen Moral und Schadenfreude. Das muss man aushalten können, wenn man Dein Buch liest. Wirst Du mit mahnenden Briefen zugedeckt? Gibt es Reaktionen?
Nein, keine einzige Postkarte. Vielleicht eben, weil man das Thema meiden will.

Am 4. Dezember erschoss ein 26jähiger einen Chef des Versicherers UnitedHealthcare mitten in New York und wurde nach seiner Festnahme von vielen im Netz als Held gefeiert. Werden so Attentäter zu Helden?
Genau davon erzählt ja mein Roman, habe ich als Erstes gedacht. Da schaltet einer den CEO einer wirklich üblen Krankenkasse aus. Eine Versicherung, die Ungezählte auf dem Gewissen hat, weil sie überall nur an Gewinnoptimierung denkt. Und der Mord wird auf Social Media gefeiert. Die USA sind, was Gewalt angeht, ein Pulverfass. Allzu viele stehen mit gezückten Streichhölzern bereit. Es wäre jetzt natürlich schön, mit meinem Serienmörder Leo Cavour davon zu träumen, das ein moralisch gerechtfertigter Mord – wenn es das denn gibt – das Leben Zahlloser rettet.

Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). «Jeder Krüppel ein Superheld» ist seit 2022 in Englisch (Penguin Random House UK, London) erhältlich. Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Sein Roman «Der Boden unter den Füssen» wurde mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.

Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer – Österreichischer Buchpreisträger 2024

Bin ich der, der ich bin? Richte ich mich bloss in einem Leben ein? Wie viel konstruiere ich von dem, was ich meine Wahrheit nenne? In „Brennende Felder“ brennt es gleich mehrfach. Reinhard Kaiser-Mühlecker schont mich in seinem neusten Roman nicht, zuletzt in meinem Wunsch, mich identivizieren zu wollen. Sein Meisterwerk flirrt in seiner aufgeladenen Hitze und der gekonnt spröden Annäherung an sein Personal.

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Bauer und Schriftsteller. Aber so sehr er seinen letzten Teil einer eigentlichen Trilogie („Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) und „Wilderer“ (2022), ohne dass man sie für dieses Buch gelesen haben müsste) in bäuerlicher Umgebung spielen lässt, so sehr konfrontiert mich der Autor mit urmenschlichen Schwächen, sei es in der Zeichnung seiner Protagonisten oder mit dem, was der Autor während des Lesens mit mir geschehen lässt. 

Nichts an „Brennende Felder“ beschreibt ländliche Idylle. Da brennen die Felder wegen der sommerlichen Gluthitze wirklich. Und überall lauert der Tod. Sei es ein Bauer, der in eine Futtermaschine gerät, eine Bäuerin, die den Strick nimmt. Das Leben auf dem Hof war und ist ein K(r)ampf, der so rein gar nichts mit Landliebe zu tun hat.

Reinhold Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397570-3

Luisa kommt zurück in dieses Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, wo ihr Bruder noch immer den elterlichen Hof über Wasser zu halten versucht und der andere Bruder an seinen psychischen Verletzungen leidet. Luisas Vater spielte nie eine Rolle und ihr Stiefvater, von dem sie eine Kindheit lang glaubte, er wäre ihr Vater, erklärt ihr nach seinem Outing seine Liebe, steht Jahre später vor der Tür und beginnt mit ihr das, was damals unmöglich war. Auch ihre Mutter lebt noch im Dorf. Man schaut sich aber bei zufälligen Begegnungen nicht einmal in die Augen. Abgestorbenes Leben überall. Und überall kann es zu brennen beginnen.

Nachdem ihr Stiefvater bei einem nächtlichen Streifzug ums Leben kommt, Ermittlungen aber gar nie richtig in Fahrt kommen, lernt Luisa Ferdinand kennen, von dem sie annehmen muss, dass er der Bauer ist, bei dessen Konfrontation Bob, der Stiefvater, ums Leben kam. Aber statt diesen Ferdinand zur Rede zu stellen, richtet sich Luisa auf Ferdinands Hof häuslich ein und kümmert sich um Anton, den autistischen Sohn des Bauern. Eine Art Wiedergutmachungsversuch, denn Luisa hat selbst zwei Kinder aus zwei gescheiterten Ehen, zu denen sie den Draht verloren hat, einer Tochter und einem Sohn, die sich mehr und mehr deutlich von ihr abwendeten. Zwischen Ferdinand und Luisa entwickelt sich durchaus eine Beziehung, auch wenn einem als Leser im Laufe der Lektüre ziemlich bald klar wird, dass Luisa nicht nur Bindungsprobleme mit sich herumträgt, sondern alles zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Leidenschaft und Hassgefühlen kippt.

Luisa will Schriftstellerin sein. Sie träumt von einem eigenständigen Leben als Künstlerin. Ferdinand hat ihr sogar ein Schreibzimmer in seinem Haus eingerichtet. Ein Zimmer, das sie abschliesst. Das Leben auf dem Hof, all die Arbeiten, sind für sie nur Kulisse, Material, aus dem sie Literatur schaffen will. Noch so ein Feuer, wenn auch ein eigenartiges Strohfeuer, denn was sie schreiben will, scheint nie richtig Form annehmen zu wollen.

Während des Lesens wird immer deutlicher, dass Luisa ihre Sicht der Dinge ganz eigen interpretiert. Mehr und mehr Fragen stellen sich, Bilder kippen immer und immer wieder. Seien es ihre Beziehungen, die nicht enden wollenden Eskapaden, die Ruinen einer Familie und Luisas Hang, alles und jeden in ein für sie stimmiges Muster quetschen zu wollen.

„Brennendes Feuer“ beschreibt innere und äussere Feuer. Nicht zuletzt das Feuer, das jene Institionen frisst, die über Jahrhunderte das Existieren ausmachten; bäuerliche Arbeit, Ehe und Familie. „Brennende Feuer“ beschreibt aber auch den Zustand einer Gesellschaft, die den Blick auf das Wesentliche verloren hat, die sich im Kopf verliert, sich seine eigene Welt zusammenspinnt. „Brennende Feuer“ ist literarischer Hochgenuss, vielschichtig, verzwickt und von Hitze aufgeladen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde heute für sein Buch „Brennende Felder“ mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Interview

Nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen mir immer wieder, dass sie ohne klaren Plan mit dem Schreiben beginnen und sich die Türen zu einer Geschichte erst nach und nach öffnen. So ist doch auch das Schreibprinzip von Luisa, deren grösster Wunsch nicht bloss das Verfassen eines Romans ist, sondern das Leben als erfolgreiche Schriftstellerin. Bei ihnen und den Romanen „Fremde Seele – dunkler Wald“, „Wilderer“ und dem neusten „Brennende Felder» – im weitesten Sinne eine Familiensaga aus drei verschiedenen Perspektiven – kann ich mir ein intuitives Schreiben schlicht nicht vorstellen, zumal ihr Roman auf so vielen Ebenen spielt. Oder täusche ich mich?
Mein Schreiben geschieht tatsächlich ohne Plan, aber es gibt immer etwas, das ich im Voraus weiss, kenne – in diesem Fall war es eine Persönlichkeitsstruktur. Luisa ist bereits in «Fremde Seele, dunkler Wald» angelegt, in «Wilderer» ein wenig entwickelt, im vorliegenden Buch habe ich versucht, sie möglichst breit, aber doch noch mit ausreichend Leerstellen, Lücken, Geheimnissen darzustellen.

Luisa ist eine schillernde Person, unfassbar, vielgesichtig (um nicht den Ausdruck schizophren zu benutzen, auch wenn er durchaus zutreffend ist). Eine seltsam nach innen gerichtete Person, die ihre Sicht der Dinge permanent über ihre Wahrnehmung spannt und alles ausblendet, was sie nicht braucht. Durchaus ein gesellschaftliches Phänomen, dass sich bis in die Politik und ihre Köpfe zeigt. Sie ist eine vernarbte Person, verwundet von einer Familie, eine Frau, der jedes Mittel genommen ist, um sich wenigstens mit der Vergangenheit zu arrangieren. Alle sind Versehrte. Sie ist weit weg davon, sich helfen zu lassen. Was muss passiert sein, dass Luisa zu einer Verlorenen wurde?
Ja, so kann man es sagen, sie ist wirklich eine Verlorene. Immer schon, wahrscheinlich. Was wird erworben, was vererbt? Auch darum geht es in dem Buch schliesslich. Jakob und sie sind für mich die zwei Seiten einer Medaille. So wenig wie er sich helfen lassen könnte, so wenig kann sie sich helfen lassen, weil sie keine Hilfe benötigt. Das Problem sind immer die anderen, das Gegenüber. Sie sucht ihr Heil in der Zukunft, besser gesagt: im Träumen.

© Sandra Kottonau

Luisas Familie ist ein Trümmerhaufen. Viele Familien sind Trümmerhaufen. Und doch; Trümmerhaufen sind keine Fallgruben. Es gibt Menschen, die aus Trümmerhaufen aufstehen, herausklettern und Berge versetzen. Luisa aber nimmt selbst Katastrophen in Kauf, um die Kulissen für sie ins richtige Licht zu rücken. Man könnte meinen, es gäbe im Kaiser-Mühlecker-Kosmos keine Chance, sich selbst am Schopf zu packen. Wie viel Pessimismus spielt da mit (auch wenn ich glaube, dass ein Biobauer aus Prinzip ein Optimist sein muss.)?
Im Leben bin ich optimistisch, natürlich, so machen die Tage mehr Spass. Ich kenne auch genug Schwarzmaler, und mit denen langweilt mich ein Gespräch schnell. Als Landwirt, aber auch als Schriftsteller benötigt man ein grosses Reservoir an Hoffnung und Zuversicht. Aber zur Frage: Es hat einen ganz eigenen Reiz, «das Unglück, das als Glück gedacht war» (Arnold Stadler) darzustellen. Und sowohl Luisa als auch Jakob, um nur diese beiden herzunehmen, sind auf eine Weise auch Stehauffiguren.

Luisa keht in ihr Dorf zurück. Sie kehrten nach langen Aufenthalten ebenfalls ins Dorf ihrer Eltern zurück und übernahmen einen Hof. Das Motiv des Zurückkehrens ist ein wichtiges in ihren Romanen. Wie weit ist das Schreiben an sich eine Form des Zurückkehrens? Ich kenne Menschen, denen das Reflektieren völlig fremd ist. Luisa reflektiert auch nicht. Wer aber nicht bloss ein Geschichtchen erzählen will, sondern die Welt miteinbinden will, muss unweigerlich reflektieren.
Ja, und man muss sich um die Vergangenheit, das Vergangene kümmern. Das tut Luisa zum Beispiel nicht, auch deshalb ist ihr Schreiben möglicherweise, wenn überhaupt, nur für ein Buch gut. Wir schöpfen aus dem, was war: Was wir gesehen, gehört, gelesen, in irgendeiner Art und Weise erlebt und erfahren haben. Das macht die Menschen aus, und das macht auch die Schriftsteller aus.

Es brennt in ihrem Roman, was man auch metaphorisch verstehen kann. Selbst Luisa brennt von ihrer Idee, Schriftstellerin sein zu wollen (Schon Schriftsteller-sein ist ein Unding, ist doch die Schriftstellerei kein Zustand.) Es brennt auch „unterirdisch“, Mottbrände auf den sonst dunklen Feldern von Familien. Es brennt in der Gesellschaft. Wie weit sind gute Schriftsteller Seismologen?
Ich glaube fest daran, dass in jedem Schreiben die Gegenwart steckt, dass man allem Geschriebenen die Zeit ansieht bzw. ansehen wird, in der es verfasst wurde. Insofern ist es fast überflüssig zu bemerken, dass ich es durchaus als eine Aufgabe von Schriftstellern ansehe, ihre «Zeit aufzuschreiben», wie es bei Hermann Lenz einmal heisst. Wie gut einem das gelingt, kann allerdings immer erst der spätere Blick zeigen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschliessend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter Rigaud

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

Webseite der Autorin

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jungundjung

Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.

Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.

„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“

Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.

Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann. 

„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“

Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4

Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.

„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“

Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.

„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.

„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“

Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!

© Tine Melzer I Have Changed My Mind 2005 Mann

Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)

Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.

Danke!

Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.

Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.

© Tine Melzer 2018 Protest Nudelhölzerr

Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.

Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.

Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.

© Tine Melzer Dictators 2012

Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.

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Beitragsbild © Jakub Kovalík