Lukas Linder «Der Letzte meiner Art», Kein und Aber

Auch wenn man bei der Lektüre von «Der Letzte meiner Art» versucht sein kann, der Geschichte nur die schrägen Seiten abzugewinnen, die Überzeichnungen, die Konzentration an schrägen Typen, in Schieflache geratenen Akteure, die Geschichte im Theatralischen beinahe zu kippen droht, man geneigt ist, dem Roman seine Ernsthaftigkeit abzuerkennen. Zugegeben, «Der Letzte seiner Art» ist Groteske, aber vor glasklar realem Hintergrund – und herrlich zu lesen. 

Alfred von Ärmel ist von durchaus seriöser Erscheinung. Auch seine Familie, sein begabter grosser Bruder, sein Fabrikantenvater und die selbst im Alter blendend aussehende Mutter, die bis zu ihrem «Schluss» ein Dolde Verehrer zu mobilisieren vermag. Auch Alfreds bemerkenswerter Stammbaum geht zurück bis zur Schlacht von Marignano, als einer seiner Vorfahren mit gleichem Namen zum Held mit Helebarde wurde. Alfred von Ärmel würde sich liebend gerne in die Reihe heldenhafter von Ärmels stellen, aber alles in seinem Leben legt sich dieser Absicht quer: Ein steifer Vater, dem der Nachfolger in seiner Wimpelfabrik fehlt, eine hyperaktive, ruhelose Mutter, die ihn mit Verachtung straft und ein Bruder, der alles Wohlwollen bindet, dem man von Kindesbeinen eine grosse Zukunft voraussagt, der aber im entscheidenden Moment von der Bildfläche verschwindet, für immer.

Alfred von Ärmel ist ein Einsamer. War es schon als Kind, ohne Freunde in der Schule, ohne Liebe in der Familie, ohne Wirkung auf das weibliche Geschlecht, ohne Kraft, sich endlich als der Held zu zeigen, der er eigentlich sein möchte. Alfred ist ein aus der Zeit Gefallener, ein Überbleibsel aus der grossbürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, mit Etikett und überheblicher Nobles im 21. Jahrhundert gestrandet. Auf der letzten Seite des Romans lässt Lukas Linder ihn sagen: «Ich war eine Witzfigur, eine Karikatur. Ich war der Letzte meiner Art.» Ein Don Quichot, ein Münchhausen, ein Ritter der traurigen Gestalt.

Als Leser folge ich dem armen Tropf von Niederlage zu Niederlage, auf der Suche nach jenem Moment, der ihn zum Helden macht, der den Vorhang fallen lässt, hinter den ihn die Zeit und seine Familie verbannt hat.

Der Reiz der Lektüre ist das Absonderliche, das Groteske. Dass ich als Leser das Gefühl habe, schon das Entstehen des Buches muss ein Vergnügen gewesen sein. Als hätte sich Lukas Linder von Logik und Stringenz befreit, um bei jeder Wendung der Geschichte eine Überraschung mehr zu kreieren. Als wolle sich der Autor bei diesem Buch auf jeder Seite, bei jeder Wendung dagegen stellen, dass dereinst die in diesem Fall abstruse Frage auftreten könnte, was denn nun an der Geschichte autobiographisch sei. Alles steht geschrieben und ist somit jene geschriebene Wahrheit zwischen zwei Buchdeckeln. Gekonnt inszeniert von einem preisgekrönten Theaterautor. So erfrischend erzählt, wie man es auf der kleinen Bühne dar Schweizer Literatur sonst nie antrifft.

Lukas Linder, geboren 1984 im Kanton Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Basel. Er ist Dramatiker, schrieb unter anderem für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Kleist-Förderpreis und dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts, ausgezeichnet. »Der Letzte meiner Art« ist sein Romandebüt.

Gabrielle Alioth «Gallus, der Fremde», Lenos

Ich heisse Gallus, weil ich vor 56 Jahren in der Stadt St. Gallen zur Welt kam. In meiner Geburtsstadt ist Gallus kein ungewöhnlicher Name. Je weiter man sich aber von St. Gallen entfernt und dabei vielleicht sogar über die Grenzen in die Nachbarländer, kann es passieren, dass man der Ernsthaftigkeit meines Namens zu misstrauen beginnt. Dabei gab vor 1400 Jahren ein von Irland kommender Mönch mit diesem römischen Namen der Buchstadt St. Gallen ihren Namen.

In der Gallus-Stadt aufgewachsen und zu Schule gegangen bin ich durchsetzt von Legenden, die sich um meinen Namensgeber ranken. Der Mann, der um 600 n. Chr. im Wald an einem Bach, unweit des Bodensees eine Klause gründete, habe nur mit Hilfe eines Bären in der unwirtlichen Umgebung überlebt (der Bär im Wappen der Stadt St. Gallen). Er sei vielleicht sogar adeliger Herkunft gewesen und man habe ihn krank auf dem Weg nach Rom zurückgelassen.

Gabrielle Alioth, die sich nicht erst mit diesem Roman historischen Stoffen annäherte, gelingt von der ersten Seite weg, was ich vor der Lektüre kaum zu hoffen wagte. Sie verfällt nicht der Versuchung, dort weiter zu erzählen, wo die Legenden enden. Sie schmückt nicht aus, was in meinen Kindheitserinnerungen an Halbwahrheiten und «Übermalungen» hängengeblieben ist. In der Kirche St. Martin in St. Gallen, jener Kirche, in der ich zur Erstkommunion ging und gefirmt wurde, in der ich zwischen Vater und Mutter nicht zu weit vorne, aber auch nicht zu weit hinten jeden Sonntag zur Messe ging, prangt an der rechten Seite ein übergrosses Mosaik meines Namensvetters. Ein alter, kräftiger Mann mit stechendem Blick mit einem jungen Bären zu seinen Füssen, der zu ihm aufschaut.

Gallus war damals mit einer Gruppe Mönche vom irischen Bangor auf dem Weg in den heidnischen Süden. Columbanus, ein charismatischer Führer leitete zwölf Brüder auf eine Reise, bei der es kein Zurück geben konnte. Eine Reise in eine Fremde, die so unwirtlich und unbekannt erscheinen musste wie heute ein fremder Planet. Eine Reise, die permanente Lebensgefahr bedeutete, die an sich Martyrium genug war, auf der der Tod in vielerlei Gestalt lauerte und Misstrauen uns Feindschaft nicht nur von aussen drohte, sondern mit Sicherheit ein Teil des Gepäcks war.

Gabrielle Alioth, die viele Jahre in Irland lebte und wohl immer wieder mit der Geschichte dieses Mannes aus dem irischen Bangor konfrontiert wurde, dessen römisch klingender Name irgendwie nicht zu seiner scheinbaren Herkunft passt, hat nicht einfach ein mögliches Abenteuer nacherzählt, die Legende eines «Heiligen» noch einmal bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, was in der Vergangenheit immer wieder passierte, sondern Fragen gestellt, einem Leben, einem Entscheid, eine Reise ins vollkommen Ungewisse nachgefühlt und nachempfunden. Die Autorin erzählt auf mehreren Ebenen; Als unmittelbare Begleiterin auf der Reise bis an den Ort, an dem er nach der Legende krank geworden hängen blieb. Als Frau, die den alt gewordenen Man zwanzig Jahre später im Kreise seiner neuen Gefährten in der Siedlung unweit des Bodensees besucht und erfahren will, was den Mann damals von seinen Begleitern unumkehrbar Abschied nehmen liess und von der der Frau in der Neuzeit, die den Weg einmal weg aus der Schweiz nach Irland machte und Jahre später, in einer ganz anderen Zeit als Gallus, wieder zurück.

Gabrielle Alioth verknüpft die drei Erzählebenen kunstvoll, spürt nach und zeichnet mit wagen Strichen. Das Leben ist eine Reise. Gallus machte sich damals mit seinen Gefährten um Columbanus auf eine Reise ins Ungewisse, eine Reise an die Grenzen des Möglichen, an den Rand des sicheren Lebens, weg von aller Geborgenheit, weg von aller Gewissheit. Gabrielle Alioth zeichnet weniger ein Leben nach, als das, was aus den Konsequenzen einer Entscheidung entsteht. In «Gallus, der Fremde» bleibt Gallus fremd. Und das ist gut so, denn das wenige, dass aus gesicherten Quellen überliefert wäre, reicht nicht für eine Nacherzählung seines Lebens. Aber der Mann von der grossen Insel im Norden hat etwas mitgebracht, etwas bewirkt. Geblieben ist eine Stadt, die seinen Namen trägt, ein weltbekanntes Kloster – und ein rätselhafter Name.

«Gallus, der Fremde» nimmt einem mit auf eine Reise ins Unbekannte, im Wissen darum, dass man nie ankommt.

Ein Interview mit der Schriftstellerin:

Sie wanderten einst aus nach Irland, ins Land Ihrer Sehnsüchte. Gallus wanderte 1400 Jahre zuvor auch aus, vielleicht zuerst nach Irland, dann mit Columbanus und seinen Gefährten auf den europäischen Kontinent. Ein Abenteuer ohne Rückkehr. Wohl kaum eine Auswanderung ins Land der Sehnsüchte. Wie weit ist die Figur Gallus zu einem Spiegel geworden?

Ich denke, man darf Gallus und Columbanus neben allen religiösen Motiven, der Peregrination etc., auch eine gewisse Abenteuerlust unterstellen, und es gibt ja auch Historiker, die (etwas zynisch) meinen, die irischen Mönche hätten Irland vor allem deshalb verlassen, weil es ihnen in Irland zu langweilig war. D.h. ich denke schon, dass sie auch ihren „Sehnsüchten“ folgten; und so wie Gallus das Land, in das er auswanderte nicht kannte, habe auch ich Irland nicht gekannt, als ich beschloss, dorthin zu übersiedeln. 

Grundsätzlich denke ich, dass Romanfiguren stets Aspekte des Autors/der Autorin spiegeln. Schreibt man über die Gegenwart, wird oft automatisch unterstellt, man/frau schreibe über sich selbst. In sog. historischen Romanen kann man sich als Autorin besser „verstecken“, auf jeden Fall hat mich noch nie jemand gefragt: Wie war’s denn im Kloster? Oder: Haben Sie immer noch ein Verhältnis mit Otto von Schwaben?

Was mich an ihrem Roman beeindruckt ist die Tatsache, dass sie nicht noch weitere Schlaufen um die Legenden des Stadtgründers ziehen. Sie halten sich an die wenigen Fakten und schmücken viel mehr die Umgebung, das Umfeld des Protagonisten als seine Heiligenschein. Brauchte es Überwindung oder war es von Beginn weg Absicht?

Ich finde es stets interessant und beim Schreiben natürlich auch ganz unterhaltsam, Legenden (oder andere vorgegebenen Vorstellungen) zu entlarven bzw. nach Gründen für Legendenbildung zu suchen und deren Entstehungsprozess nachzuzeichnen. Es ist Teil des Perspektivenwechsels, das in einem Roman erlaubt, möglich und auch spannend ist. 

Zudem wird Gallus bereits in den Viten als recht widerspenstiger Heiliger dargestellt. Um Gegensatz zu Columba ging es ihm wohl nicht so sehr um seinen eigenen Ruhm und Namen, sondern viel mehr darum, sein Leben so zu führen, wie er es für richtig befand. 

 Sie fügen in ihren Roman starke Frauenfiguren ein. Zum Beispiel die Frau, die sich 20 Jahre nach Gallus Ankunft im Steinachtobel hartnäckig an die Versen der Mönche heftet, um mehr vom Leben des Siedlungsgründers zu erfahren. Oder ihre Stimme als Erzählerin, als Forscherin. Sieht der weibliche Blick auf eine Zeit, die so patriarchisch geprägt ist, anders?

Ich weiss nicht, ob jene Zeit tatsächlich so „patriarchalisch geprägt“ war. Columba und Gallus kamen aus Irland, in dem zu jener Zeit die Brehon Laws den Frauen eine Gleichberechtigung einräumte, die wohl keltische Wurzeln hatte. Und auch im Burgund war z.B. Brunichilde weit mächtiger und wichtiger als ihre Grosssohn Theuderich.

Ich weiss auch nicht, was „der weibliche Blick“ ist? Ich denke, wir schreiben aus der Summe all unserer Erfahrungen, d.h. alles was wir erleben und erfahren fliesst in unserer Schreiben ein. Das Geschlecht, das im übrigen bekanntlich sehr unterschiedlich erlebt werden kann, ist somit nur einer von vielen Faktoren, die unsere Sicht formen, und ich würde meine eigene Sicht lieber nicht auf meine Weiblichkeit reduzieren lassen.    

„Gallus, der Fremde“ ist bei weitem nicht der erste historische Stoff, dem sie sich literarisch annähern. Wo lag die Motivation, dieses Buch zu schreiben? Worin liegt der Reiz, sich immer wieder auf einen neuen historischen Horizont einzustellen?

Die Historie gibt Fakten vor, eine Art Skelett. Die Herausforderung beim Schreiben eines Romanes mit historischem Hintergrund ist es, die Lücken zwischen diesen Fakten mit einer glaubwürdigen Fiktion zu füllen. Gleichzeitig ist dies  auch das Privileg der Romanschreiberin: Dort, wo der Historiker schwiegen muss, weil ihm die Fakten fehlen, hat sie die Freiheit, über das zu spekulieren, was gewesen sein könnte.

Ein weiterer Reiz ist sicher die unter 1) genannte Möglichkeit, sich als Autorin in der Historie zu verstecken.

Und konkret zu Gallus: Diese sehr frühe Zeit hat den Vorteil, dass wir nur wenige Fakten haben, d.h. wir wissen bald einmal, was man weiss und was man nicht weiss. D.h. das Ausmass der Spekulation ist breiter als in anderen Epochen.

Grundsätzlich aber, denke ich, sind es stets einzelne Schicksale, bzw. Fragen, die diese Schicksale aufwerfen, die mich (unabhängig von der Epoche) gepackt und fasziniert haben. Bei Gallus war es die Frage nach dem, was ihn mit Columbanus verband. Was hält diese beiden willensstarken, eigensinnigen Männer über 20 Jahre zusammen, und warum trennen sie sich dann doch ? Was ist in Bregenz zu Ende gegangen? Was hat Gallus die Freiheit gegeben, sich gegen Columbanus aufzulegen? Was hat ihm die Kraft gegeben, Columbanus› Strafe und die Trennung zu ertragen?  

Ist „Gallus der Fremde“ ein Fremder geblieben?

Sicher ist, dass er sich nicht vereinnahmen liess. Er weigerte sich, Bischof zu werden, beharrte darauf, in seiner „Einsiedelei“ (die – so Cornel Dora –  ja eigentlich eine Mehrsiedelei ist) zu bleiben.

Zudem denke ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen – und ich lebe nun seit 34 Jahren in Irland, also länger als ich in der Schweiz gelebt habe –,  dass Exilierte, Emigranten und Migranten jenseits aller Integrationswünsche und -bestrebungen und unabhängig davon, wie «zuhause“ sie sich an einem Ort fühlen, fremd sind und fremd bleiben und dass dies ein ehrlicherer Zustand ist, als eine oberflächliche oder künstlich geschaffene Zugehörigkeit. Und es ist auch ein durchaus erstrebenswerter Zustand. Er hat Gallus erlaubt, im Steinachtal zum dem zu werden, was er war, u.a. dem Namensgeber für Kloster, Stadt und Kanton. Denn es war Gallus› Vergangenheit, der Weg, den er zurückgelegt hatte, sein Fremdsein, das ihn speziell machte. Wäre er aus Arbon oder Steinach gekommen, hätte sich niemand um ihn gekümmert. Und das Fremdsein und -bleiben hat mir erlaubt, über ihn zu schreiben, weil ich selbst weder hier noch da hin gehöre.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Hansjörg Schertenleib «Die Fliegengöttin», Gatsby im Kampa Verlag

«Die Fliegengöttin» bewegt. Hansjörg Schertenleib bewegt. Ein alt gewordenes Paar kämpft sich nach vielen gemeinsamen Jahren durch den Alltag. Er von Zweifeln und Schuld getrieben, sie eingeschlossen in ihre Krankheit. Er an seinen Grenzen, sie verloren weit über Grenzen hinaus. Hansjörg Schertenleib schrieb keine Novelle um die Krankheit Alzheimer, sondern um einen Mann, der an sich und seiner Situation zu zerbrechen droht.

Es geschah schon öfters, dass ich mit meiner Frau bei einem Spaziergang darüber sprach, was mit uns geschehen wird oder würde, wenn jemand von uns beiden erkrankt oder sterben wird. Etwas, was nicht einfach Möglichkeit ist, sondern irgendwann Tatsache wird.

Eilis und Willem sind seit vielen Jahrzehnten ein Paar, gemeinsam alt geworden, nachdem die Kinder aus dem Haus ausgezogen waren. Willem kam als junger Mann in Irland mit dem Schiff an Land, hat ein Leben hinter sich gelassen, eine schwangere Frau, eine Geschichte, die er mit niemandem teilte. Er lernte Eilis kennen, eine Frau, die ihn mit ihrer Bestimmtheit bezauberte, mit der Art, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Es kamen Kinder, Arbeit, Aufgaben, bis Willem erneut gezwungen war, sich mit quälenden Realitäten auseinanderzusetzen, diesmal ohne äussere Flucht, dafür umso mehr mit einer inneren.
Eine Tochter stirbt und ein Sohn stellt sich verkrusteten Konventionen entgegen. Dem einen hat er nichts entgegenzusetzen, dem andern verschliesst er sich, trotz dargebotener Hand seines Sohnes. Willem beginnt sich treiben zu lassen, lässt sich auf eine Beziehung mit der Frau seines besten Freundes ein. Und nun im Alter, nach dem gegenseitigen Versprechen, sich nicht mit einer Krankheit alleine zu lassen und dem anderen ein unwürdiges Dasein zu ersparen, ist Willem allein. Neben Eilis, die sich durch Alzheimer fast ganz aus ihrem Körper verabschiedete. Er spürt seine aufkommende Härte, dass ihm auch hier die Kraft fehlt, zu seiner Realität zu stehen. Wie damals, als er eine Schwangere sitzen liess, wie bei seiner Tochter, die er sterben lassen musste, wie in der verschütteten Beziehung zu seinem Sohn, der Lüge in seiner Liebe zu Eilis und einem Versprechen, dem er nicht standhält.

Eilis und Willems Ehe ist wie ein Haus mit vielen Zimmern. Ein Haus mit Zimmern, die unwiederbringlich geschlossen und verloren sind, ein Haus, aus dem Willem immer mehr verdrängt wird.

Hansjörg Schertenleib Novelle ist von so ergreifender Zartheit und Klarheit, dass man während der Lektüre zum Atemholen gezwungen wird. Hansjörg Schertenleib leuchtet in die Tiefen Willems, beschönigt nicht, obwohl in vielen seiner beschriebenen Szenen genau die Zartheit schimmert. Hansjörg Schertenleib leuchtet nicht aus, lässt Schatten im Verlaufe der Geschichte noch grösser werden, lässt offen, deutet nur an. Es sind die Szenen zwischen Eilis und Willem, die Dialoge, die keine wirklichen mehr sind, die Berührungen, die im Nichts verlaufen, die leeren Gesten, die leeren Sätze von Eilis genauso wie von Willem. Ich als Leser spüre die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung in Willems Situation, ohne dass ich während des Lesens mit in die Tiefe gezogen werde. Es ist die Art des Schreibens, Hansjörg Schertenleibs Sprache, die das verhindert, all die überaus starken Szenen, die ein Vielfaches von dem erzählen, was geschrieben steht.

Ein Interview mit Hansjörg Schertenleib:

Ein Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau bei sich zuhause behält, gegen den Rat fast aller, weil sie sich einst ein Versprechen gaben. „Fliegengöttin“ ist eine Liebesgeschichte über Grenzen hinaus, ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe bei aller Bürde und ein Buch über die Macht des Versprochenen. Sind Versrechen nicht längst antiquiert?
Versprechen sind in der Tat antiquiert. Ich bin aber ein altmodischer Autor (und Mensch…) der grossen Wert legt auf Begriffe wie ‹Loyalität›, ‹Moral›, ‹Ehrlichkeit›. Ich mag keine Menschen und keine Erzählfiguren, die sich vor Verantwortung drücken.

Willem und Eilis sind Jahrzehnte zusammen, haben Stürme überlebt, selbst den Tod der einen Tochter. Alzheimer ist Hein Sturm, sondern eine langsam werdende, ewig dauernde Flaute. Wer lange mit jemandem zusammen ist, wer in Partnerschaft alt wird, muss sich irgendwann der Tatsache stellen, dass jemand unheilbar krank werden könnte, der eine zuerst stirbt. Warum glaubt der Mensch, sich den Fragen des Sterbens verschliessen zu können?
Weil der Mensch in der Regel die Tendenz hat, Problemen aus dem Weg zu gehen. Literatur darf dies nicht. Sie muss sich den Problemen stellen, muss sie verhandeln und in Geschichten verwandeln. Wobei es mir gerade bei existenziellen Problemen sehr wichtig ist, das Schwere leicht zu machen und zum Schweben zu bringen. Was im Fall meiner Novelle ‹Die Fliegengöttin› eine nicht eben einfache Aufgabe war. Ich will die Leserschaft mit einem guten Gefühl aus dem Text entlassen, ohne jedoch schön zu malen und Problemen aus dem Weg zu gehen.

Sie schreiben sich ganz nah an das Paar Eilis und Willem. Es ist unvermeidlich, dass ich als Leser glauben muss, sie wären tatsächlich Zeuge gewesen. Es sind die beschriebenen Gesten und vor allem die Dialoge mit der an Alzheimer erkrankten Ehefrau, die die Novelle in anrührender Zärtlichkeit so sehr authentisch machen. Alzheimer ist viel mehr als bloss ein Aufhänger in einer Geschichte um Liebe und Freundschaft. Kann man seinen Personen in einem Roman als Schriftsteller auch zu nahe treten?
So man als Autor seine Figuren mit Respekt behandelt, kann man ihnen nicht zu nahe treten, nein. Wobei es in meiner Arbeit immer auch um die nötige Distanz geht – diese zu finden und dennoch Nähe zu schaffen, ist eine der Schwierigkeiten, die sich am Schreibtisch stellen.

Sie beweisen sich in allen Ihren Büchern als Meister der „Beziehungs-inszenierung“. Es sind nie Nabelschauen. Die Personen werden nie nackt, keine geozentrierte Reflexion. Sie reduzieren das Personal Ihrer Bücher auf das Minimum, auch das, was erzählt werden muss. Wirkt die Landschaft Ihres Schreibortes in Irland?
Selbstverständlich hat mich die Landschaft Irlands – oder Donegals, um genau zu sein – beeinflusst, was meine Sprache, meinen Satzbau, meinen Duktus und den Rhythmus meiner Sätze betrifft. Nach 22 Jahren Irland bin ich nun freilich weitergezogen. Neuer Schreib- und Denkort ist die kleine Insel Spruce Head Island an der US-Ostküste Maines. Auch diese Landschaft wird mein Schreiben ohne Zweifel entscheidend beeinflussen.

Willem trägt viel Schuld mit sich, ungeteilte Schuld. Eine schwangere Frau, die er einst sitzen liess, eine Verantwortung, vor der er floh. Den einen Sohn, dessen Neigungen er nicht akzeptieren will und kann. Seitensprünge mit der Frau seines Freundes. Und mit der Krankheit seiner Frau, bei der er dieser eine Versprechen einzulösen hätte, sein Unvermögen, sein Zögern, die Blicke seiner Frau. Wie entscheidet der Schriftsteller, wie viel er in ein Buch „einpacken“ kann?
Das entscheide nicht ich, der Autor, das entscheidet die Geschichte, die ich erzähle. Handlungen der Figuren müssen motiviert werden, damit sie für die Leserschaft nachvollziehbar sind. Allerdings ist es wichtig, eben diese Handlungen nicht zu stark zu motivieren, da sonst die Gefahr des ‹Holzschnittes› besteht und komplizierte Vorgänge, und das sind alle Vorgänge zwischen Menschen, zu sehr zu vereinfachen. Auch hier muss die richtige Mischung gefunden werden. Was bedeutet, das ich nach der 1. Fassung in den folgenden 2. und 3. Fassungen in erster Linie streiche, streiche, streiche.

Ich danke Hansjörg Schertenleib für das Interview.

© Milena Schlösser

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Urs Faes «Raunächte», Insel-Bücherei

Ein Mann kehrt nach vielen Jahren an jenen Ort zurück, der ihm einmal Heimat war, in dem alle Hoffnung lag, aus der er sich vertreiben liess, der er den Rücken zeigte. Damals lud er sich aus Enttäuschung und Zorn Schuld auf, die er mit in die Ferne genommen hatte. Schuld, die ihn nach vielen Jahren an den Ort der grossen Enttäuschungen zurückführt.

Wenn ein Buch inhaltlich überzeugt, dann freut das den Leser, die Buchhändlerin, den Verlag und den Autor. Aber wenn ein Buch zu einem Gesamtkunstwerk wird, wie das in der Insel-Bücherei-Reihe sehr oft geschieht, dann wird ein Buch zu eine Reliquie, einem heiligen Gegenstand. Dann möchte ich es am liebsten allen, von denen ich weiss, dass ihnen das Buch wie mir etwas Heiliges ist, behutsam in die Hand legen mit dem Wunsch, dafür ein paar absolut ungestörte Stunden in ihrem Leben einzurichten.
Nanne Meyer, eine bildende Künstlerin aus Berlin hat die Erzählung mit Zeichnungen zu einem grossen Ganzen erweitert. Mehr als nur illustriert! Der Erzählung etwas beigefügt, was nicht einmal die Filmmusik beim Film kann. Ein doppelter Genuss. Augenpausen. Ein paar Atemzüge zwischen den Seiten, die den Text regelrecht einkochen. Dabei sind beides schon Substrate, Text und Bild; kein Strich zu viel, reduziert und absolut präzise.

Eine Heimkehrergeschichte. Eine Wintergeschichte. Eine tief verschneite Landschaft irgendwo im Schwarzwald. Ein Dorf am Wald, umgeben von Hügeln. Zwischen den Hügeln Bauernhöfe. Einer davon gehört Sebastian, seinem Bruder, den er schon Jahre nicht mehr gesehen hat, der auch mit Briefen nicht mehr zu erreichen war. Man kennt Manfreds Bruder im Dorf. Ein verschrobener Kerl, der sich nur mehr selten im Dorf blicken lässt. Ein Mann, den das Leben gestraft hat; die Eltern sterben, mit den Tieren auf dem Hof ist ihm das Glück nicht hold und Minna seine Frau wird krank, serbelt langsam weg in den Tod. Sebastian, sein jüngerer Bruder humpelt durch ein missratenes Leben. Kaum Licht auf dem eingeschneiten Hof, keine Spuren im Schnee vor dem Haus, nur ein dünner Rauch aus dem Kamin.

Manfred und Seb waren als Kinder wie Zwillinge. Aber als sie erwachsen wurden, trieben Entscheidungen Keile zwischen das Bruderpaar. Manfred hatte sich als älterer Bruder als Nachfolger auf dem Hof gesehen. Und eigentlich auch Minna, die junge Frau als seine Braut. Seb und Manfred verstanden sich beide gut mit Minna. Und wenn die Eltern damals entschieden hätte, wie Manfred erwartet hatte, wäre die ganze Katastrophe nicht passiert. Das Leid, das damals seinen Anfang nahm und auch nicht endete, als Manfred sich ins Ausland absetzte.

Manfred kehrt zurück, er der Versehrte in eine versehrte Landschaft, zugedeckt mit einer kalten Schicht unschuldigem Weiss. Er mietet sich im einzigen Gasthof ein. Der Wirt kennt ihn, erzählt in Brocken, wovon Manfred ahnt. Er streift durch die Landschaft, erinnert sich an seine Kindheit, die Verbundenheit mit seinem Bruder, den ersten Zwist, die Mutter, die in den stillen Zeiten um Weihnachten und Neujahr ein Summen hörte, die durchs Haus zog und mit Kräuterrauch die Geister aus den Mauern vertrieb. Er erinnert sich an Minna, seine einzige wirklich Liebe, die er durch seinen Zorn und seine Rache verlor, die sich damals für den Bruder entschied, gegen die Liebe, weil Manfreds Zorn auch sie vertrieb.

«Raunächte» ist eine atmosphärisch dichte, ungeheuer empathisch geschriebene Erzählung. 80 gewichtige Seiten, in den Urs Faes beweist, warum ihm Suhrkamp die Ehre erweist, nach «Paris. Eine Liebe» ein zweites Mal eine Erzählung in der edlen Insel-Bücherei-Reihe herauszugeben. Seine Sätze klingen. Es ist, als ob es schneien würde, während man liest. Urs Faes Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.
Bruder bleibt man immer, genau wie Sohn, Tochter, Schwester, Mutter oder Vater. Aus Familie steigt man nicht einfach aus. Man wird auch nicht entlassen. Urs Faes stellt jene Fragen, denen sich alle stellen müssen, irgendwann. Wo gehört man hin? Wo hätte man hingehört? Gibt es eine Rückkehr? Kann man Hass tilgen?

Dass auch die Künstlerin Nanne Meyer mit ihren Zeichnungen die genau gleichen Fragen stellen kann, dass sie es schafft, das Gewicht der 80 Seiten zu verdoppeln, erstaunt und freut mich gleichermassen. «Raunächte» ist ein Geschenk! Eine Offenbarung.

Mein Interview mit Urs Faes:

Ich bin von „Raunächte“ tief beeindruckt. Weil die Geschichte eines Heimkehrers stark erzählt ist. Weil die Zeichnungen von Nanne Meyer ihre Erzählung kongenial verstärken, alles andere als ergänzen. Weil ich das Büchlein nach der Lektüre an mein Herz drücke und nicht zulassen werde, dass es so einfach ins Regal geschoben wird. Weil ich es allen schenken möchte, denen Literatur und mehrfach gute Bücher wie mir am Herzen liegen! Wie kamen die Künstlerin Nanne Meyer und der Schriftsteller Urs Faes für dieses Buch zusammen?
Ich stiess vor ein paar Jahren in einer Zürcher Galerie auf Zeichnungen von Nanne Meyer, die durch grosse Eigenständigkeit, einen leisen Humor und einen sicher gekonnten Strich auffallen. Ich lernte sie dann in Berlin kennen. Das führte zu einem intensiven Austausch und auch zu einer Zusammenarbeit, zuerst im Band «Paris. Eine Liebe»; auch das Umschlagbild von «Halt auf Verlangen» ist von ihr und jetzt wieder die Zeichnungen zu «Raunächte».

Jene wichtigen Fragen des Lebens stellen Sie in Ihrer Erzählung ganz offensiv. Es geht um Schuld, um zerstörte Familienbande, um Liebe. Themen, die leicht der Schwere wegen in Schieflache geraten können, die das Erzählen dickflüssig und zäh machen können. Ihnen gelingt eine erstaunliche Leichtigkeit. Ist das die Qualität steigender Lebenserfahrung, dass man sich nicht in übersteigerter Emotionalität verliert?
Das Alter mag zur Gelassenheit beitragen, in meinem Falle hat sicher auch die Krankheit zusätzlich dazu beigetragen, gelassen und behutsam, mit einem Unterton von ironischer Distanz zu erzählen. Ich war zudem immer der Ansicht, dass,  in Sprache gebannt, die Schwere des In-der Welt-Seins leicht werden kann, dass ein knappes genaues Schreiben mit offenen Nischen, Emotionen allenfalls entstehen lassen kann, ohne dass sie sprachlich ausgebreitet werden müssen. 

Auch wenn die Hügel in „Ihrem“ Schwarzwald tief verschneit sind und man mit den Schuhen bis zu den Knien im Schnee versinkt. Auch wenn lange Spaziergänge, Wanderungen auf der Suche nach einer verlorenen Vergangenheit wegen der Kälte nicht ungefährlich sein können, schaffen sie es, Wärme zu erzeugen, erzeugen Sie erstaunliche Nähe, ohne voyeuristisch oder nur annähernd in sentimental zu werden. Es muss wohl so gewesen sein, dass sie einen Winter im Schwarzwald verbrachten.
«Ich habe die letzten Jahre viel im Schwarzwald verbracht, besonders aber im Herbst und Winter 17, auch als Rückzug aus einer dumpf kalten Oeffentlichkeitsdebatte. So war ich unterwegs im Schwarzwald zwischen Mummelsee und Kinzigtal. Aber auch in den Vogesen zwischen dem Odilienberg und dem Steintal, lernte Nebel, Dunkelbolde und Tobel kennen, aber auch den Wind in den dunklen Tannen, Licht- und Sonnenfäden, die überraschend einfallen.»

Manfred wandert und wandelt durch eine Landschaft, aber auch durch die Zeit. Eine Landschaft, der die Geschichte Namen gab; Stollengrund, Schorfen, Flackwald, Mühlstein… Ihnen haben es Flurnamen ganz offensichtlich angetan, weil jeder Name eine Geschichte erzählt. Wo lag der Anfang dieser Geschichte?
Die Namen tragen nicht nur Geschichten mit sich, sie haben auch einen Klang, eine leise Poesie. So liegt denn auch der Anfang dieser Erzählung draussen, in Nebel und Bäumen, das bezeugt eine Tagebuch-Notiz vom Dezember 16: Ich war mit jener Lucie unterwegs, der das Buch auch gewidmet ist, in den Sonnenuntergang, diesem Lichtgeflimmer zwischen Stämmen und Zweigen, in die Dämmerung hinein. Und langsam krochen die Nebel aus dem Tal herauf, die Nacht, setzte das Knarzen im Holz, das Sirren in den Zweigen ein. Da war auch der Ruf eines Käuzchens zu hören. Jetzt beginnen die Raunächte, sagte sie, erzählte, führte mich in unzähligen Gängen ins Hamersbachtal und zum Vogt auf Mühlstein, zur Berglekapelle und zur Teufelskanzlei, in Wälder, Sagen und Mythen, wo Kobolde sich lösten, aber auch Silben und Worte, die ins Erzählen führten.

„Raunächte“ ist eine Familiengeschichte. Darüber, dass man ihr auch durch Flucht nicht entrinnen kann. Darüber, dass irgendwann die Spiesse drehen, dass Zorn, Wut und Rache zurückschlagen, irgendwann zwingen, einen Versuch der Ordnung zu wagen, auch wenn nur noch Trümmer stehen. Steckt irgendwo in Ihrer Erzählung eine Hoffnung? Oder gar eine Mission? Eine Angst?
Es gehört zu unseren Bestimmungen in eine Familie hineingeboren und durch sie auch in seinem Gang und Verhalten bestimmt zu werden. Das sind Erfahrungen, die sich erzählerisch immer wieder melden. Botschaften hat der Erzähler nicht, eine Mission, ausser der des Erzählens, schon gar nicht. Sein Schreiben ist allenfalls, wie es Johannes Bobrowski einmal sagte, ein Benennen auf Hoffnung hin. Das entspricht vielleicht dem Licht, das dem Gehenden zwischen den dunklen Tannen immer wieder unvermittelt aufscheint, in die Lichtungen fällt, die Ebenen erhellt, dem, was im Klang der Sprache sich lösen kann, in einem Rhythmus, der über den Satz hinauszuklingen, nachzuhallen vermag.

Meinen Dank an Urs Faes!

© Sikle Keil

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Nanne Meyer, 1953 in Hamburg geboren, Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1994 – 2016 Professorin an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, lebt in Berlin.

Webseite des Autors

Webseite der Künstlerin Nanne Meyer

literaturblatt.ch dankt Nanne Meyer und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis, die Bilder der Künstlerin einzubetten.

Simone Regina Adams «Flugfedern», Klöpfer & Meyer

Der zwanzigjährige Thibaut wird auf dem Nachhauseweg von einem Sommerfest Zeuge einer Vergewaltigung. Es gelingt ihm zwar, den Peiniger in die Flucht zu schlagen, nicht aber die Frau rechtzeitig vor der Katastrophe zu schützen. Er nimmt sie mit nach Hause zu Mème, seiner aus Frankreich stammenden Grossmutter, die ihm die ganze Familie ist. Thibaut tut alles, um der mehrfach verwundeten Sophie ein Nest zu geben, verliebt sich in die junge Frau und droht an dieser Liebe zu zerbrechen.

Das Nashornvogelweibchen reisst sich in seiner Bruthöhle die Flugfedern aus, um ihr Nest auszupolstern. Flugfedern, die sie in der Brutzeit nicht braucht, weil das Männchen unermüdlich Futter und Wasser bringt, bis die Jungen flügge sind.

Während die junge Frau in seinem Bett schläft und er auf der Couch, seine Grossmutter ihr und ihnen alle Zeit lässt, in der Hoffnung, dass ihrem Enkel das gegeben wird, was ihr einst genommen wurde, wächst Nähe. Thibaut erfährt Bruchstückhaftes aus Sophies Leben. Er glaubt, dass aus den kleinen Zeichen der Zuneigung Liebe wird, dass sich Wunden schliessen können, dass Sophie im Nest bleibt, das Thibaut mit seinen Flugfedern ausstaffiert.

Aber Sophie lässt sich nicht halten, ist wie eine Katze, die sich nicht streicheln und nicht einschliessen lässt. Thibaut erfährt und erlebt, dass Sophie alles verloren hat; ein Zuhause, das Vertrauen, Liebe und die Gewissheit, dass es Alternativen gibt. Nicht erst mit dem schweren Mann auf ihr am Waldrand.

Aber auch Thibaut selbst ist einer, der Haken schlägt, nicht zuhause bei seiner Grossmutter, die ihm alles bedeutet, aber in Schule und Ausbildung. Er beginnt mit Sophie zu hoffen und ich als Leser mit ihm, dass ihm gelingt, was sich unabwendbar der Hoffnung entgegenstellt. Sophie klettert immer wieder an die Ränder ihres Nests – und fällt, von ihren Flugfedern beraubt. 

Sophie verschwindet, Thibaut hofft. In jenem Moment, in dem Sophie erstmals in das feste Gefüge zwischen Grossmutter und Enkel, zwischen Mème und Thibaut, diese Schicksalsgemeinschaft eingreifen will, scheitert sie, wird zurechtgewiesen, was sie nicht erträgt und fliehen lässt.

Bis Jahre später, Thibaut ist inzwischen verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Psychologe in einer Klinik, ein Brief eintrifft und Sophie ihn um ein Wiedersehen bittet. Er, der sich nach dem Verschwinden Sophies mit Mühe ein neues Nest schuf, ein Nest, in dem sich alles ineinander zu fügen schien, wird durch ein paar Zeilen und eine Bitte aus dem Gleichgewicht geworfen, an den Rand seines Nests gedrängt. Er macht sich auf den Weg im Wissen darum, dass er Gefahr läuft, auch sich selbst zu verlieren.

„Flugfedern“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das standhaft auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch, Trivialität und einem Übermass an Abgründen bleibt. Es erzählt von den kleinen Gesten, die mit Grösse geschildert werden. Von dürstendem Leben und nagenden Zweifeln. Ein Buch, das ich schon für die Tiefe einzelner Sätze liebe, dass Fragen stellt, die letztlich nie zu beantworten sind. Kindliche Fragen nach dem Warum und Woher. „Flugfedern“ überzeugt, weil das Gefüge zwischen Thibaut, seiner Grossmutter Mème, seiner Frau Helene und der grossen, abgetauchten Liebe Sophie nie plakativ, nie grell, nie durchsichtig, aber immer durchscheinend, geheimnisvoll und behutsam erzählt bleibt. Kann man sich ein Bild eines Lebens, seines Lebens machen? Wo beginnt Unglück, wo das Glück? Ist das Leben ein unsichtbarer Faden, dem man folgt, ohne es zu wissen?

„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist eine Entscheidung.“

Mein Interview mit Simone Regina Adams:

Selbst wenn man jemanden liebt, selbst dann, wenn man lange Zeit mit dieser Person verbringt, deckt sich das, was passiert nur selten mit dem, was man will. Nichts ist so unvorhersehbar wie Beziehung, erst recht Liebe. Wir fühlen uns nahe, bleiben aber trotzdem ein Leben lang, eine Liebe lang aussen vor. Das gilt für Mème, die Grossmutter ihres Protagonisten ebenso wie für ihren Enkel Thibaut, seine Frau Helene und Thibauts erste grosse Liebe Sophie. Ist „Flugfedern“ ein Buch über ungestillte Sehnsucht?
Ja, es ist auch die Geschichte ungestillter Sehnsucht, die natürlich vor allem Thibaut ein Leben lang antreibt, wie Sie ganz richtig bemerken. Es geht aber auch um das Bild, das wir uns vom anderen machen – und darum, was Max Frisch in seinen Tagebüchern so wunderbar formuliert hat, nämlich dass wir «gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ An anderer Stelle schreibt er: «Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.“ So ergeht es auch Thibaut, er wird mit Sophie nicht fertig, weil er sie gerne begreifen würde und es nicht kann. Das Bild, das er sich von ihr macht, ist nie hinreichend. 

So gross die Gefühle, so gross die Liebe, so gross die Angst eine solche wieder zu verlieren. Thibaut leidet schon als Kind unter „verlorener Liebe“, daran, dass ihn die Mutter doppelt zurückliess, dass er mit seiner Grossmutter aufwuchs und zusammenlebte, die mehr als ein halbes Leben unter einer verlorenen Liebe litt. Er leidet mit der verwundeten Sophie und später an sich selbst, weil er ahnt, dass sogar seine Familie auf dem Spiel steht. Ist Liebe nur dann Liebe, solange man leidet oder zumindest das Leiden fürchtet – Leidenschaft?
Ein Leitthema der Novelle ist auch die Frage „Was ist Liebe?“. Thibauts Freund und Kollege Walther beantwortet diese Frage ja einmal sehr schlicht: „Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“ Das klingt nun wenig romantisch oder leidenschaftlich, ich denke aber, er meint, dass zur Liebe die bewusste Hinwendung zum anderen gehört, die Bereitschaft, wie Frisch sagt, auf die immer neuen Verwandlungen des anderen einzugehen, sich auf «das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der Mensch ja immerhin ist“, einzulassen. Während es in der Leidenschaft wohl oft darum geht, die eigene Leere, den eigenen Mangel zu füllen. Vielleicht ist das auch bei Thibaut so, der schon als Kind einen großen Mangel und große Sehnsucht erlebt hat – aber das mag ich gar nicht deuten, ich bin ja nicht seine Therapeutin, sondern hier nur Autorin. Jedenfalls führt die Liebe bei ihm zu einer geradezu fatalen Opferbereitschaft, mit der er Sophie in ihrem gemeinsamen Nest zu halten versucht, das ihr jedoch bald zu eng wird.

Sie schildern die Geschehnisse aus der Sicht eines Mannes und doch nicht in der Ich-Perspektive. Die Position des Mannes, der nicht wirklich an das Wesen seiner grossen Liebe herankommt, der an ihr zu scheitern droht, die ein Mysterium bleibt. Diese Erzählposition scheint viel wichtiger, als das, was mit Sophie, dem „Gegenüber“ geschah und geschieht. Sie arbeiteten viele Jahre als Psychotherapeutin. Wie weit kann man erklären? Wie weit soll man erklären?
Es stimmt, es geht tatsächlich nur vordergründig um Sophies dramatische Geschichte und um ihre Vergewaltigung. Dieses Geschehen rückt im Verlauf der Geschichte in den Hintergrund, die Tat wird nie aufgeklärt. Es war mir wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich nicht alles im Leben auflöst und klärt. Als Therapeutin habe ich natürlich einen anderen Ansatz, Therapie soll Hilfe bieten, Heilung ermöglichen, doch als Autorin interessieren mich vor allem Fragen, nicht die Antworten. Da denke ich an Milan Kundera, der gesagt hat: „Grundlage eines Romans ist eine Fragestellung, nicht eine Feststellung.“ Diese Geschichte stellt viele Fragen: Kann ein Mensch den anderen retten? Und wenn Thibaut es versucht, tut er es für Sophie? Aus Liebe? Oder um seinem eigenen Leben ein Ziel, einen Sinn zu geben? Und wie lebt ein Paar, das auf die harmlose Partyfrage „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ nicht ebenso harmlos antworten kann? 

Der weibliche Nashornvogel rupft sich selbst die Flugfedern zur Nestpolsterung aus. Er braucht diese während der Brut nicht, weil das Männchen unermüdlich Nahrung bringt. Erziehung im Elternhaus oder in der Schule bedeutet oft, dass Flugfedern ausgerissen werden. Der Mensch scheint nicht geschaffen, um sich zurückzunehmen. Wo sind die Grenzen zwischen Verstümmelung und Selbstbegrenzung?
Dieses Bild des Nashornvogel-Weibchens ist ja eines, das Thibaut gewählt hat, es ist eine Metapher, die für ihn bedeutsam ist, die für Sophie aber schon bald nicht mehr stimmt. Sophie hat Gewalt erlitten, sie ist aber auch eine Frau, die Thibaut durch ihr Verhalten und ihre Affären immer wieder verletzt. Eigentlich begrenzen sich beide gegenseitig. Wie sehr das klassische Familienmodell, das diese Metapher ja auch beschreibt – der Mann ist für das Einkommen und die Frau für die Brutpflege zuständig – wie sehr das heute noch gelebt wird, mögen andere beurteilen. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich selbst innerhalb einer Beziehung sehr begrenzen, und wenn sie dann alleine leben, werden die gleichen Frauen unerwartet selbständig und bekommen, wie Sophie, „Flugfedern“. Sie kann ihr Leben erst in die Hand nehmen, als Thibaut aufhört, für sie zu sorgen, als er sich endgültig von ihr trennt. Da endet auch ihre Selbstbegrenzung. 

Thibaut ist nicht unbedingt ein männlicher Archetyp, weder in der Literatur noch in der „Realität“. Wie weit zeichnen Sie hier ein Idealbild an Geduld, Rücksicht, Zartheit und Verantwortungsgefühl? Das männliche Gehabe in Politik und Gesellschaft scheint sich kaum an diesen Tugenden zu messen. Liegt da Sehnsucht?
Natürlich sind das Werte, nach denen wir uns gerade in der heutigen Zeit zu Recht sehnen. Aber es ist eben auch ein Ideal, Thibaut hat nicht nur von Sophie, sondern auch von sich selbst ein Bild erschaffen, das Bild des engagierten Therapeuten, des Helfers, und er spürt, dass er sich selbst mit der Zeit darin verloren hat. Deshalb ist Walther in seiner herzlichen Ruppigkeit so wichtig für ihn, und deshalb geht es ihm bei der erneuten Begegnung mit Sophie auch um eine Begegnung mit sich selbst. Er ist, als er Sophie zum ersten Mal begegnet, ja noch furchtbar jung. Deshalb heißt es gegen Ende der Novelle:
«Er sah ihn so deutlich vor sich, diesen jungen Mann, der er damals gewesen war, und für den Sophie die Welt bedeutet hatte. Im Halbschlaf sah er ihn durchs Zimmer gehen, war versucht, ihn an der Schulter zu fassen, um ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, bevor er verschwand.»

© Margrit Müller

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Jacob Stickelberger «Mein fast grosser Grossvater», Zytglogge

Emanuel Stickelberger gehörte vor dem zweiten Weltkrieg zu den grossen Namen der Schweizer Literatur. Heute ist sein Name verblasst und seine Bücher warten selbst in Antiquariaten vergeblich auf neue Leser. Sein Enkel Jacob Stickelberger, Berner Troubadour zusammen mit Mani Matter, erinnert sich in «Mein fast grosser Grossvater» an einen Mann, der mit seinen Romanen Bestseller schrieb, dessen Name nach dem Krieg schnell verblasste, nie aber in der Erinnerung seines Enkels und der meinigen.

Es gab eine Zeit, in der ich ausschliesslich Schweizer Literatur las. In dieser Zeit gehörten Antiquariate zu meinen Jagdgründen. In St. Gallen das Antiquariat Ribaux. Dort drückte mir Louis Ribaux jeweils einen Schlüssel in die Hand für die Räume ums Eck im Obergeschoss, jene Regale, die im Laden am Unteren Graben keinen Platz hatten. Dort war mein Revier. Dort fanden jene Namen zu mir, die man heute noch in meiner Bibliothek findet; Ruth Blum, Felix Moeschlin, Kurt Guggenheim, Elisabeth Gerber… und Emanuel Stickelberger, der mit den Romanen «Zwingli», «Der Reiter auf dem fahlen Pferd» und anderen gross angelegte Werke schrieb, die sich aber immer in der Vergangenheit ansiedelten, mit Geschichte und Krieg zu tun hatten, etwas, wofür man nach dem letzten Weltkrieg keine Leselust mehr aufbringen wollte. Ich trug meinen Bücherpacken mit nach unten in den Laden, bezahlte weniger als zusammengezählt und las hungrig das, was in den Buchhandlungen längst als vergriffen galt.

Emanuel Stickelberger starb 1962 in St. Gallen. Am gleichen Ort und im gleichen Jahr wie ich geboren wurde. Das allein und die Tatsache, dass ich Emanuel Stickelbergers Romane vor fast vier Jahrzehnten verschlungen hatte, wären schon genug der Gründe «Mein fast grosser Grossvater» zu lesen. Auch wenn «Roman» auf dem Umschlag zu lesen ist, ist Jacob Stickelbergers Buch ein Erinnerungsbuch. Ein Erinnerungsbuch an eine längst vergessene Zeit, wenn auch nur zwei Generationen von der unseren entfernt. Ein Erinnerungsbuch an einen Mann, der nie am Ort seiner Träume ankam, der Industrieller war, in seiner Seele aber Dichter. An eine Zeit, als Patriarchen die Geschicke einer Familie bestimmten, an eine grossbürgerliche Familie, in der Herkunft und Stellung in der Gesellschaft alles bedeuteten. An einen Mann, dessen Welt die Bibliothek im ersten Stock war, ein bisschen über der Erde, ein bisschen über den Untiefen des Alltags.

So wie Emanuel Stickelberger damals aus der Zeit fiel, so klingt manchmal auch der Erzählton von «Mein fast grosser Grossvater»; ein bisschen aus der Zeit gefallen. Jacob Stickelberger erzählt aber mit soviel Liebe von seinem Grossvater, der im Alter im «Schlössli» in Uttwil am Bodensee residierte, dass man die sprachlichen Eigenheiten des Buches gerne in Kauf nimmt. «Mein fast grosser Grossvater» ist über grosse Strecken etwas steif erzählt und mit Sicherheit keine literarische Perle. Aber umso mehr ein Zeugnis, eine Liebeserklärung an einen Mann mit Prinzipien, der den Onkel Jacob Stickelbergers, einen der Söhne Emanuel Stickelbergers, wegen einer «falschen» Heirat für Jahre ins Exil treiben konnte.
Es tut sich eine Tür in die Vergangenheit auf. Jacob Stickelberger verherrlicht nicht. «Mein fast grosser Grossvater» ist kein Denkmal, aber ein aufschlussreiches Erinnerungsbuch mit Textbildern.

Das «Hechhuis» in Wolfenschiessen, noch immer im Besitz der Familie Stickelberger

Emanuel Stickelberger, 1884 geboren, 1962 in St. Gallen gestorben, Sohn eines Bankdirektors wurde 1900 Angestellter der Gesellschaft für Chemische Industrie. 1909 gründete er in Basel und Haltingen eigene chemische Werke. Ab 1926 widmete sich Stickelberger ganz der Schriftstellerei. Seit 1932 war er Vorsitzender und seit 1944 Ehrenpräsident des von ihm mitbegründeten Deutsch-schweizerischen Pen-Clubs, seit 1937 auch Ehrenmitglied des Internationalen PEN-Clubs. Er lebte ab 1948 in Uttwil am Bodensee und in Wolfenschiessen im Kanton Nidwalden. Er verfasste in der Tradition der schweizerischen Realisten vorwiegend historische Romane und Erzählungen, daneben auch dramatische und lyrische Werke sowie historische Sachbücher.

Mein kleines Interview:

Emanuel Stickelberger ging es als Mann der Sprache, als Dichter nicht anders wie vielen, die nach dem Krieg ihre Stimme verloren. Aber Emanuel Stickelberger hat das Glück, einen schreibenden und singenden Enkel zu haben, der ihm ein „Erinnerungsbuch“ widmet. Wann haben Sie die Bücher Ihres Grossvaters gelesen? Gibt es eines, das Sie über die anderen stellen und wie liest man die Stimme des Grossvaters?
Ich habe längst nicht alle Bücher von Opapa gelesen – offen gestanden wirklich gelesen habe ich fast nur das Buch mit dem Titel: „Der Reiter auf dem fahlen Pferd“. Enorm spannend!

Es scheint, als wäre ihr Grossvater gar nie wirklich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angekommen, in der Zeit, in der man ihn als Schriftsteller mehr und mehr zu vergessen schien. Er war über sechzig, als der grosse Krieg zu Ende ging. Er schrieb gemessen an seiner Zeit zwischen den Kriegen viel, viel weniger. War ihr Grossvater enttäuscht vom Leser, vom Literaturbetrieb?Nein, er war einfach alt geworden. Recht eitel, wie er halt immer war, war’s ihm zumindest recht, dass er nach dem grossen Krieg wenigstens noch beachtet wurde, und dass ein Bewunderer von ihm (Wolfgang Adrian Martin) nach dem Krieg sein monatelanger Gast war und in mühseliger Arbeit eine erschöpfende Bibliographie über Opapas Schaffen zusammenstellte. Die gibt es, aber ich finde sie bei mir einfach nicht mehr.

Sie begegnen Ihrem Grossvater durchaus kritisch als Familienpatriarch, der es in seiner Zeit nicht unüblich, schafft, einen „Ungeratenen“ ins Exil zu schicken und als Sohn zu verleugnen. Hat das Schreiben Ihres Buches und Ihr eigenes Alter die Sicht auf ihren Grossvater verändert?
Überhaupt nicht. Ich als mittlerweile nun ebenfalls erwachsen Gewordener habe Opapa lediglich ergänzend auch aus dieser neuen Sicht nochmals charakterisiert. Der zweite Sohn Dietegen war übrigens nicht ungeraten; er hat sich nur erlaubt, eine Frau mit dem Namen Krummenacher zu heiraten und deshalb eine Familie mit ihr in Spanien zu gründen. Dietegen wurde nicht, sondern er hat sich mit seiner Frau selber ins Exil nach Spanien geschickt.

Ihr Grossvater wurde von Ihnen als Kind „Opapa“ genannt. Etwas, was nach der Lektüre Ihres Buches durchaus zu einem «Oh Papa“ werden könnte. Als Ihr Grossvater starb, waren Sie Student und 21. Sie schreiben, Sie hätten damals «die Mitteilung entgegengenommen – und fertig“. Klingt das Bedauern durch die Zeilen?
Das vorangestellte O steht schlicht nur für das dem „Vater“ vorangestellte Wort „Gross“, was „Grossvater“ ergibt. Ferner: Opapa ist als alter Mann gestorben. Das ist normal. Eigentlich gibt es für einen Erwachsenen, der ich mittlerweile weiss Gott geworden bin, keinen Grund, eine solche Tatsache zu bedauern. Das nur, wenn ich mich in meine Kindheit bzw. ins kindliche Gefühl zurückversetze. – So eben mein Buch. 

In meinem Regal stehen sechs Romane Ihres Grossvaters und einer ihres Vaters Rudolf („Narren Gottes“). Wo stehen bei Ihnen die Bücher Ihres Grossvaters und was geschieht, wenn Sie sie in Brockenhäusern sehen?
Opapas Bücher stehen bei mir ungeordnet und vereinzelt noch herum. Wenn ich sie im Brockhaus sehen sollte: Tempora mutantur. Das ist der Lauf der Zeit. Ich beschreib‘s ja so in meinem Buch.

Jacob Stickelberger, geboren 1940, Rechtsanwalt, Chansonnier und Berner Troubadour. Nach Mani Matters Tod führten Stickelbeger und Fritz Widmer das noch gemeinsam mit Matter geschaffene Programm auf, die «Kriminalgschicht».
Ab 2002 wieder Auftritte mit den Troubadours, danach solo. Lebt in Zollikon bei Zürich.

Webseite des Chansoniers und Troubadours

Thommie Bayer «Das innere Ausland», Piper

Andreas Vollmann hat sich in seinem Rentnerleben in seinem Haus in Südfrankreich eingerichtet. Aber der Tod seiner Schwester, mit der er das Haus teilte und das unvermittelte Auftauchen einer jungen Frau, die behauptet, die Tochter seiner Schwester zu sein, bringen das Leben des ehemaligen Bahnschaffners gehörig durcheinander.

Man installiert sich in einem Leben, das auf den Grundmauern der eigenen Lebensgeschichte, all ihrer Beziehungen, von Familie, Partnerschaften basiert. Man installiert sich so sehr, dass kleinste Veränderungen zu tiefen Rissen führen können. Erst recht dann, wenn ganze Teile des Fundaments wegbrechen, weil sich die Vergangenheit nicht als die entpuppt, von der man immer glaubte, sie zu kennen. Man will Menschen und ihre Geschichte kennen, füllt Leerstellen mit Ahnungen auf, die zu Tatsachen werden und muss allzu leicht feststellen, dass man sich an Auslassungen, Verschwiegenem und Lügen orientierte.

Andreas Vollmann glaubt nach einem Grossteil seines Lebens zusammen mit seiner Schwester Nina, diese zu kennen. Mehr als andere, weil sie früh zu Waisen wurden, das Schicksal sie zusammenschweisste. Nina die Macherin, die Stütze in seinem Leben. Andreas Vollmann glaubt auch sich zu kennen, sein an Routine und Gewohnheiten gebundenes Leben. Er liest keine Zeitung, kümmert sich nicht um das, was um ihn geschieht, spricht nicht einmal die Sprache, in der man der Nachbarschaft begegnen könnte. Obwohl er weiss, dass sein Leben nicht so einfach weiterzuführen ist, trinkt er weiterhin seinen Kaffee, wischt den Platz vor dem Haus und legt Briefe und Rechnungen zum Haufen ungeöffneter Post.

Bis Malin auftaucht, eine junge Frau, elegant gekleidet, mit einem grossen Koffer und noch grösserer Entschlossenheit. Sie sei die Tochter seiner verstorbenen Schwester. Andreas Vollmann trägt den Koffer ins Haus. Malin folgt ihm. So schnell Andreas Vollmann klar ist, dass die junge Frau kein zufälliger Besuch ist, so schnell nistet sich Malin im Haus ihrer Mutter ein. Eine Tatsache, der sich der Onkel schnell ergibt, zumal ihm die junge Frau sympathisch ist und er das Zusammensein mit Malin schnell zu geniessen versteht. Aber Malin trägt eine Geschichte mit sich, die Tochter seiner Schwester eine Vergangenheit, die Andreas Vollmann nur schwer mit dem zusammenbringt, was ihm bisher Wahrheit war. Eingeschlossen in ein Leben ohne Perspektive tut sich plötzlich nicht nur Vergangenheit auf, sondern Zukunft.

„Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, dass ich fremd bin. Ob in Deutschland oder sonst wo, ich gehöre nicht dazu. Ich war immer woanders, in einer Art innerem Ausland.“

Thommie Bayer erzählt Geschichten, die sich für Protagonisten und Lesende erst allmählich zusammenfügen. Er erzählt von der Kluft zwischen jenen Geschichten, die man sich selbst zusammenreimt und jenen, die das Leben schreibt. Er schreibt von einem in die Jahre gekommenen Mann, den das Leben mit einer unbekannten Nichte noch einmal aufrüttelt, dem sich mit einem Mal doch noch die Chance bietet, an dem teilzunehmen, was an ihm vorbeigegangen schien.

Und Thommie Bayer tut dies witzig und gekonnt. Ein Schriftsteller, dem man die Songwriter-, Liedermachervergangenheit anmerkt, denn da wird auf engstem Raum ein Kleinkosmos beschrieben. Ein Schriftsteller, der weiss, wie Dialoge funktionieren, der verdichtet erzählt, in manchen „Einstellungen“ so nah, dass ich nicht nur sehe, sondern rieche.

Unbedingt lesen! Perfekte Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang und Liebe fürs Detail!

Ein kleines Interview mit Thommie Bayer:

Andreas Vollmann ist ein Archetyp, der in Zukunft immer häufiger anzutreffen ist; Jemand, dem es in seinem Leben nicht gelingen wollte, sich in Menschen und Beziehungen zu verankern. Jemand, der beim Tod der einzigen Bezugsperson droht, in Einsamkeit und Isolation zu versinken. Jemand, der sich irgendwann nur noch um sich selbst kümmert, der ganze „Rest“ ihn nichts mehr anzugehen scheint. Wohin, wenn nur noch Karriere (so wie bei seiner Nichte Malin) und der eigene Frieden (so wie scheinbar bei Andreas Vollmann) zählt?
Wir haben hier bei uns die Familie so lange denunziert und dekonstruiert, dass wir sie nicht mehr als Wert ansehen, sondern als etwas Zerstörerisches. In Südeuropa und den USA ist das noch nicht so – die amerikanische Literatur macht einen regelrechten Kult um die Familie, in italienischen Geschichten ist sie eine Selbstverständlichkeit – aber der Weg dorthin scheint auch dort schon zügig beschritten zu werden. Die Folge ist Vereinzelung, Freiheit, Individualität. Und wenn Individualität und Nachdenklichkeit zusammenkommen, dann folgt daraus ein Bewusstsein des Andersseins, des Nicht-dazu-passens, des Außenseitertums. Der eine wird diesen existenziellen Schrecken mit einer Ersatzfamilie zu kompensieren versuchen, sich anpassen an Kollegen, Freunde, Vereinsbrüder, der andere mag sein Leben lang nach einem Zweierbündnis suchen, der romantischen Liebe, einer unverbrüchlichen Freundschaft, und selbst wenn ihm das gelingt, wird er eines Tages – im Alter oder schon früher – mit dem Verlust dieses einzigen Menschen konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen sein.  Mir scheint, dass heute schon viele alte Menschen so leben. Und vielleicht auch zunehmend jüngere.

Die Bühne Ihres Romans ist klein, ein Weiler irgendwo in Südfrankreich. Das Personal schmal, ein Pensionist, seine Nichte, ein paar kleine Nebenrollen wie die Putzfrau, der Hund des Nachbarn, der immer dann kläfft, wenn sich mehr als die Blätter bewegen und die Katze. Trotzdem machen Sie im Geschehen die Welt auf. Es sind die grossen Themen eines Lebens: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Wo liegt der Sinn? Wo lag der Initialgedanke zu diesem Roman?
Die Anfangsideen für meine Bücher sind oft simpel und oft nur formal. Ich erinnere mich, dass ich diesmal eine Geschwisterliebe mit einer „abwesenden Hauptfigur“ schreiben wollte. Dass es ein Familienroman ohne Familie werden würde, merkte ich dann bald, dieses Thema brachte sich selbst ein. So geht es oft beim Schreiben. Das Wichtige wächst einfach dazu.

„Not schweisst zusammen.“ Das galt für Nina und Andreas, als sie kleine Kinder waren und zuerst die Mutter durch einen Unfall, später den Vater durch eine Krankheit verloren. Das galt für Nina und Andreas später, weil Nina ihren Lebensmut zwischenzeitlich verlor und die Konstanz ihres Bruders brauchte und für Andreas als Pensionist, weil ihm mit der fehlenden Aufgabe fast alles genommen wurde, was er hatte. Das gilt für Malin, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit Antworten braucht. Diese Redewendung scheint nicht nur im kleinen zu gelten, sondern bis in die Politik. Sie halten sich in Ihrem Roman an die guten Seiten des „Zusammengeschweisstseins“.
Ich halte mich wohl immer an die guten Seiten, das ist meine Art zu schreiben, meine Utopie wenn man so will. Freundlichkeit, Guter Wille, Respekt und Empathie existieren im Prinzip ungeachtet all der Psychopathen, Egomanen, Fanatiker und Menschenbenutzer, das will ich nie vergessen und nie geringschätzen.

Sie haben mehr als zwei Dutzend Bücher verfasst, ein Dutzend Tonträger mit Musik und sie malen. Es gibt viele Schriftsteller, die sich in mehreren Disziplinen ausdrücken, aber nur ganz wenige, die so vielseitig sind wie sie. Friedrich Dürrenmatt schrieb und malte, Silvio Blatter schreibt und malt. Erica Pedretti ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin Objektkünstlerin und Malerin. Wie vertragen sich die Disziplinen nebeneinander? Streiten sich die Disziplinen?
Sie gehen sich eher aus dem Weg. Meine Malerei ist ungegenständlich, erzählt oder schildert oder symbolisiert nichts, sie existiert einfach für sich selbst und spricht Gefühl und Verstand an ohne entschlüsselt oder verstanden werden zu wollen. Beim instrumentalen Teil der Musik ist es ähnlich, nur die Texte der Lieder sind verwandt mit dem Schreiben von Romanen. Aber sie sind auch durch ihre knappe, lyrische Form so weit entfernt davon, die Art ihrer Entstehung ist so anders, dass auch hier nichts einander ins Gehege kommt. Das einzige, was sie alle drei gemeinsam haben, ist die Kraft, die ich dafür brauche und mein Wesen, das sich in allen drei Formen manifestiert.

Eine der grossen Qualitäten Ihres Romans ist die Nähe. Nicht nur die Nähe zu den Protagonisten, die Nähe zum Ort, dem Haus, bis hinein ins Badezimmer. Es ist die Nähe, mit der Sie mit sprachlicher und erzählerischer Linse herangehen, wie nahe sie fokussieren. Wer Lieder schreibt, die etwas erzählen, wer malt und etwas zeigen möchte, muss die Dinge auf den Punkt bringen. Was sind die Eckpfeiler Ihres Schreibens?
Was die Form betrifft, denke ich, es sind Genauigkeit, Lakonie, Musikalität und Lesbarkeit. Die Themen sind wohl allesamt romantisch. Die Liebe, das Individuum, die Kunst, die Einsamkeit, die Sinnlichkeit und die Freiheit.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Seltene Affären».

Rezension «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Hanna Sukare «Schwedenreiter», Otto Müller Verlag

In der Schule lernen wir, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 endete. Was für ein Irrtum! Paul Schwedenreiter ist Brückenmeister, prüft Risse und statische Veränderungen in Brücken. Was sich seiner Kontrolle entzieht, sind die Auswirkungen einer Chronik, die über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs Wehrmachtsdeserteure und ihre Helferinnen zur Landplage erklären, geschrieben vom angeblichen Retter des Dorfes, einem ehemaligen SS-Mann.

Paul besitzt eine Haus in Hinterstumpf im Salzburgischen Innergebirge. Das Haus seiner Grossmutter, bei der er nach dem Tod seiner Mutter, die er nur von Bildern kennt, aufgewachsen ist. Sein Grossvater wurde an der Front als Wehrmachtssoldat verwundet und weigerte sich, sich nach einem Urlaub wieder zurückzumelden. Er versteckte sich mit anderen in den Bergen, was zu Folge hatte, dass in einer militärischen Aktion viele dieser Deserteure in den Bergen geschnappt, gefoltert und getötet wurden, genauso jene, denen man vorwarf, die Deserteure mit Lebensmitteln und anderem unterstützt zu haben. Seine Grossmutter Rosa wurde verschleppt, in eine Konzentrationslager unweit von Berlin deportiert und nach dem Krieg als Gebrandmarkte zurück in ihr Dorf gelassen, für Jahre ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, von Almosen abhängig, während die ehemaligen Nazigrössen nach dem Krieg amnestiert wieder in ihre Ämter und Funktionen zurückkehrten.

Paul lebt immer wieder für Tage im Haus seiner verstorbenen Grossmutter, auch wenn er seinen Wohnsitz längst in der Hauptstadt hat. Aber seit dem Tod seiner Frau Meret ist er ein Dortiger überall, kein Hiesiger in Stumpf, jenem Ort, in dem er die ersten achtzehn Jahre seiner Lebens bei seinen Grosseltern verbrachte und kein Hiesiger in Wien, wo er Meret verloren hatte. Und nun raubt ihm eine Chronik, die die Ortsgeschichte dokumentieren sollte, das letzte Gefühl von Verankerung, setzt durch Aussagen einer ehemaligen Nazigrösse, die es nach dem Krieg geschafft hatte, wie Phönix aus der Asche zu steigen, die Jahre des Krieges und die Geschehnisse im Ort in ein Licht zu drehen, dass der Wahrheit nicht entspricht, den Anstrengungen der kollektiven Verdrängung aber Genüge tut.

Seine Grossmutter wurde alt, ohne je eine Entschuldigung von offizieller Seite zu erhalten und Felician, sein Grossvater desertierte und überlebte die Nazizeit und schämte sich dafür ein Leben lang. «Geschämt fürs Desertieren, geschämt für Überleben, geschämt fürs AufderWeltSein.» Paul schreibt ein Totenbuch als Gegenbuch zur Dorfchronik, ein Buch, dass all jenen gedenken soll, die zwischen die Mühlen einer Geschichte kamen, die sich nach dem Krieg nicht um Aufarbeitung scherte, sondern der es darum ging, möglichst schnell den Schrecken vergessen zu machen. Im Laufe Pauls Recherchen, die ihn immer weiter wegzutragen drohen, gerät er jenem Mann, den er nur «den Gebirgsjäger» nennt, so nahe, wie er gar nicht will und droht jene zu verlieren, denen er sich eigentlich nahe fühlt. «Der Gebirgsjäger», Lehrer, Jäger und Soldat, kriegsversehrt zurückgekehrt, um wieder Lehrer und Jäger zu sein, mit blütenweisser Weste.

Mit der Stimme Pauls gerät Hanna Sukare in unmittelbare Nähe vertuschter Kriegsverbrechen, auch solcher, die erst nach dem Krieg in der jungen Österreichischen Republik stattgefunden haben, unter dem Deckmantel der Versöhnung, erneut Verbrechen an der Wahrheit. Eine Nähe, die schmerzt, selbst mich als Leser. Der Schmerz von Paul, der unauslöschlich bleibt angesichts des Leids, dem jene Deserteure und ihre Unterstützer, die für ihre Form des Widerstands teuer bezahlten, ein Leben lang zu tragen hatten, ganz im Gegensatz zu jenen, die Verursacher und Täter waren.

Was zur Chronik wird, wird zur unreflektierten Wahrheit, stösst in Abgründe, was damit zu vergessen droht. Chroniken werden zu Gedenksteinen in Papier, bleischwer und triefender Wahrhaftigkeit.

Die Lektüre von «Schwedenreiter» hat mich tief bewegt, auch wenn sich das Buch manchmal wie ein Sachbuch liest. Aber vielleicht ist genau dieses Stilmittel nötig, um sich vom scheinbaren Nachkriegsfrieden zu distanzieren. «Schwedenreiter» ist ein wichtiges Buch, ein Buch das wachrüttelt und exemplarisch zeigt, wie Geschichte mit Wahrheit umgeht.

5 Fragen an Hanna Sukare:

In der Schule lernt man, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 zu Ende war. Ihr Buch macht sich daran, mit vielen Irrtümern aufzuräumen. Auch mit dem, dass ein Krieg einfach zu Ende ist. So wie die Bewegung, als die sich der Nationalsozialismus bezeichnete, für jeden sichtbar, noch lange nicht an seinem Ende ist. Ist ihr Buch ein Buch gegen die Angst?

«Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden», schrieb 1952 Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Alle Tage. Leider gewinnen Bachmanns Worte nicht nur in Österreich an Aktualität.

Paul Schwedenreiter, die Hauptfigur des Romans, beginnt seine Suche, weil er die Vorgänge in seinem Heimatdorf nicht länger hinnehmen kann. Er will verstehen, will Gerechtigkeit. Im Laufe der Suche kommt Schwedenreiter der Verzweiflung nahe und der Angst. Sein mulmiges Gefühl verstärkt sich, als er begreift, dass die schlampige Entnazifizierung nicht nur sein Dorf betrifft, sondern zur Kinderstube der zweiten österreichischen Republik gehört.

Beim Schreiben stand die Frage der Angst nicht im Vordergrund. Gleichwohl lässt sich aus dem Text lesen, dass Angst lebenserhaltender sein kann als Heldenmut.

Sie beschreiben ein Dorf, dass sich selbst eine Chronik schenkt und unter vielen Kapiteln auch die Zeit während des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Dabei kommen ausgerechnet jene zu Wort, die damals für viel Schrecken verantwortlich waren und es in den Nachkriegsjahren vortrefflich verstanden, sich durch „Kameradschaft“ und pro-forma-Entnazifizierung eine weisse Weste zurückzukaufen. Was war zu Beginn ihres Buches; der Schmerz über ein Land, dass sich nur zögerlich seiner Vergangenheit stellt oder die tatsächliche Geschichte?

2016 bat mich die Salzburger Literaturzeitschrift Salz um einen Beitrag zu ihrem Heft «Geschichte erzählen». Ich hatte kurz zuvor ein Interview mit dem Sohn eines der Wehrmachtsdeserteure aus dem Innergebirge gelesen. Aufgrund seines Berichts schrieb ich den kurzen Text «Zwischen zwei Sätzen.» (Salz. Zeitschrift für Literatur Jahrgang 41/III, Heft 163, März 2016).

Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Text der Kern meines neuen Romans werden würde. Ich lernte dann Nachkommen der Deserteure kennen. Ihre Vorfahren sind im Innergebirge nach wie vor übel beleumdet, und dort erfüllen manche Orten weiterhin den Wunsch des Naziregimes, dessen Gegnern einen Grabstein bzw. einen Gedenkstein zu verweigern. Diese Haltung des Kollektivs belastet oder entzweit bis heute die Familien, aus denen die Deserteure kamen.

Selbst nach der Rehabilitierung aller von der NS-Militärjustiz Verfolgten – und dazu zählen die Deserteure – durch ein österreichisches Bundesgesetz im Jahr 2009, blieb im Innergebirge alles beim Alten.

Paul Schwedenreiter, sagt an einer Stelle: „Ich warte nicht länger. Ich bin der Enkel eines Deserteurs. Ich ertrage nicht, wie diese Ortschronik fort und fort den Ruf meines Großvaters und meiner Urgroßmutter schädigt.“

Sie schaffen die Balance zwischen Nähe und Distanz in ganz besonderer Weise. Zum einen erzählen sie die Geschichte jenes Mannes, der zwischen dem Schmerz um den Tod seiner Frau und dem seiner erlöschenden Vergangenheit pendelt, zum andern tauchen sie ein in Recherchearbeit, die aufzeigt, wie vernebelnd, irreführend und entmutigend diese sein kann. Was passierte mit ihnen während des Schreibens?

Paul Schwedenreiter erzählt in verschiedenen Situationen, wie es ihm während der Recherchen ergangen ist. Seine diesbezüglichen Erfahrungen sind mir nicht fremd.

Im Verlaufe der Lektüre stieg immer mehr die Lust, das Gelesene an Fakten anzubinden, ist das Vertuschen und Beschönigen von Fakten und Geschichte ja ein wesentlicher Bestandteil ihres Romans, der hart an der Grenze zum Sachbuch schrammt. Ich suchte im Internet und fand die Geschichte um den Gedenkstein zur Erinnerung an die Goldegger Deserteure. Zu offensichtlich scheinen die Parallelen zu ihrem Roman. Warum die Fiktionalisierung?

Für mich stellte sich während des Schreibens eher die Frage, warum nicht der gesamte Text fiktionalisiert sein kann. Im «Schwedenreiter» prallen Fiktion und Realität aufeinander.

Den zunächst Gebirgsjäger und später bei seinem Namen Genannten, hochrangiger SS-Mann und einstiger Adjutant des Salzburger Gauleiters, habe ich nicht erfunden. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus Akten und Dokumenten, die in Archiven öffentlich zugänglich sind.

Die erfundene Figur Schwedenreiter untersucht die Laufbahn des Gebirgsjägers, als wäre der ein Stück Holz, dessen Alter und Herkunft Schwedenreiter bestimmen wollte. Dies hat zwei Gründe. Zum einen lässt die Gemeinde Stumpf diesen Gebirgsjäger in ihrer Chronik als Gewährsmann gegen die Deserteure des Ortes auftreten. Er verbreitet in der Chronik Halbwahrheiten und Gerüchte, denen Schwedenreiter nur durch größtmögliche Dokumententreue und Genauigkeit entgegentreten zu können glaubt.

Ebenso gewichtig ist Schwedenreiters Weigerung, sich einen SS-Mann innerlich nahe kommen zu lassen. Schwedenreiter schützt sich mit den Dokumenten, er will von den persönlichen Mängeln und Vorzügen des Gebirgsjägers nichts wissen. In einem Moment bricht diese Distanz. Da verbietet sich Schwedenreiter sofort das Fortspinnen seines Gedankens. Schwedenreiter verweigert dem Gebirgsjäger bewusst die Beseelung, von der Thomas Mann meinte, sie müsse dem Dichter alles bedeuten. Was ist Beseelung? Die subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit, sagt Mann.

Dieser bewusste Verzicht auf Beseelung war ein Experiment, das ich nicht wiederholen werde. Es verursacht eine seelische Verkühlung, als hantiere man mit einem Leichnam.

Die Frage der Namensnennung beschäftigt Schwedenreiter von Beginn an. Er sagt: „Die Ortschronik ist ein Pranger. Würde mein Bericht die Namen nennen, errichtete ich einen Gegenpranger. Namen werde ich nur dort nennen, wo sich mein Bericht von Pinz, Stumpf und Hinterstumpf entfernt.“ Spät erst findet Schwedenreiter den Grund, warum er den Namen des Gebirgsjägers nennen kann.

Den Namen des Ortes zu nennen, der den SS-Mann zu dem Gewährsmann gegen die Deserteure macht, erscheint Schwedenreiter nicht notwendig. Er nennt den Ort der Handlung Stumpf. Was sich dort ereignet hat, könnte ebenso in einem anderen österreichischen Dorf geschehen sein.

Jene Gemeinde des Salzburger Innergebirges, in der sich ähnliche Ereignisse zugetragen haben, wird sich in meinem Roman womöglich gespiegelt sehen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Der «Schwedenreiter» gibt dieser Gemeinde die Chance, ihre Geschichte neu anzuschauen.

Ich war ziemlich erstaunt, als mich der Kulturverein der Gemeinde Goldegg für den 13. September 2018 zur Erstpräsentation des «Schwedenreiters» eingeladen hat. In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: «Die Gemeinde Goldegg wird – unter der Einbeziehung der umfangreichen Recherchen von Hanna Sukare – ihr Ortschronik zu diesem dunklen Kapitel seiner jüngeren Geschichte wissenschaftlich neu bearbeiten lassen.»

Ein erfreuliches Versprechen. Ich werde es ernst nehmen, sobald die überarbeitete Ortschronik vorliegt.

Ihr Buch kratzt an offenen Wunden. Durch persönliche Bindungen zu Südkärnten weiss ich, wie lange und hartnäckig Jahrzehnte alte Verwundungen auf allen möglichen und unmöglichen Seiten weiterleben und motten, wieviel Zorn, Ablehnung, Hass und Widerstand sie noch immer mobilisieren können. Auch in der Schweiz wehrt man sich trotz Bergier-Bericht für eine Schweiz, die sich während des Zweiten Weltkriegs angeblich nobel und neutral verhielt. Schon in ihrem ersten Roman „Staubzunge“ nahmen sie sich einem Stück dunkler Geschichte an. Woran glauben Sie?

Die Gnade des Glaubens ist mir nicht gegeben, ich bin auf Erfahrungswissen angwiesen.

Ich hatte das Privileg, zu Friedenszeiten in westlichen Demokratien aufzuwachsen. Aus solch privilegiertem Leben entstand die Erfahrung, Worte können Stummes, Dunkles, Bedrückendes, Trennendes erlösen, Worte können Hass nicht nur säen, sondern auch überwinden. Wer in einer Diktatur aufwächst, macht vermutlich die gegenteilige Erfahrung und sagt sich: Schweigen ist Gold.

Und schließlich leuchtet nach wie vor «der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen», wie Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht «Alle Tage» 1952 schrieb.

Vielen Dank!

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden.  Hanna Sukare gewann mit ihrem Debütroman «Staubzunge» den Rauriser Literaturpreis 2016 (Bilder im Interview) für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache.

Rezension von «Staubzunge» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

Leander Steinkopf «Stadt der Feen und Wünsche», Hanser Berlin

Leander Steinkopf erzählt von einem Mann und seiner Stadt. Von einem, der die Hast gegen Langsamkeit getauscht hat, sich selbst einen Gescheiterten nennt. Von einem Mann in Berlin. Er flaniert durch die Stadt, saugt sie in sich ein. Für einmal ein Stadtneurotiker, der nicht zerbricht, nicht leidet, sich nicht quält. Einer, der offenen Auges durch die Metropole geht, der Eile entgegen, sich nie aufdrängt und so den Blick für das Feine, Unscheinbare behält, den Blick den es braucht, um ihn in einer lärmenden Stadt nicht einfach über Oberflächlichkeiten schweifen zu lassen.

«Stadt der Feen und Wünsche» ist eine Liebesgeschichte. Eine Erzählung über die Liebe zu einer Stadt, zu Berlin, einem Kosmos von Möglichkeiten, auch jener, ob man sich von ihr einnehmen lässt oder ihr begegnet, wie er den Frauen begegnet; irgendwie schüchtern, nie aufdringlich, nie entblössend.
Er ging nach Berlin und es ging ihm in der Stadt der Plan abhanden, der Plan, mit dem er sich einst in die Stadt aufmachte. Nicht als Tourist, denn Touristen entstellen eine Stadt. Sie shoppen ein paar Tage dort, wo andere zu leben versuchen. Er begegnet den Menschen und bleibt doch allein. Menschen begegnen ihm, bleiben mit ihren eigenen Geschichten aber auf Distanz.

«Ich weiss gar nicht, woran ich gescheitert bin, nicht einmal worin. Aber ich merke, dass irgendwas falsch ist mit mir.»

Die Qualitäten der Erzählung liegen nicht nur in ihrer Sprache, der Unmittelbarkeit, dem Sound. Leander Steinkopf überzeugt durch seine Ehrlichkeit, die Direktheit, jegliches Fehlen von Wehleidigkeit und Selbstzerfleischung. Leander Steinkopf weiss, dass die Gefühle des Versagens, des Nicht-wissens-wo-man-hingehört in jeder und jedem steckt.

Ein Mann, der seiner Welt, der Stadt begegnet, den Menschen, den Momenten, ohne ihr und ihnen zu nahe zu treten, schon allein darum, weil er dann die Sehnsucht vermissen würde, käme er zu nahe.

Ein Mann und Berlin, das Einzige, was den Bogen über die Erzählung ausmacht. Denn auf dem Buchumschlag müsste «Erzählungen» stehen. Einer spaziert, wandelt und schlendert durch seine Stadt, die sich Zeit lässt, die seine zu werden. Er begegnet Menschen und Momenten, lässt sie zu Miniaturen werden, Kleinsterzählungen, manchmal nebenbei erzählt, manchmal lärmend inszeniert. Lakonisch, aber mit viel Tiefe erzählt. Keine Nabelschau, auch kein Schürfen nach Gründen, warum er eigentlich allein, eigentlich einsam, trotz der Bewegungen statisch bleibt. Es mischen sich Gedanken ein, die sich um Gesellschaft und Philosophie drehen, Gedanken, die den Protagonisten bewegen, auch in seinen Gängen durch die Stadt, aber niemals dazu, dem «Fort-Schritt» zu genügen.

Leander Steinkopf will erzählen und tut dies meisterhaft! Der Verzicht auf einen grossen Erzählbogen hilft den Miniaturen im Text, ihren Glanz zu entwickeln. So wie dem Protagonisten in seinem Leben das grosse Ganze abhanden gekommen ist, passt das Muster seiner Lebens zum Schnittmuster der Erzählung. Ein Buch, das entschleunigt – ein besonderes Buch! Unbedingt lesenswert!

«Können sie mir die Seele etwas enger machen und das Stück abschneiden, das immer auf dem Boden schleift?»

Ein Interview mit Leander Steinkopf:

„Niemand hat die Absicht, eine Geschichte zu schreiben. Es reicht, ein Leben zu leben und dessen Zerfallsprodukte in Worte endzulagern“, lamentiert ein Mann, der ihrem Protagonisten auf seinen Streifzügen durch Berlin begegnet. Genau das tun sie. Und doch schreiben sie Geschichten. Eine nach der andern, Abschnitt für Abschnitt, manche über eine Seite und mehr, andere bloss ein paar Worte lang. Ihr Protagonist sammelt sie ein, als zöge er ein Netz hinter sich her. Waren zuerst die vielen Geschichten, Beobachtungen, Begegnungen und suchten eine Form, die jetzt auf dem Buchcover „Erzählung“ heisst?

Zwei Dinge waren von Anfang an da: Eine Fülle von Beobachtungen, Gedanken, Geschichtchen in Notizbüchern und ein Grundgefühl, das ich mit der Stadt und einer bestimmten Lebensphase verbinde, nämlich jene haltlose Offenheit, aus der heraus alles möglich scheint, aber nichts gesichert ist. Es ging mir vor allem darum jenes Gefühl einzufangen und beim Leser zu erzeugen. Mein Hauptwerkstoff waren besagte Notizen, dann brauchte ich einen Protagonisten, der die Arbeit macht, die vor allem in Untätigkeit besteht, der offen haltlos, sehnsüchtig unschlüssig durch den Tag geht. Ich suchte also eine Form für ein Gefühl und dachte mir sie sollte kurz sein, eine Erzählung, damit der Leser den Rest des Tages noch etwas von diesem Gefühl hat.

Sie promovierten über den Placeboeffekt. Ihr Protagonist leidet an der Stadt, von der er nicht lassen kann. Das einzige, was ihm zu helfen scheint, sind seine Begegnungen mit Frauen. Aber auch sie sind nicht einfach kleine Liebesgeschichten, auch sie helfen ihm nicht, richten ihn höchstens auf. Er krankt nicht nur an der Stadt, auch an der Gesellschaft und vor allem sich selbst. Da hilft nichts mehr. Ist ihr Protagonist verkümmert? Ein einsamer Leidender?

Eben sagte ich noch, es ginge mir vor allem um ein Gefühl. Worum es mir aber natürlich auch geht, so selbstverständlich und jederzeit, dass ich es manchmal zu erwähnen vergesse, ist die Gegenwart. Ein Stück weit lebt der Protagonist seinen Traum, denn er schätzt die Schwere und die Süße der Sehnsucht und verweigert sich deshalb der Erfüllung. Das macht unglücklich, aber irgendwie will er das auch. In anderer Hinsicht verkörpert er gewisse Leiden der Gegenwart und, wenn man so will, kann man das als Verkümmerung betrachten. Er zweifelt so sehr an sich, dass er die Zuneigung anderer nicht annehmen kann. Sein Empfinden eigener Wertlosigkeit kompensiert er, indem er andere abwertet. Er will nirgends dabei sein, will sich nicht einordnen, weil er sich dann nicht mehr einzigartig fühlte. Es ist eine konzentrierte Form des Narzissmus, der die Menschen der Gegenwart plagt. Man übersetzt Narzissmus gerne mit Selbstverliebtheit also einem Zuviel, aber – und hier spricht vielleicht der promovierte Psychologe – es ist ein Mangel. Man empfindet sich als ungenügend, meint nicht für sich selbst sondern nur für seine Leistungen liebenswert zu sein, glaubt einen grandiosen, undurchdringlichen Schein aufrechterhalten zu müssen, damit niemand das kümmerliche Dahinter entdeckt. Und, ja, das kann auch zum einsamen Leiden führen, weil man sich niemandem so recht öffnen kann. Aber trotzdem, trotz all dieser Macken ist der Protagonist glücklich, denn er hat Menschen, die ihn so nehmen, wie er ist, und in manchen Momenten kann er sich selbst auch so annehmen. In so einem Moment endet auch das Buch.

Es sind lange Spaziergänge. Ein Mann geht durch die Stadt. „Er behütet sein Alleinsein“, schreiben sie. Er wohnt alleine. WGs sind im zuwider. Er wandelt durch die Stadt, trifft die Leserin mit dem Buch (auch so eine aussterbende Rasse), Dostojewski in der Bar, dem biertrinkenden Bettler nach Feierabend in der U-Bahn. Sind sie ein Spaziergänger? Trifft man Sie in der Stadt auf Bänken sitzend, in ein kleines Büchlein schreibend?

Zunächst zum kleinen Büchlein: Ich benutze seit einer Weile das Format B5, Softcover, also es ist eher mittelgroß als klein. Spaziergänge der entdeckerischen Art mache ich kaum noch, was an München liegt, daran, dass ich nun schon drei Jahre hier bin und an anderen Anforderungen meines aktuellen Arbeitens. Gehen und kleine Fluchten ins Grüne sind ja eigentlich für jeden wichtig, nur ich habe in meinem aktuellen Beruf die Möglichkeit mir diese Freiheiten jederzeit zu nehmen. Wenn man im Denken nicht vorankommt, löst Gehen, Ruhe, Ablenkung die Blockade. Gehen ist nur effizient. Ich kann mich stundenlang am Arbeitsplatz mit einer Stelle quälen. Oder ich gehe kurz raus und das meiste ist gelöst. Ich beobachte natürlich noch, nehme sehr viel meiner Umwelt auf, aber ich habe gerade andere Prioritäten bei dem, was ich schreibe. Für meine Zeit in Berlin gilt ihre Vermutung viel mehr – und darauf bezog sie sich ja auch. Da war sogar auch mein Notizbuch kleinformatiger.

Ihr Protagonist heisst sich selbst einen, der gescheitert ist. Ein Enttäuschter, Zurückgezogener, Einsamer mitten in der Millionenmetropole Berlin. Aber statt in Weltschmerz und einer endlosen Nabelschau zu verfallen, scheint sein Blick auf die Welt trotz allem ein heiterer zu bleiben. Ist Heiterkeit ein probates Mittel gegen all den Schwachsinn, der rund um uns sein Unwesen treibt?

Heiterkeit ist ein gutes Wort, denn allzu oft, wenn behauptet wird, man solle die Welt mit Humor nehmen, dann ist Ironie und letztlich Zynismus gemeint. Ich sehe gerade zu viel Ironie, zu wenig Ernsthaftigkeit, kluge Menschen, die ihre Kraft, Arbeit, Hoffnung, Liebe an den nächsten Scherz auf Twitter verschenken, dann menschliche Annäherungen als Abtausch von Frotzeleien, Unterhaltungen als Schlagfertigkeitsschlachten zur Vermeidung echten Gesprächs. Es ist eine Epidemie der Coolness, weil Ernst und Bestimmtheit angreifbar machen, siehe oben: fragiles Selbst. Ein anderes Phänomen unserer Zeit oder eine andere vorherrschende Verhaltensweise ist das ständige Entdecken von Krisen und Katastrophen. Manche scheinen sich ja bedeutsam zu fühlen in diesem permanenten Alarmmodus, Selbstwert daraus zu schöpfen, zum Kämpfen bereit zu sein in diesen gefährlichen Lagen. Aber letztlich glaube ich, dass die heiter Gelassenen die Welt täglich retten, nicht die Krisenprediger mit dem Blaulicht auf dem Kopf. Es ist doch eigentlich ganz nett hier.

In ihrer Erzählung machen sie sich viele Gedanken um den Begriff der Freiheit. „Der Zaun gibt den Schweinen ein Stückchen Wald zum Grunzen und ausserhalb bin ich in die Freiheit gesperrt … Wenn man aber in die Freiheit gezwungen wird, ist da nichts, was wütend macht, ausser das eigene Unvermögen, die Freiheit zu nutzen.“ „Freiheit“ ist ein arg strapazierter Begriff. Aber ausgerechnet in einer Zeit, in der sie so nah wie noch nie ist, ketten wir uns an Manipulationen aller Art. Wo nehmen sie sich ihre Freiheiten?

Sie sind Schweizer und ich habe die naive Vorstellung von Schweizern, dass sie die Freiheit mehr schätzen, besser mit ihr umgehen können, weil sie sie schon länger genießen dürfen, von ihr schon länger gefordert sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Die Deutschen jedenfalls kommen mit der Freiheit nicht klar, sie brauchen die Obrigkeit, den Staat, der ihre Probleme löst. Ein Satz, den hier Politiker häufig sagen, ist: „Die Leute wollen, dass wir ihre konkreten Probleme im Alltag lösen“. Und ich denke mir: „Nein, haut ab! Das ist mein Leben!“ Und da wären wir wieder beim Selbst. Man kann die Probleme des Lebens als Herausforderungen betrachten, denen man sich als starkes Individuum stellt, dabei mal scheitert, mal gewinnt. Oder man kann aus der Freiheit flüchten, die Verantwortung anderen übertragen. Oder man kann an der Tatsache verzweifeln, dass zum freien Leben auch das Scheitern gehört. Freiheit ist eben eine große Herausforderung. Und in Deutschland wird man nun mal nicht zum Leben in Freiheit erzogen, sondern zum Angestelltendasein im Dienste der Exportnation. Ich nehme mir die Freiheit gerade nicht Teil davon zu sein. Ich will mir erlauben der deutschen Tendenz zum Einheitsdenken – In Deutschland findet ja kein Austausch von Argumenten statt, stattdessen kippen Stimmungen unvermittelt – ein paar eigene Gedanken entgegenzusetzen, mich für Vielfalt einsetzen. Ich möchte mit Lust die Freiheit auskosten, die uns der liberale Rechtsstaat schenkt. Die meisten Pflichten, die man um sich sieht, sind ja keine mehr, wenn man sie hinterfragt.

Vielen, herzlichen Dank für das spannende Interview!

Leander Steinkopf, 1985 geboren, studierte in Mannheim, Berlin und Sarajevo, promovierte schließlich über den Placeboeffekt. Er arbeitet als freier Journalist für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», veröffentlicht literarische Essays im «Merkur» und schreibt Komödien für das Theater. Er lebt in München.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Gianna Molinari «Hier ist noch alles möglich», Aufbau

Eine Fabrik, deren Maschinen immer mehr stillstehen. Eine junge Frau, die sich als Nachtwächterin einstellen lässt. Ein Chef, der den Wolf auf dem Firmengelände vermutet. Ein Kantinenkoch mit einem Gewehr auf dem Rücken und Fallgruben auf dem Fabriksgelände, mit denen man hofft, den Wolf zu fangen.

«Hier ist noch alles möglich» – nicht nur Titel von Gianna Molinaris Debütroman, sondern Programm eines ganzen Buches. Die junge Frau, die sich als Nachtwächterin in einer Fabrik in der Verpackungsindustrie einstellen lässt, arbeitete zuvor in einer Bibliothek. Von dort ging sie weg, weil Arbeit nicht aus Sortieren von Büchern bestehen konnte. Aber auch die Nachtwache in der Frühschicht, zusammen mit Clemens, ist bloss Übergang, zeitlich befristet. Alles ist möglich. Die junge Frau erreicht, dass sie ihr Wohnquartier direkt über dem Überwachungsraum mit den Bildschirmen einrichten kann; ein Bett, ein Stuhl. Alles ist möglich. Man glaubt, dass sich ein Wolf an die Essensreste aus der fabrikeigenen Kantine hermacht, dass das wilde Tier damit zu nahe an den Innenbereich des Fabrikgeländes kommt und damit die Sicherheit gefährdet. Alles wartet auf Zeichen des Wolfes, auf die Sichtung des Tieres, lenkt ab von der Tatsache, dass hier eine Fabrik seine Maschinen gänzlich stilllegen wird und Menschen nach und nach ihre Arbeit verlieren. Man hofft auf den Wolf. Man hofft auf eine gute Wende in den Verhandlungen des umtriebigen Chefs. Alles ist möglich. In der Nähe des Fabrikgeländes ist ein Flughafen. Kein grosser, aber ein Tor zur Welt. Und nicht weit vom Fabriksgelände fiel ein Mann vom Himmel, wurde Tage später gefunden, ein Schwarzer, ein Flüchtling, wahrscheinlich aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefallen. Alles ist möglich. Ein Mann ohne Identität, erfroren oder an Sauerstoffmangel gestorben. Alles ist möglich.

«Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.»

Gianna Molinaris eigenwilliger Roman liest sich wie ein Kammerstück, spärlich möbliert, mit wenig Personal. Wenig ist eindeutig, vieles ist mehrdeutig. Die L-förmige Fabrik Metapher für eine Welt im Umbruch. Die Angst vor dem Wolf als Angst vor der Ungewissheit, der Unberechenbarkeit, dem Wilden, den Träumen. Clemens und die junge Frau, die beiden Nachtwächter sitzen in ihrem Überwachungsraum mit all den Bildschirmen wie in einem Cockpit eines Raumschiffs. Man sucht nach dem Feind, dem Fremden, während nicht weit von der Fabrik ein junger Mann vom Himmel fällt, beobachtet von einem Jäger, der seiner Beobachtung aber erst dann traut, nachdem die Zeitung von dem Vorfall berichtet.
Und dann spitzt sich auch noch die Situation in der Fabrik zu, nachdem die junge Nachtwächterin von der übrig gebliebenen Belegschaft mehr als eigenartig gemustert wird, nachdem im Ort, nicht weit von der Fabrik, nach einem Banküberfall, Phantombilder der Polizei auftauchen, die dem Gesicht der jungen Frau ähneln. Alles ist möglich.

Ein Buch, das von skurrilen Ideen und Einfällen lebt. Ein Buch, das inhaltlich und stilistisch aus der Reihe tanzt. Ein Buch mit Wortschöpfungen und Szenen, die ans Theater mehr erinnern als an die Wirklichkeit. Eine irgendwie entmenschte Welt, eine posthumane Welt, nicht dystopisch, aber so als hätte sich die Masse der Menschen bereits «verabschiedet». Ein Buch, das auf erfrischende Art und Weise ratlos macht. Ein Abenteuer!

Ein kleines Interview mit Gianna Molinari:

Die junge Nachtwächterin führt ein Universal-General-Lexikon, in dem sie fortlaufend neue Einträge hineinschreibt oder solche ergänzt. Ein Lexikon, das ihre Welt erklären soll. Ein Tagebuch wäre naheliegend, ein Universal-General-Lexikon so seltsam wie vieles in ihrem Roman. Wie kamen sie auf die Idee?

Ein Lexikon ist ein Instrument, um die Welt in wenigen Worten zu fassen, mittels Sprache die Welt zu definieren. Auch die Ich-Erzählerin versucht ihre Umgebung zu fassen, zu erfassen, zu ordnen. Diesem Ordnungswunsch kann sie im Ergänzen und Weiterführen des Lexikons nachgehen. Auch ist das Lexikon, im Gegensatz zum Tagebuch, das linear verläuft, vielmehr in einer Netzstruktur gebaut. Innerhalb dieses Netzes sind Bezüge und Verweise möglich. Dies entspricht sehr der Welt in diesem Roman. Auch ist der Kontrast der Lexikonsprache zur literarischen Sprache interessant. Die Sprache des Lexikons, die Fakten zusammenführt und keine Vermutungen anstellt im Gegensatz zur literarischen Sprache, die Fragen stellen kann, die Vermutungen äussert, Möglichkeiten aufzeigt, die vor allem auch die Fiktion bedienen kann. Das ist dem Lexikon, so wie wir es kennen, fremd.

Während sich ihre Protagonistin nach Unsicherheit sehnt, wird sie zur Sicherheit in und um die Fabrik eingestellt. Nichts will der Mensch heute mehr als Sicherheit. Vor nichts fürchtet er sich mehr als vor der Unsicherheit. Dem bösen Wolf der Gegenwart. Wo stehen sie?

Mir stellt sich die Frage, wer über das Gefühl von Unsicherheit und Sicherheit entscheidet. Das Gefühl der Unsicherheit wird oft von aussen hergestellt und verinnerlicht sich zu einem Gefühl der Angst. Die Frage stellt sich: Ist der Wolf tatsächlich die Unsicherheit, oder ist er nicht vielmehr derjenige, der uns über unser Gefühl der Unsicherheit nachdenken und uns unser Sicherheitsbedürfnis hinterfragen lässt? Der Wolf an sich ist ja nicht gefährlich. Er wird zu einer Bedrohung gemacht. Der Wunsch nach Sicherheit führt dazu, dass wir Grenzen aufbauen, (Fabrik)Zäune ziehen. Sperren wir damit die Bedrohung aus, oder sperren wir uns selber ein?

Lose, ein Mann, der einst in der Fabrik arbeitete und als Jäger den Mann vom Himmel fallen sah, sammelt in einer Mappe alles über diesen jungen Mann (eine tatsächliche Geschichte, die im Mai 2010 durch die Presse ging). Ein Jäger, der zum Sammler wird! Im Nachwort zum Roman erzählen sie von der Inspiration dieser Geschichte, die vom Schriftsteller Christoph Keller zu einer Radiogeschichte wurde. Da ist eine junge Frau, eine Fabrik, ein Wolf und ein Mann, der vom Himmel fiel. Eine besondere Konstellation für einen Roman. Fügten sich diese Bausteine leicht zusammen?

Die Bausteine zusammenzubringen war zu Beginn nicht einfach. Der Text ist lange gewuchert und dann durch viele Streichungs- und Komprimierungsphasen gegangen. Der Prozess des Verdichtens führt den Text und somit auch die Bauteile zusammen. Die Konstellation mag besonders scheinen, die einzelnen Teile haben für mich aber sehr viel miteinander zu tun. Hier greift wiederum der Netzgedanke. Die Literatur vermag gegensätzlichste Dinge in einen Bezug zueinander zu stellen, vermag sie in einem einzigen Satz nebeneinander zu bringen. Das ist das Schöne an der Literatur, dass sie das kann.

So wie der Wolf eine ganze Fabrik und ihre Belegschaft vom eigentlichen ablenkt, braucht die Gesellschaft Dinge, Geschichten, um vom wirklich Wichtigen abzulenken. Lenken sie ab oder zeigen sie auf?

Ablenken und Aufzeigen sind in diesem Roman keine Gegensatzpaare. Sie gehen Hand in Hand. Einerseits sucht die Ich-Erzählerin in den Geschichten Zuflucht, sie geht ihnen nach und möchte Teil von ihnen sein. Andererseits haben Geschichten auch die Fähigkeit, Dinge sichtbar zu machen, die davor unsichtbar waren, Zusammenhänge herzustellen, aufzuzeigen. So ist es auch beim Wolf: Ich denke nicht, dass der Wolf eine Ablenkung ist. Vielmehr ist er ein Element, das, obwohl er selber fast unsichtbar bleibt, Dinge sichtbar macht und aufzeigt. 

Das Buch ist illustriert. Zeichnungen aus dem Universal-General-Lexikon der jungen Nachtwächterin. Zudem sind in den Roman zwei Fotofolgen eingefügt, ganzseitige Fotos, die nicht erklären, aber wie Kulissen das Leseerlebnis verstärken. War das schwierig, den Verlag für ein solches Experiment zu gewinnen?

Die Skizzen und Fotografien waren von Beginn weg wichtige Bestandteile des Romans. Wie der Text sind auch die Bilder durch einen Lektoratsprozess gelaufen. Im Gespräch mit meiner Lektorin Sarah Iwanowski stellten sich Fragen wie: Wo braucht es Kürzungen, was erzählen die Bilder, wo erzählen sie zu viel oder zu wenig? Der Verlag stand immer hinter dem Verwenden des Bildmaterials.

Ich danke Gianna Molinari für das spannende Interview.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den „Tagen der deutschen Literatur“ 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt „Hier ist noch alles möglich“ mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Buchpremiere: Gianna Molinari liest erstmals in Zürich aus ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» am 28.08.2018, Beginn: 19.00, Sphères, Hardturmstrasse 66, 8005 Zürich. Der Eintritt ist frei!