Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani

„Fast wie ein Bruder“, der neue Roman von Alain Claude Sulzer, ist nicht nur ein Buch über Freundschaft und die Scham einer Schuld. Dieser Roman wirbelt auf, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten zu verbergen versucht: Die Angst der Heimsuchung. Die Angst, dass uns dereinst etwas offenbart, die Augen dort verschlossen zu haben, wo man hätte hinschauen und etwas tun sollen.

Er liest in der Zeitung von einer Ausstellung in einer Berliner Galerie, von den Bildern eines unbekannten Künstlers. Und weil er eine der abgebildeten Skizzen in jener Zeitung als jene seines schon lange verstorbenen Freundes Frank erkennt und alle abgebildeten Gemälde mit der Initiale F signiert sind, weil die Bilder die unverwechselbare Sprache seines alten Freundes sprechen, reist er nach Berlin und besucht jene Galerie. Dort sieht er sich selbst, sieht in sein junges Gesicht, die Nacktheit seines Körpers und die unmissverständlich aufgeladene Gestik eines Alleine-Gelassenen. Eigentlich müssten sämtliche Bilder verschwunden sein, denn sein Freund, der zu Lebzeiten fast nichts verkaufen konnte und in der Masse all der unbekannten Talente versank, orderte seinen Nachlass kurz vor seinem Tod zu ihm von New York nach Frankreich, wo er die Bilder ungesehen und verpackt im Schuppen neben seinem Wohnhaus einlagerte mit der jahrelang verschobenen Absicht, sich irgendwann den Bildern, der Hinterlassenschaft seines Freundes anzunehmen. Bis die Bilder aus seinem Schuppen verschwanden. Bis das lautlose Verschwinden aller Bilder alte Wunden aufriss, eine schlummernde Schuld, ein schlechtes Gewissen, die Scham über das mehrfache Sterben seines Freundes. Bis ein Artikel voller Begeisterung und Verwunderung auf einen bisher unbekannten Künstler aufmerksam macht, einen grossen Unbekannten, ein Genie.

Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86971-294-9

Frank und er wuchsen wie Brüder im Ruhrgebiet der Siebzigerjahre auf, Wohnung an Wohnung. Nicht nur sie waren befreundet, auch ihre Eltern. Ein Leben ganz nah, Tür an Tür. Eine Art paradiesischer Urzustand, aus dem sie der fast gleichzeitige Tod ihrer Mütter vertrieb. Beide Frauen raffte Krebs aus den Leben und hinterliess alleinerziehende Väter, die sich nicht mehr zurechtfanden. Die Leben der beiden Familien trennten sich. Aus dem Gleichschritt wurden zufällige Treffen und als Frank mit seinem unauslöschlichen Wunsch und Drang, dereinst ein grosser Künstler zu werden, nach New York zog, verloren sich die beiden Leben, dünnte aus, was einmal unzertrennlich schien.

Erst als Frank sich Anfang der Neunzigerjahre aus einem Schöneberger Krankenhaus meldet und verrät, dass er unheilbar krank auf das Erscheinen seines ehemaligen Freundes wartet, bricht auf, was über Jahre schlummerte. Frank hat zu einer Zeit Aids, als es noch kaum Medikamente gab und die Diagnose einem Todesurteil gleichkam. Als man an Aids Erkrankten den Körperkontakt verweigerte, nicht einmal mehr die Hand geben wollte. Als man von Seuche sprach und nicht einmal hinter vorgehaltener Hand von der gerechten Strafe Gottes sprach, angesichts der vielen Opfer unter den Schwulen.
Er reist nach New York und sie treffen sich ein letztes Mal, weil jene Freundschaft, aus der sie wuchsen, die sie als Kinder wie Brüder verband, etwas blieb, was trotz der so gegensätzlichen Biographien stets geblieben war, wenn auch begraben, verdrängt, fast vergessen.

Plötzlich sind die Bilder wieder da. Die Bilder eines Mannes, der einst wie sein Spiegelbild war, der sich ganz in seine Leidenschaften stürzte, sei es seine Malerei, sein Leben selbst, in seiner Kompromisslosigkeit. Auch die Bilder jenes einen Moments, der nicht nur die beiden Freunde auseinandertrieb, sondern die beiden Familien, eine Freundschaft, die für eine Ewigkeit hätte reichen sollen. Als Frank aus seinem Leben verschwand, man ihn gebrandmarkt hatte, für immer aus dem Paradies vertrieben.

„Fast wie ein Bruder“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Wie sehr sich unterscheiden kann, was wir als real empfinden. Darüber, dass wir unter dem Zwang stehen, uns ein Bild von allem zu machen, ob als Künstlerin oder Künstler, ob als irgendwer. Wir sehen und interpretieren, senden Signale. „Fast wie ein Bruder“ ist ein Erklärungsversuch, warum man die Dinge nicht zu lesen verstand.

Und Alain Claude Sulzer erzählt mit der Stilsicherheit eines Meisters! Ein ungemein starkes Buch!

Interview

Zwei Freunde, die in ihrer Kindheit wie Brüder aufwachsen, durch einen Donnerschlag voneinander getrennt werden und sich doch nie ganz verlieren. Vielleicht bewegt dein Roman auch deswegen, weil wir diese Geschichte alle selber kennen; Freundschaften, die einst elementar waren, die unzertrennlich schienen, sich in den Wirbeln der Zeit verlieren und einen Zustand der immerwährenden Scham hinterlassen. So wie ich selbst einst einen Mann im Bus traf, den ich als Freund aus Kindertagen erkannte, aufgeschwemmt und laut mit sich selbst redend. Ich sprach ihn nicht an, aus Feigheit und der Furcht vor Konsequenzen. Wie ungern beschäftigen wir uns mit der Feigheit!
Ist die Frage nicht eher: Wie ungern beschäftigen wir uns mit dem, was vergangen ist, mit dem, was mal einen Wert darstellte, der heute einfach verloren ist. Von Feigheit würde ich nicht unbedingt sprechen, wenn man sich voneinander entfernt hat. Kinder- und Jugendfreundschaften halten selten, wir haben ja manchmal genug an unseren eigenen Familien zu nagen, das ist für viele Vergangenheit genug. Da stellt sich eher die Frage, wie feige man ist, sich ihr zu stellen. Oder wie «zurückhaltend» oder meinetwegen «ängstlich» man ist, es zu tun. Uns trennen oft Welten von «damals». Sie hinter sich gelassen zu haben, ist nicht feige, sondern doch eher befreiend.

Frank erkennt bei einem Ausstellungsbesuch, dass die Malerei seine Stimme sein muss. Von dem Moment ist klar, er muss Maler werden. Alles, fast alles in seinem Leben, richtet sich danach aus. Erst sein Zeichnen, später sein Malen, seine Kunst, seine Form des Ausdrucks wird zur Manie. Ein Drang, bei dem das New York der Achtzigerjahre der einzig mögliche Ort des Gedeihens sein kann. Du beschreibst sehr eindrücklich, wie nah einem diese Manie an den Abgrund führen kann, ein Abgrund, dem du als Schriftsteller bestimmt immer wieder begegnest. Wie schafft man es, sich nicht zu verlieren?
Ich frage mich eher, wie man es schafft, sich als Autor zu verlieren und trotzdem arbeiten zu können. Wenn ich regelmässig am Abgrund gestanden hätte, gäbe es mich als Autor wohl längst nicht mehr. Ich lebe wie wohl die meisten anderen Autoren auch, ein eher «durchschnittliches» Leben, in dem die Arbeit zwar vielleicht der wichtigste Aspekt ist, aber keiner, der mich verschlingt. Das ist mir ohnehin eine zu romantische Vorstellung des Künstlers. Natürlich gab und gibt es, insbesondere bei den Bildenden Künstlern, immer wieder welche, die von ihren Manien fortgerissen wurden, aber zu ihnen zähle ich mich sicher nicht. Ich nehme mir – wenn ich denn danach suchen müsste – eher ein Beispiel an Nabokov, dessen grösster Wunsch es stets gewesen war, in vornehmen Hotels zu wohnen, um dort über Menschen zu schreiben, die – getrieben ihren fixen Ideen – von billigem Motel zu Motel hinterherhechelten. 

Frank malt, der Erzähler in deinen Roman macht Filme. Du schreibst, du schreibst auch immer wieder über Musiker. Ob Maler, Schriftsteller, Dichter oder Musiker – sie alle erzeugen Bilder, Bilder, die keine Wahrheiten abbilden wollen. Und trotzdem wird die Kunst immer und immer wieder am Grad ihres realen Spiegelbilds gemessen. Ein ewiger Kampf. Und gerade der Film wirbt dann auch noch gerne mit dem Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“. Höhlen diese permanenten Erklärungsversuche, das Erschaffene am Realen messen zu müssen, nicht irgendwann aus?
Nicht, wenn sie für den Autor gar nicht entscheidend sind. Auch er erzeugt Wahrheiten, egal worauf sie basieren; seine Fantasie und deren Produkte sind ja genauso real wie das Kind, das über die Strasse geht und von einem Auto überfahren wird. Jetzt genau wird es in der Fantasie des Lesers überfahren, also real. Dieser Satz ist also wahr, solange ihn jemand liest, zumindest kurzfristig. Es ist völlig egal, ob sein Inhalt auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht, ob der Erzähler uns eine Lüge auftischt oder nicht. Das Kind wird überfahren, weil es nicht aufpasst. Gerade noch einmal – diesmal mit einem erklärenden Nebensatz. Es ist am Leser zu entscheiden, für wie wahr er diese Geschichte hält, und am Autor liegt es, sie glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Frage nach der «wahren Begebenheit» oder dem Faktencheck ist also nicht die Frage, die die Literatur sich stellen muss. 

Frank schafft es nie, sich als Maler einen Namen zu machen. Das Meer all jener, die es in der Welt der Kunst trotz Leidenschaft und Akribie nie zu lebensnotwendiger Aufmerksamkeit schaffen, ist riesig. Posthum scheinen es seine Bilder für einen kurzen Moment zu schaffen, um dann wie in einem Traum wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Eine Form der natürlichen Verschwendung?
Würde Frank nicht früh sterben, hätte er sich vermutlich den Namen gemacht, den er verdiente. Seine Geschichte als Maler ist eine Geschichte reduzierter Möglichkeiten. Er hat zu wenig Zeit, und die Zeit, in der er lebt, ist wohl auch nicht die Zeit, in der es jene Menschen gibt, die er auf sich aufmerksam machen kann. Natürlich Verschwendung? Vielleicht.

Franks Bilder sind laut. Sie schreien. Sie provozieren. Dass Provokation ein Teil der Kunst ist, scheinen die wenigsten zu verstehen. Lieber wäre vielen Kunst bloss als nette Verzierung, hübscher Schmuck. Was war das Urmotiv, als Du Dich ans Schreiben dieses Romans machtest, steckt doch in deinem Roman ganz offensichtlich auch Provokation?
Ich sehe die Provokation nicht, lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Das Urmotiv ist wohl die Geschichte meines Vaters, der während seines Lebens immer wieder Phasen hatte, in denen er malte – und keineswegs als Dilettant. Er malte, hat aber nie ausgestellt. Seine Bilder existierten also nicht und hatten keinen Marktwert. Nach seinem Tod haben wir Brüder einen letzten Effort unternommen und einen jungen Galeristen gefunden, der für diese Bilder regelrecht entbrannte und eine Ausstellung organisierte, die sehr erfolgreich war. Plötzlich waren die Bilder, die vorher kaum jemand kannte, da. Sie wurden gesehen, es wurde darüber geschrieben, sie wurden verkauft. Eine späte Genugtuung, ähnlich jener, die Frank in meinem Roman «erfährt», auch er erst nach seinem Tod.

Noch vor wenigen Jahren erklärte man Aids zur Volksseuche. Eine Tatsache, die viel mehr Opfer forderte als die Krankheit selbst. Heute ist Aids aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Es gibt Medikamente. Du beschreibst die ganz persönliche Scham deines Erzählers. Geht es aber nicht viel mehr darum, dass man sich nie mit den tatsächlichen Folgen von Aids auseinandersetzte?
Die Betroffenen setzen sich auf die eine oder andere Weise bis heute damit auseinander. Dass die Nichtbetroffenen das nicht tun, ist nachvollziehbar. Alles in allem hat man die «Seuche», die keine «Volksseuche» war, sondern zunächst vor allem ganz bestimmte Menschen – eigentlich nur Männer – betraf, gut gemeistert. Das lag an besonnenen Politikern – es gab auch andere – und Medizinern, die sich nicht hysterisieren und manipulieren liessen.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Doppelleben«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

«Die Jugend ist ein fremdes Land», Rezension

«Unhaltbare Zustände», Rezension

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lucia Hunziker.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird!

„Verschiebung im Gestein“ ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Roman besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, weiter die Sprache, die sich einer ganz feinen Beschreibung zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie und mit fein ziselierten Schilderungen glänzt und einer maximalen Nähe zum Geschehen. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen!

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Eingangstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit die Kraft nicht mehr hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zu seiner wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Einem kleinen Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen wie tektonische Platten. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben. 

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht. 

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen. 

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen. 

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen. 

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege. 

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz

Statistisch wurden 2023 in Deutschland über 18000 sexuelle Übergriffe an Kindern polizeilich erfasst. Über eine Million Deutsche erlebten im Laufe ihres Kindseins einen sexuellen Übergriff. Wie kaum eine andere Kunstgattung nimmt sich die Literatur dieser heiklen Thematik an – und Katharina Winkler mit unsäglich tiefgreifender Empathie!

Nicht auszudenken, wie hoch die Dunkelziffer sein wird. In der Schweiz erlebt rund jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt durch Erwachsene oder ältere Kinder. Ungeheuerliche Zahlen, von denen niemand gerne spricht, am wenigsten die Politik, werden doch die meisten Übergriffe von Familienmitgliedern begangen. Monströse Zahlen und ebensolche Vorstellungen, wie all die Kinder und all die Erwachsenen, die solches als Kinder über sich ergehen lassen mussten, mit dem umgehen sollen. Ein Alp, bei dem weder Justiz, Medizin noch Psychologie heilen können, weil die Betroffenen mit dem Erlebten weitgehend alleine bleiben und sich die offenen Wunden über Jahre und Jahrzehnte tief in die Seelen fressen.

«Hast du Papa lieb?
Ja»

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7518-0961-0

Einen Roman darüber schreiben? Schon alleine das Risiko, nach der Veröffentlichung permanent der Neugier der Leserinnen und Leser ausgesetzt zu sein, ob das Erzählte autobiografisch sei, könnte abschrecken. Nicht weniger der potenzielle Vorwurf, doch gar nicht in der Lage zu sein, ohne eigene Erfahrung solches glaubhaft erzählen zu können. Literarischer Treibsand! Aber Katharina Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ entzieht sich diesen Risiken, weil seine sprachlichen Qualitäten alle Risiken überstrahlen. Weil er in seiner Form so geschrieben ist, dass er sich so weit wie möglich von Betroffenheitsliteratur unterscheidet. Wer das Buch aufschlägt, glaubt in einem Gedichtband zu lesen, was in gewisser Weise auch stimmt, denn „Siebenmeilenherz“ erzählt lyrisch, manchmal in ganz kurzen Zeilen, manchmal repetitiv, wie ein Lied, ein Aufzählvers, ein Gebet.

«Ich bin vom Erdboden verschluckt.
Niemand sieht mich.
Niemand weiss.
Ich hoffe, ich bleibe für immer verborgen.»

Ganz zu Beginn des Buches ist die Erzählstimme die eines kleinen Mädchens, das ganz und gar nicht versteht, wie ihr geschieht, das verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit sucht, sei es bei ihrem Vater, der sie zu seiner Prinzessin erhebt, einen Geheimbund mit ihr schliesst, nachts am Bett jede erdenkliche Grenze überschreitet – und einer Mutter, die in kalter Distanz und Abweisung wohl einfach nicht wissen und sehen will. Im Laufe des Buches wird die Stimme älter, reifer, wissender, aber auch verzweifelter, weil die junge Frau keine Möglichkeit sieht, ihrem Alp zu entfliehen, obwohl da immer wieder einmal eine Hand wäre, die sich ihr anbietet. Aber wer verrät schon seine Nächsten. Woher die Kraft, vom Opfer zur Anklägerin zu werden, sich zu erheben und den Vater zu konfrontieren. Sie ist alleine, erst recht, als da ein Mann ist, eine Liebe, irgendwann gar ein Kind in ihrem offenen Bauch. Wird man irgendwann sehen, was sie erdulden, über sich ergehen lassen musste.

«Widerhaken, die sich im Kopf verfangen
und sich nicht verflüchtigen.»

Die suchende Sprache des Kindes im ersten Teil des Buches, die Unfähigkeit des Benennens, des Nicht-Einordnen-Könnens schmerzt förmlich bei der Lektüre, ebenso die Ausweglosigkeit, die alles einnehmende Einsamkeit der jungen Frau, die scheinbar unrettbar verloren ist im Gefängnis ihrer Erinnerungen, ihres Schmerzes, ihrer Versehrtheit. «Siebenmeilenherz» ist ein buchlanges Selbstgespräch, der verzweifelte Versuch eines Auf- und Ausbruchs.

Ich las „Siebenmeilenherz“ mit angehaltenen Atem, voller Scham, voller Angst, auch in meiner Umgebung Zeichen nicht zu sehen, unangemessen zu reagieren.

Phantastisch ist Katharina Winklers Sprache, die Form, mit der sie auf ganz eigenwillige Weise dem Schrecken nicht bloss begegnet, sondern sich ihm mit einer ungeheuren Direktheit aussetzt. Da hat sich eine Autorin ein Herz genommen, um mit Siebenmeilenstiefeln ins Herz dieses Sturmes, ins windstille Auge der Tornados zu rennen.

Interview

Was dem Mädchen in seiner Familie widerfährt, sei es die Übergiffigkeit ihres Vaters oder die Kälte ihrer Mutter, was sie als Jugendliche, als Liebende, als werdende Mutter, als Verwundete und Gezeichnete ausstehen muss, ist höllisch. Und dieser Schwarm an Fragen, Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, ein Trommelfeuer, dem sie nicht entfliehen kann. Ich selbst bin auch Vater. Was der Protagonistin geschieht, ist hunderttausendfach erlittenes Schicksal. Warum tut sich die Gesellschaft derart schwer hinzuschauen? Warum spüre ich selbst bei mir diesen Schauer, wenn ich darüber lese, schreibe oder spreche?
Diese Wirksamkeit ist das Wesen des Tabus. 
Sexueller Missbrauch in der Familie ist eines der letzten grossen Tabus. 
Der Tabubruch stösst naturgemäss auf Widerstand und ist schmerzhaft.
Ein Tabu entsteht, um Schmerz und Überforderung von der Gesellschaft abzuspalten. 
Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein stillschweigend praktiziertes Regelwerk, unhinterfragt, strikt, bedingungslos, universell und ubiquitär. Wir sind darauf konditioniert. Ein Tabubruch fällt uns entsprechend schwer. Wir handeln gegen die Regeln des Kollektivs, gegen unsere eigene Konditionierung. Und wenn wir das Tabu brechen, bricht auch der darin gebundene Schmerz auf und die akute Überforderung.
Aber wenn wir das Tabu unangetastet lassen, manifestieren wir es – und damit auch den entsprechenden gesellschaftlichen Status quo. In unserer Gesellschaft bleibt sexueller Missbrauch in der Familie dann unangetastet und unverändert. 

Sie hätten einfach eine Geschichte erzählen können. Aber ganz offensichtlich reichte das nicht. Sie wählten eine ganz spezielle Form. Eine Art innerer Monolog, gespickt mit Textstellen, die an Lieder, Gebete, Märchen… erinnern. Wie kamen Sie zu dieser Form? War die Form schon von Beginn weg klar? Musste sie es sein, um darüber schreiben zu können?
Ich musste diese Geschichte aus der Innenperspektive erzählen. Ich wollte keinen Blick von aussen, jeden voyeuristischen Blick verhindern. Das Buch soll dem Leser ausschliesslich das Erleben aus dem Inneren der Figur ermöglichen. Denn ich wollte eine intensive Empathie des Lesers mit der betroffenen Figur, dafür musste ich den Leser so nah wie möglich an die Figur heranführen.  
Die gedicht-, lied- und märchenhaften Elemente in der Sprache sind der kindlichen Figur im ersten Teil geschuldet, in dem man erlebt, wie ein Kind in das von den Eltern dargebotene Weltbild wächst – ohne Möglichkeit zu hinterfragen oder zu relativieren. 
Dass diese Kindersprachenelemente auch im zweiten Teil präsent sind, in dem die junge Erwachsene geschildert wird, verdeutlicht, wie die kindliche Erfahrung das weitere Leben prägt. 

Auch die Zeichensetzung setzen Sie manchmal ausser Kraft. Warum?
Der Umgang mit der Zeichensetzung ist für mich eine ständige Gratwanderung. 
Meine Sprache ist sehr musikalisch gedacht. Leider ist das System zur Verschriftlichung von Sprache aber nicht so präzise wie die Notenschrift. Die Melodie, die ein Satz in meinem Kopf hat, ist manchmal gegenläufig zu der Melodie, die die grammatikalisch korrekten Interpunktionszeichen dem Leser nahelegen. 
Die Melodie der Sprache prägt die gedankliche Dynamik. Ein Punkt provoziert zum Beispiel den Abschluss einer Melodie und damit den Abschluss eines Gedankens, obwohl ich es oft wichtig finde, Melodie und Gedanke offen ausklingen zu lassen, damit sie weiter wirken und sich weiter entwickeln können. An entscheidenden Stellen verzichte ich deshalb manchmal auf den Punkt. 

Nichts ist so diffizil wie der Kosmos Familie. In keinem Gefüge ist so viel Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Nähe wichtig und Teil dieses Kosmos. Ausgerechnet in dieser ultimativen Intimität geschehen Übergriffe, die Wunden verursachen, die nie vernarben. Als ich das Abenteuer „Familie“ startete, war ich 23, meine Frau 21. Aus heutiger Sicht erscheint das beinahe fahrlässig, denn fast alles, was wir taten, geschah aus Intuition. In der Schweiz gibt es Ehevorbereitungskurse. Müsste es nicht viel mehr Familienvorbereitungskurse geben?
Eine optimale Vorbereitung auf das Leben ist eine schöne Idee und unbedingt zu verfolgen! Aber das Leben ist zu gross, zu kräftig, zu unberechenbar, um es in seiner Vielfältigkeit zu erfassen, geschweige denn zu antizipieren. Und Erfahrungen sind schwer vermittelbar. So stolpern wir im Grunde alle mehr oder minder unvorbereitet und oft auch stümperhaft durchs Leben. Als Individuum wie als Gesellschaft. Wir sind alle nicht vorbereitet auf ein Leben im 21. Jhdt.

Beklemmend bei der Lektüre ist die Einsamkeit der Protagonistin. Ich nehme an, dass sie in der Recherche mit vielen Betroffenen gesprochen haben. Wie schafften diese es, aus dem Bannkreis des Schweigens herauszutreten?
Durch die Tabuisierung des Themas spalten wir auch die Betroffenen von der Gesellschaft ab. 
Verschwiegene Geschichten trennen. Erzählte Geschichten verbinden. 
Die Erzählung ist der Weg aus der Isolation. 

Die Liebe zwischen Kindern und Eltern, Eltern und Kindern ist eine ganz eigene. Kinder überhöhen ihre Eltern, Eltern kompensieren durch ihre Kinder. Würde man in ihrem Buch alle unguten Szenen schwärzen, käme erst im zweiten Teil ein kritischer Blick zum Vorschein. Kinder lieben bedingungslos. Und ausgerechnet diese kindliche Bedingungslosigkeit wirkt bis ins Erwachsensein. Die Vertreibung aus dem Paradies?
Im Laufe des Individuationsprozesses muss jeder reflektierte Mensch sicher gehen, nicht nur ein Märchen zu sein, das die eigenen Eltern ihm erzählt haben. Und er muss die Welt auf dasselbe überprüfen. 
In Fällen glücklicher Kindheiten mag dies einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. 
Eine Desillusionierung ist es jedenfalls. 
Aber in vielen Fällen ist es wohl auch die Eröffnung neuer, besserer Welten. 

Katharina Winkler, 1979 in Wien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Mit «Blauschmuck» (Suhrkamp) erschien 2016 ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Das Buch wurde in sechs Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den baskischen Buchpreis Premio Euskadi de Plata für den besten deutschsprachigen Roman sowie den französischen Prix du premier roman étranger 2017, den Preis für das beste fremdsprachige Debüt. 

Beitragsbild © Bernhard Schir

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis

Vielleicht beschreibt „Familie“ das engste Band, den grössten Anker, mit dem wir uns durch ein Leben mit vielen Ungewissheiten trauen. Kein Wunder, ist kein Gefüge derart mit Idealen, Vorstellungen und Erwartungen behaftet wie „Familie“. Ursula Fricker lotet in ihren Romanen immer wieder dieses filigrane Gefüge aus. „Fangspiele“ ist ein Roman über die Blendungen der „Freiheit“.

Was Freiheit bedeutet oder wie frei wir uns in Wirklichkeit in unserem Leben bewegen, darüber streitet nicht nur die Politik und die Philosophie. Wie sehr die Freiheit des einen zur Last des andern werden kann, davon gibt es unzählige kleine und grosse Beispiele. Beispiele, die sich bis zur Katastrophe auswachsen. Nach welchem Massstab agieren wir? Was lässt uns etwas tun und was verhindert, etwas zu tun? Wie sehr lassen wir uns in unserem Leben einschränken, um Konventionen zu genügen, Rollen einzunehmen? Wie weit haben wir das Recht, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Wünsche zur allumfassenden Rechtfertigung unseres Tuns zu erklären?

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 30.00,
ISBN 978-3-7152-5036-6

Ines und Lenni sind ein modernes Paar, beide erfüllt in ihrem Beruf, auch wenn sich beide im Laufe ihrer Karriere anzupassen hatten. Sie kauften sich am Stadtrand Berlins ein Haus über einem kleinen See, renovierten es mit Hilfe ihrer Freunde zum grössten Teil eigenhändig und freuen sich am musikalischen Feingefühl ihrer einzigen Tochter Lea. Eigentlich passt alles. Eigentlich. Scheinbar.
Ganz zufällig, wegen einer Autopanne, lernen sie Edda kennen, eine charismatische, eigenwillige Frau in ihrem Alter, die mit einem Mal in ihr unaufgeregtes Leben tritt und alles aufmischt. Edda bewegt sich in der Theaterszene, wirbelt durch die Kunstwelt. Nicht nur auf der Bühne bleibt kein Stein auf dem andern, lösen sich Gewissheiten auf, reisst die Action Gewachsenes in ihren Strudel.

Auch ihre Tochter Lea schält sich aus ihrer Rolle als braves Kind, emanzipiert sich mehr und mehr, hängt ab mit ihrer Freundin Peggy. Plötzlich ist der Wunsch nach einem Tatoo viel dringlicher als das tägliche Cellospiel, obwohl Leas Lehrerin dem Mädchen ein grosses, auf keinen Fall zu vernachlässigendes Talent zuspricht. Auch Lenni hängt mit seinen Gedanken der einen oder andern verpassten Chance nach, nicht zuletzt dem versäumten Einstieg in die Forschung. Das Wartezimmer seiner Hausarztpraxis ist zwar immer voll. Aber auch er fühlt sich mehr und mehr in einem Zustand des Wartens.

«Was ist Einbildung und was ist real?»

Bis sich Lennis Frau Ines mehr und mehr von ihrer neuen Freundin Edda in ihre Theaterwelt einspannen lässt. Bis Ines mehr und mehr klar zu werden scheint, dass ihre eigentliche Berufung in den umtriebigen Theaterprojekten ihrer neuen Freundin liegt, Ines immer öfter abtaucht, manchmal auch für ein paar Tage. Bis man Lenni zu verstehen gibt, dass Ines auch an ihrem Arbeitsplatz das eine oder andere Mal unentschuldigt fehlte. Bis Ines bei einem Auftritt ihrer Tochter Lea trotz eines Versprechens wegbleibt. Nicht nur, dass sich Ines mehr und mehr aus dem Familiengefüge entfernt. Lenni weiss nicht, wie ihm geschieht. Was geschieht mit seiner Frau? Welche Rolle spielt die Frau, der man einst am Strassenrand aus der Patsche half? Warum wird aus Zweisamkeit, aus einer Familie plötzlich ein Trümmerfeld, in dem die letzten Gewissheiten einzustürzen drohen?

Und als Jasper, ein Freund aus alten Tagen ihm ein Angebot zurück in die Forschung macht, Lea die Aufnahmeprüfung an ein angesehenes Musikgymnasium schafft und sich die Bande zwischen Lenni und seiner Tochter Lea in der Not mit einem Mal verfestigen, als Lenni mehr und mehr hinnehmen muss, dass der Kampf um seine Ehe, die Mutter seiner Tochter aussichtslos wird, beginnen jene Fragen aufzuflammen, denen er sich ein Leben lang verweigerte.

„Fangspiele“ ist eine heftige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Zeit: Wo beginnt Manipulation? Was bedeutet „persönliche Freiheit“? Wie weit kettet uns Verantwortung? Ursula Frickers literarische Auseinandersetzung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit fahrlässiger Sicherheit bewegen. Wie schnell Gewissheiten kippen können. Ursula Frickers Roman ist fein gesponnen und zeigt gekonnt, wie sehr wir uns in Automatismen bewegen, wie sehr wir gefangen sind von uns selbst. Wie schnell die Freiheit des einen zum Zwang des andern wird. Wie sehr die Befreiung dort zur Katastrophe hier werden kann.

Unbedingt lesen!

Interview

Keiner meiner Lebensabschnitte zeigte mir deutlicher, wie verwundbar das Gefüge „Familie“ ist, wie die Corona-Zeit. Wie verletzlich. Wie ausgesetzt. Leben wir nicht viel zu sehr in scheinbaren Gewissheiten? Richten wir uns nicht viel zu selbstverliebt ein Leben ein, das gefälligst nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu funktionieren hat?

Interessant an der Corona-Zeit war ja, dass Familien, von denen man glaubte, sie funktionierten recht gut, durch die erzwungene permanente Nähe an ihre Grenzen kamen. Zumindest in meinem Bekanntenkreis konnte ich das beobachten. In normalen Zeiten ist man ja selten so viel zusammen, man arbeitet, die Kinder sind in der Schule, man trifft sich vielleicht morgens zum Frühstück und abends zum Essen. Und plötzlich teilt man sich Ort und Zeit vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die kleinen Freiheiten, die Nischen, die man sich geschaffen hat, werden ausgefüllt von der Präsenz der anderen. Man fühlt sich, man ist, unter Dauerbeobachtung. Leise und vorsichtig stellt sich die Frage, ob ein Zusammenleben über Jahrzehnte überhaupt nur klappt, indem man sich den grössten Teil der Zeit aus dem Weg gehen kann.

Wenn man länger mit jemandem zusammen lebt, lernt man den andern auf eine bestimmte Weise kennen. Man ist gezwungen, ihn, zumindest teilweise, in das eigene Selbst zu integrieren. So ergeht es auch Lenni und Ines. Gewiss- und Geborgenheit, aber auch Abhängigkeiten und Gewohnheiten ergeben ein Lebensgefüge. Vielleicht scheint es zunächst eine Anmassung, sich das Leben möglichst nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen einrichten zu wollen, aber es ist doch auch zutiefst menschlich. Im alltäglichen Zusammenleben allerdings, auch ohne Corona, sind Kompromisse unerlässlich. Gut, wenn das Zurückstecken gerecht verteilt ist. Ist es aber in den seltensten Fällen. 

Im Roman gibt es ja Verweise auf die Mutter von Ines, Grete, auch sie Ärztin, eine kernige, selbstbewusste Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie emotional misshandelt: Sind das nun Gretes Bedürfnisse, die dieser Mann abdeckt, oder warum bleibt sie bei ihm – und zwar freiwillig. Selbe Frage stellt sich bei Ines und Edda: Warum verharrt eine bisher selbstbestimmt lebende Frau in einer toxischen Freundschaft, obwohl sie diese jederzeit beenden könnte. „Edda ist nicht Mafia“, reflektiert Lenni an einer Stelle, „sie würde kein Rollkommando schicken, im Gegenteil, sie würde Ines morgen früh schon ersetzt und sie abends vergessen haben …“ Mich haben die beiläufigen psychologischen Mechanismen interessiert, die Menschen (jenseits ökonomischer Zwänge) veranlassen, illiberale Bedingungen nicht nur zu tolerieren, nein, sie sogar zu suchen.

Das echte „Haus am Hang“ in der Nähe von Buckow, in dem die Geschichte teilweise spielt. Ursula Fricker entdeckte  es vor vielen Jahren. Bis heute blieb es unverändert. © Ursula Fricker

Edda bringt das Leben von Lenni und Ines umfassend durcheinander. Für Ines die Befreiung, für Lenni die Katastrophe. «Was ist Einbildung und was ist real?“, schreibst du in deinem Roman. Ist nicht jede Wahrheit eine ganz persönlich gefärbte? Eine nur aus der persönlichen Geschichte zu begreifende?

Der Roman, aus Lennis Perspektive erzählt, ist ja auch eine Manipulation (des Lesers, der Leserin). Was Einbildung ist und was real, diese Ambivalenz durchzieht die ganze Geschichte. Auch Lennis Forschungsgegenstand, Placebo-Einsatz in der praktischen Medizin, streift diesen Komplex: Einbildung kann zu einer durchaus realen Verbesserung unterschiedlichster Beschwerden beitragen. Und ja, jede Wahrheit ist natürlich eine persönlich gefärbte. Aber was bedeutet „persönlich“, gibt es so etwas wie eine reine eigene Wahrheit überhaupt? Auch die eigene Wahrheit ist ja beeinflusst von Dingen, die wir lesen oder hören, von Moden und Trends. Von Menschen, die wir bewundern, denen wir nacheifern, mit denen wir uns identifizieren und vergleichen. „…wo verbindet der fremde Einfluss sich mit dem eigenen Wollen, und wie viel Mischung verträgt ein eigener Wille, um nicht plötzlich rot statt blau zu sein?, fragt Lenni an einer Stelle. Ein schmaler Grat also. Man spricht heute ja oft von „Blasen“.  Je nachdem in welchem Umfeld wir uns bewegen, kann die „Wahrheit“ einer solchen Gruppe als ureigene Meinung/Ansicht empfunden werden bzw. ist sicherlich die Neigung wiederum sehr persönlich, welchem Umfeld man sich zugehörig fühlt. Früher gab es dieses Phänomen der „Blase“ natürlich auch schon, aber die Wucht der gegenseitigen Bestärkung, die Ausschließlichkeit und auch die Unversöhnlichkeit potenziert sich, seit wir Social Media haben – gepaart mir einer zeitgeistigen Überinterpretation des eigenen Gefühls bzw. der Unfähigkeit, Gefühle mittels rationaler kritischer Distanz zu reflektieren.

Recherchereise 2019 der Autorin, Hiddensee, der Leuchtturm – wenn man genau hinsieht. © Ursula Fricker

Dass sich Katastrophen kulminieren können, wissen wir aus unserem Leben selbst. Und dass der Satz „Eines Tages wirst du wissen, wie sehr du in jenen Momenten gewachsen bist“ dann nichts Tröstliches hat, wissen wir auch. Wir wissen auch sehr wohl, wie schnell Gewissheiten wegbrechen können. Und trotzdem öffnen sich Abgründe. Warum sind wir so harmoniebedüftig?

Gewissheit ist ja erstaunlich selten mit „wirklich wissen“ assoziiert und noch seltener mit Wissenschaft, vielmehr mit Erfahrung, mit Glauben, Vertrauen, mit Gefühl. Gewissheit ist also eine subjektiv geprägte, persönliche oder auch gruppenbezogene „Wahrheit“. Nehmen wir Gott als wohl bekanntestes Beispiel. Für Menschen im Mittelalter war Gott eine Gewissheit – durch vom Glauben geprägte Erfahrungen. Phänomene schrieb man umstandslos dem göttlichen Wirken zu. Gott (der Klerus) als unhinterfragbare Führungsinstanz lenkte und überwachte ein dichtes moralisches Regelwerk und verfügte entsprechende Sanktionen. Dem Einzelnen bot sich so eine Art Lebenskorsett. Eng geschnürt, aber auch Halt gebend. 

Emanzipatorische Strömungen, auch die Trennung zwischen Kirche und Staat im Zuge der europäischen Aufklärung/Säkularisierung haben uns von diesem moralischen Rigorismus nach und nach befreit. Heute sehen wir, zum einen in den USA, zum andern in islamisch bzw. islamistisch geprägten Ländern, die nie eine Aufklärung im westlichen Sinn durchlaufen haben, aber dennoch eine Weile recht freie Lebensweisen pflegten, einen beispiellosen religiösen Backlash. In den westlichen Gesellschaften, die USA habe ich ja schon erwähnt, aber auch bei uns, scheinen aktuell ebenfalls diverse religiöse oder quasireligiöse Entwicklungen Fahrt aufzunehmen. Autoritäre Führungsfiguren, seien sie dem rechten Spektrum zuzurechnen, seien es Verfechter moralisierender Sprach- und anderer ideologisierter Regelkomplexe, die absolut gesetzt werden. Parallel ist eine Romantisierung vermeintlicher Befreiungsbewegungen zu beobachten – bis hin zur Kontextualisierung von nackter Barbarei und der Rechtfertigung von politisch-religiösen Agenden, die uns allen eigentlich den Angstschweiss auf die Stirn treiben sollten. Das ist schon einigermassen absurd. 

Manchmal scheint mir, als ob kaum jemand so recht damit klarkäme, dass die Moderne dem Einzelnen viel Freiheit schenkt, aber auch viel Ambivalenz auferlegt. Dass das Böse nicht auf der einen, und das Gute auf der anderen Seite zu verorten ist. Vielleicht ist Freiheit ja eine so ungeheure Zumutung für den Menschen, dass er sich lieber autoritären Strukturen beugt, um dann umso heftiger von Freiheit zu träumen. Ich will das eigentlich nicht glauben.

Notizbuch von Ursula Fricker, © Ursula Fricker

Lenni glaubt an Manipulation; Edda ist die Zerstörerin. Lea, Ines und Lennis Tochter, versteht die Welt nicht mehr und verlässt in ihrer Not den Weg der Konfrontation, weil sie reflexartig spürt, dass mit dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Boden zu Teibsand werden könnte. Selbst die scheinbare „Befreiung“ von Ines ist ein Klammern. Das Klammern an einen Traum, eine Idee. Ist nicht alles die Hoffnung auf Rettung?

Das Interessante an Ines ist ja, wie sie mit ihrer kognitiven Dissonanz umgeht bzw. nicht umgeht. Einerseits ist da Ines` bisherige, ausgesprochen selbstbestimmte Weise zu leben. Andererseits Eddas Theater, Avantgarde, Edda eine charismatische Figur, ein Guru, wenn man so will, die Opferbereitschaft fordert, die sich willkürliche Bestrafungen erlaubt, manipulativ. Warum möchte Ines so unbedingt mit Edda befreundet sein, zu dieser Gruppe um Edda gehören? Ist es wirklich nur der Traum, endlich Theater machen zu können, oder spielt da auch ein sehr eitles Motiv mit rein; möchte sie einfach gerne einem elitären Kollektiv angehören, ist es eine Art Fetischisierung des Aussergewöhnlichen, Eddas Machtmissbrauch ein Zug, der genialen Menschen halt zusteht? 

Will man irgendwo dazugehören, muss man sich im Grunde ja immer den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Umso dringender dieser Wunsch, desto unfreier macht man sich selber – und umso exklusiver ein „Club“, desto verzweifelter möchte man ihm angehören, nicht selten auch um den Preis der Selbstentmündigung. 

Ja, Lea ist der Lichtpunkt in dieser Geschichte. Zumindest geht mir das so. Ein Mädchen, eine junge Frau, die unter den Entwicklungen in der Familie zwar leidet, aber intuitiv eine sehr eigenständige Stärke entwickelt. Verantwortung für sich selber übernimmt. Nicht primär nach der Schuld der anderen fragt, die Rettung nicht delegiert, sich selber rettet. Sie hält sich an das, was sie gut kann: das Cellospiel.  

Ines verschwindet aus ihrem alten, angestammten Leben. Wie oft spielen wir mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir aus allen Pflichten und Zwängen aussteigen würden, kompromislos und unumstösslich. Wir kennen solche Biographien. Manche werden gar zu Heiligen. Und trotzdem zementieren wir unser Dasein, bis uns das Gewicht den Atem nimmt?

Der radikale Bruch. Die ultimative Befreiung. Bei Ines ist es ein wenig komplizierter. Sie geht ja nicht ins Offene; wenn man Lenni glauben will, vieles spricht dafür, begibt sie sich aus einer recht gleichberechtigten Partnerschaft sehenden Auges in eine manipulative Hölle. Mehr dazu habe ich ja oben schon ausgeführt. 

Wenn jemand aber aus einem Impuls heraus einfach geht, dann möchte man ihm unbedingt folgen. Man möchte sehen, wie er sich durchschlägt, wie er an Geld oder Essen kommt, wo er schläft. Es scheint sich, dem Tramp ähnlich, heute hier, morgen dort, um die totale Freiheit zu handeln. Ist es natürlich nicht. Aus Pflichten lässt sich vielleicht aussteigen, aber nicht aus Zwängen: zu essen, zu schlafen. Ich würde sogar sagen, die Beschaffung von Essen, das Suchen eines sicheren Schlafplatzes, mit anderen Worten, das Stillen der elementarsten Bedürfnisse, kann zu einer echten Plage werden, der Überdruss bleibt nicht aus. So oder so, das Leben hat Längen. Über weite Strecken passiert nicht viel. Und man gewöhnt sich leider auch an das aufregendste Leben. Sind das Gründe, nicht davon zu träumen? Natürlich nicht. Die Idee, einfach alles hinter sich zu lassen, ist wohl nichts weniger als eine archaische Sehnsucht. Esoteriker würden sagen, das Nomadische in uns. 

Und was uns hält, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Nach Schutz. Nach Kontinuität, Gewissheit, Struktur. Diese Bedürfnisse oder auch Notwendigkeiten, besonders wenn man Kinder hat, sind wohl letztlich doch stärker als eine Freiheit, die ja eigentlich auch gar keine echte Freiheit ist.

Dein Roman ist auch ein Buch über Wahrnehmung. Ein Thema, dass wie nie zuvor diskutiert wird, und zwar nicht bloss theoretisch oder philosophisch. Selbst Kriege werden mit kollektiver, ideologisierter Wahrnehmung gerechtfertigt. Ist Schreiben ein Versuch der Wahrnehmung?

Wahrnehmung ist ja eng mit Wahrheit verzahnt. Wie wir oben gesehen haben, verleitet die Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus dazu, diese spezifische Sicht der Welt auch für wahr zu halten. Und möglicherweise den Rest der Welt zu zwingen, dasselbe zu tun. Schreiben ist der Versuch herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Wahrnehmung funktionieren kann. Literatur leiht dem Leser, der Leserin, fremde Augen, verführt zur Empathie, erstmal neutral verstanden. Die Definition von Empathie ist ja zunächst nur: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“ (Wikipedia) Also bedeutet Empathie nicht nur, beispielsweise den Schmerz einer anderen Person mit- oder nachempfinden zu können, auch den Hass oder die Gleichgültigkeit eines Mörders. Das hat nichts mit rechtfertigen zu tun. Wir lernen daraus viel. Für unser eigenes Leben und vielleicht auch Über-leben.  

Dass wir uns in der Literatur sowohl als Schreibende als auch als Lesende in andere, fremde Wahrnehmungswelten versetzen dürfen, hat ein extrem wertvolles humanes Potential. Literatur ist eine Art Training, Ambivalenzen auszuhalten. Literatur weiss nicht schon, sie fragt. Sie muss frei sein von Instrumentalisierung. Ein Essentialismus der behauptet, nur Betroffene könnten beispielsweise Unterdrückungserfahrungen begreifen und logischerweise auch schildern (oder übersetzen) hat in der Literatur nichts zu suchen. Die oftmals verzerrte Wahrnehmung gruppenbezogener Perspektiven als einzige Wahrheit – das kann niemand wollen. Literatur ist zu soviel mehr imstande als der Exekution politischer Agenden; sie kann uns von der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten erzählen, weit jenseits der kleingeistig-ängstlichen Vermeidung von Verstörung. Lea, im Kleinen, macht es vor: Das Leben verletzt, aber man kann darüber hinwegkommen.  

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für «Fangspiele» erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Rebekka Salm «Wie der Hase läuft», Knapp

Zu glauben, die eigene Geschichte, die Geschichte der Familie, würde sich wie eine lange Kette Perle an Perle aneinandereihen, sie bestünde aus Nacherzählbarem, erliegt dem Irrtum, Geschichten wären Geschichte. Rebekka Salm erzählt von einer jungen Frau, die erkennen muss, das die Suche nach Klärung sich in einem Knoten offener Enden verstricken kann.

Was wir aus unserer Geschichte und den Geschichten unserer Ahnen mitnehmen, sind Versatzstücke. Mit der Wahrheit ist es wie mit den Sternen. Einige leuchten hell, die sehe man sofort. Andere seien zu schwach, um sie von blossem Auge sehen zu können, sagt Heinz zu Teresa, der Protagonistin in Rekekka Salms zweitem Roman „Wie der Hase läuft“. Teresa, die in Heinz Karres Brockenstube arbeitet, all den gestrandeten Dingen ein Preisschild anbringt und sie mit Geschichten belegt, Geschichten die die Dinge mit Bedeutung versehen. 

Wir interpretieren, was wir aus unserer Perspektive sehen. Wir geben Geschichten Bedeutungen, Gewicht. Teresa ahnt, dass in der Geschichten ihrer Familien schwarze Löcher jene Geschichten bedrohen, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Nicht zuletzt darum, weil jene Menschen sterben, die erklären und klären könnten, was nie zu Ausgesprochenem wurde. So wie die Grossmutter ihres Mannes, Emma, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes zurück in ihre Heimatstadt Amsterdam siedelte, dorthin, wo ein Mord sie einst aus ihrem Glück spülte. Teresa muss zusammen mit ihrem Mann Mirco die Wohnung der Grossmutter räumen, Zimmer voller Erinnerungen, voller Zeugnisse eines Lebens, das mit dem Tod Geschichten und Geschichte ins Vergessen reisst.

Rebekka Salm «Wie der HAse läuft», Knapp, 2024, 195 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-907334-20-1

Mirkos Grossmutter Emma hatte schon vor ihrer Heirat mit ihrem Grossvater eine Geschichte. Damals gab es einen Mann, gab es Cees, mit dem sie verheiratet war. Ein versprochenes Glück, das nur ein paar Monate dauerte, bis in Cees Bäckerei 1943 ein Schuss fällt. Bis ein junger deutscher Soldat seine Walter zieht, weil Cees nicht aufhört, dieses eine Lied „Oh, du lieber Augustin“ zu singen, jenes Lied, das den Soldaten peinigt, weil es jenen Schmerz zurückbringt, vor dem er in der Uniform der Wehrmacht zu fliehen versucht. Der Soldat schiesst und Cees stirbt in den Armen seiner Frau, in Emmas Armen. Emma kommt in die Schweiz zu einer Tante, beginnt ein neues Leben, heiratet den schweigsamen Bruno, gründet eine Familie. Eine Familie, in der sich der Alp fortsetzt, ein Alp vor dem sich Teresa fürchtet, vor dem sie sich manchmal einschliesst in einem Schrank in der Brockenstube ihres Chefs. Weil der Schrank jener Ort ist, in dem sie Ordnung sucht, Erklärungen, in dem sie die Versatzstücke zuzuordnen versucht.

Wenn du wissen willst, wohin der Hase läuft, musst du wissen, aus welcher Richtung er gekommen ist, sagt sie zu ihrem Mann Mirco, der die Versessenheit seiner Frau nicht nachvollziehen kann. Ich muss Licht ins Dunkel bringen. Die Fallgruben markieren. Mirko will keine Antworten. Ihm genügen seine Ahnungen. Erst recht, weil Teresas Grossvater Wede damals im Krieg als junger Soldat in Amsterdam stationiert war. Erst recht, weil Teresa weiss, dass jener Soldat, der den ersten Mann jener Grossmutter in dessen Bäckerei in Amsterdam erschoss, den selben Namen trägt wie ihr Grossvater.

Teresa beginnt zu fragen. „Wie der Hase läuft“ erzählt Geschichten ihrer Eltern, Geschichten von Mircos Eltern, von den Grosseltern, all jener, die Spuren in ihrem Leben hinterliessen. Geschichten, die ahnen lassen, dass die Fassaden, hinter der sie sich verbergen, ganz andere Geschichten erzählen. Geschichten von Untaten, Geschichten von Entzweiung, Geschichten von Wunden. Während Rebekka Salm in ihrem Debüt „Die Dinge beim Namen“ das Geschichtengeflecht eines ganzen Dorfes in der Horizontale erzählte, ist „Wie der Hase läuft“ ein Geflecht in der Vertikalen, in der Zeit, über drei Generationen, in den Wirren der Historie, in den Leerstellen des Verborgenen. Rebekka Salms Roman ist nicht der Versuch „Licht ins Dunkel“ zu bringen, sondern die erzählte Erkenntnis, dass Wahrheit nicht zu greifen ist. Ein beeindruckender Zweitling!!

… und mindestens ein Grund für eine Reise nach Leukerbad ans Internationale Literaturfestival vom 21. – 23. Juni 2024!

Interview

Romane vermitteln, vielleicht zu oft, den Eindruck, sie würden Ordnung in Geschehnisse, in die Geschichte bringen. Aber sowohl die Historie, wie die ganz eigene Geschichte, ist die der Auslassungen, des Vergessenen, Verschwiegenen, Überblendeten. Ist „Wie der Hase läuft» die erzählte Widerlegung?
Eine Widerlegung vielleicht nicht – eher eine andere Sichtweise darauf. Oder eine Grossaufnahme des Stoffes, aus dem die vermeintliche Ordnung besteht. Ich glaube, dass wir als Menschen bestrebt sind, unser Leben und das Leben unserer Familie in eine konsistente und sinnhafte Geschichte zu verpacken. Aus diesen Geschichten wiederum konstituieren wir unser Selbstbild. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich selbst, mache es nicht anders. Auch ich brauche Ordnung (Daten, Namen, Erlebnisse, die alle schnurstracks und unverschnörkelt zu mir und dem heutigen Tag führen). Und doch glaube ich, dass diese Kausalitäten, die wir herstellen aus erzählten Fragmenten und Erinnerungen viel lückenhafter und viel weniger «objektiv wahr» sind, als wir uns das einzugestehen getrauen.

Sterben Menschen, sterben Ahnen, dann reissen sie Geschichten mit ins unwiederbingliche Vergessen. Selbst wenn wir in Wohnungen Verstorbener Ding für Ding in die Hand nehmen, ist ihnen die Bedeutung genommen. Erinnerungen werden zu reinem Material. Sie rematerialisieren sich. Du bist Mutter einer Tochter, Tochter einer Mutter. Ist die Art deines Erzählens die Vergewisserung, was Geschichte mit uns macht? Dass es nicht bloss die eine Sichtweise gibt? Dass es entscheidend sein kann, ob man die Fähigkeit des „Sich-hineinversetzens» erlernt?
Geschichten sind leicht und flüchtig wie Gas. So zumindest stehts im Roman «Wie der Hase läuft». Man kann sie – im Gegensatz zu den materiellen Hinterlassenschaften – schlecht greifen, nicht festhalten, ihren Wert nicht in Geld bemessen und auch nicht ihren Einfluss auf unser Selbstbild. Sind wir es, die Geschichten erfinden oder erfinden die Geschichten nicht viel eher uns? Es spielt eine Rolle, welche Geschichten meine Mutter mir erzählt hat und welche ich meiner Tochter erzähle. Es spielt eine Rolle, ob ich die Geschichten laut erzähle und mit stolzgeschwellter Brust oder ob ich sie verschämt flüstere. Es spielt eine Rolle, was man mir verschwiegen hat – aus Angst oder Unvermögen – und was ich wiederum verschweigen werde. Aber schlussendlich geht es vielleicht auch darum, dass wir lernen loszulassen und jede*r für sich die Wahrheit findet, die für sie*ihn lebbar ist.

Blick ins Notizbuch © privat

„Die Dinge beim Namen» war ein erzähltes Netz über ein ganzes Dorf, ein Erzählen in die „Horizontale» mit punktuellen Bohrungen in die Vergangenheit. Dein zweiter Roman scheint einem vertikalen Prinzip zu folgen, einer versuchten Bohrung in die Zeit, über drei Generationen und darüber hinaus. War das das Resultat der Erkenntnis, dass ein Zweitling dem Erstling nicht einfach folgen darf?
Ich denke beim Schreiben viel weniger strategisch, als ich vielleicht müsste. Ich habe «Wie der Hase läuft» nicht in Abgrenzung zu meinem Debüt geschrieben. Sondern vielleicht eher in Ergänzung? In beiden Romanen geht es um die Macht von Geschichten und die Frage, wie sicher wir uns eigentlich sein können, dass das, was wir für die Wahrheit halten, auch wirklich wahr ist. Aber im Vordergrund stand die Lust am Schreiben einer Familiengeschichte, am Detektiv-Spiel in Raum und Zeit, am Verwirrspiel: Was ist History und was «nur» Story?

Ein Leben auf der Flucht …. Ein Leben in steter Angst, entdeckt und gefressen zu werden. Wir können dem nicht entfliehen, was wir verursachen. Weder die ProtagonistInnen in deinem raffiniert konstruierten Roman, noch wir, die wir uns den Geschichten aussetzen. Die Tatsache, dass wir gefressen werden, freut die Pharmaindustrie und TherapeutInnen aller Couleur. Wir haben es noch längst nicht geschafft, das Schweigen zu durchbrechen. Teresa muss sich selbst befreien. Belügen wir uns selbst, indem wir glauben, Ängste, Verletzungen, ein Alp liesse sich „heilen»?
Heilen finde ich ein grosses Wort und eine nicht minder grosse Aufgabe. Ich bin aber auch keine Psychotherapeutin. Vielleicht geht es mir in meiner Deutung weniger um heilen und mehr um integrieren. Es gab schlimme Erlebnisse in meiner Familie, in meiner Kindheit? Ok. Sie gehören zu mir. Es gibt Lücken in meiner Geschichte, die nicht (mehr) zu schliessen sind? Gut. Auch sie gehören zu mir. Der Stoff, aus dem mein Leben besteht, ist weit weniger heil als ich es möchte – er ist löchrig, er hat dunkle Stellen. Aber es ist eben mein Stoff. 

der letzte Schliff im Haus am See Krämerstein © privat

Teresa arbeitet in einer Brockenstube. Ein Ort voller toter Erinnerungen. Sie erzählt den KundInnen in den vollgestellten Räumen Geschichten zu den Dingen, gibt ihnen Bedeutung zurück. Unsere Wohnungen, unsere Zimmer sind vollgestellt mit Erinnerungen, materialisierter Geschichten. Wenn wir sterben, ist ihnen der Zauber genommen. Aus Erinnerungen wird wieder reines Material, dass tonnenweise entsorgt wird. Brauchen wir all diese Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, um unserem Leben wenigstens den Anschein zu geben, eine Spur zu hinterlassen?
Ja. Und gleichzeitig scheint mir diese Antwort zu einfach. Wir kaufen und horten auch Dinge, weil sie schön sind. Weil wir uns daran freuen können Zeit unseres Lebens. Weil sie uns das Leben bequem machen. Weil sie die Bojen sind, die über Geschichten schaukeln, die wir gerne erzählen. Weil diese Geschichten uns an das kleine Glück erinnern – und manchmal auch an das grosse.

Rebekka Salm ist Gast am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad vom 21. – 23. Juni 2024!

Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Frederike Asael

Barbara Rieger «Eskalationsstufen», Kremayr & Scheriau

Irgendwann scheint es kein Zurück mehr zu geben. Julia verliebt sich in einen Künstler, einen Mann, der sie vielfach fasziniert und in eine Welt mitnimmt, die Julia stets vor Augen hatte, sieht sie sich doch selbst als Künstlerin, will malen, zeichnen, sich ganz ihren Leidenschaften widmen. Aber aus dem Weg ins Glück wird ein Sog in eine Welt, die Julia mehr und mehr die Kehle schnürt.

Julia, eingeklemmt in Strukturen, die ihr die Hände ebenso wie den Kopf binden, sehnt sich nach Befreiung. Die Beziehung mit David, der nie da ist und mit dem alles in unverrückbaren Bahnen eingeschrieben ist, ihre Schwester, die auf dem elterlichen Hof lebt und arbeitet und wieder schwanger ist, der Grossvater, der sie das Sehen und Zeichnen lehrte, der der einzige war, der uneingeschränkt an ihre Fähigkeiten glaubte und immer mehr einsinkt in seine gesundheitlichen Unzulänglichkeiten. Ein Netz, in dem sie sich gefangen sieht.

Sie lernt Joe kennen, einen charismatischen Künstler, einen, der sie respektiert, der an ihre Fähigkeiten als Künstlerin glaubt, an dessen Seite sie hofft, jenen Raum zu bekommen, der ihr zusteht. Sie verliebt sich. Obwohl sie vom ersten Moment weg spürt, dass ein dunkler Schleier über dem Mann hängt. Joe scheint sie ganz zu verstehen. Und als er sie einlädt zu ihm zu ziehen, nachdem die Beziehung zu David eskalierte, scheint sich eine Tür zu öffnen, ein Weg, auch wenn sie die einzige ist, die ganz an diesen glaubt. Auch wenn Freundinnen und Cousine mehr als kritisch auf das reagieren, was seinen Lauf nimmt.

Joe macht ihr seine Türe auf und schliesst hinter ihr zu. Joe malt grossformatige Bilder toter Frauen, besessen, wie in einem grossen Rausch, eingenebelt in seinem eigenen Trauma. Aber statt dass Julia zu einer Mit- oder Gegenspielerin wird, soll sie seine Muse werden, sein Modell, Projektionsfläche seiner Leidenschaften – und seiner willkürlichen Ausbrüche. Immer mehr taucht Julia in Zwänge und Fesseln, immer noch in der Hoffnung, es würde sich wandeln, er würde ihr den versprochenen Platz zugestehen, sie endlich tun lassen, was sie sich in seinem Schatten erhoffte.

Barbara Rieger «Eskalationsstufen», Kremayr & Scheriau, 2024, 229 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-218-01422-9

Als der Gesundheitszustand ihres Grossvaters immer dramatischer wird und seine Verweigerung dazu führt, dass es Julia versäumt, rechtzeitig ans Sterbebett ihres Grossvaters zu fahren, als die Pandemie um sich greift und Joe in einen permanent panischen Zustand versetzt, wird die Schlinge um ihren Hals immer fester. Joe zwingt Julia zu einer Flucht in eine abgelegene Jagdhütte, weit weg von den Auswüchsen kollektiver Angst und Paranoia. Es bahnt sie jene Katastrophe an, die Julia über Wochen und Monate zu verleugnen versuchte.

Barbara Riegers Roman ist beklemmend. Ein Protokoll dessen, was man „toxische Beziehung“ nennt. Man möchte während der Lektüre zwischen die Seiten schreien, weil es beim Lesen so geht wie all jenen, die Julia immer wieder zu warnen versuchen. Mit jeder Seite, die man liest, bestätigen sich Ahnungen, wird das Drohende immer unausweichlicher. Barbara Rieger zeichnet das Psychogramm einer Frau, die in ihrer Hoffnung und Sehnsucht ausblendet und sich immer tiefer in einen Tunnel hineinbegibt, aus dem kein Fluchtweg, nicht einmal eine Umkehr offensteht. Warum geht man offenen Auges in die Katastrophe? Wie schafft man es, alle Zeichen und Warnungen in den Wind zu schlagen? Wie kann man sich derart blenden lassen? Scheinbare Zeichen des Vertrauens werden zu Warnungen, nur ja keine Grenze zu überschreiten, Gebote nicht zu missachten.

„Eskalationsstufen“ ist ein klaustrophobischer Tripp in eine Hölle aus Obsession und Leidenschaft. Stark geschrieben!

Interview

Eigentlich eine Liebesgeschichte. Für Julia zuerst die Rettung aus einer Beziehung, die sich totgelaufen hatte. Warum kann uns die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit derart in einen Tunnel zwingen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Frauenhäuser sind voll mit Frauen, die sich einst verliebten, alle ihre Hoffnung in eine Beziehung, alles auf eine Karte setzten. Da war überall einmal Liebe, oder zumindest das, was man als solche verstand. Warum schafft es rationales Denken nicht? Warum können wir uns dem Sog falscher Hoffnungen nicht entziehen?

Eigentlich eine Liebesgeschichte, aber was ist das für eine Liebe?
Unsere Vorstellungen von Liebe wurden durch patriarchales Denken geprägt. Auch wenn wir nun vielleicht anders denken, fühlen wir vielleicht noch nicht anders. Das Narrativ beispielsweise des – in etwas Monströses – verwandelten Prinzen, der durch die Liebe einer besonderen Frau gerettet werden kann, ist, denke ich, noch immer vorherrschend.
Überspitzt formuliert: Jede will diese eine besondere Frau sein. Keine will alleine bleiben. Jede will den Prinzen. Den Prinzen zu bekommen ist doch das Größte im Leben einer Frau! 
Für mich steht hinter dem Roman eigentlich die Frage, ab wann Liebe, so wie wir sie kennen und denken, gewaltvoll wird und ob die Gewalt dieser Liebe nicht sogar innewohnt.

Julia malt Bäume, Joe malt tote Frauen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein. Nicht dass diese Tatsache allein schon Warnung genug sein könnte, hat sich die bildende Kunst ja längst von verklärtem Idyll befreit. Aber Julia verweigert sich den Zeichen konstant. Nicht nur in Beziehungen verweigern wir uns den Zeichen. Die Tatsache, dass sich Menschen offenen Auges ins Verderben, ins totale Abseits manövrieren können, sehen wir bis in die Politik. Dort nützt auch besonnenes Argumentieren nicht mehr. Müsste man nicht eigentlich resignieren?

Das Gefühl der Überforderung und Machtlosigkeit angesichts national- und weltpolitischer, gesellschaftlicher, ökologischer und sonstiger Zustände kommt auch bei mir immer wieder auf. Man könnte resignieren, ja. Oder eine Pause einlegen, sich abschotten, wenn man die Möglichkeit dazu hat und durchatmen. Oder wie wäre es mit einer Revolution?

Da ist das Ideal einer Liebe, einer Beziehung. Da ist die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach einem Nest, in dem man sich sicher fühlt, in dem man sich ganz so zeigen kann, wie man ist. Dort all die menschlichen Unzulänglichkeiten, das Versagen, die Eigendynamik einer sich anbahnenden Katastrophe. Ihr Roman ist schonungslos ehrlich. Einen Roman zu schreiben kostet Kraft. Aber ein solcher doch noch viel mehr!

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Stefanie Jaksch, der damaligen Verlagsleiterin von Kremayr und Scheriau. Diesen Roman hätte ich schon fertig im Kopf, ich würde ihn runterschreiben, sagte ich zu ihr. So war es – Überraschung! – nicht. Jeder Roman ist Arbeit, aber dieser war besonders hart. Die einfache Liebesgeschichte wurde komplexer als gedacht und meine Fiktion wurde ständig von der Realität überholt. Während der Arbeit an diesem Roman wurden in Österreich über hundert Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet. Es machte mir keinen Spaß, mich in die Situation einer Frau hineinzuversetzen, die sich in einen narzisstischen Psychopathen verliebt. Manchmal dachte ich auch, dass ich im Hinblick auf meine Gesundheit diesen Roman aufgeben sollte. Als Autorin wollte ich meine Protagonistin Julia da hineingehen lassen, aber als Mensch wollte ich sie retten.

Kann man während des Schreibens eines solchen Romans diesen so einfach zwischendurch mal weglegen? Oder verfolgte er dich nicht bis in deine Träume, dein Unterbewusstsein?

Ja, es ist möglich und auch wichtig für die psychische Gesundheit, denke ich. Das Hineingehen und wieder Herauskommen aus der Fiktion kostet aber viel Kraft. Beim Schreiben dieses Romans half es mir, aus meinem Zuhause auszusiedeln, um die Gefühlszustände, in die ich mich versetzen musste, möglichst weit weg von meiner Familie zu bringen. Wenn ich alleine bin und keine großen Verpflichtungen habe, kann ich zulassen, dass temporär alles verschwimmt und ich sehr tief eintauche. Und ich habe in den letzten Jahren nicht gut geschlafen, nein.  

Eine Geschichte hat Joe dorthin getrieben. Julia genauso. Wie weit sind wir nicht einfach „das Opfer“ unserer eigenen Geschichte, das Opfer vieler Geschichten, die sich unserer Macht vollständig entziehen? Ist es nicht Augenwischerei, dass der Mensch sich doch eigentlich einfach in die Hände spucken müsste, um sein Leben in die Hände zu nehmen? Ist es nicht ernüchternde Realität, dass das Leben mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat?

Gerechtigkeit ist ein Konstrukt. Persönlich glaube ich aber nicht daran, dass alles vorherbestimmt ist, sondern dass wir sehr wohl Entscheidungen treffen und damit unser Leben beeinflussen können. Im Roman zwinge ich Julia, sich in Joe zu verlieben, aber in der Realität zwingt sie niemand! In der Realität kann sie sich entscheiden und ich hoffe, dass Julia sich gar nicht erst auf Joe einlässt (die Namen sind austauschbar). Ob Joe es schaffen könnte, sich zu verändern, weiß ich nicht. 

Lesung im Literaturhaus Liechtenstein in Schaan

Barbara Rieger, geboren 1982 in Graz, lebt und arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (OÖ). Gemeinsam mit Alain Barbero Herausgeberin des Foto- & Literaturblogs „cafe.entropy.at“ sowie mehrerer Anthologien. Zuletzt erschien der Roman „Friss oder stirb“ (Kremayr & Scheriau 2020). Für einen Auszug aus „Eskalationsstufen“ erhielt sie den Marianne von Willemer-Frauenliteraturpreis der Stadt Linz.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alain Barbero

Özlem Çimen «Babas Schweigen», Limmat

Dass sich mit der Zeit Schicht um Schicht über die Vergangenheit legt, mag tröstlich erscheinen, vor allem dann, wenn sich in den verborgenen Schichten Geheimnisse verbergen, die Wunden aufreissen würden. Und doch macht das Vergessen Verborgenes nicht ungeschehen, wirkt Eingeschlossenes auch dann, wenn sich Schweigen ausgebreitet hat. Özlem Çimen hat Mut.

Letzthin sah ich einen Ausschnitt eines Interviews mit einer jungen Person, die sich vehement dagegen wehrte, sich mit der Vergangenheit beschäftigen zu müssen, mit den Gräueln des 2. Weltkriegs, des systematischen Tötens Andersgläubiger, den fatalen Auswirkungen eines Führerkults, der sich jeder Eigenverantwortung entzog. Und weil es die selbsternannte Spitze der Evolution nicht schafft, ein Miteinander wenigstens so zu organisieren, dass nicht immer und immer wieder Massen von Menschen Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt sind, ist es wichtig, diese Schichten aufzureissen, um sich nicht in einer falschen Sicherheit zu suhlen, man hätte mit all dem Schrecken aus der Vergangenheit nichts zu tun.

Özlem Çimen erlebt das unmittelbar, nachdem sie zu fragen beginnt und jenes Gefühl und all die kleinen Beobachtungen wahrnimmt, die ihr zeigen, dass da etwas in ihrer Familie wirkt, was sich nicht nur in ihrer Familie auswirkt. Özlem Çimens Roman „Babas Schweigen“ ist eine ganz direkte Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, der Türkei. Eine unrühmliche Geschichte, die bis in die Gegenwart wirkt, Menschen ihre Kultur raubte, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihren Boden. Özlem Çimens Roman ist minimal fiktionalisiert und beschreibt das Bemühen einer jungen Frau Verdrängtes, Verschwiegenes, Verleugnetes aufzubrechen.

In den Jahren 1937 und 1938 wurden in der türkischen Region Dersim mehr als 10 000 Kurden von türkischem Militär umbebracht, eine Aktion zur Türkisierung, ganz offensichtlich deshalb, weil der Staat Angst hatte, das verbliebene ehemalige Osmanische Reich würde durch verschiedene Volksgruppen und ihre Unabhängigkeitsbemühungen auseinanderbrechen. Damals fiel ein Zehntel der nicht muslimischen Dersim-Kurden dem Morden zum Opfer. Erst 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung. Ein Akt, der den Armeniern gegenüber immer noch auf sich warten lässt. Viele Kurden damals mussten ihre angestammte Heimat verlassen, Kultur und Sprache verleugnen.

Özlem Çimen «Babas Schweigen», Limmat, 2024, 120 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-071-3

Özlem Çimen wuchs in der Schweiz auf. Jedes Jahr reiste man, schon als sie ein Kind war, immer wieder in die Türkei zu ihrer grossen Verwandtschaft, ihren Grosseltern. Sommer für Sommer war das Dorf dort der Inbegriff für Freiheit, Familie und Gemeinschaft. Özlem Çimen, die mittlerweile selber Mutter zweier Kinder ist, die sie immer und immer wieder auffordern, Geschichten aus ihrer Heimat zu erzählen, muss im Laufe der Zeit feststellen, dass die erzählte Idylle sich immer mehr mit dunklen Ahnungen mischt, die Özlem Çimen auffordern, ihre Fragen ganz direkt zu stellen. Fragen an Menschen, ihre Grosseltern, die es nicht gewohnt sind, das in Worte zu fassen, was sie schon ein ganzes Leben als Alp mit sich herumtragen.

Özlem Çimen erzählt ganz behutsam, auch mit der Absicht, mit dem Aufbrechen niemandem schaden zu wollen, am allerwenigsten ihrer Familie selbst. „Babas Schweigen“ ist eine Konfrontation gegen innen. Özlem Çimens Roman ist ein vorsichtiges Herantasten an Tatsachen und Wunden, die über Jahrzehnte verborgen und vergessen schienen, erzählt in einer schlichten Sprache, die den Schrecken von damals in vielem bloss andeutet. Ich hätte dem Buch etwas mehr historische Einbettung gewünscht, auch wenn damit eindeutige Positionierungen auf heikles Terrain führen.

„Babas Schweigen“ ist ein wichtiges Buch, weil das Schweigen nichts ungeschehen macht!

Interview

In Ihrem Roman treffen zwei Dringlichkeiten aufeinander; die Frage nach Herkunft und Wurzeln und das Bedürfnis, etwas offenzulegen, etwas ans Licht zu führen, das während Jahrzehnten unbelüftet zwischen Unter- und Unbewusstem schlummerte. Mir scheint, dass diese Fragen aus der Distanz, als in der Schweiz Geborene und Aufgewachsene noch viel dringlicher werden.

Die räumliche Distanz ist eine von vielen Komponenten, die sicherlich dazu beigetragen hat, mich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Ich habe das grosse Glück, all dieses Leid nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. Meine Grosseltern konnten nicht darüber sprechen. Einerseits aus Selbstschutz und andererseits, weil sie nicht wussten, wie. Meine Eltern waren auch nicht in der Lage dazu. Sie mussten dafür sorgen, ein möglichst unauffälliges Leben für sich und ihre Nachkommen aufzubauen.

Insofern glaube ich, dass ich es einfacher habe, darüber zu sprechen, da ich das Ganze aus der nötigen zeitlichen Distanz sehen kann. Nun versuche ich der nächsten Generation unsere Geschichte weiterzugeben und komme dabei selbst an meine Grenzen. Wie spricht man darüber? Wie erzählt man eine solch grausame Geschichte weiter? Es ist nicht einfach, die passenden Worte dafür zu finden. Es sind nun mehrere Generationen her, aber es fühlt sich beim Berichten letztlich so an, wie wenn man selbst dieses Schicksal erlitten hätte.

Wie weit hat die Aufarbeitung dieser Themen mit der Tatsache zu tun, dass Sie selber Mutter sind? Oder anders gefragt; Hätten diese Themen mit gleicher Dringlichkeit angeklopft, hätten Sie keine eigenen Kinder?

Bevor ich mich entschied, diese Geschichten niederzuschreiben, lag ich wegen Corona im Bett. Mir ging es richtig mies. Da wurde mir bewusst, falls ich morgen sterben würde, würden meine Kinder die Wahrheit über ihre Wurzeln nie erfahren. Irgendwie war ich ihnen eine Erklärung oder Antwort schuldig. Hinzu kommt, dass ich aus diesem Schweigen, das mich starr machte, endlich ausbrechen wollte. Das konnte ich nur tun, indem ich die Geschichte der nächsten Generation weitererzählte. Im Endeffekt kann ich aber nicht abschliessend sagen, ob ich dieses Buch auch ohne Kinder fertiggebracht hätte. Jedenfalls hätte ich auch ohne eigene Kinder in der Vergangenheit recherchiert und nachgebohrt.

Die Türkei nennt sich zwar Republik, aber zumindest aus meiner Warte gleicht Recep Tayyip Erdoğans Politik viel mehr einer autokratischen Regierungsform, die wenig Widerspruch oder Oposition erlaubt. Minderheiten scheinen es sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart schwer zu haben. In ihrem Roman schildern sie die Angst ihrer Familie, dass mit dem Buch unschöne Dinge an die Oberfläche gelangen. Müssen Sie nicht viel mehr befürchten, dass ihre zukünftigen Besuche in der Türkei schwieriger werden?

Warum sollte ich? Ich stelle niemanden an den Pranger.

Eine Freundin von mir ist Mutter geworden. Sie ist Einzelkind und ihre Eltern wohnen weit weg. Die Eltern ihres Mannes sind im Altersheim. Auch er hat keine Geschwister. Eine kleine Familie. Von Sippe keine Spur. Die Familie meiner Frau ist ein dicker Teppich aus Beziehungen. So sehr Sippen, grosse Verwandtschaften Sicherheiten bieten, ein Eingebettetsein, Heimat, so sehr kann eine Sippe einengen, eine Rolle aufzwingen.

Möglicherweise verstehe ich Ihre Frage nicht. Aber ja, ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen und innerhalb dieses Kreises genoss und geniesse ich nach wie vor viele Freiheiten. Ich erlebe die Beziehung in meiner Familie als sehr respektvoll. Selbst, wenn wir anderer Meinung sind, sind wir füreinander bedingungslos da. Ich bin nach dem Motto aufgewachsen: Mensch ist Mensch, er ist mit all seinen Ecken und Kanten okay, so wie er ist. Aber das ist in meiner Familie so. Ich kann nicht stellvertretend für alle grossen Familien oder im Namen der Zaza sprechen.

Unabhängig von der Grösse der Familie und der herrschenden Kultur, gilt in allen Familien das Anna-Karenina-Prinzip oder was meinen Sie?

Ihr Buch ist auch ein Buch über das Schicksal einer Minderheit in der Türkei. Ein Kapitel, das auch mit der Entschuldigung der türkischen Regierung 2011 kein Ende gefunden hat, denke man nur an das Schicksal anderer Kurden oder das der Armenier. Warum blüht der Nationalismus in einer Zeit, in der man doch eigentlich merken sollte, dass Grenzen und Abgrenzungen willkürlich und nie aus einer echten Not entstehen?

Alle unterdrückten Minderheiten haben eine Entschuldigung und eine Aufarbeitung der Vergangenheit verdient. Ich bin mit meiner Geschichte über die Zaza nicht einzigartig. Sie ist leider eine von vielen. Gerade jüngst wurde darüber berichtet, dass eine deutliche Mehrheit der Australier in einer Volksbefragung gegen die Stärkung der Rechte der Aborigines stimmte. Dies in einem fortschrittlichen Land wie Australien.

Das Buch steht für alle Minderheiten, die von einer Mehrheit unterdrückt, missachtet und überstimmt werden. Ich bin bereit mein Gesicht und meinen Namen dafür herzugeben. Ich habe weder ein politisches Motiv noch führe ich Krieg gegen eine Mehrheit.

Özlem Çimen, geboren 1981 und aufgewachsen in Luzern, lebt mit ihrer vierköpfigen Familie in Zug. 2012 schloss sie den Master in Education in Special Needs an der Pädagogischen Hochschule Luzern ab und ist als Heilpädagogin im Kanton Luzern tätig.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp

Es gibt Bücher, die überrollen, verstören und faszinieren mich. «Zitronen» von Valerie Fritsch ist ein solches, ein weiterer Streich einer überragenden Schriftstellerin, eine Literaturperle. Und trotzdem würde ich dieses Buch nicht allen empfehlen, denn es ist schrecklich schön, leuchtet tief in die Abgründe menschlichen Seins!

Während des Lesens stellte sich eine seltsame Mischung aus Erschütterung, Faszination und Freude ein. Wie schafft es Valerie Fritsch ein Buch in einer derart hohen Sprach- und Bildintensität durchzuziehen, vielfach überraschend, beweisend, dass Literatur viel mehr sein kann, als eine gute Geschichte zu erzählen. „Zitronen“ schmeichelt mit Sprache. „Zitrone“ erschüttert mit Einsichten. „Zitronen“ bannt bis zum letzten Satz. „Zitronen“ ist ein Sprachkunstwerk. Der Saft dieser Zitronen brennt sich ein!

Eine Kleinfamilie in der Provinz, in einem windschiefen, vollgestopften Haus am Rande eines Dorfes. Ein Vater, der die Mutter und seinen Sohn schlägt. Mutter und Sohn, die in dauernder Angst leben und sich in einem Band aus Nähe und Zartheit miteinander gegen den übermächtigen Vater verbünden. Sie braucht ihren Sohn, ihr Sohn braucht sie. Der Sohn ist das einzige, was in ihrem Leben Resonanz gibt. Und für den Sohn ist die Mutter die einzige, die ihm Trost für all die vom Vater zugefügten Verletzungen bietet. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Bis mit einem Mal der Vater, der Mann verschwindet und sich alles verschiebt.

«In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.»

Ein Verschwinden, dass auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn radikal verändert. Was der Sohn als Rettung für die Mutter in einem Leben aus Angst und Bangen war, öffnet sich zwar, kehrt sich aber um in eine Angst, diesen Sohn an ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu verlieren. Nach einer Krankheit, die die Mutter dem noch jungen August noch einmal ganz in seine Nähe brachte, beginnt die Mutter heimlich Medikamente in die Nahrung ihres Sohnes August zu mischen. Sie deckt August mit ihrer Fürsorge zu, so sehr, dass August nicht einmal mehr zur Schule gehen kann und über Wochen und Monate ans Bett gefesselt bleibt, beständig umgarnt von seiner Mutter, die ganz in ihrer Rolle als Schützende und Wissende aufgeht. Die Medikamente, die sie missbraucht, bezieht sie von ihrem Hausarzt.

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp, 2023, 186 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43172-6

Auch nach einem gemeinsamen Urlaub am Meer, im Land der Zitronen, zusammen mit eben jenem Arzt, der zwar konstatiert, dass es dem Jungen mit jedem Tag am Meer besser geht, ändert sich das Leben von August nur marginal. Seine Mutter bringt ihn züruck ins Bett, zurück an ihren Tropf. Bis ein Blitz einschlägt. Bis auch für den Arzt nicht mehr zu leugnen ist, dass Augusts Krankheit bloss das Resultat eines fatalen Medikamentenmix ist. August kommt nach Wien, wird förmlich ausgesiedelt, in eine kleine Wohnung, die ihm der Arzt, der sich seiner Schuld bewusst ist, in der fernen Stadt zur Verfügung stellt.

So sehr ins Mutternest zurückgebunden, so einsam und allein sind die ersten Wochen für August in der fremden Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch und baut aus den Versatzstücken fremder Biographien und Lügengeschichten eine eigene Vergangenheit zusammen, mit der er sich sein Dasein formt, ein Leben zwischen Huren und Ganoven. Bis er Ava trifft, eine Künstlerin, eine Verwundete wie er. Bis er in Ava seine grosse Liebe findet und alles dafür tut, diese eine Liebe nicht wieder zu verlieren. Aber August in seiner Angst, auch diese Liebe zu verlieren, schnürt Ava immer mehr die Luft zum Atmen weg. Bis das Unvermeidbare zur Tatsache wird und sich auch diese Liebe von ihm trennt. Bis August spürt, dass er dorthin zurück muss, wo ihn die Fesseln noch immer binden.

«Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen.»

Aber um den Zauber dieses Romans zu ergründen, sollte man sich viel mehr der Sprache zuwenden. Was Valerie Fritsch mit „Zitronen“ schafft, gelingt nur ganz wenigen. Meist ist die Sprache der Träger einer Geschichte. Aber bei Valerie Fritsch ist die Geschichte der Träger eines Sprachteppichs aus Farben, Gerüchen, Geräuschen und Melodien, die seinesgleichen suchen. Zum einen spürt sie sich in die Seelenlandschaft eines Gefesselten, zum andern bebildert sie die Welt dieses Gebeutelten, eines jungen Mannes, der mit Strategie krank gemacht wird. Ihr Schreiben ist im wahrsten Sinne des Wortes schaurig schön. Valerie Fritsch schreibt in Sätzen, die mich wie Winde umschmeicheln, die den Schrecken in helle Farben verwandeln, die einen Alp sublimieren.

Ich verneige mich tief vor der Kunst dieser Autorin! Lange her, dass mich Lesen so sehr berührte!

Interview

Natürlich geht es um einen krankhaften Zustand, den die Medizin „Münchhausen-Stellvertretersyndrom» nennt, eine ganz fiese Form der Kindsmisshandlung. Mütter, die in ihrem Umfeld als perfekt, maximal fürsorglich gelten und sich hingebungsvoll um angebliche Krankheiten ihrer Kinder kümmern. Krankheiten, die sie selbst herbeiführen. Aber du legst den Fokus auf das Kind, auf August, zeigst, dass dieses zurückgebundene Leben für immer gezeichnet ist. Und trotzdem wolltest Du viel mehr als die Nacherzählung eines Befreiungsversuchs. Du bist eine Reisende. Doch eigentlich erstaunlich, dass dein neuer Roman eine ganz besondere Reise ist.
Und auch sie begann mit Distanz, denn angefangen hat es damit, dass mir viele allgegenwärtige Phänomene fremd und fern waren und ich ihnen näher kommen wollte, um sie zu verstehen. Drei Jahre lang bin ich durch eine Welt hinter der Welt gereist, jene oft unsichtbare der Gewalt, habe intime Gespräche mit Opfern und Tätern geführt, mit Mördern Kaffee getrunken und durfte durch Schlüssellöcher in viele nicht lineare Leben schauen. Herausgekommen ist ein seltsames Buch über Gewalt und Zärtlichkeit, vor dem ich meine Lektorin am Ende nur gewarnt habe: es ist wild geworden.

»Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

So sehr die Familie über Jahrhunderte idealisiert und von Politik und Religion immer wieder kräftig instrumentalisiert wurde, so sehr „Familie“ zu einem Traum, einem Ziel, einem Paradies werden kann, so sehr kann „Familie“ Hölle werden. Eine Hölle, die von den betroffenen Kindern mit stoisch scheinender Selbstverständlichkeit ertragen wird. August ist ein ewig Verwundeter. Warum begeben sich Menschen in einen Tunnel, bei dem es keine Umkehr gibt?
Selbstverständlichkeit ist eine hinterhältige Kategorie, sie ist das, was man kennt. Geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen rundum die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Zustände als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen. Man trägt schwer an den früheren Verwundungen, sie zerstören mitunter den Vertrauensindex zur Welt. Und es kann in existentiellen Krisensituationen zu einer Logik des Misslingens, einer Folgerichtigkeit der schlechten Entscheidung, sogar dem Glück der bösen Tat kommen: es fühlt sich das objektiv Falsche dann subjektiv richtiger an alles anderes. 

In seiner Zeit in der Stadt, nach seiner ersten grossen Befreiung, muss sich August in seiner Selbstständigkeit zuerst zurechtfinden. Auch mit einem Leben, das sich nach Geschichte sehnt, nach erzählbarer Geschichte. Literatur ist Geschichte. Zusammengetragenes, Versatzstücke, Er- und Gefundenes. August erzählt „Lügengeschichten“, bastelt sich seine Vergangenheit immer und immer wieder neu zusammen. Eine befreundete Schriftstellerin meinte einmal, die Schriftstellerei sei der einzige Betrug, in dem man schadlos lügen kann. Wir hadern mit Wahrheiten, wissen, dass nichts so vieldeutig ist wie die Wahrheit. Tun wir der Lüge unrecht?
Ich denke, die Lüge hat mitunter ihre Berechtigung, außerdem ist sie angenehm eindeutig, manchmal sogar schonend und zartfühlend gemeint. Ganz ohne sie kommt der Mensch nicht aus. Wer würde es schon ertragen, auf einem Familienfest pausenlos mit allen ernstgemeinten Wahrheiten und angestauten Werturteilen beworfen zu werden zwischen Schweinsbraten und Dosenpfirsichkompott? Wer allgemein genug Wahrhaftiges in seinem Leben hat, muss es mit der Wirklichkeit nicht immer so genau nehmen.

»Die Mehrzahl der Toten hatte ihr Bett in riesigen Schränken aus Stein, schlief dort in Schubladen, über- und nebeneinander angeordnet und sorgfältig beschriftet, damit man nicht durcheinanderkam. Es war ein Setzkasten für die Ewigkeit.
Und er erzählte, wie er früher mit den anderen Kindern in den leeren Grabkammern der steinernen Kästen gesessen war, wie sie in den obersten gekrümmt gehockt waren unter der niedrigen Decke wie in Nestern, in den Ecken Vorräte von Süßigkeiten anlegten und Amarettini und Zuckerschlangen aßen zwischen den Toten. Wie sie einander Gespenstergeschichten zuflüsterten.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

Du nennst das Dorf, in dem August aufwächst, das „Dorf, das sich mit Enttäuschungen auskannte“. Auch das Wort „Ent-Täuschung“ birgt doch eigentlich etwas Positives. Wird man nicht von Täuschungen befreit?
Enttäuschung ist eine Funktion der Erwartung, sagen die Philosophen. Zu sehen, dass etwas anders ist, als man gedacht und gehofft hat, ist möglicher Weise befreiend, wenn man resilient ist, aber doch in den meisten Fällen zuerst einfach sehr unschön. 

Zwischen August und Ava wächst eine grosse Liebe. Aber auch diese Liebe zerbricht, weil August die Grenze nicht spürt zwischen Zuwendung und Umklammerung, zwischen Hingabe und Besessenheit. Doch eigentlich ganz ähnlich wie die Liebe seiner Mutter damals. Leben ist ein permanenter Befreiungsversuch. So sehr wir uns nach Liebe sehnen, nach einem Spiegel, der uns vor der Einsamkeit bewahrt, so sehr verlieren wir uns in Abhängigkeiten, der Befreiung entgegengesetzt. Hatte August je eine Chance?
August nimmt das Wünschen nach seiner tragischen Kindheit zum Ausgleich besonders ernst: er wünscht sich unbescheiden und glühend die große Liebe, das große Geld, das große Glück, er will leben bis zum Umfallen. 
Diese Kindheit ist nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der wir Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwachsen, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es immer einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche. 

Am meisten fasziniert mich an deinem Roman die Sprache, die Machart, der Ton, was dein Buch in mir evoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Buch wie das Deinige, so einfach in losen Stücken zusammensetzen kann. Wie gelingt es Dir, dass ich glaube, du hättest Dein Buch in einem Zug, wie im Sprachrausch geschrieben?
Tatsächlich kommt es mir an guten Tagen vor, als würde ich am Schreibtisch zwischen Teetassen und Bücherstapeln mit den Buchstaben komponieren auf der Tastatur. Es hat etwas geheimnisvoll Melodiöses. Ich höre die Sätze. Es ist manchmal wie ein Flow in Zeitlupe: das mag ich sehr.

Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

«Herzklappen von Johnson & Johnson», Rezension

Webseite der Autorin

Beitragsbild © oxyblau/Suhrkamp Verlag

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Goldmann

Mit 60 brach mit der Diagnose Alzheimer eine sich langsam abwickelnde Katastrophe ins Leben der Schriftstellerin Claudia Schreiber. Eine Katastrophe für sie und ihre Familie. Zusammen mit ihrem Sohn Lukas unternahm die Autorin 2019 eine letzte grosse Reise ans andere Ende der Welt.

Ich lernte die Schriftstellerin Claudia Schreiber 2013 persönlich kennen, als ich mich nach der Lektüre ihrer Bücher traute, ihr zu schreiben und von meinen Leseerlebnissen schwärmte. Genau in jenem Jahr inszenierte das Theater Konstanz ein Stück für Kinder, das aus einem ihrer Bilderbücher entstand; „Sultan und Kotzbrocken“. Und weil die Kölner Schriftstellerin beabsichtigte, eine der Vorstellungen zu besuchen und für ein paar Tage bei einer Freundin in Friedrichshafen wohnte, machte sie den Vorschlage, ob ich nicht Lust hätte, eine Lesung in der Schweiz zu organisieren. Weil ich zusammen mit meiner Frau damals schon Hauslesungen in unserem Wohnzimmer durchführte, taten wir dies mit Freude auch mit Claudia Schreiber. Und weil die Begeisterung für diese Autorin überschwappte, war die Stube rappelvoll, als Claudia Schreiber mit ihrer Freundin vorfuhr. Sie las aus ihrem Roman „Süss wie Schattenmorellen“, ein Roman, von dem ich erst viel später erfuhr, wie viel Eigenes darin zu Literatur wurde.

Aus dem Besuch damals wurde eine Freundschaft. 2019 kam sie noch einmal auf einer Lesereise in den Süden bis nach Überlingen, wo wir viel Zeit bei Spaziergängen und in Restaurants verbrachten und sie mir von ihrer Diagnose Alzheimer erzählte. Gespräche, die mich mehr als traurig machten, weil sie durch nichts zu trösten waren. Alzheimer lässt keine Hoffnung, ist unbarmherzig. Ich kenne kaum jemanden, die oder der fähiger gewesen wäre, den Kampf aufzunehmen. Claudia Schreiber hatte viele Kämpfe aufgenommen und wenn auch mit vielen Niederlagen stets den Kopf oben behalten. Alzheimer aber gibt niemandem eine Chance.

«Das Vergessen ist für mich wie Wasser, das wegrinnt. Die Gedanken fliessen unweigerlich aus meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte es …aber ich kann das Loch nicht stopfen. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an irgendwas.»

Im Sommer 2021 besuchte ich sie ein letztes Mal. Mit dem Fahrrad. Ich gab mir zehn Tage Zeit, von Basel bis Köln. Zehn Tage, die ich brauchte, um mich auf die Tage zusammen mit ihr vorzubereiten. Ich hatte mir ein Zimmer ganz in der Nähe ihrer Wohnung gebucht, hatte am Abend vor dem ausgemachten Klingeln an ihrer Wohnungstür vom Strampeln erschöpft eingecheckt und in der Nacht danach schlecht geschlafen. Die Tage mit ihr waren ein grosses Geschenk. Aber als wir uns verabschiedeten und am letzten Abend mit einem Glas Wein anstiessen, hatte der Abschied etwas Endgültiges. Sie würde auf eine Reise gehen, von der es kein Zurück gibt, in eine Zukunft ohne Vergangenheit, hinein in eine grosse Leere.

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Golmann, 2022, 224 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-442-14285-9

Damals, als ich die Tage mit Claudia Schreiber verbrachte, war die gemeinsame Reise mit einem ihrer beiden Söhne, mit Lukas, kein Thema mehr. Claudia hatte die Reise vergessen, oder mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Die Reise auf eine kleine Insel, Aitutaki, ihre Wunschreise ans andere Ende der Welt. Und weil ich kein Potcast-Konsument bin und Sam Lukas Schreibers Hörgeschichte an mir vorbeiging, musste die Geschichte dieser Reise als Buch zu mir kommen. Ein Buch, das keinen literarischen Anspruch erfüllen will, aber die Geschichte vieler Reisen erzählt, auch von einer, von der es kein Zurück gibt.

«Claudias brillantes Hirn ist inkontinent geworden. Die Welt wirft ihr tausend Sachen in den Schoss und sie kann die Dinge nicht mehr halten. Dabei findet alles, was wir empfinden und als unser Leben wahrnehmen, doch in unserem Kopf statt. Wir sind nur das. Claudia zieht in eine Welt, die ich nicht kennen kann.»

Claudia Schreiber schrieb ihr Leben lang, zuerst als erfolgreiche Mitarbeiterin im Hörfunk, später als Schriftstellerin. Eine Frau, die von ihrem Leben schrieb, die das Schreiben als Lebenselexier brauchte, die aber auch wirtschaftlich davon abhängig war, in einigermassen regelmässigen Abständen ein Buch herauszugeben und auf Lesereise zu gehen. Dass sie mit ihrer Krankheit genau diese Fähigkeit verliert, dass ausgerechnet sie, die immer unabhängig und proaktiv war, zunehmend abhängig und orientierungslos wird, an Kleinigkeiten verzweifelnd, muss sowohl für die Betroffenen wie für die Angehörigen schrecklich sein. Claudia Schreiber hat sich aus einer baptistischen Vergangenheit geschält, die Übergriffe eines dominaten Vaters ein Leben lang mit sich herumgeschleppt, zwei Söhne grossgezogen, zehn Bücher geschieben und mit der preisgekrönten Verfilmung ihres Roman „Emmas Glück“ grosse Höhepunkte erlebt. Heute schreibt Claudia Schreiber nicht einmal mehr Notizen, führt aber noch immer Gespräche mit ihrer Familie, wenn die Themen auch immer wieder die selben sind; der Tod, das Verblöden, die Angst und der Zorn.

„Aitutaki blues“ ist der Reisebericht des Sohnes, eine Reise mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Eine Reise, von der die Mutter ein Leben lang sprach, manchmal als Wunsch, manchmal als Drohung. Und als die Diagnose wie ein Komet in das Leben der Familie einschlug, fasste sich Lukas ein Herz und trat die Reise an, solange die Mutter noch etwas davon haben würde. Eine Reise ins Ungewisse, ein Stück auf einem unendlich langen Abschied von seiner Mutter, ein Stück Nähe, das Geschenk einer paradiesischen Erinnerung. „Aitutaki blues“ ist Auseinandersetzung mit den sich immer wiederholenen Gesprächen über das Sterben, das Versinken, das Verschwinden. „Aitutaki blues“ ist der Liebesbeweis eines Sohnes, einer Familie, an eine Mutter und Freundin, die alles gegeben hat.

Claudia Schreibers Bücher sind noch immer lesenswert! Ob „Emmas Glück“, eine tragikomische Liebesgeschichte von der Schweinezüchterin Emma, die im Wrack eines Ferraris einen bewusstlosen Mann und eine Plastiktüte voller Dollarnoten findet: endlich ein Mann und genügend Geld, um ihren verschuldeten Hof zu retten. Ober „Süss wie Schattenmorellen“, die Reifung eines Mädchens zur Frau, umgeben von kuriosen Figuren. Oder „Goldregenrausch“, die Abrechnung mit einer Familie, bei der nur Arbeit und Erfolg zählt. Oder die beiden „Sultan und Kotzbrocken“ Bilderbücher, die allen Witz der Autorin auf den Punkt bringen!

Interview:

Das Buch ist Teil eines langen Abschieds. Oft gibt es keinen Abschied. Menschen sterben einfach weg. Tröstet dich dein eigenes Buch?
Ich würde sagen Ja. Auch weil ich mich ihr im Schreibprozess wahnsinnig nahe gefühlt habe. Das war ihre Leidenschaft, ihr Instrument – und das auf eine intensive Art zu erleben hat mich nochmal ganz anders verstehen lassen, welche Arbeit sie hatte. Teilweise war es auch echt zäh und schwer, nicht emotional abzuschalten, weil es teils auch echt schwer war so in die Gefühle reinzugehen. Letztendlich bin ich sehr dankbar, dass ich das Buch geschrieben habe.

Stellt sich irgendwann Resignation ein? Bei dir? Bei deiner Mutter?
Definitiv. Ist auch gar nicht zu verhindern. Sie ist ja nicht nur krank. Es strahlt auf alles aus. Das Familienleben, Feste, den Alltag, ihr Essverhalten, die psychische Verfassung aller Angehörigen, Freunde die bleiben & Freunde die nicht mehr bleiben können. Manchmal kann man nur resignieren und weitermachen. Lachen geht trotzdem immer. Meistens ist es sogar das Einzige, dass Licht bringt.

Bildet man als Sohn einer an Alzheimer erkrankten Schriftstellerin nicht auch irgendwann eine Art Schale, einen Abwehrmechanismus, vielleicht sogar einen gewissen Zorn, weil man nicht dauernd darauf reduziert werden will? Auch als Fachmann im „Umgang mit dieser Krankheit“?
Nein, zum Glück nicht. Das war ein Lebensabschnitt. Ich denk oft an ein Gedicht von Bukowski «Roll the Dice»: ‹If you’re going to try, go all the way. You will ride life straight to perfect laughter. It’s the only good fight there is». Wenn man das Buch schreibt, dann macht man es richtig. Mit allem was dazu gehört. Gut und schlecht. Das habe ich mir so ausgesucht. Das ist unser Familienhandwerk. Wir sind die Schreibers. Da wird aufgeschrieben und erzählt. Bis keiner mehr zuhören will.

Wäre Lukas Schreiber heute ein anderer, hätte es diese Krankheit in seiner Familie nicht gegeben? Was bedeutet diese Krankheit für Dich, Deine Zukunft?
Zu eintausend Prozent. Ich hatte mal eine Phase, in der ich mich sehr schuldig gefühlt habe, da ich den Eindruck hatte – dass die Dinge sogar insgesamt besser geworden sind durch die Krankheit. Ein viel engeres Verhältnis zu meinem Vater, meinem Bruder, anderen Verwandten. Eine tiefe Verbindung zum Leben und zum Tod. Eine Sehnsucht, das Leben intensivst zu lieben. Alles mitzunehmen auf eine verantwortungsvolle Art und Weise. Ich habe ausgerechnet auf Aitutaki zum ersten Mal Camus gelesen. Das ist in mein Herz gesprintet wie nichts Anderes. ‹One must imagine Sisyphus smiling›. 

Ich vermisse meine Mutter wie sie war. Vermisse jeden Tag ihre Ratschläge, die jetzt nicht mehr kommen. Ihre nicht zu bändigende Kraft. Ihre Arbeitswut. Ihr Lachen ist zum Glück geblieben. Und dann weiß man, dass es schlimmer werden wird mit der Krankheit. Ich würde sagen, darauf sind wir vorbereitet. Und so viele schöne Momente wir bis dahin noch erleben dürfen, desto besser

Ich fahre Claudia in einigen Wochen zu einer Theateraufführung von ihrem Buch «Goldregenrausch». Wird sie verstehen, was auf der Bühne passiert? Wird sie sich wenige Stunden danach noch an eine einzelne Szene erinnern? Nein. Ist es das trotzdem wert? Auf jeden Fall!

Danke Lukas!
© Jens Oellermann

Lukas Sam Schreiber, geboren 1991, ist Podcastproduzent. Er ist viel rumgekommen in der Welt, doch die weite Reise zum Atoll Aitutaki hat ihn am nachhaltigsten bewegt – vor allem wegen seiner Reisebegleitungen: seine Mutter Claudia und ihr Alzheimer. Seither denkt Lukas über vieles anders, vor allem über das Leben und den Tod.

Claudia Schreiber, geboren 1958, studierte Kommunikationswissenschaften und Pädagogik in Göttingen und Mainz, war für den SWF3 und das ZDF tätig, bevor sie mit ihrer Familie für sieben Jahre nach Moskau und Brüssel zog. Danach arbeitete sie bis zu ihrer Alzheimerdiagnose mit Anfang sechzig als Autorin und Journalistin in Köln. Claudia Schreiber hat fünfzehn Romane und Kinderbücher geschrieben. Ihr bekanntestes Werk ist der mehrfach ausgezeichnete Roman »Emmas Glück«, der in neun Sprachen übersetzt und mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen verfilmt wurde.

Rezension von «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

Porträt auf SoundCloud

Webseite der Autorin