Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.
Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.
„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“
Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.
„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“
Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.
Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.
Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.
«Ein Interview»:
In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:
Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo? Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.
Warten Sie auf etwas? Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.
Was oder wer fehlt Ihnen? Etwas Ruhe zum Schreiben.
Haben Sie Zeit? Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.
Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende« wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.
1968. Für die einen bricht ein neues Zeitalter an, für die anderen löst sich alles auf, was ein Leben lang Bestand hatte. Für die einen ist es der Startschuss für ein neues Bewusstsein, ein neues Lebensgefühl, für die andern der endgültige Zusammenbruch all dessen, worauf man baute. Der neue Roman von Alain Claude Sulzer ist ein Schaufenster in die Vergangenheit.
Seit Jahrzehnten ist Stettler der hoch angesehene Schaufensterdekorateur im Quatre Saisons, jenem Warenhaus in der Stadt, das etwas von den grossen Edelwarenhäusern der Metropolen aufleuchten lässt, aber eben immer gut schweizerisch provinziell bleibt. Die Enthüllungen seiner Schaufensterdekorationen waren Jahrzehnte eine Angelegenheit, die die ganze Stadt bewegte. Stettler in seinem Kittel der unbestrittene Monarch in den Räumen, in denen jeweils die nächste Dekoration entworfen wurde. Bis 1968. Nicht nur in den Stassen der Stadt rumort es. Auf der Münsterturmspitze weht eines Morgens eine Vietcong-Flagge und man setzt Stettler einen jungen Wilden vor das Sonnenlicht, der nach Ansicht des Chefs frischen Wind in die Schaufenster des Quatre Saisons bringen soll, Stettlers bisheriges uneinnehmbares Königreich.
Was Stettler in dieser schwierigen Zeit aufrecht bleiben lässt, ist der Briefwechsel mit Lotte Zerbst, einer Pianistin aus dem grossen Nachbarland, bekannt durch Schallplatteneinspielungen und Radiosendungen. Er, der Musik liebt, dem Radiosendungen die einzige Zerstreuung sind, seit er seine Mutter, mit der er zusammenlebte, beerdigen musste, fand eines Tages den Mut, Lotte Zerbst einen Brief voller Bewunderung zu schreiben. Und Lotte Zerbst, tief in ihrer Seele verletzt durch das dereinst schändliche Verhalten ihres grossen Lehrers, fühlt sich nicht nur geschmeichelt, sondern verstanden.
So wie Stettler ist Lotte vom Leben in ein Nischendasein gedrängt, aus der Zeit gefallen, einsam, antiquiert. Stellter, der schon in jungen Jahren spürte, dass er nicht wie die Masse tickt und Lotte, die wohl für die Masse spielt, aber abgeschottet von ihr in ihrer eigenen Welt lebt, noch entfernter als Stettler, der unmittelbar spürt, dass seine einstmals uneingeschränkte grosse Geste als Schaufensterdekorateur nicht mehr gefragt ist. Während Demonstranten vom Wasserstrahl von den Strassen gefegt werden, fegt Stettler die Zeit weg, wird Lotte von der Bühne gefegt, als man ein Klavierkonzert des sowjetrussischen Komponisten Schostakowitsch absagt, weil dieser als Repräsentant kommunistischer Weltanschauung mitverantwortlich gemacht wird für das, was die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert.
Stettler, eingesperrt in seine Rolle, seine Anschauung und seinen strickten Lebenswandel fühlt sich mehr und mehr ohnmächtig gegenüber dem Wirken der Zeit. Er, der sich ein Leben lang für einen Macher hielt, wird nicht nur ausgebremst, sondern mehr und mehr schleichend kaltgestellt.
Alain Claude Sulzers Roman ist fein gebaut, geschrieben, als läge über dem ganzen Roman ein Schimmer des Bedauerns. Bedauern darüber, dass eine Welt unterging, eine Welt, in der man am Telefon die Auskunft fragen konnte, wenn das Lexikon nicht reichte. In der man sich über fünf verschiedene Fernsehsender wunderte und ein Haarschnitt allein schon Provokation war. Alles passt an diesem Roman. Die Sprache hat genau jenen Stich ins Sepia, wie das Weltbild der beiden Protagonisten, die einem in eine fremd gewordenen Welt eintauchen lassen. Alain Claude Sulzer macht sie, die untergehende Welt damals, an zwei Polen fest; zwei Künstlern, sie durch den Äther, er nur durch ein Glas vom Geschehen der Welt getrennt.
Und unter allem klingt die Musik. Alain Claude Sulzer weiss, was mit einer Musikerin passiert, die ihr Spiel, ihr Stück, ihre Musik so sehr verinnerlicht, dass sie nicht mehr nach Noten spielt, die Klänge Teil ihrer Existenz werden. Ich spüre, wie nah der Autor seinen Protagonisten kommt, und im Falle der Musik auf ganz innige Weise.
„Unhaltbare Zustände“ ist ein köstliches Buch, ein wahrer Lesegenuss! Dass Alain Claude Sulzer mit diesem Buch mit einer Nomination für den Schweizer Buchpreis 2019 beehrt wird, ist mehr als verdient. Schon mit seinen ersten Romanen, allen voran „Urmein“ aus dem Jahr 1998, gewann er meine Bewunderung.
Ein kleines Interview mit Alain Claude Sulzer:
1968, in jenem Jahr, in dem ihr Roman spielt, waren sie 15. Vielleicht zu jung, um in irgend einer Form mitgerissen zu werden, vielleicht. 1980, als Zürich von den Opernhauskrawallen heimgesucht wurden, waren Sie 27. Was ist ihnen geblieben? Was passiert mit Ihnen, wenn Sie junge Menschen heute für das Klima und die „Rettung der Welt“ demonstrieren sehen? Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es aus einiger Distanz zu konstatieren. An «die Rettung der Welt“ zu glauben fällt mir allerdings nicht erst seit heute schwer. Es sind schon etliche Versuche schiefgelaufen.
Stellers Antwort auf die Veränderung der Welt und seiner unmittelbaren Umgebung ist gegen sein Naturell die absolute und ultimative Provokation. Wie sehr trägt ein Schriftsteller wie Sie die Lust zur Provokation mit sich? Provokation treibt mich weder am Schreibtisch noch „im Leben» an.
Stettler wohnt noch immer in der Altstadtwohnung, die er Jahrzehnte mit seiner Mutter teilte. Nicht das einzige Setting Stettlers, das er eigentlich noch viel länger hätte erhalten wollen. Und vielleicht hätte Stettler das ehemalige Mutterzimmer in der Wohnung nie vollkommen entleert, wenn die Umwälzungen in der Welt und in seiner Umgebung nicht so grundlegend gewesen wären. Aber so wurde aus dem Mutterzimmer ein Fernsehzimmer, aus dem Zimmer der Rechtschaffenheit das Tor zur Moderne. Müssen wir stets aus der Komfortzone gestossen werden, damit sich Dinge ändern? Ja, vermutlich ist das so, und dazu sind nicht unbedingt historische Umwälzungen notwendig (wie im Falle Stettlers, der sich, nicht ganz zu Unrecht, als Opfer einer solchen sieht); es genügen Veränderungen im kleinen privaten Rahmen – Tod, Krankheit, Verlust aller nur denkbaren Güter -, um die Kontinuität des bislang Gewesenen dauerhaft zu unterbrechen.
Der Schaufensterdekorateur Stettler verstand seine Arbeit am führenden Warenhaus der Stadt als Welterschaffung. Ein Schaufenster soll gefallen, dem Auge schmeicheln, die Produkte im Haus von der besten Seite zeigen, als Errungenschaft eines immer fortschreitenden Wohlstands. Sein neuer Kollege, den ihm sein Chef vor die Nase stellt und als Hoffnungsträger einer ganzen Branche feiert, versteht seine Aufgabe diametral anders. Er will provozieren. So wie heute die Kunst in vielen Bereichen, die Politik immer offensichtlicher, die Wirtschaft nicht nur in der Werbung und der Vermummte beim Samstagabendfussballspiel. Ist Ihr Roman auch ein bisschen Nostalgie? Die Trauer um eine verlorene Zeit? Auch wenn ich selbst – anders als manche Kritiker es seltsamerweise sehen wollen – so gut wie nichts mit Stettler gemein habe (selbst mein Interesse an Schaufenstern ist eher dürftig), gibt es tatsächlich nostalgische Momente, in die der Leser/die Leserin unweigerlich versetzt werden, sofern sie sich an ähnliche Momente in ihrer Vergangenheit erinnern. Die Nostalgie dürfte bei jüngeren Lesern deutlich geringer sein. Unter Nostalgie verstehe ich aber nicht das wohlige Versinken in einer Welt, in der alles besser war, sondern einfach deren Betrachtung. Natürlich war – wie jeder weiss oder wissen kann – auch retrospektiv nichts besser als es wirklich war, und wann war es das schon?
Ein unüberlesbares Element Ihres Romans ist die Musik. Ihre Liebe für die Musik. Ist Musik ton- und klanggewordene Sehnsucht? Sehnsucht nach Harmonie? Nach Ordnung? Überschaubarkeit? All dies, ja. Zudem ist Musik im Augenblick ihrer Ausführung einmalig, unwiederholbar, man kann sie nicht nachlesen, man kann nicht zurückblättern, man kann sich nicht länger an eine Viertelnote klammern, als sie dauert; insofern ist für Sehnsucht weniger Platz als für Gegenwart, Musik geht immer weiter.
Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« (KiWi 1249) und »Aus den Fugen« (KiWi 1360). Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Im Suff bricht Noah den bronzenen Speer aus der Hand der Athene auf dem Münchner Königsplatz. Und weil Martin dabei ist, immer dabei ist, wenn Noah das Denken einstellt, sitzen die beiden in einem gemieteten Transporter, mit nichts als dem Speer auf der Ladefläche und fahren an den Ort ihrer Kindheit. Kristin Höller schrieb einen Roman voller Dramatik über die Einsicht, dass sich mit dem Erwachsenwerden gar nichts klärt.
Noah hatte Glück. Noah hat immer Glück. Durch Beziehungen kam er in ein Casting zu einem Kinostreifen, ergatterte eine der Hauptrollen, machte Kasse, prangte auf Plakaten, war Liebling auf Partys in der grossen Stadt, bis die Zeit begann, den Ruhm zu fressen und er sich die Leere danach mit einer „Auszeit“ schönredete. Martin ist mitgegangen, weg vom Dorf, weg vom Mief, weil er glaubte, sein Freund wäre das Tor zur Welt, der Schlüssel zu dem, was im Dorf ihrer Eltern verschlossen bleibt.
Und als der Alkohol sie raus aus der Party trieb, wieder eine auf Fischgrätparkett und mit Leuten, die Martin nicht kennt, ein ganzer Pulk durch München schwankt bis auf den Königsplatz, wo Noah ausgerechnet der Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes den Speer aus der Hand reisst. Nichts von Weisheit, Strategie und Kampf. Noah mietet einen Transporter, Martin muss mit, der Speer muss weg. „Ich brauch dich“, sagt Noah. Es ist mehr Befehl als Bitte.
Sie fahren in den Ort, den sie vor zwei Jahren verlassen hatten. Den Ort mit dem kleinen Bahnhof, den Reiheneinfamilienhäusern, den Carports, dem Glashaus von Noahs Eltern und dem Wohnsilo, wo Mugo wohnte. Dahin, wo sie ohne Speer nichts hingezogen hätte, das mit Speer aber die einzige Option für Noah schien. Sie versenken das bronzene Ding im Baggersee, unweit vom Ort und rufen nach scheinbar erfolgreicher Beseitigung jene zusammen, die im Dorf geblieben sind. Martin erfährt dabei, dass auch Mugo wieder hier ist, die eigentlich Maria heisst, aber ihren Namen nicht mag, dann viel lieber Mu(tter)go(ttes). So wird aus dem glamourösen Absetzen aus dem Mief der Enge und Biederkeit eine verzweifelte Bruchlandung zwischen Fassungslosigkeit und Ernüchterung.
Martin trifft Mugo im Tankstellenshop mit Käppi und passendem T-Shirt. Sie, die immer Wütende, die Kluge, die Schöne, die wie er wegwollte, von der er wegging, er nach München, sie nach Wien. Mugo, die einzige Frau, deren Küsse nach wirklichen Küssen schmeckten, die ihm die Welt erklärte, die ihm damals schon klarzumachen versuchte, dass er bloss Noahs Anhängsel war. Martin trifft seine Eltern, bei denen die Zeit stehen geblieben ist, wird eingeladen zu einer Party bei Noahs Eltern, bei der der Riss in den Kontinentalplatten aufbricht, aber nur er die Lava darunter sieht, den glutheissen Mief, der nicht nur ihm den Atem nimmt.
Kristin Höller giesst mit Vergnügen Öl ins Feuer, brennt mit sprachlichem Okular, bis es raucht. Ein Roman mit dem Esprit von Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“, wie ein Low-Budget-Film, der dafür umso mehr durch seine Art des Erzählers und die Schauspieler überzeugt. „Schöner als überall“, die Umkehrung von ‚Überall ist es schöner‘ erzählt von der ersten grossen Ernüchterung, den ersten wirklichen Niederlagen, dem Aufwachen, dem Erwachsenwerden. Auch Martins und Noahs Eltern sind Erwachsene, aber umgeben von Fassaden, die das Überleben in all den Kompromissen ermöglichen. „Schöner als überall“ ist das Ende einer Illusion, das Ende einer Freundschaft und der Beginn von tatsächlicher Abnabelung und dem Erkennen, dass man letztlich alleine bleibt.
Ein Buch, das durch einem hindurchzieht wie ein Sturm, maximal unterhaltsam, witzig und mit dem berauschenden Groove einer literarischen Unverbrauchtheit!
Ein kurzes Interview mit Kristin Höller:
Von München weg geht die Fahrt von Martin und Noah vorbei an Fenchelfeldern, von denen der Duft bis weit in die Landschaft hinein wirkt. Fenchel muss eine entkrampfende Wirkung haben, sonst hätte die Intuition Noah nicht automatisch zurück an den Ort seiner Kindheit gebracht. Wer versteckt schon eine „Leiche“ dort, wo man ihn kennt. Martin heilt aber nicht der Fenchel, sondern letztlich die Liebe, auch wenn sie bricht? Steckt da ein Funke Romantik? Als Romantik würde ich das gar nicht bezeichnen – vielmehr ist es der Glaube daran, dass immer etwas Neues entsteht, wenn Dinge kaputtgehen. Ob es dadurch leichter wird, lässt sich vorher natürlich nicht sagen, aber schon die Veränderung an sich kann sehr befreiend sein.
Ich staune über den Sog, den ihr Roman während des Lesens entwickelte, obwohl er in seiner Erzählstruktur ganz „einfach“ chronologisch aufgebaut ist. Meist sind Rückblenden in Dialoge eingebaut. Der Roman erscheint, wie in einem Guss geschrieben – war das so? Es freut mich natürlich, dass sich diese Wirkung einstellt, tatsächlich jedoch ist das Schreiben für mich eine Arbeit wie jede andere auch – es hat sehr viel mit Regelmässigkeit zu tun und damit, es morgens vor neun aus dem Bett zu schaffen. Es gab also keinen Sturm und Drang-artigen Wahn, sondern ganz unspektakulär sehr viele Tage, an deren Ende ich jeweils zwei oder drei gute Seiten hatte.
Eine Schlüsselszene in Ihrem Roman ist die Grillparty in Noahs Elternhaus, einem grossen Glashaus zweier Architekten. Während der Hausherr vor versammelten Gästen den Toast an seine Gemahlin richtet, er durch Berührung den Kontakt zu seiner Frau sucht, bricht diese zusammen und ein Riss öffnet sich, vor dem sich die Partygesellschaft erfolgreich verschliesst. Genau das, was in der grossen Party auf unserem Planeten auch passiert. Ist Ignoranz das Übel? Ich lasse mich ungern zu einfachen Erklärungen hinreissen. Aber ich denke schon, dass es Martins sehr genaue Beobachtungen waren, die ihn von den anderen Figuren unterscheiden und ihn daher als Erzähler überhaupt für mich interessant gemacht haben.
Wo lag die Uridee des Romans? War es die Meldung in den Medien 2014 als man Teile des Speers und eine Bronzeschale aus den Händen der Statue am Münchner Königsplatz brach? Vor Jahren habe ich über Freunde von den Vorkommnissen auf dem Königsplatz erfahren und einen Artikel dazu gefunden. In den Monaten darauf habe ich gemerkt: Das ist eine von diesen Meldungen, die so kurios ist, dass im Kopf direkt eine Geschichte dazu entsteht. Die Ideen haben mich einige Zeit begleitet, bis immer mehr dazu kamen und es irgendwann für einen Roman gereicht hat.
Kristin Höller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn, studiert seit 2015 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften, Artist in Residence beim Prosanova-Festival 2017, Gewinnerin des Publikumspreises und des Preises des Buchhandels beim 10. Poet|bewegt sowie des Preises des Schweizer Literaturfestivals Literaare 2018. Seit Oktober 2017 ist sie Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. «Schöner als überall» ist ihr erster Roman.
In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.
Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.
Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?
Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, dieDachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem
wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.
Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.
Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!
Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?
Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.
Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.
Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?
Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant.Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann.
Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?
Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denkenund Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.
Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?
Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper.
Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?
Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.
Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?
Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.
Während sich heute Helikoptereltern um die verkannte Hochbegabung ihrer Kinder sorgen und sich Erwachsene unter fachkundiger Leitung gegen teures Kursgeld auf dicken Matten balgen, war und ist das Leben an anderen Orten, die sich nicht einmal einen Steinwurf davon befinden, ein Kampf ums nackte Überleben. „Hundesohn“ ist die Geschichte eines solchen, träf und mit mitreissendem Sound geschrieben, leidenschaftlich und wuchtig!
Sonja M. Schultz macht Musik. Nicht nur wenn sie singt (davon kann man sich unter ihrer Website überzeugen), auch wenn sie schreibt. Und dabei hat ihr erster Roman derart viel Zug, Witz und Gespür, dass „Hundesohn“ vieles vereint: Er ist voller geladener Action, in denen sich die Dinge in Zeitlupe überstürzen und ineinander verhaken, holzschnittartig gezeichnet, wenn die Protagonisten wie Archetypen aus der Geschichte in den Vordergrund treten, eine Achterbahnfahrt, wenn ich als Leser erneut in einen Abgrund gestossen werde, von dem ich nicht weiss, ob es ein Auftauchen gibt.
Herbert nennt sich Hawk, hat den Namen seines Vaters abgelegt, verscharrt und begraben, als er mit fünfzehn von zuhause ausriss, weg von einem Vater, der seine Deutschen Schäfer in den Zwingern besser behandelte wie seinen für ihn missratenen Sohn – einen Hundesohn. Hawk wie seine Mutter, die mit den amerikanischen Besatzern als Schreibkraft hängenblieb und froh war, nicht wieder in die Einöde von Kansas zurückkehren zu müssen.
Hawk kommt nach drei Jahren Gefängnis frei, entschlossen, seinem Leben endlich eine Richtung zu geben, aufzuräumen, Oberwasser zu gewinnen. Aber kaum in der Spur zündet man Miss Stetson an, die Verkörperung dessen, was ein Anfang hätte sein können, mit allem drin, ausser der letzten Versicherung, die im Schliessfach einer Bank lagert. Miss Stetson, wohl in die Jahr gekommen, aber ein echter Alfasund Sprint. Die Polizei behandelt Hawk wie Dreck, ebenso Lu, die in ihrer Bar Les fleurs du mal hinter den Tresen steht und doch einmal seine Braut war, die ganze Welt, denn als er ins Treppenhaus zu seiner Wohnung ganz oben steigt, verrät der Dunst von Benzin und weisse Federn im Treppenhaus, dass oben nichts ist, wie es sein sollte. Seine Wohnung verwüstet, im Sofa steckt ein Messer, mit dem man ‚Bastard‘ in die Polster schnitt.
Die Rache aus der Hamburger Unterwelt? Der lange Arm derer, für die er jahrelang gedient hatte, die Hoffnung auf ihn gesetzt hatten, für die er im ganzen Land herumgekarrt war, den Stoff fliessen liess? Hawk tappt im Dunkeln, weiss nicht, wie ihm geschieht, wie ihm geschah, als Lu ihm den Laufpass gab, wie ihm geschah, als das Leben an der kurzen Leine seines Vaters unerträglich wurde, wie ihm geschah, als man ihn einbuchtete, zuerst im Heim und dann im Knast, wie ihm geschieht, als man ihn krankenhausreif schlägt und er sich bloss mit einem Leintuch bedeckt vor dem Schläger mit Helm und schwarzer Ledermontur retten kann.
„Hundesohn“ ist eine Irrfahrt durch ein verkorkstes Leben, die Geschichte eines Mannes, der nie Schlechtes, nie Böses will, dem es aber nie gelingt, aus einer Spirale von Gewalt, Unglück, Naivität und grossen Träumen herauszuspringen. Das Pech klebt am Leben, nicht nur an seinem, auch an den Leben jener, die untrennbar mit ihm verbunden sind. „Hundesohn“ erzählt von den Nachkriegsjahren in der Abgeschiedenheit einesstämmigen Kriegers aus dem versunkenen Traum eines Tausendjährigen Reiches, der in der verwundeten Pampas weit weg von allem das versucht, was Familie sein soll, bis in den Kietz im Sommer 1989, kurz vor der Wende, von Aufbruch zu Aufbruch.
Sonja M. Schultz erzählt ihren Roman, als würde sie durch den Sucher einer Superacht-Kamera sehen. Ihre Schreibe ist fast dokumentarisch, tief eingetaucht in die Gerüche, den Mief jener Zeit. Grossartig erzählt, von umwerfender Wahrhaftigkeit!
Hawk ist ein Looser, und doch nicht nur in seinem Kern „ein guter Mensch“. Beschreiben sie in ihrem Roman eine Welt, die den Schwächeren frisst? Trotz ungebrochenem Lebenswillen, Muskelpaketen und Schlauheit reicht es ihm doch nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sehnen wir uns nicht nach Siegern?
Siegende Helden sind langweilig. Dennoch ist die Sehnsucht nach Siegern und starken Helden das Fatale, die grosse Versuchung für uns widersprüchliche, verletzliche, ins Leben geworfene Wesen mit wackeligen Selbstbildern. Hawk hat mit den in ihn eingepflanzten Ideologien von „Härte“ und „Männlichkeit“ zu kämpfen, die ihm den Horizont und das Gefühl vernebeln. Ich hoffe und glaube, er bleibt sympathisch, weil seine Gedankenwelt so durchsichtig, sein Wunsch, Stärke zu zeigen, zum Scheitern verurteilt und auch berührend ist. Weil sein kindliches Selbst immer durchscheint. Weil er nichts schnallt, aber untergründig so viel Potential hätte, empathisch und emotional intelligent zu sein. Hätte Hawk Fussnoten, würden da die Theweleit’schen „Männerphantasien“ auftauchen. Die sind historisch, beschreiben aber nach wie vor auch Teile unserer gegenwärtigen Welt.
Sie sind 1975 geboren. Ihr Roman spielt nach dem Krieg bis 1989, kurz vor der „Wende“. „Damals“, in der ersten Erzählebene des Romans, waren sie 13, haben Telefone mit gekringeltem Kabel, Kassettenrekorder und den Alfasund noch erlebt. Und doch ist jene Zeit im Vergleich zu heute in vielem fast „prähistorisch“, nur schon angesichts der globalen Probleme, die sich uns stellen. Wie tief mussten sie recherchieren? Wie weit vertrauten sie den Bildern in ihrem Innern?
Ich fand es befreiend, von einer Zeit ohne Mobiltelefon, Internet und Datenüberforderung zu erzählen, und es hat Spass gemacht, eigene Erinnerungsbilder und Stimmungen unterzubringen – aber auch biografische Schnipsel anderer Leute. Bilder unserer Vergangenheit sind ja in irgendwelchen Schichten des Hirns sehr präsent und erzeugen beim Hervorholen einen merkwürdigen nostalgischen oder gruseligen Kitzel. Ich habe aber auch jedem Bild hinterherrecherchiert: Wie war das mit den Sirenentests am Wochenende? Wie sahen diese Oldschool-Telefone aus? Was genau war im Care-Paket meiner Mutter? Ich weiss noch: Trabis auf der Reeperbahn.
„Hundesohn“ bezieht sich auch auf den Vater des Protagonisten Hawk, einen Veteranen aus dem Grossen Krieg, einem, dem Härte und eiserne Konsequenz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Prinzip, das im Umgang mit Hunden klappt, aber nicht in einer Ehe und schon gar nicht in der Erziehung. Hawks Kindheit steht im krassen Gegensatz zu vielen heutigen Erziehungsprinzipien, Stichwort Helikoptereltern. Ihr Roman besticht ebenfalls durch „letzte Konsequenz“ – bis zum Schluss. Drängte sich das auf?
Ich weiss nicht, ob ich die Frage verstehe – was ist die „letzte Konsequenz“? Aber interessiert hat mich die intergenerationell weitergegebene Unfähigkeit zu kommunizieren, und mit den eigenen Emotionen umzugehen. Diese verknöcherte, immer weiter fortgepflanzte (oft männliche) Wut. Der diffuse Frust. Die blockierten Körper. Die Helikoptereltern – sind die nicht möglicherweise auf eine kleine, sehr schichtabhängige Blase beschränkt? Und die emotionale Verpanzerung und Unsicherheit ist immer noch am prägendsten für die meisten Menschen?
Es spielen die wilden 60er und 70er mit, der Kietz, die Unterwelt, das Drogenmilieu. Sie verstehen die Sprache, haben den Sound in sich, den Ton. Ich rieche den Siff, wenn ich lese. Alles wirkt erstaunlich authentisch, auch ihre Schilderungen einer männlichen Innenwelt. Da reicht Recherche nicht. Haben sie in Lokalen in St. Pauli geschrieben? Sich mit dem Sound der Zeit berieselt? Filme aus der Zeit geschaut? Séancen mit Rainer Werner Fassbinder abgehalten?
All das habe ich getan. Wobei das Gespräch mit Fassbinder nicht so ergiebig war, da war, glaube ich, Kokain im Spiel. Aber die Recherchen haben mir unglaubliche Freude bereitet, besonders das Eintauchen ins historische St. Pauli über Fotobände (Anders Petersen), Interviewsammlungen (Hubert Fichte), Filme (Klaus Lemke), linguistische Untersuchungen (Klaus Siewert), um nur einige zu nennen. Auf dem Papier habe ich ein Faible für Siff. Die Reeperbahn ist mir einigermaßen vertraut, weil ich in der Nähe aufgewachsen bin (Schleswig-Holstein), und sie für mich schon, als ich noch Kind war, eine grosse Selbstverständlichkeit hatte. Männliche Innenwelten, behaupte ich, sind mir auch vertraut. Und ich habe Boxunterricht genommen.
Hawk ist einer, der mit sich und seiner nächsten Umgebung zu kämpfen hat. Was in der Welt geschieht, in Zeitungen steht oder auf der Mattscheibe vorgehalten wird, berührt ihn nur am Rande. Das spiegelt sich auch in der Gegenwart, einer Zeit, in der sich viele kaum mehr für tiefere Zusammenhänge interessieren, weil sie zu sehr mit sich und ihrem ganz eigenen Kampf beschäftigt sind. Da sind doch Parteien, die schimpfen und pöbeln, die verurteilen und kategorisieren genau das Richtige? Schreiben sie in zwanzig Jahren einen Roman über einen kahlrasierten, tätowierten Aufrechten aus dem Jahr 2019, der seinen Sohn Adolf tauft? Die Literatur scheint sich bisher nicht in dieses Minenfeld zu trauen.
Aber war es nicht immer so? Gut, die Welt ist vernetzter, dadurch komplexer geworden und global in ihren Grundfesten bedroht, was aber mental – ausser bei den jüngsten Generationen – noch nicht angekommen zu sein scheint. Ich habe mich in meinem Leben so lange mit Holocaust und Nationalsozialismus beschäftigt, dass ich das eigentlich nie mehr tun wollte. Aber natürlich geht das Thema nicht weg, in mir auch nicht. Vorsatz: In zwanzig Jahren möchte ich bitte ein hundertseitiges Poem verfassen, das alle in Lust, Ekstase und weltumspannende Harmonie versetzt. Oder nicht?
Sonja M. Schultz, geboren 1975, wuchs im Hamburger Umland auf und studierte Theaterwissenschaften und Kulturelle Kommunikation in ihrer Wahlheimat Berlin. Sie schreibt über Film und Geschichte («Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds«) und tritt mit Spoken Word auf alternativen Bühnen auf. Mit ihrem Debütroman «Hundesohn» war sie 2017 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.
Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.
„Balg“ ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.
Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.
Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.
Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.
Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.
Ein Interview mit Tabea Steiner:
Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung? Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur“ mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind.
„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen? Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend.
Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft? Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen. Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstande, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.
Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden? Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird.
In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen? Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mir und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen.
Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!
Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.
Ein Schloss auf einem Hügel, «Settecento», mitten im steirischen Wald, ziemlich weit von einer Stadt mit Namen Bad Bleibenberg. Ein Mann, der sich einen ganzen Hofstaat hält, junge Burschen mit schönen Stimmen sammelt, sie zu Kastraten macht und ihre Stimmen schult. Ein Mann, den alle den Zaren nennen, Herrscher über eine Welt, die dem Barock huldigt, mitten in fiktiver Gegenwart.
Man glaubt zu spüren, dass die Autorin in einem Theater ihre Kindheit verbrachte. Die Welt, die sie beschreibt, ist beseelt von rauschenden Stoffen, dick aufgetragener Schminke, opulenten Perücken, dunklen Bildern und raffinierter Kulisse. Ihre Figuren, die die Gegenwart nur zu berühren scheinen, sind aus dieser entführt, gekauft, mitgenommen, von der Strasse, armen Familien entrissen, voll der Hoffnung, dereinst mit ihrer Engelsstimme auf der Bühne die Menschen zu bezaubern. Ihrer Männlichkeit vom Hausarzt, dem «Fleischer», beraubt, geschult und gedrillt, geformt und abgerichtet, wachsen sie unter dem allwissenden Auge des Zaren zu Hyazinthenstimmen, um wie eine Blume aufzugehen, durchstrahlt von der Musik, dem Zauber der reinen Stimme. Verblüht welken sie langsam dahin, wählen selbst ihren Tod oder verschwinden in den Zwischenschichten einer Welt, die sich jener des «Zaren» entzieht.
«Das Leben und Sterben ausserhalb deiner Welt existiert für dich nicht, wenn du im Schloss lebst.»
Das Haus «Settecento» mit seinen 365 Fenstern, 52 Türen, 31 Räumen auf jedem Stockwerk, 24 Säulen in den Arkaden des Schlosses, 60 Bildern in der Galerie, 7 Wendeltreppen und 7 grossen Öfen, einem grossen Zimmer voller Singvögel, einer Bibliothek, in der das Kerzenlicht die Szenerie Venedigs im 17. Jahrhundert an die Wände malt, einem Tonstudio und vielen Schlafzimmern, in denen die Zöglinge morgens mit einem gemeinsamen Miserere den Tag beginnen – eine Welt aus der Zeit gefallen.
In jenem Kosmos, jenen Räumen, in denen die wirkliche Gegenwart ausgeschlossen ist, werden Matteo und seine Zwillingsschwester Nina gross, damals zwei Kinder, die die Mutter in der Nähe von Moskau nur zusammen aus ihrer Obhut weggeben wollte. Und als eines Tages der kleine Timo auf Settecento erscheint, gezeichnet von den Misshandlungen auf der Strasse, als Matteo auf der Bühne die Menschen zur musikalischen Verzückung bringt und die Damen um ihren Atem, als Timo sich für diesen einen Schnitt bereiterklärt und auf dem Kopfkissen Matteos eine tote Nachtigall liegt, wendet sich das Blatt.
«Jetzt weiss ich, wie es ist, wenn du auf einer Bühne stehst und das ganze Theater in deiner Macht hast. Wenn das Tier mit dir verschmilzt, dich aufnimmt und bis zum Ende nicht loslässt. Wie es ist, wenn der Zuschauerraum zuerst still wird, als würden dort alle auf der Stelle sterben, um dann, wenn du die letzte Note aushauchst, gewaltig zu explodieren.»
Dann stürzt sich einer der Jungen von der Mauer in den Schlossgraben. Matteos Zwillingsschwester Nina verschwindet mit Timo, Matteos Schützling. Und schlussendlich verschwindet das Tier in Matteo, seine Stimme, von einem Tag auf den anderen. Matteo macht sich auf den Weg, flieht, obwohl ihm der Schatten des Zaren folgt, auf die Suche nach seiner Schwester, nach sich selbst, dem Tier. Bis nach Wien, in eine Stadt, in der die Reste des Barocks von damals kleben, die aber so ganz anders pulst als Settecento.
Daria Wilke beschreibt Wien aus der Sicht eines fast Ausserirdischen. Auf der Suche durch das Wien von heute vexiert immer wieder das Wien des Barocks, erfüllt von Musik und den Stimmen der Kastratensänger, von denen man damals besessen schien.
Die Inspiration für das Haus Settecento lieferte das Schloss Gleichenberg in der Südoststeiermark (jetzt ist dort allerdings nur eine Ruine, das Schloss wurde 1983 durch Feuer zerstört).
Die barocke Kulisse dieses Romans spiegelt sich in der Klangfarbe der Sprache. Daria Wilke inszeniert gekonnt, malt mit satten Farben, ohne sich zu verlieren. Alles ist Kulisse, alles Fassade. Was die Kinder in diesem Schloss empfinden, hat dem grossen Zweck zu gehorchen. Was Daria Wilke beschreibt, kann durchaus als Metapher dafür verstanden werden, was sich in totalitären Staaten abspielt, in denen nach den Gesetzen der Monarchie, jener Staatsform, die mit Revolutionen und Reformen längst nur noch Staffage sein sollte, nach alten Mustern funktioniert, in denen das Individuum bloss zu funktionieren hat, zum Wohle des Staates, zum Wohle des Hauses.
«Wenn ich singe, bin ich da.»
«Die Hyazinthenstimme» ist eine Liebeserklärung an die Geheimnisse der Musik, an Wien und die Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit, eine Liebeserklärung an die Freundschaft und all jene Figuren, die nicht der Norm entsprechen. Grosse Literatur, berauschend erzählt, von barocker Wucht und durchtränkter Leidenschaft für die grosse Bühne!
Beste Grüsse an die JurorInnen des Österreichischen Buchpreises 2019!!!
Interview mit Daria Wilke:
Bei der Lektüre ihres Romans würde ich immer wieder an Kafkas „Das Schloss» erinnert. Ging Ihnen das beim Schreiben ebenso? Sosehr ich Kafka liebe, hatte ich eher andere Assoziationen – „Orlando“ von Virginia Woolf, „Herr der Fliegen“ von William Golding oder „Winterspiele“ von Jean-Claude Mourlevat. Aber vor allem inspirierte mich „Geschichte der Kastraten“ von Patrick Barbier, obwohl das eigentlich ein Sachbuch ist.
Sie lieben den Barock, das was Musik in jener Zeit zum Blühen brachte. Klingt in Ihrem Roman auch ein bisschen das Wehklagen darüber durch, dass wir in einer Zeit der Sachlichkeit, der Funktionalität, der Zweckoptimierung leben? Ich liebe unsere Zeit – wegen der Funktionalität und der Zweckoptimierung auch, ich lebe wahnsinnig gerne Hier und Jetzt. Aber das Leben als Kunst, als Spiel und Genuss, als Karneval – ja, das fehlt mir, das konnte man so gut im Barock.
„Die Hyazinthenstimme» ist die Geschichte von Matteo auf der Suche nach sich selbst, seiner Schwester, wahrer Freundschaft, nach dem vollkommenen Moment, der vollkommenen Musik. Von Moskau in den steirischen Wald, über Venedig bis nach Wien. Eine lange Reise! Sie scheinen im Schreiben angekommen zu sein! Ich hätte mir gewünscht, dass diese Reise noch länger wäre.
Sie lieben Figuren, Rollen, lassen ein ganzes Sammelsurium von theatralisch auftretenden Gestalten agieren; den Zaren, den Windsammler, den Teufel, die polnischen Zwillinge, einen Arzt, den alle nur den Fleischer nennen. Ihre Fantasie scheint eine grosse Bühne zu sein. Sind das die Bilder aus Ihrer Kindheit? Nein, eigentlich nicht. Die Welt von „Die Hyazinthenstimme“ ist erst während des Schreibens entstanden. Aber was das Ganze mit meiner Kindheit verbindet, ist die Vorstellung, dass ein literarischer Text eine Bühne, ein Theater ist. Und auf dieser Bühne sollte es möglichst wild zugehen.
Sie sind in Russland aufgewachsen. Die Schilderungen dieses Schlosses mitten im Wald erinnerten mich an den Hofstaat vieler „monotheistischer» Staatsmänner (immer Männer), sei es nun Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei. Zufall oder bloss meine Interpretation? Ich hatte keine konkreten Vorbilder. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesen Gedanken, die an und für sich nicht originell sind: wie geht es in einer geschlossenen Welt zu – sei es ein Internat, ein Unternehmen, ein Staat oder eine Jugendclique. Diese Eigendynamik, die sich da entwickelt und strenge Hierarchie, der sich jeder unterwirft – mein Buch ist ein Versuch, so eine in sich geschlossene Welt zu konstruieren. Nur halt eine Welt, die mit der Musik und Kunst des Barocks verbunden ist.
Hörten Sie während des Schreibens jene Musik, zumindest das, was von ihr heute nachempfunden werden kann? Ja, ununterbrochen. Die barocke Musik, von Monteverdi und Porpora bis Rameau und Telemann, begleitete mich die ganze Zeit. Und die Arien, die für Kastraten geschrieben wurden, natürlich auch. Es gefiel mir, die Barockraritäten auszugraben – zum Beispiel, jene Musik, die Kaiser Leopold I. komponierte… Es gab vor einigen Jahren in Paris eine großartige Inszenierung von Cavallis „Eliogabalo“ mit Franco Fagioli in der Hauptrolle – diese Aufnahmen habe ich auch ständig gehört, für mich war das alles Inspiration pur.
Daria Wilke geboren 1976 in Moskau in eine Schauspielerfamilie. Daria Wilke verbrachte ihre Kindheit in einem Puppentheater, in dem ihre Eltern gearbeitet haben. Nach dem Studium der Psychologie, Pädagogik und Geschichte arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Tageszeitungen in Russland. 2000 übersiedelte sie nach Wien, wo sie auch heute lebt und an der Universität Wien arbeitet. Sie hat bisher mehrfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher auf Russisch veröffentlicht, „Die Hyazinthenstimme“ ist der erste Roman, den sie auf Deutsch geschrieben hat.
Es bricht über Maria herein! Es stirbt ihr Mann Georg, urplötzlich, wie aus dem Nichts. Dann holt sie ihre alt und müde gewordene Mutter Lucia aus einem kleinen kroatischen Bergdorf, das sich immer mehr und mehr entvölkert. Und zuschlechterletzt bricht ihre noch nicht volljährige Tochter Anna die Schule ab und vergräbt sich in ihrem Zimmer.
Ein Frauenroman? Mitnichten, wenn es diese überhaupt gibt. Ein Generationen-, Familienroman, ein Heimatroman der ganz besonderen Art, ein Abschiedsroman, ein Entwicklungsroman, ein Roman einer noch jungen Autorin, der hellhörig macht, weil da jemand schreibt, der es versteht, ganz verschiedene Lesarten einer Geschichte anklingen zu lassen. Ein Roman, der durch seine behutsame Sprache besticht, die Art, wie die Autorin mit grösster Zärtlichkeit Personen, Gegenstände, Landschaften und Situationen beschreiben, als würde sie mit der Hand sanft über das Beschriebene schreiche(l)n.
Maria, die als Kind Marija hiess und in dem kleinen Dorf in Dalmatien aufwuchs, lebt als Künstlerin schon lange in Deutschland, nabelte sich einst ab von einer Kindheit am Rande eines Krieges, eines Krieges, der den Tod bis in ihre Familie brachte. Zusammen mit ihrem Mann Georg kaufte sie sich in Bayern ein Haus, renovierte es gemeinsam mit ihm, um dieses Zuhause in dem Moment wieder zu verlieren, als das Herz ihres Mannes völlig unerwartet aufhört zu schlagen. Wieder bricht der Tod in ihre Familie ein. Was sich wie Heimat anfühlte, droht zu entgleiten. Noch mehr, als sie sich gezwungen fühlt, ihre Mutter aus dem leer gewordenen Dorf in Kroatien zu sich zu holen, eine alte Frau mit Kopftuch, klobigen Schuhen und mehreren Röcken übereinander, eine Frau, die kein Deutsch versteht und sich zu Beginn ihres Exils im Haus ihrer Tochter weigert, das Wasser aus dem Hahn zu brauchen. Was sie ein Leben lang für das einzig Richtige hielt, tut sie weiterhin. Sie holt das Wasser im Garten.
„Ich habe damals gedacht, das alles hat nichts mit mir zu tun. Es hat alles mit uns zu tun.“
So sehr sich Marias Mutter von ihrem Zuhause entfernte, so sehr entfernt sich ihre Tochter Anna. Beide schweigen sie zeitweise und lassen Maria alleine. Alle drei sind sie entwurzelt; Lucia von ihrem Dorf in den Bergen, Anna von ihrer Herkunft und den Schienen in die Zukunft, Maria von ihrem Mann, der ihr ihr Zuhause war. Manchmal zieht sie sich ins Zimmer ihres verstorbenen Mannes zurück und schreibt Briefe an ihn, die sie an die Adresse jenes Hauses in Kroatien schickt, in ein leeres Haus.
„Manchmal ändert sich alles an einem einzigen Tag.“
Saskia Luka schildert mit grossem Einfühlungsvermögen, starken Sätzen und dem sicheren Gefühl für Komposition das Leben dreier Generationen unter einem Dach. Die Tochter Anna sucht nach Antworten, einem guten Weg aus dem Dämmerzustand von Trauer und betonierter Rolle in der Familie. Maria sucht den Stand, nachdem ihr der Tod ihres Mannes den Boden unter den Füssen weggerissen hatte, den Ort, an dem sie Wurzeln schlagen kann, Ordnung in einem Leben, dass sich im Chaos eines Dreigenerationenhaushalts aufzulösen droht. Und Lucia, die Mutter und Grossmutter einen Weg, mit Würde das zur Last gewordene Leben zu verlassen. Ein Abschiedsroman, weil Anna weg will, Maria das Leiden satt hat und Lucia sterben will. Im Haus der drei Frauen entwickelt sich eine ganz eigene Dramatik. Maria steht zwischen Tochter und Mutter, zwischen einer jungen Frau, die ausbrechen will, die autonom werden will, frei von Erwartungen und einer alten Frau, die sich immer mehr einer Welt verweigert, die sie nicht mehr interessiert.
„Das Trauerwetter hatte Verwüstungen hinterlassen, aber sie lebte noch.“
Es ist, als ob die Schriftstellerin Saskia Luka in viel kräftigeren Farben sehen würde als ich. Ohne es der Leserin und dem Leser auf die Nase zu binden, erzeugt sie mit ihrer Sprache genau das: Farben, Farben!
Ein Interview mit Saskia Luka:
Ein fast verlassenes Dorf in Dalmatien, ein Dorf in Bayern. Während das eine zerfällt oder durch EU-Zuschüsse entstellt wird, scheint das andere tief in der Zeit verankert, Häuser wie Festungen, in denen Dramen kaum nach aussen dringen. Die Tochter Anna will ausbrechen, sich Normen entgegenstellen, die Mutter Lucia sich dem Tod stellen. Lieben sie Gegensätze?
Ich liebe die Frauen des Buchs, weil sie so menschlich sind. Sie tragen viele Seiten in sich, sie verändern sich, sie sind widersprüchlich, sie tun, was sie können, sie nehmen sich Raum für ihren Schmerz, sie sind verletzlich. Sie kommen gerade nicht sehr gut miteinander zurecht, sie sind unterschiedlich, aber sie halten das auch aus. Sie begleiten sich, trotz allem, trotz aller Unterschiedlichkeit.
Maria ist nach dem Tod ihres Mannes herausgerissen, heimatlos. Ihre Tochter distanziert sich, genauso wie ihre Mutter, nur in gegensätzlicher Richtung, obwohl sie diese doch zu sich nach Bayern genommen hatte. Ihr Roman beschreibt die Suche nach Heimat, die Sehnsucht nach einer Ordnung, mit der man leben kann. Sie leben in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brač. Hat ihren das Schreiben Antworten gegeben?
Ich denke, es hat Auswirkungen gehabt, dass ich Tag für Tag hauptsächlich auf einem Friedhof geschrieben habe – eigentlich war ich auf der Suche nach einem ruhigen Ort – ich war glücklich in der Naturvielfalt mitten in der Stadt, ich habe die Jahreszeiten bewusster erlebt und zwischen den Grabsteinen plötzlich ganz andere Fragen gestellt.Das Schreiben ist mein Weg, mich mit mir und der Welt zu verbinden und natürlich gibt es Antworten.
Maria kehrt zurück ins Dorf ihrer Familie, zurück zum Friedhof, wo ausser Georg ihre Toten liegen. Wenn sie in Deutschland auf dem Friedhof sitzt, meist nicht einmal dort, wo ihr Mann Georg begraben liegt, ist das ein ganz anderer Friedhof. In Dalmatien spiegelt sich das Leben in den Namen auf den Grabsteinen und Kreuzen. In Deutschland in den Begegnungen, vor allem in der Begegnung mit Adam, der im Roman die Rolle des wahren Freundes übernimmt. Sie berühren in ihrem Roman den Krieg immer wieder, schildern den Tod als immerwährenden Begleiter. Lehrt Sie die Geschichte, den Tod mitzunehmen?
Ich war selbst überrascht, als Lucia – die Grossmutter in meinem Buch – starb und ich erinnere mich, dass ich geweint habe, als ich die Zeilen in den Computer tippte, Lucia den letzten Atemzug tat und tot war. Dann bin ich spazieren gegangen und habe meine Kinder vom Kindergarten abgeholt – und während ich dies hier schreibe, frage ich mich, ob ich erzählen sollte, dass ich um meine Romanfigur geweint habe. In solchen Momenten weint man um alles, einen geliebten Menschen, einen vergangenen Tag. Berührt zu werden ist, was uns lebendig macht und der Tod ist keine Drohung, er ruft uns zu: Lebe!
Maria baut zusammen mit ihrem Mann ein Haus um, macht es zu ihrem Nest, zum Nest einer Familie. Am Schluss ihres Buches reist Maria ins Dorf ihrer Mutter und baut auch dort das Haus um, rettet es vor dem Zerfall. Muss man Häuser bauen oder Familien gründen, um zuhause zu sein?
Nein, natürlich nicht. In beiden Fällen baut Maria kein Haus – sie erhält sie, bewahrt sie. Das Haus ihrer Familie in den dalmatinischen Bergen würde ohne sie zerfallen und letztlich in Bäumen verschwinden. Es ist ein Ort voller Erinnerungen, den sie nun doch bewahren möchte, vielleicht für ihre Tochter Anna. Der Versuch, ein „Nest“ für ihre Familie zu bauen, scheitert: ihr Mann stirbt, ihre Tochter geht, und vielleicht ist sie am ehesten in ihrer Arbeit zuhause.
So zart die Art ihres Beschreibens, so klar ihre Sprache, so offen bleiben die Geschichten ihrer Protagonisten. Sie malen nicht aus, geben längst nicht alles preis, verknappen das Preisgegebene bis zu einem Konzentrat. Exemplarisch dafür der im Krieg gefallene Bruder Marias. Es ist, als hätten sie mich als Leser eben erst mit dem Personal eines ganzen Kosmos vorgestellt. Absicht?
Jeder hat seine Geschichte – und wir kennen sie nicht. Wir sollten behutsamer miteinander umgehen. Gerade bin ich in ein Dorf gezogen, wo es quasi gar nicht den einzelnen Menschen gibt, er ist immer Teil seiner Familie(ngeschichte), von Generationen… Viele Leute hier wissen nicht, wie sie uns greifen und einordnen sollen, weil unsere Familien hier nicht verwurzelt sind. Wir sind fremd. Und niemand hier besitzt seine Geschichte. Andere machen sie sich zu eigen, schmücken sie aus, erzählen sie weiter. Ich lerne viele neue Menschen kennen und oft bin ich überrascht – ich versuche mich daran zu erinnern, dass ich ihre Geschichte nicht kenne.
Vielen Dank!
Saskia Luka wurde 1980 in Köln geboren. Nach ihrem Studium der Germanistik in Bonn arbeitete sie in Berlin im Bereich Presseund Öffentlichkeitsarbeit und als freie Texterin. Saskia Luka ist verheiratet und hat zwei Kinder. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brač.
Ein Versprechen aus der Vergangenheit zwingt Fred, alles stehen und liegen zu lassen, um seinem Freund Ben, der mittlerweile Promiarzt in Kalifornien ist, in Not beizustehen. Fred tut es wirklich, obwohl sein Leben nicht das eines Kompromisslosen ist. Ben fährt ihn auf eine Insel mitten im Meer. Auf eine Insel, auf der die Musikgeschichte neu geschrieben werden soll.
Fred ist Lehrer, Buchautor und bald sechzig. Einem seiner Bücher über Quantenphysik schenkte der Zufall hohe Verkaufszahlen und sogar eine Übersetzung ins Amerikanische. Fred ist Single und braucht Bildschirm und Decknamen, um mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Seine Arbeit als Lehrer von gelangweilten Teenagern, die nicht akzeptieren können, dass sich das Universum nicht um sie dreht, ödet ihn an. Das einzige, was ihn wirklich am Leben hält, ist seine Liebe zur Musik. So lässt er sich mit seiner Coverband an Hochzeiten, Geburtstagen und Scheidungsfeten engagieren. Sein grosses Idol ist Keith Richards, Leadgitarrist und Songwriter der Rolling Stones, der Mann mit Stirnband, exzessivem Leben und einem Gesicht, in dem jede Falte ein Leben erzählt.
Ausgerechnet bei einem Date mit einer Internetbekanntschaft erfährt Fred, dass Keith Richards gestorben sein soll. Etwas, was nicht sein soll, denn Fixsterne gehen nicht unter. Aber als sich die Befürchtung bestätigt, ist Fred der Ruf seines alten Freundes von der anderen Seite des grossen Wassers gerade recht, auch wenn ihn sein Musikfreund aus seiner Coverband mit dem Ende seiner Freundschaft droht, sollte er nicht rechtzeitig zum Engagement an einer Scheidungsparty sein.
Fred fliegt und wird von Ben, dem Arzt und Lynn seiner Begleitung empfangen. Aber statt helfen, statt irgend einer Not die Stirn bieten zu können, zwingt ihn Ben, eine 5-Millionen-Schweigeverpflichtung zu unterschreiben im Hinblick auf all das, womit er konfrontiert werden wird. Auf der Insel, die nur mit Taxibooten erreicht werden kann, stehen zwei Häuser. Ein grosses und ein kleines. Und während in den Medien die Beerdigung Keith Richards in allen Einzelheiten verfolgt wird, behaupten die beiden Ärzte Lynn und Ben, dass sich im Obergeschoss des Haupthauses Keith Richard von seinem Sterben erhole.
Fred, der sich mit Fragen der Wahrscheinlichkeit auseinandersetzt, scheint es nicht verwunderlich, dass eben jene Wahrscheinlichkeit ausgerechnet sein Idol aussuchte, um ihn vor der Sterblichkeit zu retten. Aber was für eine Rettung, wenn man zu einem Leben in einer Parallelwelt verbannt ist, wenn man seiner Bedeutung als Meilenstein in der Musikgeschichte nicht ins Fundament krachen will und dieses zerbröseln könnte, wenn man der bleiben will, der man über Jahrzehnte geworden ist, nicht dieser eine, der von den Toten auferstanden ist. Was für eine Rettung, wenn man als Toter nicht einmal mehr an die Millionen auf Bankkonten herankommt, wenn man Erinnerung bleiben will, eine gute Erinnerung und kein Untoter.
«Es gibt nur eine einzige Säule, auf der das Leben ruht, und diese Säule heisst Wahrscheinlichkeit.»
Fred soll helfen Probleme zu lösen, weil Fred an die Wahrscheinlichkeit glaubt. Und Fred ist mit auf der Insel, wie sein Leben eine leere Schublade ist und sie nun endlich mit Bedeutung gefüllt werden soll. Erst recht, als Fred den Gang ins verbotene Obergeschoss wagt und sieht, dass da wirklich Keith Richards sitzt, mit den Füssen in einer Plastikwanne. Fred und Keith freunden sich an, weil irgendwann beide gleichzeitig eine Gitarre in Händen halten, für Keith genauso wie für Fred das Tor zu einer neuen Welt, einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Beide soll die Musik retten, Fred aus seiner Bedeutungslosigkeit, Keith aus seinem Dasein auf einer Insel im Nirgendwo.
Linus Reichlin erfindet sich mit jedem seiner Romane neu. «Keiths Probleme im Jenseits» sprudelt vor Ideen und Skurrilitäten. Zugegeben, ich war mir bei der Lektüre nicht immer sicher, ob Linus Reichlin den Bogen nicht überspannt. Aber vielleicht ist das meine helvetische Lesart eines helvetischen Schriftstellers, der so gar nicht tut, womit ich gerechnet hätte. Linus Reichlin nimmt mich mit an den Pool von Jonny Depp, an den Tisch mit Don Was, dem Musikproduzenten von Bob Dylan, Joe Cocker oder Elton John, weit, weit weg von den Kleinbürgersorgen um Termine, in eine Welt zwischen Schein und Sein, zwischen Traum und Trauma.
Es braucht für die Lektüre jenen Funken Wahrscheinlichkeit, den man jeder möglichen Wendung des Lebens geben muss!
Ein Interview mit Linus Reichlin:
Sie schreiben einen Roman über die Wahrscheinlichkeit. Eine Geschichte, in der ausgerechnet jener, der an sie mehr als nur glaubt, scheitert. Sie ziehen Schubladen, die sonst tunlichst verschlossen bleiben, um ein Leben, das eine leere Schublade ist, mit Leben zu füllen. Ihr Schreiben muss ein ziemliches Abenteuer gewesen sein!
Es gab zwei Phasen: In der einen schrieb ich ein Jahr lang eine erste Fassung, die absoluter Mist war, völlig misslungen. Danach schrieb ich in drei Monaten fast in einem einzigen Atemzug die zweite Fassung, an der dann keinerlei Korrekturen mehr notwendig waren. Der Stoff war schwierig, weil er mit dem dramaturgischen Maximum beginnt. Der Produzent Samuel Goldwyn sagte mal, das Rezept für eine gute Geschichte sei: «Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern». Das war hier genau das Problem, aber es ist gelöst!
Fred ist ein Einsamer. Ausgerechnet zu seinem Idol, das fast ein ganzes Leben unerreichbar schien, dass wegzusterben drohte, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Geben und Nehmen. Aber auch sie scheitert. Träume scheitern, die Liebe scheitert. Was scheitert nicht?
Wir werden geboren, und unweigerlich sterben wir. Man kann also von einem grundsätzlichen Scheitern sprechen. Aber zwischen all dem Scheitern gibt es ja auch immer Momente des Glücks, des Gelingens, der Zuneigung. Fred und Keith erleben wunderschöne Momente, in denen ihnen grossartige Songs gelingen, und Fred selbst ist ein Mensch, der selbst mit prekären Situationen gut zurecht kommt. Dass der Held am Ende scheitert, liegt vielleicht auch an David Bowies Geist, wer weiss …
Sie überraschen mit jedem ihrer Romane. Es gibt kein Reichlin’sches Thema, die immer gleichen Fragen, die sie kreisen lassen. Sie scheinen sich als Schriftsteller stets neu zu erfinden. Birgt das nicht auch eine Gefahr, nämlich jene, die treue Leserin, den treuen Leser zu erschrecken?
Doch, die Gefahr gibt es durchaus. Aber man verändert sich mit der Zeit, wieso also sollte man stets über die gleichen Themen schreiben? Ich bin jetzt in einer Phase, in der es mich interessiert, originelle Stoffe mit philosophischem Hintergrund auf witzige Weise zu beschreiben. Ich bin auf der Suche nach einem Humor, der aus der Tiefe kommt, so zu sagen einem nachdenklichen Lachen. «Keith» ist das erste Buch aus dieser Serie.
Nichts ist unmöglich, schon gar nicht das Scheitern. Aber nur aus Angst dort zu verweilen, wo man sich eine sicher geglaubte Existenz eingerichtet hat, das scheint nicht ihr Plan zu sein. Wo lag die Uridee, der Urgedanke ihres Romans?
Die Idee kam auf unübliche Weise. Ich erwachte morgens und hatte fast die ganze Geschichte schon im Kopf. Normerweise dauert es Wochen, bis eine Geschichte konzipiert ist, hier nicht. Sobald Keith Richards und der Tod so zu sagen zusammenkamen, entwickelte sich die Geschichte ganz von selbst. Das Schreiben war anfangs schwierig, kein Wunder bei einem solchen Thema, aber die Ideenfindung nicht.
Sie lieben Musik und kennen sich aus. Man begegnet vielen Namen und noch viel mehr Musiktiteln. Wenn man sich beim Schreiben so sehr in der Welt der Musik bewegt, hört man dann auch die entsprechende Musik?
Natürlich! Es sind fast ausschließlich Lieblingssongs von mir, die erwähnt werden. Ich bin zur Musik der 70er aufgewachsen, das war ein großes Glück, denn die Musik jener Zeit war außergewöhnlich gut, und es gab eine Menge hervorragender Musiker; David Bowie, die Stones, Hendrix, Joplin, Lou Reed, Led Zeppelin – lauter Ausnahmetalente. Und für mich eine der zentralen Figuren war und ist Keith Richards. Er verkörpert diese Zeit wie kein anderer.
Vielen Dank!
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Kategorie Unterhaltung) gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman «Er» schrieb der Stern: »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien «Das Leuchten in der Ferne», ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan. 2015 folgte der Roman «In einem anderen Leben», 2016 «Manitoba».
„Mich reizen Antihelden!“ „Reduit“ heißt der neue Roman von David Weber, der in Bergell schreibt, in Zug wohnt und auf die Schweizer Mentalität seinen Antihelden loslässt. Urs Heinz Aerni stellte ihm Fragen.
Urs Heinz Aerni: In Ihrem Roman „Reduit“ versuchen drei Freunde ehemalige Bunker der Schweizer Armee an sicherheitsbedürftige Reiche zu verkaufen. Eigentlich eine super Idee, könnte dies nicht auch real sein?
David Weber: Man weiß nie, wann andere auf die gleiche Idee kommen, so weit hergeholt ist sie ja nicht, sagt Heinrich Schultheiss auf Seite 56 des Romans, um seine Eile für die Umsetzung des Plans zu rechtfertigen. Tatsächlich war im März 2019 den Medien zu entnehmen, dass eine Privatperson die Festung Furggels bei Sargans – die drittgrößte Festungsanlage des Reduits – gekauft hat, um sie als Arche Noah für den Katastrophenfall zu nutzen. Das „bombensichere“ Geschäft zielt wie im Roman „Reduit“ auf finanzkräftige Ausländer.
Aerni: Die Story bringt den Lesenden nicht nur in ein Netz von Täuschung und Gier, sondern man wird Zeuge eines Zerfalls von Freundschaften. Im Zentrum steht die Figur Al, ein etwas zögerlicher und unsicherer Mann. Wie haben sie diesen erfunden oder entdeckt?
Weber: Mich reizen Antihelden. Al von Rickenbach ist ein erfolgloser Architekt, der lieber kocht. Er ist zwar auf den ersten Blick cool, hat sich in einem netten Leben als Junggeselle mit wechselnden Partnerschaften eingerichtet. Aber effektiv flüchtet er vor der Verantwortung einer Beziehung. Er ist zufrieden, wenn er in Ruhe gelassen wird – ein Umstand, der sich im Laufe seines „Reduit“-Engagements radikal ändert und zur Prüfung wird.
Aerni: Dürfte „Reduit“ auch als ironische Spiegelung der Schweizer Mentalität interpretiert werden?
Weber: Natürlich. Man kann den Roman als Parabel auf das Schweizerische Sicherheitsdenken sehen. Wir haben das Geschäft mit der Angst kultiviert: Versicherungen und Banken leben davon, Normen und Gesetze sichern ab. Sehr schweizerisch.
Aerni: Auf der Rückseite des Buches lobt ein Stabsoffizier Ihren Roman u. a. mit den Worten „Vorsicht beim Lesen!“. Rechnen Sie mit weiteren Reaktionen aus Militärkreisen, da sie deren Reduit wieder ins Scheinwerferlicht bringen?
Weber: Das Lob sehe ich eher als Augenzwinkern. Das Reduit bildet zwar den Drehpunkt der Story, aber militärisch ist die Geschichte keineswegs.
Aerni: Der Roman spielt u. a. in Zürich. Sie als gebürtiger Zuger leben in Zug, wäre denn Zürich nichts für Sie?
Weber: Ich hatte meine Planungsfirma in Zürich. Ich liebe Zürich, kenne die Stadt. Ich lebe in Zug und im Bergell, bin immer noch viel in Zürich, aber Leben muss ich nicht dort. Zug liegt 25 Bahnminuten entfernt.
Aerni: Der Bauboom in Zürich ist ungebrochen, ganz ehrlich und unter uns, wie bewerten Sie als Architekt die aktuellen Bautrends?
Weber: Ich habe die städtebaulichen Entwicklungen in der Agglomeration Zürich mitverfolgen können. Es gibt viele positive Ansätze und viele ernüchternde Fehlplanungen. Die Frage des Maßstabs und der adäquaten Nutzungen bilden viel Konfliktpotential. Private Investoren suchen in erster Linie die Rendite, nicht den Konsens mit der Stadt und ihren Bewohnern.
Aerni: Sie sind und schreiben oft im Bergell, auch eine Art Reduit für Sie?
Weber: Das Bergell wurde für mich und meine Frau zu unserer zweiten Heimat. Es ist eine kulturelle Herausforderung und ein Gegenpol zum städtischen Mittelland. Wir haben fantastische Menschen kennengelernt und sind viel in der Natur, deshalb ist es kein Ort, wo ich mich einbunkern will, sondern ein Ort der Inspiration.
Aerni: Ein Zuger findet im Gotthard ein Roman-Motiv. Wo im Bündnerland gäbe es auch noch Orte, in denen Romanstoffe schlummern könnten?
Weber: Da könnte ich viele nennen. Sils, die Seen, der Nationalpark, Davos (ein neues Projekt wird dort beheimatet sein) und es gibt die Persönlichkeiten, die zum Schreiben anregen. Die Zuckerbäcker, die Künstler, Alberto Giacometti als Paradebeispiel des erfolgreichen Auswanderers.
Aerni: Warum würden Sie anderen Romanciers das Bergell als Schreibort empfehlen?
Weber: Das Bergell ist eine faszinierende „andere“ Welt, eine Mischung aus Abgeschiedenheit und Offenheit. Eine Landschaft der Gegensätze. Einerseits das Wilde des engen Bergtals, anderseits die Offenheit des Oberengadins und die Verbindung zu Italien. Es ist eine Situation, die herausfordert und anregt.
David Weber, Architekt, Musiker und Autor, lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell). Er studierte «Literarisches Schreiben» an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich. Sein erster Roman „Kral“ erschien 2018 und sein neuer Roman „Reduit“ in diesen Tagen im Knapp Verlag.