Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», Gast am Literaare in Thun!

Das 15. Thuner Literaturfestival versucht es noch einmal! Und mit den Organisatorinnen hoffen all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf eine Durchführung, auf BesucherInnen, Menschen, die sich trotz allem von der Literatur verführen lassen – nicht zum Leichtsinn, aber zum literarischen Hochgenuss!

Am Samstag, den 26. September, um 13.30 Uhr im Rathaus Thun: «Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan:

Helene Mazavian kommt in Jerewan, der armenischen Hauptstadt an. Sie soll dort als Buchrestauratorin im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine ganz spezielle Bindetechnik erlernen. Was Helene Mazavian aber wirklich lernt, ist sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Tor zu dieser ist ein Heilevangilar aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aber Gewehr und Buch können ganz nah beieinander sein!

Helene Mazavian ist im Stillen entsetzt, als sie durch die Regale mit den Schätzen des Zentralarchivs geführt wird. Ganz anders wie in Deutschland, wo sie sich ausbilden liess, liegen hier die Bücher nicht in Archivboxen geschützt, sondern offen auf den Regalen. Ihre Chefin, die sie dorthin führt, meint: „Wären die Bücher alle umhüllt oder lägen sie in Schachteln, könnten sie nicht miteinander sprechen, nicht atmen. Eine Schachtel ist wie ein Grab, das Buch vereinsamt und stirbt.“

Katarina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

So manches ist anders, auch wenn Helene armenische Wurzeln hat, eine Vergangenheit, die mit dem blutigen Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Menschen sprechen eine Sprache, die die ihre sein könnte, die sie aber nicht versteht, das Buch, das sie als erstes restaurieren soll, beginnt mit ihr zu kommunizieren, der Mann, der sie vom Flughafen abholte, bringt sie ins Wanken, sie, die sonst alles unter Kontrolle hat.

Schon Helenes Mutter, eine Künstlerin, die sich im Keller ihres Reihenhauses mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte und dabei auch nicht davor zurückschreckte die Puppen und Kuscheltiere ihrer Tochter in das nachempfundene Gemetzel jenes Schreckens einzubauen, liess, was damals geschah, nicht wirklich an sich heran. „Hier sind Löwen“ beschreibt, wie Geschichte, die Konfrontation mit ihr oder die Verweigerung einer solchen sich bis in die kommenden Generationen hineinfressen kann.

Die Buchrestauratorin und Schriftstellerin bei der Arbeit, © Katerina Poladjan

Die Familienbibel, an der sich die Buchrestauratorin versuchen soll, ist und war viel mehr als ein Buch. Ein Schatz, der in einer armenischen Familie von Generation zu Generation mitgetragen wurde. Ein Buch mit Wirkung und Geschichte. Ein Buch voller Zeichen, an die Seitenränder gekritzelt. Ein Buch, das zuerst gesäubert werden musste und zu dem ein Plastikbeutel aus dem Archiv gehört mit Haaren, toten Insekten, einer Theaterkarte, einer Zugfahrkarte von Wladiwostok nach Moskau, zwei Miniaturen, die einmal Seiten im Buch waren, einem Foto, einer Schiffsfahrkarte.

Während Helene sich immer tiefer in Land und Menschen begibt, fesselt sie dieses Buch, das ihr eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von den Geschwistern Anahid und Hrant, die vor mehr als hundert Jahren auf der Flucht vor den Gräueln an ihrem Volk in die Berge flüchteten, ihr Zuhause, ihre Familie zurücklassen mussten, mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen und diesem einen Buch, das sie beschützen sollte. „Hrant will nicht aufwachen“ steht mit ungelenken Buchstaben auf den Rand einer Seite gekritzelt. 

Und als Helenes Mutter Sara sie auffordert, jetzt wo sie doch dort sei, wo die Familie herkomme, jenes Foto, das sie ihr mitgab, als ersten Hinweis zur Suche nach ihrer Herkunft zu nutzen, begibt sich Helene auf eine Reise, die sie in mehrfacher Hinsicht an und über die Grenzen ihres bisherigen Lebens führt.

Mag sein, dass das Buch etwas kühl erzählt ist. Aber genau das macht den Roman zu dem, was ihn auszeichnet. Er spielt nicht mit den Gefühlen der Leserin, des Lesers. Es öffnet sich Seite um Seite einer Geschichte, eines Lebens, eines Dramas. Katerina Poladjan konstruiert gekonnt, verwebt Geschichten, Stimmen. Und so wie eine Buchrestauratorin mit Vorsicht und Umsicht an die Verletzungen eines Buchschatzes geht, so geht Katerina Poladjan an ihren Stoff.

Von 1915 bis 1917 starben unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reichs mehr als eine Million Armenier, ein Völkermord, ein Genozid, den die türkische Regierung bis heute als «kriegsbedingte Sicherheitsmassnahme» bezeichnet und Regierungen und Persönlichkeiten rügt, die Tatsachen beim Namen nennen oder gar Konsequenzen fordern. Katerina Poladjan klagt nicht an, führt nicht vor. Aber «Hier sind Löwen» rückt ein Verbrechen zurück ins Bewusstsein, dem man angesichts der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen zu gerne aus dem Weg geht.

Ein Interview mit Katerina Poladjan

Sie öffnen mir als Leser die Tür zu einem Kapitel düsterer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit aller Behutsamkeit. Und doch fühlte ich mich während der Lektüre gezwungen, mich mehr mit dem Genozid an den Armeniern zu beschäftigen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihren Roman mit unerträglicher Dramatik aufzublasen. Ist das auch ein bisschen ihr Kampf gegen den Zeitgeist?

© Katerina Poladjan

Kampf gegen den Zeitgeist klingt mir zu heroisch, vielleicht ist es eine Don-Quixoterie. Es war wirklich mein Anliegen, von einem der großen Menschheitsverbrechen zu erzählen, ohne dem allgemeinen Drang zur Polarisierung zu erliegen, ohne den Schreckensbildern zu erliegen, die mir oft genug bei der Recherche den Atem nahmen. Die Stille des Gedenkens war mir wichtiger, als laute Schreie der Anklage, Trauer und Wut. Und wenn es mir damit gelungen ist, ein kleines Fenster der Erinnerung zu öffnen, freut mich das sehr.

Das Unglück eines ganzen Volkes, das Unglück einer Liebe, die Helene in der Hauptstadt Armeniens loslassen muss, das Unglück einer Familie – das Glück einer Buchrestauratorin, die Auseinandergefallenes, Verwundetes, Zerrissenes, Verlorenes zurückgewinnen kann. Wie sind sie auf die Idee gekommen?

Einen Roman schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Mit diesem Material beginnt irgendwann ein Puzzlespiel, das sich beim Zusammensetzen ständig verändert und erweitert. Eines führt zum nächsten, anderes passt vielleicht nicht mehr ins Bild, Lücken entstehen und müssen gefüllt werden. Als ich in der Werkstatt des Handschriftenarchivs in Jerewan den Buchrestauratorinnen bei ihrer Arbeit zusehen durfte, war ich tief beeindruckt und fühlte ich mich ein wenig an meine eigene Anstrengung erinnert, erzählbare Geschichten aus der Unendlichkeit von Geschichte herauszuarbeiten. So ist Helene Buchrestauratorin geworden.

Liegt in ihrem Roman die Sehnsucht nach Spuren in die Vergangenheit? Eine Bibel, die die Zeichen über Generationen in und an sich trägt? Die Sehnsucht, dass sich mit dem Tod nicht alles dem Vergessen und Verschwinden auftut?

Ich würde nicht von Sehnsucht sprechen. Das Wesen menschlichen Denkens und Fühlens fusst doch auf der Fähigkeit zur Erinnerung. Wir können ja gar nicht nicht-erinnern, wir können nur leugnen oder vergessen. Erinnerung kann negativ wirken, traumatisch gar, und zum Durst nach Rache und Vergeltung führen. Viel mehr noch ist die Erinnerung eine Säule der Humanität und des Mitgefühls. Und letzteres ist doch Grund genug für die Spurensicherung.

© Katerina Poladjan

Anahid und Hrant sind jung, sehr jung und auf der Flucht. Hrant, der jüngere der beiden wird krank, fiebert und Anahid ist irgendwann gezwungen, ihren Bruder alleine zurückzulassen, eine Situation, die sich im Laufe der Geschichte noch einmal wiederholt. Darin steckt die Urangst eines jeden, verlassen zu werden. Aber braucht es dieses Verlassen-werden nicht, um autonom zu werden?

Um autonom zu werden, muss man selbst verlassen, ein aktiver Vorgang. Wenn einem das Autonom-werden aus der Zwangssituation des Verlassen-werdens gelingt, ist es ein Glück.

Wie viel will und soll man vom „Geheimnis Familie“ aufreissen, wenn man ahnt, dass es eine Wunde sein könnte, die sich niemals schliesst?

Das vermag ich nicht zu sagen. Nietzsche hat einmal den Satz geschrieben: „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“

In Ihrem Roman fragt Helene: „Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?“ Ich stelle die Frage an Sie!

Seit wann gibt es auf rhetorische Fragen eine Antwort? Ach richtig – im Roman lautet sie: „Ein blankgeputztes Gewehr.“

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Festivalprogramm 15. Thuner Literaturfestival 2020

Webseite der Autorin

Illustration © Lea Frei / leafrei.com

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser

Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Schreiben nichts mehr beweisen müssen, weder mit einer Story, die sich in ihrer Mehrschichtigkeit überschlägt, noch in der Dramaturgie, die sich in konstruierter Spannung verheddert und schon gar nicht in Sachen Sprache, Sound und Bildern. Monika Helfer kann es, absolut überzeugend, so leichtfüssig, als wäre Schreiben ganz einfach.

Schon der Titel „Die Bagage“ ist ein Glücksgriff. Bagage ist das Gepäck, das man mit sich herumschleppt, jenes auf Reisen, jenes in seinem Leben. Das Gepäck, das einem zuweilen durch sein Gewicht, seine Last, seine Grösse niederdrückt, bremst, fesselt. Gepäck, das man nicht einfach zurücklassen kann, selbst wenn es das scheinbar Einfachste wäre. Gepäck, das mit seinen Riemen und Schnallen tiefe Schrunden in Haut und Fleisch reisst, Wunden, die nie heilen können, immer schmerzen, nie loslassen.
Bagage ist aber auch ein abschätziger Begriff für eine Randgruppe. Einst waren es die Tschinggen, die italienischen „Gast“-arbeiter, heute sind es Flüchtlinge, Randständige, die, die nicht dazugehören, die das Bild einer harmonischen Gesellschaft, des sozialen Friedens zu stören scheinen.

In Monika Helfers Roman schimpft man aber die Leute ganz hinten im Tal, die Armen, jene, deren Leben nur aus Überlebenskampf, Arbeit, Sorgen und Not besteht „Bagage“. Jene, die von den Auswirkungen des ersten Weltkriegs bis in den Hungertod getrieben werden, obwohl und gerade wegen immer unmenschlicher werdender Mühsal.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie erzählt sie ganz einfach. Schlicht, ohne fabrizierte Dramatik, ohne Verklärung, ehrlich. Die Geschichte strahlt derart viel Authentizität aus, ohne sich dafür verbürgen zu müssen, soviel Nähe zu den Ereignissen vor hundert Jahren, soviel Empathie zu den Personen, dass mich die Lektüre phasenweise fast schmerzt. Es ist eine Geschichte der Ausgrenzung, der alltäglichen menschlichen Gemeinheiten, der Deformationen in Zeiten des Umbruchs, des Niedergangs, des Krieges. Wie ausgerechnet dann, wenn der Staat vom heroischen Mut, von der selbstlosen Aufopferung seiner KämpferInnen spricht, die Menschlichkeit in den Fronten hinter dem Krieg zusammenbrechen kann. Wie die Möglichkeiten der Mächtigen und die Ohnmacht der Armen und Vergessenen ein Vakuum schaffen, in dem weder die Gesetze des Staates noch die der Menschlichkeit eine Rolle spielen.

„Die Bagage“ ist die Geschichte von Maria und Josef. Josef Moosbrugger wird 1914 in den Dienst des deutschen Kaisers einberufen. Der Sieg in diesem Krieg soll sicher und schnell sein. Maria Moosbrugger, die Grossmutter der Erzählerin, bleibt nicht nur mit ihrer Familie, den Kindern, Hof und Haus, sondern mit ihrer Schönheit ungeschützt zurück. Zwar verspricht der Bürgermeister, ein Geschäftsfreund von Josef, dem Soldaten auf seine Frau aufzupassen, aber nur um ihr ungestört und ungeniert Avancen zu machen, zu Beginn mit Geschenken und Charme, dann immer zudringlicher. Die Schönheit Marias, die eigentlich ein Geschenk sein sollte, wird zur Stigmatisierung. Ein ganzes Dorf traut ihr ein lasterhaftes Leben zu, obwohl Maria zuhinterst im Tal in dem kleinen Gehöft alle Hände voll zu tun hat im Kampf ums nackte Überleben ihrer vielköpfigen Familie.

Eines Tages aber klopft ein Mann an die Tür Marias. Ein Mann aus dem Norden, einer der Hochdeutsch spricht, ein Georg aus Hannover. Einer, der es nicht unbeobachtet schafft, an den Tisch der gebeutelten Familie zu gelangen, er ebenfalls in Not, aber mit Galanterie und offenem Herzen. Und als Maria Monate nach einem Fronturlaub ihres Mannes zeigt, dass sie schwanger ist, zerreisst sich ein ganzes Dorf den Mund darüber, wer alles möglicher Verursacher sein könnte. Allen voran der Pfarrer, der sein Gift von der Kanzel spuckt und in einem regelrechten Überfall das Kreuz von der Wand bei Maria reisst.

Als der Krieg vorbei ist, Josef als ein anderer von der Front zurückkehrt, aus dem Blitzkrieg eine infernale Niederlage wurde, ein Kaiserreich sein Ende fand, der Bürgermeister nur noch Büchsenmacher Fink ist, ist Grete da, die Mutter der Erzählerin. Ein ruhiges, braves Kind. So schön wie die Mutter. Josef aber, noch immer in der Seele verwundet, misstrauisch und launisch, misstraut auch dem Kind. Grete sein Kind? Er schaut dem Mädchen kein einziges Mal in die Augen, spricht es nicht an und nennt es in Gegenwart anderer nur „Balg“.

Monika Helfer war irgendwann einmal im Kunsthistorischen Museum in Wien und sah dort die Bauernbilder von Pieter Breugel dem Älteren: Kinder wie Erwachsene, nur kleiner. Die gleichen ernsten Gesichter, nur kleinere. „Die Bagage“ ist eine Stimme, die eine Welt auftut, die Jahrhunderte weit weg scheint. Aber sie wird dann wiederkehren, wenn sich in der Geschichte der Menschheit erneut Abgründe auftun werden.

Ein Roman, ganz leise erzählt, aber mit dröhnendem Widerhall!

Der mit 15 000 CHF dotierte Solothurner Literaturpreis 2020 geht an Monika Helfer: «Ihre Figuren zeichnet ein um keine Konvention bekümmertes Selbstbewusstsein aus, eine Ehrlichkeit der Emotionen und der Haltung», so die Jury, bestehend aus Nicola Steiner (Vorsitz), Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart. «Ihr souveräner Umgang mit Sprache, der alle Stilregister beherrscht, macht Monika Helfers Bücher und Figuren für uns Lesende so einprägsam und nachvollziehbar.»

Interview mit Monika Helfer

Sie verarbeiten, beschreiben viel Persönliches, lassen mich als Leser in Ihre Geschichte schauen. Und auch wenn eine Schriftstellerin alle Freiheiten der Fiktion besitzt, macht es nicht den Anschein, als hätten Sie viel entfremdet. Auch der frühe Tod Ihrer Tochter ist wieder ein Thema. Etwas, was mich als Vater von Kindern berührt. Ist die Monika Helfer vor der Veröffentlichung von „Die Bagage“ eine andere Monika Helfer gewesen? Oder verändern das Schreiben, Stoffe, die so nahe an der eigenen Geschichte sind, nicht sowieso?

Für mich dauert die Wahrheit in meinem Roman maximal zehn Zeilen lang, dann galoppiert die Phantasie in die Geschichte, hält inne bei dem Unglück mit Paula, jedes Mal, ob ich will oder nicht, die Fiktion rettet mich und macht mich mutig.

Ihr Roman ist die Geschichte einer Familie am Rand, wörtlich. Ihr Roman ist aber auch ein Roman über Zeiten des Zusammenbruchs, Umwälzungen. Wie sehr jene, die schwach und angreifbar sind, in Zeiten der Unsicherheit zum Freiwild werden. Wir leben hundert Jahre nach den von Ihnen beschriebenen Geschehnissen wieder in einer Zeit, in der die Welt an vielen Orten aus den Fugen gerät. Und wieder sind es die eh schon Schwachen, die am meisten zu leiden haben, vergessen werden, sich selbst überlassen sind. Schmerzt sie die Erfahrung des Lebens nicht manchmal?

Lebenserfahrung bedeutet Freude und Schmerz, sich zu erinnern ist das Suchen nach Fetzen, die dann zusammengenäht ein Stück Stoff ergeben, der wiederum zum Roman wird.

Ihre Grossmutter Maria, ihre Mutter Grete – Sie und auch ihre Tochter. Ein Frauenbuch. Ihre Grossmutter versinnbildlicht das Leben vieler Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert; ungeschützt der männlichen Willkür ausgeliefert. Mag sein, dass wir es im begonnenen 21. Jahrhundert viel weiter gebracht haben. Aber von Gleichstellung kann noch immer keine Rede sein. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Kampfes um Privilegien. Ist es nur die Lust, eine Geschichte zu erzählen oder schwingt da auch Ihre Art der Kampfansage mit?

Ein Frauenbuch zu schreiben, ist für mich nahe liegend und notwendig, Gleichstellung rückt näher, aber nie will ich den Kampf darum aufgeben.

Was hielt Menschen, Frauen wie Ihre Grossmutter Maria Moosbrugger am Leben? War es einzig die Pflicht als sorgende Mutter. Der Glaube an einen Platz im Himmelreich konnte es unmöglich sein.

Die Sorge, der Stolz, die Kraft, dem Leben zu trotzen, geschehe was wolle, das hielt meine Grossmutter aufrecht.

Sie schreiben und ihr Mann Michael Köhlmeier schreibt. Beide sind Sie gefragte und preisgekrönte Schriftsteller. Wie weit beeinflusst das Schreiben des einen jenes des anderen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier wären nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wohl kaum jene, die sie geworden sind ohne die/den andere(n).

Ich sage immer wieder zu meinen Kindern, wählt einen Partner, der euren Ambitionen nahe steht, ein Glück für mich, mit einem Schriftsteller zusammen zu sein. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne den Einen ist der Andere allein.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, darunter: «Kleine Fürstin» (1995), «Wenn der Bräutigam kommt» (1998), «Bestien im Frühling» (1999), «Mein Mörder» (1999), «Bevor ich schlafen kann» (2010), «Oskar und Lilli» (2011) und «Die Bar im Freien» (2012). Im Hanser Kinderbuch veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann Michael Köhlmeier «Rosie und der Urgroßvater» (2010). Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur und 2020 mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet. Mit dem Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede» (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

Beitragsbild © Isolde Ohlbaum

Franz Hohler «Fahrplanmässiger Aufenthalt», Luchterhand

Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.

Viele Geschichten aus seinem neuesten Erzählband sind auf Lesereisen weit weg und ganz nah entstanden; Sarajevo, Odessa, Kiew genauso wie Hessental, Appenzell und Tübingen. Begegnungen mit Menschen und Orten, Situationen und der Geschichte – und immer mit sich selbst. Franz Hohler ist kein Stänkerer, kein Meckerer, kein Sezierer und schon gar kein Analyst. Er richtet den Blick auf die Welt und beschreibt sie so, wie sie ihn erreicht, wie er ihr gegenübersteht, nach fast achtzig Jahren Leben und einem übergrossen Mass an Wohlwollen und Respekt. Er zeigt, was Weltanschauung bedeuten kann, wenn sie durchsetzt ist von Liebe und Empathie. Und immer, wie für einen Bühnenmann wichtig, voller Einsichten, Witz und tiefgründigem Humor; was das Alter und Altern mit einem macht, wenn einem die Endlichkeit nicht mit Schrecken in die Glieder fährt, sondern mit einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt. Eine Dankbarkeit, die nicht ausgesprochen werden muss, die aber in seinen Geschichten, seinen Erzählungen überdeutlich wird. 

Franz Hohler «Fahrplanmäßiger Aufenthalt», Luchterhand, 2020, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87639-9

Manchmal sind es nur Augenblicke, Momentaufnahmen, ausserplanmässig, wenn ein Zug im Nirgendwo 15 Minuten stehen bleibt und Franz Hohler in der Viertelstunde Suche nach einer heissen Tasse Tee mit dem Schrecken des 20. Jahrhunderts konfrontiert wird. Oder in der Stadt Odessa am Schwarzen Meer im Süden der Ukraine, wo er an einem Literaturfestival eingeladen unweigerlich mit dem Krieg konfrontiert wird, genauso wie am Maidan-Platz in Kiew, oben die Fotos jener, die bei den Unruhen im Winter 2013/2014 umgebracht wurden, darunter Einkaufsmeile mit Hochglanz und Überfluss, Begegnungen in einer zerrissenen Gesellschaft. 

Oder in Kenia, wo einer der Söhne eine Kenianerin heiratete und sich Franz Hohler mit einem Mal in seiner Funktion als Stammesältester bewusst wird und der künftig bei Langstreckenläufen nicht mehr mit derselben Vergeblichkeit auf einen schweizer Triumph hoffen muss.
Es sind bei aller Überraschung, die der Autor noch immer zu erzeugen weiss, wenn es um Pointen und Wendungen geht, noch immer die ganz typischen Hohler-Geschichten. Wer den Autor jemals auf der Bühne, bei einer Lesung, im Radio oder im Fernsehen hörte, wird beim Lesen den Sound seiner Stimme mitschwingen hören und staunen, mit wieviel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit er zu erzählen und zu schildern weiss. Nie verkopft, untermalt mit sanfter Moral, im Licht seiner ganz eigenen Freundlichkeit.

Wenn es Geschichten gibt, mit denen auch Erwachsene einschlafen wollen, dann sind es die Geschichten von Franz Hohler, die unbedingt eine Weile auf dem Nachttischchen liegen müssen!

«Schreiben ist eine Lebensform.»
Interview mit Franz Hohler

Nicht wenige von deinen Geschichten handeln vom Tod. Wenn du von deinem Vater erzählst, der 101 wurde, als er starb und dir im hohen Alter noch das Gefühl überliess, Vollwaise zu sein, ein Gefühl, dass jede(n) beschleicht, wenn Mutter und Vater gegangen sind. Oder bei all den Reisen in Länder, die durch Krieg und Unruhen mit dem Alp von Mord und Misshandlung gepeinigt sind. Ist es im Umgang mit Sterben und Tod immer jene Ruhe und Gelassenheit, die du und dein Schreiben ausstrahlen oder mischt manchmal nicht doch ein bisschen Angst mit?
Selbstverständlich habe ich Angst vor dem Tod, fast mehr vor dem Tod der anderen als meinem eigenen. Den Tod als Begleiter unseres Lebens wahrzunehmen und zu beschreiben, macht wohl gelassener als ihn totzuschweigen. 

Du bist ein grosser Erzähler. Wer dir irgendwann einmal zuhören kann und darf, dem wird diese Sprachreise unvergessen bleiben. Kein Wunder füllen sich Säle, wenn sich Franz Hohler ankündigt. Aber du bist weit mehr als ein Unterhalter, denn in deinen Geschichten mischt auch eine politische Überzeugung, einiges an Moral und ein festes Rückgrat mit. Deine Haltung in der aktuellen Flüchtlingsfrage ist unüberhörbar. Beschleicht dich zuweilen nicht die Resignation?
Doch, täglich. Gestern lagen in meinem Briefkasten 10 Bettelbriefe, in Worten zehn, von lauter Organisationen, die versuchen, unsere Welt zu verbessern. Alle leisten gute Arbeit. Die weltweite Bekämpfung der Armut macht, wenn man den Statistiken der Weltbank trauen darf, Fortschritte, die des Hungers auch, aber es wachsen auch die Rüstungsausgaben, es wächst überhaupt der ganze Problemberg, an dessen Fuss wir uns sehr klein und ohnmächtig vorkommen. Doch als denkende Menschen haben wir gar keine Wahl: Wir müssen uns auf die Seite des Lebens schlagen, täglich. Der Gesang der Amseln und das Lachen der Kinder helfen mir dabei.

Wenn ich mir den Reisenden Franz Hohler vorstelle, dann ist er immer ein Wanderer, ein langsam Reisender, der beobachtet, sinniert und schaut. Wenn du von Odessa, Kiew, Kenia und Moskau erzählst, fällt es mir beinahe schwer, mir einen Franz Hohler vorzustellen, der sich durch ein Gate ins Flugzeug kämpft und nach drei Stunden aus der Druckkabine steigt, in einem anderen Land. Wie sehr schmerzt die Anpassung an den Takt der Zeit?
Das Flugzeug besteige ich nur für die fernen Ziele, und jedesmal bin ich beeindruckt, dass Fliegen möglich ist und dass man derartige Distanzen in so kurzer Zeit zurücklegen kann und freue mich darüber. Allerdings beginnen sich die Länder auch immer mehr zu gleichen, und das schmerzt eigentlich mehr als die leichte Erreichbarkeit. Im «Carrefour» von Abu Dhabi findet man das ganze Sortiment der «Ricola»-Täfeli, in den Warenhäusern von Krasnojarsk wetteifern Hugo Boss und H&M um die Kundschaft, und österreichische Schneekanonen machen die Skipisten befahrbar.

Du veröffentlichst seit 50 Jahren fast ausschliesslich beim Luchterhand Verlag, einem Verlag, der sein Antlitz in diesen fünf Jahrzehnten stark veränderte. Dass ein Schriftsteller einem Verlag über so lange Zeit treu bleibt, ist immer seltener, genauso selten wie Paare, die fünf Jahrzehnte beieinander bleiben. Ist Treue ein Lebensprinzip? Und wie sehr rettet es dich?
Mein Deutschlehrer Ludwig Storz, mit dem ich ein Leben lang befreundet blieb, sagte einmal den schönen Satz: «Ich bin für lange Freundschaften gemacht.» Das gilt auch für mich. Je mehr mein Vorrat an Zukunft schmilzt, desto kostbarer werden die Verbindungen zu Menschen, die über lange Zeit Bestand hatten. 

Mit meinem Verlag bin ich durch etliche Ups and Downs gegangen und habe mich immer fürs Bleiben entschieden, auch wenn heute niemand aus der Crew von 1970 mehr dabei ist. In den letzten Jahren sind dort meine gesammelten Erzählungen («Der Geisterfahrer»), meine gesammelten kurzen Texte («Der Autostopper») und meine gesammelten Gedichte («Sommergelächter») herausgekommen. Das empfinde ich als eine Art Ernte. 

„Ich bin gerne Dichter“, steht ganz am Schluss des Buches. Du scheinst auch nicht den Willen zu bekunden, dich „pensionieren“ zu lassen, wie andere SchriftstellerInnen, die das Schreiben irgendwann einstellen, wie zum Beispiel Philipp Roth, der sich eines Tages „vom Schreiben zurückzog“. Was bedeutet das Schreiben für dich über meine Annahme hinaus, dass es längst Lebensnotwendigkeit in mehrfacher Hinsicht geworden ist?
Schreiben ist eine Lebensform. Ein Chefarzt eines Spitals wird mit 65 pensioniert, auch psychologische Praxen haben eine Altersgrenze. Diese Menschen hatten Freude an ihrer Tätigkeit, und auf einmal dürfen sie sie nicht mehr weiter ausüben, das fällt den wenigsten leicht. Dass ich niemanden zu fragen brauche, ob ich mich noch vor mein Laptop setzen darf, empfinde ich als grosses Privileg, und damit aufhören kann ich, wann ich will. Oder muss.    

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Franz Hohler liest aus «Fahrplanmässiger Aufenthalt»

«Enten» Kurzgeschichte von Franz Hohler 

Webseite des Autors

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp

Bei den einen geschieht es mit vierzig, bei andern mit fünfzig. Den einen reicht ein Auslöser, die andern schubst das Schicksal an den Rand. Dann sind es Fragen: War es das? Hätte es anders werden können? Will ich weitermachen wie bisher? Was zwingt mich? War es das? War es das? War es das?

Markus ist 54, hat sich in seiner Familie, seiner Arbeit eingerichtet, auch mit seinen zwei Kindern. Bis ihn eine neue Angestellte im Betrieb an Olivia erinnert. Jenes Mädchen, das er mit 15 zu lieben begann, das ihn gleichermassen faszinierte wie erschreckte, das sich in der Zeit, als sie zaghafte Küsse tauschten, eher von ihm weg bewegte, als auf ihn zu. Schwarze Fingernägel, zerrissene und mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleider, farbiges, gestärktes und wild geschnittenes Haar und laute Musik, wenn sich Markus zu ausgemachten Zeiten aber nie, wenn die Eltern zuhause waren, sich zu ihr ins Zimmer wagen durfte, zu den krassen Fratzen auf den Langspielplatten und der ebenso krassen Musik, die zur Geistervertreibung gereicht hätte – Punk.

Es war auf dem Heimweg, seine Frau hatte ihn gebeten, noch etwas einzukaufen, mit einem Mal weg von seinen immer gleichen Trampelpfaden, als er vor dem Laden stand. Lipstick, dem Laden, den es schon damals gab, mit allem im Schaufenster, was einem die Eltern verboten hätten, mit Ramones, Sex Pistols und The Clash. Dort inszenierte Markus sein erstes Treffen mit der Neuen in der Klasse, dem Mädchen, das nicht nur anders aussah als alle andern. Olivia wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Neben dem Klingelschild, ein Blümchen, das sie gezeichnet hatte, ein Blümchen, das sich wie alles immer weiter von Olivia entfernte.

Olivia wurde im Ort, in der Schule, in Markus Leben die Verkörperung von Rebellion. Und nicht weniger, als sie, nachdem sie immer wieder einmal nicht zum Unterricht erschienen war, ganz von der Bildfläche verschwand. Kommentarlos. Endgültig. Nie mehr wiederkam. Markus zögerte zu lange, auch deshalb, weil Olivias Verschwinden mit Erleichterung quittiert wurde. Er begann zu studieren, lernte Lisa kennen, fuhr mit ihr auf Weltreise und kehrte mit einer schwangeren Verlobten nach Hause.

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Und jetzt, fast vier Jahrzehnte später, die Kinder in die Ferne ausgeflogen und nur noch am Bildschirm mit von der Partie, im Geschäft dort, wo es wahrscheinlich nicht weitergehen würde, so wie in der Ehe mit Lisa, dem fixen Wochenplan, den immer gleichen Ferien in der Toscana bei Freunden, die keine sind, taucht mit der Neuen in der Firma Olivia wieder auf. Und mit ihr all die Fragen. Die Frage, warum sie damals verschwunden war. Die Frage, warum sein Leben verschwunden war. Der Hauch Pink in Olivias Haaren war auch mit dem Hauch Pink in ihrer Wohnung nicht zu kompensieren.

Es sind die Fragen, die nicht in Ruhe lassen, die sich ungefragt und immer wieder in den Vordergrund drängen, für andere nur in leeren Blicken sichtbar. Markus taumelt, erfindet Antworten und verweigert Fragen. An einem Klassentreffen aber schiebt ihm eine ehemalige Klassenkameradin, nachdem er sich möglichst beiläufig nach Informationen zu Olivia durchgefragt hatte, eine Visitenkarte zu mit dem Versprechen, mehr zu wissen.

Alexandra von Arx versteht es erstaunlich gut, in die Rolle des Verlorenen zu schlüpfen. Ihre Erzählweise orientiert sich nicht am Spektakel, nicht einmal an den Rätseln der erzählten Geschichte, sondern an den inneren Konflikten eines Gestrauchelten. Den Konflikten, die Markus nicht aus der Bahn werfen, aber sein Inneres erschüttern. Wie kann es geschehen, dass man der ist, der man ist? So weit weg von dem, was er einst in der Verkörperung Olivias zum Massstab machte? Warum hat er die Suche aufgegeben? In der Jugend im Innern ein Punk, jetzt durch und durch Versicherer?

Manchmal sind es profane Wiederholungen. Fragen, die wie ein Stakkato hämmern. Auslassungen, die mehr erzählen als das Geschilderte. Alexandra von Arx ist ein eindringlicher Roman gelungen, dem ich es gegönnt hätte, wenn sein Kleid, sein Outfit dem Buch die Ehre erwiesen hätte.

Interview mit Alexandra von Arx

Markus ist im Stillstand angekommen, im genauen Gegenteil dessen, was man mit 15 anstrebt, als Punk oder nicht. Aber selbst die Krise bleibt verhalten, schlägt keine grossen Wellen, zumindest kaum solche, die aussen sichtbar werden. Was hielt sie zurück, ihren Protagonisten nicht noch viel mehr entgleiten zu lassen?
Mich interessieren die Anfänge von Krisen, die kleinen Risse, die sich plötzlich auftun und die sich genauso rasch wieder schliessen können. Ich betone: können. Aus den Rissen können natürlich auch Brüche werden, aber darauf wollte ich den Fokus nicht setzen. Ob und wie stark Markus weiter entgleitet, lasse ich deshalb bewusst offen.

Sie wählten einen männlichen Protagonisten, zehn Jahre älter als sie. Gab das die nötige Distanz, um beim Erzählen die Souveränität zu behalten?
Diese Überlegung hat bei der Wahl des Protagonisten keine Rolle gespielt. Aber es ist sicher so, dass ich ein anderes Leben führe als Markus, insofern war zu viel Nähe nie ein Thema. Ob ich die Geschichte dadurch besser erzählen konnte, weiss ich nicht.

Markus weiss wenig über die Vergangenheit seiner Frau Lisa und Lisa hat er nie etwas erzählt von Olivia. Wahrscheinlich blieb noch viel, viel mehr unerzählt. Und trotzdem sind sie seit drei Jahrzehnten ein Paar, leben noch immer zusammen, wahrscheinlich auch weiterhin, sind Familie, gehören irgendwie zusammen, auch wenn der Urlaub zum ersten Mal getrennt stattfindet. Warum deckt die Gegenwart die Vergangenheit einfach zu, obwohl Markus die Kraft des Vergangenen drängend spürt?
Ich glaube, das hat mit dem Blick zu tun, der sich bei Markus verändert. Als er und Lisa ein Paar wurden, machten sie Zukunftspläne und gründeten eine Familie. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, die Vergangenheit unwichtig. Jetzt sind die Kinder ausgezogen und er schaut auf sein Leben zurück. «War es das?», ist eine Frage, die ihn umtreibt. In dieser Phase nistet sich die Erinnerung an Olivia hartnäckig ein. Dass die Vergangenheit sich so aufdrängt, ist neu für Markus und führt zum Anfang einer Krise oder ist Ausdruck dieser Krise.

Was war die Uridee zu ihrem Roman? Die Initialzündung?
Da war einmal ein Mittfünfziger, der eine pinkfarbene Jacke trug und vor einer Immobilienagentur stand… Ich habe ihn im Rahmen einer Schreibübung ein paar Minuten lang beobachtet und in der Folge als Romanfigur im Kopf weiterentwickelt.

Sie sind Wahlbeobachterin, eine Frau mit grossem politischen Bewusstsein. Und doch spielt sich ihr Roman fast nur im Innenleben eines in die Jahre gekommenen Mannes ab. Das scheinen Gegensätze zu sein. Oder nicht?
Nicht unbedingt. Als Wahlbeobachterin habe ich viel mit Menschen zu tun. Bei Gesprächen achte ich auf Details, auch auf non-verbale Kommunikation. Das Innenleben meiner Gegenüber interessiert mich eigentlich immer, egal, ob ich mit einer jungen Aktivistin über die bevorstehenden Wahlen rede oder auf der Strasse einen Mittfünfziger beobachte.

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand

Drei Frauen und ein Mann, alle im Herbst ihres Lebens, alle von der Geschichte und ihrer Geschichte an einen Ort gedrängt, der nicht jener sein soll, an dem es enden darf. Kerstin Hensels neue Novelle „Regenscheins Farben“ erzählt von der Kunst; der Kunst der Malerei, der Kunst der Selbstbefreiung, der Kunst, das Glück nicht bloss zu suchen, sondern es notfalls beidhändig zu greifen.

„Regenbein Hühnerklein! Regenbein, was soll das sein!“, ruft man der kleinen Karline schon im Mädchenalter in der Schule hinterher, weil sie anders ist, als alle andern. Vielleicht, weil sie schon anders riecht, weil Hanne Regenbein, Karolines Mutter in der Post arbeitet und dort Mehlkleister, Büroleim und Knochenleim herumsteht. Weil Vater Karl Walzenfahrer im Strassenbau ist und Karline neben Mutters Ingredienzien auch jene des Vaters dem Mädchen zum Malen und Zeichnen zur Verfügung stehen: Teer, Bitumen und Flüssigbeton. Karline beginnt bei der Post zu arbeiten, liebt aber nur die Malerei, malt im Verborgenen, erliegt ihrer unbändigen Lust, den Pinsel zu führen, auch wenn man ihr zu verstehen gibt, dass ihre Art des Malens nicht den Sehgewohnheiten der Gegenwart entspricht. 

Sie haust in einer Mansarde, weit oben, auf das Mindeste reduziert. Bis fünf Jahre nach der Wende der Fotograf Rüdiger Habich zur ihr hinaufsteigt mit Fotoapparat und Stativ und in einem letzten, überschäumenden Energieanfall von der unbekannten Künstlerin eine Porträtreihe schiesst, die in der angesagten Galerie Wettengel gefeiert wird. Seine letzte Arbeit, denn abgehängt und frustriert von der digitalen Revolution in der Fotografie packt Habich seine Apparate in den Keller, um sich künftig ganz im Schatten Karlines auszuruhen.

Karline malt weiter, auch wenn ihr Mann Rüdiger immer mehr nur noch ein Schatten seiner selbst, zum Klotz wird, zum eifersüchtigen Hüter ihres kleinen Lebens. Und weil Rüdiger sich selbst noch einmal ins Lebenszentrum seiner malenden Frau rücken will, soll vor seinem absehbaren Ableben noch einmal eine Porträtreihe entstehen, diesmal aber mit seinem Konterfei. Rüdiger stirbt. Karline trägt die Bilder in den Keller, den Mann auf den Friedhof. Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Karline ihre ersten Schritte in echte Freiheit unternimmt, wenn auch zaghaft und nicht ohne Hilfe und der stillen Drohung, selbst aus dem Grab: „Ich weiss, wo du bist.“

Aber Karlines Leben ist mit dem Tod ihres tyrannischen Gatten alles andere als vorbei. Auf dem Friedhof, dessen Grabesruhe immer wieder vom lauten Dröhnen startender Flugzeuge zerrissen wird, lernt sie Lore Müller-Killian, eine gestelzte Industriellenwitwe mit Hang zum Theatralischen, kennen und die 80jährige Kunstprofessorin Zita Schlott. Sie alle hegen und pflegen die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner, jede auf ihre Art, die einen mit Hacke und Erde, die andere mit Kühltasche, Kristallkelch und Piccolo.
Und alle drei schauen sie auf den grossen alten Mann mit Hakennase und tadellosem Auftritt. Auf den Galeristen Wettengel, selbst Witwer geworden, seit Jahrzehnten verzahnt mit den Biographien der drei Frauen.

Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand, 2020, 256 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87601-6

Kerstin Hensel erzählt die Geschichten des illustren Quartetts, wie die drei Frauen um die Gunst von Eduard Wettengel buhlen: Karline in der Hoffnung, endlich jenen Förderer ihrer Kunst zu finden, der sie an der Hand nimmt, raus aus ihrer Isolation, Zita in der Hoffnung, ihren einstigen Musterstudenten zurückzugewinnen und Lore jenen feurigen Verehrer, den sie sich in der leer und öde gewordenen Villa am See wünscht. Kerstin Hensel tut dies, ohne je in Oberflächlichkeiten abzurutschen, stets mit dem Auge der exzellenten Beobachterin und witzigen Erzählerin. Kerstin Hensel beschreibt Beziehungen, enttarnt das feine Geflecht, das sich je nach Wetterlage zu drehen vermag oder gar kippen kann.
Grossartig und gekonnt, ohne je mit einem Satz dem Palaver zu verfallen, überraschend konstruiert und mit einer Leichtigkeit erzählt, die ihresgleichen sucht. Viel mehr als bloss Unterhaltung!

Interview mit Kerstin Hensel:

Wenn Sie beschreiben, wie Karline, die Malerin, den Pinsel führt, dann ist es, als nähmen Sie mich bei der Hand, und liessen mich malen. Ich rieche die Farbe, spüre den Zug. Malen Sie selbst oder ist es tatsächlich möglich, sich durch Imagination so sehr in ein „fremdes Tun“ hineinzuversetzen?
Ich male selbst nicht, habe auch nicht die geringste Begabung dafür. Ich denke, ein Schriftsteller muss in der Lage sein, sich in eine andere (auch ihm fremde) Welt hineinzuversetzen, so dass diese für den Leser sinnlich nachvollziehbar ist. Dazu gehört: Neugierde, Lust, Begeisterung, Erfahrung und natürlich die Beherrschung des Schreib-Handwerkes. Der Rest ist Geheimnis. 

Karline Regenbein ist eine ganz eigenwillige Malerin, die sich nicht um den Mainstream kümmert. Gab es eine Künstlerin, einen Künstler, die oder der ihnen als Inspiration diente?
Das ganze Leben dient mir als «Inspiration». Alle meine Figuren sind gleichermassen erfunden, wie auch der Realität verhaftet. D.h. keine Figur ist «authentisch» oder gar entschlüsselbar, dennoch – hoffe ich – sind sie dem Leser bekannt.

Eigentlich ist ihre Novelle auch ein Wendenovelle, in der zwar Deutschlands Wende nur an den veränderten Lebensumständen der Protagonisten abzulesen ist, die aber grosse Wenden schildert, Wendungen, die überraschen und nie ins Klischierte abrutschen. Das gibt der Novelle seine erstaunliche Leichtigkeit. War da nie die Versuchung, ins Epische abzutauchen?
Auch eine Novelle gehört zur Epik, d.h. es wird erzählt, nur nicht so allumfassend bzw. kleinteilig wie es Romanen vorbehalten ist. Jeder Satz ist bei mir harte Arbeit. Der Leser darf dem Text diese harte Arbeit nur nicht anmerken. (Sie sagen es: Leichtigkeit!) 😉

In einem Gespräch zwischen dem Galeristen Wettengel und der Malerin Karline Regenbein verabschiedet sich dieser mit dem Satz „Bleiben Sie bei sich.“. Ein Satz, den die Malerin nicht verstehen kann. Ein Satz, der doch eigentlich genau das Gegenteil von dem ist, was der Malerin fast die ganze Novelle lang nicht gelingt; der Ausbruch. Ist das eigene Selbst nicht das grösste Gefängnis?
Gute Frage. Das eigene ICH kann sehr wohl ein Gefängnis sein, wenn es sich nur aus sich selbst nährt. Das gilt nicht nur für Künstler. Wenn das ICH an Erfahrungen, Gefühlen, Wissen u.s.w. reich ist, kann es strahlen und viel von sich hermachen. Ist das jedoch nicht der Fall, gerät es zur billigen/tragischen/narzistischen Ego-Show, aus der man schwer herausfindet. Andererseits: wer nicht «bei sich bleiben» kann, Angst vor dem ICH, den eigenen Abgründen und Fähigkeiten hat; wer sich nur dem Zeitgeist und dem Erfolg andient, endet ebenfalls im Leeren (in der Eitelkeit). Die Figur Regenbein reflektiert allerdings nicht auf dieser Ebene, sondern stellt ihre Lebensfragen in ihrer Kunst.

Jede der Geschichten der vier Protagonistinnen wäre Stoff für einen Roman gewesen. Vieles deuten Sie nur an, zeichnen durchscheinend und trotzdem scheint sich das Bild in Cinemascope vor mir zu entfalten. Gibt es Maximen, Regeln, Eigenheiten Ihres Schreibens, denen sie sich strickt unterwerfen?
Der «dichte» Text, d.h. die durch blosse Andeutung entstehenden Bilder (wie im guten Kino, ja!) muss Raum lassen für Fantasie und Assoziation, die jeder Leser mit eigener Erfahrung füllen kann. Allerdings ist auch dieses Mittel eine Frage des Masses, also der Fähigkeit, die Spannung genau auszutarieren.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen «Federspiel» der Band «Das verspielte Papier – über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte» sowie der Lyrikband «Schleuderfigur». Kerstin Hensel lebt in Berlin.

Beitragsbild © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de

Lisa Elsässer «schnee relief», Wolfbach

Warum einen Gedichtband lesen, der den Schnee besingt. Jetzt, wo die Sonne brennt, die Hitze flirrt und Schnee und Eis zur Erinnerung werden. Weil Lisa Elsässer in ihrem neusten Gedichtband den Schnee als Zustand beschreibt, Schnee in seinen Aggregatzuständen. Kein Zustand zwischen Wasser und Eis, so wie die Lyrik kein Zwischending ist zwischen Erzählen und Gesang.

Lisa Elsässer ummantelt sich mit Schnee, steht in ihn hinein, fühlt sich aus Räumen hinaus in den Schnee und vom Schnee hinein in Innenräume. Sie geht durch den Schnee, durch die Landschaft, schreitet durch Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, die sie einnehmen, begleiten, durchdringen. Schnee ist das Weisse, das das Denken zudeckt, vergessen macht, was darunter liegt, was für eine Weile in Starre verborgen bleibt. 

Im Gedicht „schnee von gestern“ beschreibt die Dichterin genau das, eine Vergangenheit, die in einem Gespräch mit einem Gegenüber von der Redewendung zur schmerzhaften Geste, einem wegwischenden Kommentar wird.

3 Gedichte in Fragen eingebettet:

schnee von gestern

es regnete bindfäden
weiss waren nur die häuser
die möwen der rand einer
zeitung und der pappbecher

unsere schuhe schlürften wasser
und durstig waren auch wir
doch es schneite nicht
schnee von gestern sagtest du

meintest den winter vor jahren
jenen regen den windzerfetzten
schirm die weissgetränkte gischt
das gestern voller schnee doch

es schneite nicht

In ihrem Gedicht „schnee von gestern“ offenbart sich mir ein gemeinsamer Spaziergang. Nicht einfach ein Spaziergang, um sich Bewegung zu verschaffen. Da wird nicht viel gesprochen, auch nicht mehr viel verstanden, dafür umso mehr dem nachgehangen, was einzelne Satzfetzen auslösen, so wie das wegwischende „schnee von gestern“, das Vergangenheit zunichte macht. In vielen ihrer Gedichte transformieren sie Zustände, Momente in Bilder, die sich in den Farben des Schnees beschreiben lassen. War der „Schnee“ von Beginn weg das Programm?

Ja, das war Absicht: ich wollte für einmal einen thematisch „engen“ Raum, und darauf warten, was das Wort Schnee mir alles (ausser nur Schnee) hinschneien würde, was sich sprachlich ergeben könnte! Und da war halt plötzlich, wie fast immer beim Gedicht, der „Schwellenzustand“ (Inger Christensen) da, also der Ort, wo sich Äusseres und Inneres sprachlich zu verbinden suchen!

Lisa Elsässer «Schnee Relief», Lyrik, Wolfbach, 2020, 79 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-906929-38-5

In einem Gedicht von Inger Christensen steht „Stehe ich / alleine im schnee / wird klar / dass ich eine uhr bin». Im Schnee wächst scheinbar das Bewusstsein der Vergänglichkeit, zerrinnender Zeit, weniger wie eine tickende Uhr, als das Vergehen und Erwachen in der Natur, diese kosmische, viel umfassendere Uhr. Sind dann diese Schneegedichte, ist dieser Schneezyklus die Hoffnung im Vergänglichen? Ein Versuch, die vom Menschen eingerichtete Zeit aufzureissen?

Die Vergänglichkeit wird schon in einigen Gedichten thematisiert, aber meines Erachtens nicht als Hoffnung, sondern als klare oder schmerzliche Wahrnehmung dessen, was uns allen passiert! Die Zeit ist ja bloss die unschuldige Zuschauerin dieses Welkens … die lass ich gerne „unzerrissen“!

mitläufer

nur kurz die schönheit
rostgefärbte bäume
mein schatten läuft
vor mir stummer
Begleiter überm boden
hartes weiss

hände fallen mir ein
von gleichem kalt
beschattet unerlöst
auf starrem grund
erfroren das berührte
einst im schnee erstickt

Der Schatten als Mitläufer. Ihre Gedichte sind Bilder mit intensiven Farben und starker Textur. Wovon lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen?

Das Schreiben bedingt, zumindest bei mir, grosse Konzentration und Fokussierung auf das, was ich als Wesentliches erachte: Sprache, Sprache und nochmals Sprache! Ablenkungen sind unerwünscht! Ich lasse mich nur von dem beeinflussen, was der Dringlichkeit dient: bei sich und dem Wort bleiben. Das ist übrigens auch bei der Prosa das gleiche Prinzip: ich gewichte das Literarische wesentlich stärker als den Marktschrei, was natürlich auch seinen Preis hat!

gras

wächst
darüber
bald wächst
schnee
darüber
wächst
vergessen
darüber
erblindet
im schnee
ertrinkt
im vergessen
bald wächst

zeit darüber

Wieder ist es die Zeit, die Einsicht, dass unter den Schichten des Schnees nichts verborgen wird und schon gar nicht verborgen bleibt. Es legt sich bloss Schicht um Schicht, Ring an Ring, Haut auf Haut. Sie suchen in ihren Gedichten nicht nach Antworten, sondern reflektieren, was mit ihnen und in ihnen geschieht. Für mich als Leser präsentiert sich ihre Offenheit in sprachlicher Harmonie. Ist aber das Schreiben, das Feilen, das Warten, das Verändern nicht oft ein schmerzlicher Prozess?

Das, was als fertiges Gedicht sichtbar ist, trägt oft, gerade auch durch die grosse Zurückhaltung die Spuren dessen, wonach man ringt! Das ist ja nicht nur die Form, es ist der Inhalt, die Sprache, der Rhythmus! Ich würde diesen Prozess nicht als schmerzlich, aber als sehr anspruchsvoll, durchdacht benennen!

Naturbeobachtungen überlagern sich mit Weltbetrachtung, Erkenntnissen. Das eine spiegelt sich im andern. Können Sie etwas erzählen über die Entstehungsgeschichte eines Gedichts? Gibt es Zustände, in die Sie sich hineinversetzen oder fangen Sie die Bilder ein?

Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Handke hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet! 

(Die drei Gedichte aus «schnee relief» wurden mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags auf literaturblatt.ch wiedergegeben.)

Lisa Elsässer-Arnold ist 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren und lebt sei 1986 in Walenstadt. Diverse Ausbildungen, unter anderem Bibliothekarin und Buchhändlerin. Von 2003-2005 absolvierte sie den Literaturlehrgang an der EB in Zürich (Peter Morf), von 2005-2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Lisa Elsässer ist für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden. Neben Gedichtbänden beim Wolfbach Verlag erschienen im Rotpunktverlag Lyrik, Erzählungen und der Roman „Fremdgehen“ (2016), zuletzt die Erzählungen „Erstaugust“ (2019).

Fotos © Niklaus Strauss, Zürich

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag

Was bedeutet es, sich als Paar ewige Treue zu versprechen. Silas und Romy versprachen sich schon früh mehr als nur ein gemeinsames Leben zu teilen. Sollte dereinst jemand der beiden durch Krankheit zuerst sterben, würde man es gemeinsam tun. Nicht nur „bis dass der Tod euch scheidet“, sondern darüber hinaus. Und als man bei Romy die Diagnose Alzheimer stellt, wird aus dem Versprechen Absicht. 

Silas und Romy sind seit Jahrzehnten ein Paar, ein alt gewordenes Paar. Zwei, die ihr Glück in einem kleinen, einsamen Haus in den Dünen gefunden haben, mit Sicht aufs Meer, das stetige Rauschen unterlegt. Wie jeden Morgen beginnen sie den Tag gemeinsam, Spiegeleier, Brötchen und schwarzen Kaffee. Danach ein Spaziergang bis zum nahen Hof, im Gehen nicht immer nebeneinander im Gleichschritt, aber immer miteinander. Schon als junge Leute gehörten sie nicht zur lauten Sorte. Das einzige, was laut werden konnte, war ihre Leidenschaft, sei es in der Liebe oder in Gesprächen. Sie lernten sich als junge Studenten auf dem Campus kennen, an einem flirrend heissen Tag, als sich Silas für einmal mutig und entschlossen an die Seite der lesenden Romy setzte. „Romeo und Julia“. Aus dem Gespräch über das Drama einer grossen Liebe wurde ihre grosse Liebe, die alles überdauern sollte. 

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag, 2020, 160 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-9525014-3-6

Dann sollte es ein Dienstag im Mai sein, ein Abend. Silas hatte als ehemaliger Arzt alles organisiert. Das Natrium-Pentobarbital-Pulver, zwei Schaukelstühle mit Sicht aufs Meer, dazwischen ein kleiner runder Tisch, ein Tablett mit zwei Gläsern. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben“, sagt sie, er dasselbe. Sie trinken gemeinsam aus den Gläsern, stellen die Gläser hin, lehnen sich zurück und halten sich an den Händen. Es sollte kommen, im Schlaf und sie beide hinüber begleiten. 

„Ich möchte gehen, Silas, das Leben ist nur ein Geschenk, wenn es als ganzer Mensch erlebt werden kann. Aber ohne Gedächtnis bist du kein Mensch mehr.“

Aber wenig später wacht Silas wieder auf. Romys Hand ist ihm entglitten, Romys Leben ist ihm entglitten. Sie sitzt tot im Stuhl neben ihm und Silas durchfährt der Schmerz des Verlassenseins vielfach. Da war doch ein Versprechen. Immer und immer wieder. „Denk an unser Versprechen.“ Und dann die Vorbereitungen, der genau besprochene Plan. Die Akribie, der vorbestimmte Tag, die genaue Uhrzeit, nichts dem Zufall überlassen. Sie lassen sich im Stich, verlassen einander ausgerechnet im schwersten Moment, diesem einen, unwiederbringlichen.

Es ist nicht nur die über ihn einbrechende Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu sein. War hinter dem Umstand, dass sein Trank nicht tödlich war, Absicht? Wollte Romy trotz des Versprechens gar nicht den gemeinsamen Schritt, sondern nur den letzten Liebesbeweis? Warum liess sie ihn alleine mit ihrer Entscheidung, dieses eine, alles entscheidende Mal? Einzuholen war sie nicht mehr.
Silas taumelt durch eine Nacht, die er nicht mehr wollte, eine Welt, von der er sich verabschiedet hatte, weil alle Welt in seiner Liebe zu seiner Frau war. Wie durch einen Blitzschlag ernüchtert.

Die Novelle von Lu Bonauer ist eine Liebesgeschichte, die berührt und Fragen stellt. Vor nicht allzu lange Zeit ging ich mit meiner Frau spazieren. Wir sind seit über 35 Jahren verheiratet. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns der Zufall gleichzeitig sterben lässt, ist verschwindend klein. Jemand von uns beiden wird alleine bleiben, zurück bleiben Und doch tut man so, als blieben die Stränge auf ewig parallel. Romy und Silas wählten den gemeinsamen Prellbock, den gemeinsamen Ausstieg, das gemeinsame Ende. Aber Silas muss feststellen, dass die akribische Planung Fassade war, er ausgerechnet in der schwersten Stunde einer „Lüge“ aufgesessen ist. Wohin mit Gefühlen, die sich nicht kontrollieren lassen.

Lu Bonauers Novelle „Die Liebenden bei den Dünen“ ist ein zartes Stück Literatur, dem man nach dem Lesen gerne einen besonderen Platz in seiner Bibliothek geben möchte!

© Lu Bonauer

Interview mit Lu Bonauer

Shakespeares „Romeo und Julia“ endet, Ihre Novelle beginnt mit dem maximalen Drama; mit der Gewissheit, nach Jahrzehnten Harmonie und Zweisamkeit unwiderruflich  und entgegen des gemeinsamen Versprechens der unsterblichen Liebe, verlassen worden zu sein. Was war die Initialzündung zu Ihrer Novelle?
Ich sehe mich grundsätzlich als Schriftsteller, dessen Stoffe existenziellen Fragen nachspüren. In diesem Text stehen zwei Menschen vor einer Grenze, dem Tod, den sie zu ihrem gemeinsamen Tod machen wollten, um zusammen weitergehen zu können. Aber dann bleibt Silas alleine zurück mit all seinen Gefühlen, seiner Trauer, seinem Schmerz. Bei „Die Liebenden bei den Dünen“ hat mich diese grosse Liebe zweier Menschen beschäftigt, die ein Leben lang zusammengehalten haben, und die sich dieser letzten grossen Herausforderung stellen müssen.

Sie schreiben oft über „altersbedingte Themen“. Ist das nicht eher ungewöhnlich für Ihr Alter?
Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Vielleicht schreibe ich, wenn ich alt werden darf, über Kindheit und Jugend (schmunzelt). Die momentane Antwort ist: Ich weiss es nicht, nicht wirklich. Es ist vielmehr das Interesse für und die Achtung vor alten Menschen und ihren Lebensgeschichten. Einmal hoffentlich selber zurückblicken zu können. Sich jetzt schon mit einem Ich und auch Du in einer noch etwas fernen Zukunft zu befassen, das hat auch etwas Befreiendes und Unverkrampftes, insbesondere, wenn der tägliche Irrsinn uns den Atem zu nehmen droht.

Sie beschreiben eindringlich die Zerrissenheit zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, Einsamkeit und Schmerz. Müsste man als kluger Mensch nicht gelernt haben, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht planbar sind, erst recht dann nicht, wenn sich deren Verwirklichung auf die Zuverlässigkeit anderer stützt?
Ja, da gebe ich Ihnen recht. Erfüllung und Glück sind nicht planbar. Hinzukommt, dass das eigene und gemeinsame Glück kaum in jeder Lebenslage übereinstimmen. Was brauchen wir, um glücklich zu sein? Im besten Fall existieren in einer Partnerschaft gleiche Vorstellungen dazu, um zu zweit einen Plan vom Glück umzusetzen. Ohne beidseitige Zuversicht ist die Unzuverlässigkeit nicht weit. Und das Gefühl, auch in der Liebe frei zu sein, kann sich niemals entwickeln. Romy und Silas sind fest verwurzelt in der Liebe zueinander. Umso schwieriger ist es für Silas, sich dem Bewusstsein zu stellen, dass der Mensch letztlich in seinen Entscheidungen frei ist, ein freies Wesen ist, frei auf der Welt, frei im Kosmos.

Aus der Sicht Romys verstehe ich ihr Handeln, ihre AbsichtenIch verstehe die Verzweiflung Silas ebenso. Und das macht den Reiz der Novelle aus. Die Lektüre Ihres Buches provoziert die eigene Auseinandersetzung mit der Frage, woran Liebe scheitern könnte. Scheitert man nicht viel mehr an sich selbst?
Natürlich. Ob unerfüllte Liebe, zerrüttete oder zerbrochene Liebe, das Eigene verpflichtet dazu, das einst oder vermeintlich Gemeinsame zu hinter- oder zu erfragen. Das Scheitern gehört zum Glück dazu. Nicht zu scheitern bedeutet allenfalls, im Unglück zu verharren. Sich das Scheitern einzugestehen, ist bekanntlich oft schwierig. Das Eingeständnis, gescheitert zu sein, ist ein Akt der Sorgsamkeit gegenüber sich und dem eigenen Leben. Im Buch stellt sich Silas diesem Akt. Aber ist es wirklich ein Scheitern? Romy und er haben das gemeinsame Glück bis zuletzt bewahren können. Und nun fordert Romy ihn nochmals heraus und sie tut es für eben diese Liebe, die ihr genauso das Wichtigste ist.

Romy emanzipiert sich in ihrem letzten Schritt. Silas dachte, Sie hätten ihre Ehe stets in vollkommener Übereinstimmung gelebt. Ist diese Liebesgeschichte also auch ein Abgesang auf die Ideale einer traditionellen Ehe?
Den Stoff, den ich im Buch bearbeite, stellt die Liebe als etwas Universales und zugleich Persönliches dar . Und somit wirkt die Liebe fern eines institutionellen Kraftfeldes. Das war mir beim Schreiben wichtig. Jede Liebe ist aussergewöhnlich auf ihre Weise. Bei Romy und Silas wurzelt das Aussergewöhnliche in ihrer Verbundenheit zum Buch „Romeo und Julia“, einer Geschichte, die ein gegenseitiges Versprechen auslöst und somit in ihre eigene Geschichte bis zuletzt hineinatmet.

Versprechen scheinen gemacht zu sein, um sie zu brechen. Nirgends so sehr wie in der Liebe. „Unsterbliche Liebe“ – das Maximum eines Versprechens. Muss man daran glauben, damit man es wagen kann?
Oh ja, der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Und hinter den Bergen liegt irgendwo das Meer. Und das Meer spielt eine wichtige Rolle im Buch. Wenn man gewillt ist, das Weite, das Unbekannte immer wieder von Neuem zu erforschen. Weshalb sollte so etwas „Kühnes“ (lacht) wie die unsterbliche Liebe nicht möglich sein?

Lu Bonauer, geboren 1973 in Basel, schreibt Prosa und Lyrik. Seine Texte sind in mehreren Anthologien erschienen und wurden bei diversen Wettbewerben ausgezeichnet, unter anderem war er Gewinner des Schreibwettbewerbs OpenNet der Solothurner Literaturtage und des Monatstextes März 2002 des Literaturhaus Zürich. 2008 und 2016 erhielt er jeweils für die Romanprojekte „Herzschlag hinter Stein und «OLIs God“ einen Förderpreis des Fachausschuss Literatur BS/BL. Lu Bonauer erhielt im Frühjahr 2019 einen Werkbeitrag von der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Beitragsbild © Lu Bonauer

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag

„Yeki Bud. Yeki Nabud“, (Es gab jemanden, es gab niemanden.) damit beginnen persische Märchen. Ein Hakawati ist ein Geschichtenerzähler, der mit seiner Schauspielerei das Erzählte unterstreicht, nichts anderes als der Autor selbst, Pierre Jarawan, der einst deutscher Meister im Poetry Slam war und nun, nach seinem 2016 erschienen Debütroman „Am Ende bleiben die Zedern“ mit „Ein Lied für die Vermissten“ erneut einen atmosphärisch starken Roman vorlegt.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist ein Familienroman, ein Roman über Freundschaft, die zerstörerische Kraft des Schweigens und die „verlorene Generation“ eines Bürgerkriegs der während 15 Jahren (1975 – 1990) fast 100 000 Tote, 20 000 Vemisste und unzählige Vertriebene forderte. Ein Krieg, der aus dem Paris des Nahen Ostens, der Orchidee des Mittelmeers ein Trümmerfeld machte. Im Libanon, einem Land, aufgerieben in der Geschichte der letzten 70 Jahre, im Dauerkriegszustand mit Israel, zerfleischt von Milizen, annektiert von der syrischen Diktatur, erschüttert von abertausend Bomben. 

„Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.“

Ob der Bürgerkrieg in Libanon oder die Kriege nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens – für mich waren es „Sofakriege“, denen man sich während der Nachrichten oder beim Lesen der Zeitungen aussetzte, die durchaus Betroffenheit auslösten, aber zumindest für mich im Hintergrund blieben. Eine Tatsache, für die ich mich heute bis zu einem gewissen Grad schäme, denn diese Kriege klopften immer wieder unüberhörbar an meine Tür, sei es durch das Schicksal von Flüchtlingen, die ich kennenlernte oder eben durch die Literatur.

„Erinnerungen waren Pforten, hinter denen sich ganze Reiche auftaten, die ich noch zu entdecken hatte.“

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag, 2020, 464 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-8270-1365-1

Pierre Jawaran erfindet Amin und erfindet ihn nicht. Einen Jungen, der zusammen mit seiner Grossmutter nach dem Tod von Amins Eltern nach Deutschland flieht. 12 Jahre später findet die Grossmutter den Mut, wieder zurück ins Land ihrer Familie, in ihre Heimat zu reisen, um einen Neuanfang zu wagen. Einen Neuanfang als Familie, als Unternehmerin, als Malerin. Amin lernt in seiner neuen Umgebung Jafar kennen, einen Mitschüler aus seiner Klasse, den einzigen, der sich für ihn zu interessieren scheint. Jafar ist anders. Nicht nur weil er als kleiner Junge ein Auge verlor, sondern weil er in seinem Wesen wild und nur schwer fassbar ist, weil er mit Amin durch die Ruinen der Stadt zieht, weil er wie ein Hakawati Geschichten erzählen kann, so gut, dass sich damit sogar Geld verdienen lässt, wenn auch nicht immer zum Vorteil aller.

„Das Schweigen ist tiefer als die Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt.“

Amin wächst behütet bei seiner Grossmutter auf, einer Frau, die in der Altstadt Beiruts ein Café eröffnet und Bilder von sich an die Wand hängt. Bilder, die kryptisch von den Schrecken des Bürgerkrieges erzählen, so wie das einzige Bild von Amins Mutter, die als junge Frau als Studentin nach Paris kam, eifrig zu malen und zu lieben begann und schwanger und mit dem Bild „Ein Lied für die Vermissten“ nach Hause kam. Die Grossmutter, die die Wahrheit in Bilder und Geschichten verpackt, verpackt die Wahrheit auch für ihren Enkel. Die Wahrheit um Amins Eltern, um Amins Grossvater, ihren Mann, so wie sich in dem Land zwischen den Fronten alles hinter dem Schweigen zu verbergen scheint.

„Schon ein Sandkorn genügt, um eine grosse Geschichte daraus zu machen.“

Amin lernt, dass nichts von Dauer ist, weder die Liebe noch die Freundschaft, weder der Moment grösstmöglicher Nähe noch das Gefühl von abgrundtiefer Verlassenheit, weder Sicherheit noch Geborgenheit. Er begibt sich auf die Suche, die Suche nach seiner Wahrheit, seiner Geschichte, den verlorenen Momenten, die das Glück versprachen. Pierre Jawarans Schreiben widerspiegelt genau dieses Suchen. Sei es die Suche nach Gerüchen, Augenblicken, Erinnerungen, sei es jene nach dem, was Herkunft ebenso ausmacht wie Zukunft. Pierre Jarawan beschränkt sich aber nicht nur auf die Suchreise eines jungen Mannes. Sein Roman ist die Geschichte eines Landes, eines Sehnsuchtsorts, eine Kampfschrift gegen das Vergessen, Verschweigen und Verdrängen.

© Pierre Jarawan

Interview mit Pierre Jarawan

Irgendwo im ersten Teil Ihres neuen Romans heisst es „Das alte Schiff Beirut. Das Prinzip, das es über Wasser hält, heisst Verdrängung.“ Gilt dieses Prinzip nicht für jedes Schiff, wenn es nicht in den Stürmen untergehen will? Würde dieses Prinzip nicht für jedes Land, jede Stadt, jeden Menschen gelten, müssten wir nicht längst das Steuer herumreissen, was wir auch nach einer Pandemie nicht tun werden?

Ganz sicher ist Verdrängung immer der erste Schritt, bevor es überhaupt eine Form der Aufarbeitung gibt oder geben kann. Verdrängung ist nicht per se negativ, sie kann auch heilsam sein. Und ganz sicher gilt das für alle Länder und Gesellschaftsformen, in denen es Konflikte gab, die eine bestehende Ordnung aufgelöst haben. Ein Schiff kann sich das Prinzip der Verdrängung nicht aussuchen, es ist ein physikalisches Gesetz, so wie sie in Gesellschaften sicher etwas Normales ist, das erstmal passiert. Allerdings darf man Verdrängung und das aktive Verhindern von Aufarbeitung nicht gleichsetzen. Die Figur, die den Satz äussert, bezieht beide Seiten mit ein. Beirut funktioniert, weil verdrängt wird, im Stadtbild, in der Gesellschaft – aber die Frage der Vermissten bspw. wird nicht nur verdrängt, sie wird in ihrer Aufarbeitung mit politischen Mitteln verhindert. 

Wir sollten hier auch nicht zwei unterschiedliche Ebenen vermengen, indem wir die Auswirkungen einer Pandemie mit denen eines Bürgerkriegs vergleichen, zumal wir im ersten Fall diese Auswirkungen noch nicht kennen.

© Pierre Jarawan

Sie selbst sind ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Aber sie wollen nicht bloss ver- und bezaubern. Sie transportieren. Was steht auf ihrer Fahne ganz oben auf ihrem Mast?

Auch die echten Hakawati, die traditionellen Geschichtenerzähler, wollten nie nur verzaubern oder unterhalten. Ihre Geschichten beinhalteten immer auch eine Art Moral und Aussage über die Gesellschaft. Es ist in meinem Fall nicht so, dass ich programmatisch schreibe, also mit wehender Fahne an den Schreibtisch trete, um eine bestimmte Botschaft loszuwerden. Wenn jemand meine Romane liest, und sie einfach nur spannend findet, und sich gut unterhalten fühlt, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung. Im Fall von „Ein Lied für die Vermissten“ war es mir allerdings tatsächlich ein Anliegen, das Thema durch das Erzählen vor dem Verschwinden zu bewahren, denn genau dieses Verschwindenlassen durch Schweigen passiert – der Roman versucht, dem etwas entgegenzusetzen.

© Pierre Jarawan

„Ein Lied für die Vermissten“ erzählt von Beziehungen, Freundschaften, von der Liebe. Sei es die tiefe und gleichsam verletzliche Beziehung Amins zu seiner Grossmutter, die Freundschaft zu Jafar, oder die Liebe zu Zarah oder Soraya. Die Nähe scheint immer flüchtig, instabil. So wie der Frieden im Nahen Osten. Ist jeder/jede letztlich schmerzvoll auf sich selbst zurückgeworfen?

Das ist schwer zu verallgemeinern. Denn in den Gesellschaften des Nahen Ostens spielt das Individuum gar keine so grosse Rolle. Es geht fast immer um eine Gemeinschaft, sei es die Familie, oder eine Art Glaubensgemeinschaft, und dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein ist vielleicht eher ein Abgrenzen, das man gegenüber anderen vollzieht. Aber es stimmt schon, Amin erkennt am Ende des Romans, dass sich sein Leben – wie die Region – in einem immer wiederkehrenden Kreislauf abzuspielen scheint, aus Verlust und Wiederfinden, aus Rätselhaftigkeit und Erkenntnis, und so wieder von vorn …

© Pierre Jarawan

Amins Mutter malte. Ihr Mutter, Amis Grossmutter, bei der er aufwuchs genauso. Sie malen auch, wenn nicht mit Pinsel, dann sicher mit Sprache. Findet da manchmal ein Kampf statt zwischen dem Sprachmaler und dem der Historie verpflichteten Erzähler?

Ich empfinde es nicht so. Die Historie ist die Grundlage, die diese Geschichten ermöglicht. Sie wirbelt die Figuren durcheinander, zwingt sie zu unterschiedlichen Handlungen, aber sie bleibt im Hintergrund. Sie ist immer nur das auslösende Ereignis, das etwas in Gang setzt, mit dem die Figuren sich auseinandersetzen müssen. Insofern betrachte ich Historie eher als etwas sehr Fruchtbares für mein Schreiben. Als eine Art Katalysator oder – um in Ihrem Bild zu bleiben – als Leinwand oder Grundierung, auf das dann die Sprache gemalt werden kann.

© Pierre Jarawan

Bleibt der Arabische Frühling ein Frühling, dessen Blühten verdorren oder erfrieren? Wie sehr blutet das libanesische Herz? Ist das der Grund, warum sich ihr Schrieben in ihren ersten zwei Romanen ganz um die Geschichte des Libanons dreht? 

Das ist leider unmöglich pauschal zu beantworten, weil die Revolutionen in den Arabischen Ländern unterschiedliche Ausgangspunkte, Voraussetzungen und Verläufe hatten. Ich habe mich immer an dem Begriff gestört, schon 2011, weil er einerseits zu romantisch ist, angesichts der zahlreichen Menschen, die beim Kampf um grundlegende Menschenrechte ihre Leben verloren haben, andererseits, weil er eine zeitliche Begrenzung suggeriert, die schon damals irreführend war. 

Ich habe den Arabischen Frühling als Endpunkt für den Roman gewählt, weil ich mit diesem Moment der Hoffnung aufhören wollte, der damals zweifellos bestand, und nur aus heutiger Perspektive sind wir in der Lage, diese Hoffnung als tragisches Missverständnis zu entlarven. Und im Bezug auf den Libanon bedeutet 2011 eine Umkehrung von etwas Grundlegendem. Nachdem jahrzehntelang Libanesen in das sichere Syrien fliehen mussten, kehrt sich das plötzlich um, eine alte Ordnung wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Es ist nicht so, dass mein libanesisches Herz blutet, auch wenn ich natürlich eine Enttäuschung angesichts unterschiedlicher Punkte verspüre – die Perspektivlosigkeit für die Jugend, der Unwille, die Vergangenheit aufzuarbeiten, aber ich würde nicht sagen, dass das der Grund ist, weshalb die Historie in beiden Romanen eine grosse Rolle spielt – und ich würde sogar widersprechen darin, dass sie sich „ganz um die Geschichte des Libanons drehen“ – da beide Bücher sich für mich um andere Fragen viel zentraler drehen, nämlich um die Leerstellen, die dort entstehen, wo es eben kein Sprechen über Geschichte gibt. Wie oben gesagt: Für mich ist die Historie eher ein Katalysator, um etwas Kleineres im Grösseren zu erzählen, und das Miterzählen von Geschichte erlaubt es, den Lesern Zusammenhänge vor Augen zu führen, die dieses Kleine erklärbar machen.

© Marvin Ruppert

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern den Libanon wegen des Bürgerkriegs verlassen hatten. Im Alter von drei Jahren kam er nach Deutschland. 2012 wurde er internationaler deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. 2013 nahm er an der Weltmeisterschaft in Paris teil. Sein Romandebüt «Am Ende bleiben die Zedern» erschien 2016. Der Roman wurde als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt. Pierre Jarawan lebt in München.

Webseite des Autors

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese

In Zeiten globaler Katastrophen, ob virus- oder klimabedingt, verliert sich der Fokus auf die kleinen Katastrophen, die für Betroffene ein ganzes Leben nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Regula Portillo schrieb mit „Andersland“ einen Roman über das Auseinanderbrechen von Familien und wie sehr eine andere Epidemie, die in den letzten drei Jahrzehnten über 30 Millionen Tote forderte, das Leben nicht nur der Direktbetroffenen zerreissen kann.

Pascal lernt in Mexiko Lucía kennen. Lucía wird schwanger, will das Kind in ihrer Not aber nicht zur Welt bringen. Pascal setzt sich durch, das Mädchen Matilda kommt zur Welt und Pascal nimmt es mit in die Schweiz. Keine einfache Aufgabe für einen alleinerziehenden Vater. Aber Tobias, sein Bruder und dessen Lebenspartner Michael unterstützen Tobias und Matilda wächst in den ersten sieben Jahren wohlbehütet in der Fürsorge der beiden Brüder auf.

Bis Pascal an seinem Arbeitsort zusammensackt und ein Herzinfarkt Matilda zur Halbwaisen macht. Pascals Bruder Tobias setzt alles daran, dass Matilda bei ihm und Michael aufwachsen, in ihrer kleinen Welt bleiben kann. Aber Lucía in Mexiko erfährt vom Tod ihres einstigen Geliebten. Verschüttete Muttergefühle werden wach und Lucía setzt alles daran, dass Matilda bei ihr in Mexiko ein neues Zuhause findet, eine Familie, einen kleinen Bruder, einen sicheren Hafen.

„Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut“, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1984)

Aber auch Tobias setzt alles daran, dass das kleine, vaterlose Mädchen, das er in den ersten sieben Jahren wie eine eigene Tochter lieben lernte, das untrennbar in sein Leben gehört, bei ihm und Michael bleiben kann. Aber weil in den 90ern die Angst vor AIDS grassiert und man dem schwulen Paar den amtlichen Segen verweigert, gemeinsam das Kind aufziehen zu dürfen, fliegt Matilda mit der fremden Mutter nach Mexiko, in eine fremde Familie, ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Zurück bleiben gebrochene Herzen. Jenes von Matilda, das den Schmerz wie einen Kloss mit sich durch ihr Leben trägt und jenen von Tobias, dem nicht nur eine liebgewordenene Nichte entrissen wurde, sondern dem man amtlich das Recht verweigerte, das Sorgerecht für die Tochter seines toten Bruders zu erkämpfen. 

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, 30.90 CHF, ISBN 978-3-906907-30-7

Regula Portillo beschreibt in ihrem zweiten Roman die Auswirkungen dessen, was die Entwurzelung der kleinen Matilda in den Leben in Mexiko und der Schweiz auslöst. Lucía versucht alles, um dem Mädchen ein gutes Zuhause zu schenken. Ihr Mann Fabio behandelt das Mädchen ebenso herzlich wie die Grosseltern. Und doch fällt Matilda der Start im neuen Leben schwer. Der Knoten bleibt, entwirrt sich nie, zieht sich im Mädchen phasenweise nur noch heftiger zusammen, vor allem Jahre später, während der Pubertät und noch später, als die erwachsen gewordene Matilda selbst spürt, dass ihr in Beziehungen die Nähe schnell beengend wird.
Gleichzeitig schliesst sich die offene Wunde, die der Abschied von Matilda hinterliess, bei Tobias nie. Tobias stürzt sich in den Kampf, sein politisches Engagement für die Rechte Homosexueller, nicht zuletzt jenes, selbst Familie sein zu dürfen. In den 90ern, als in der Gesellschaft die kollektive Angst vor AIDS grassierte, galt jede Berührung mit Menschen dieser Risikogruppe als Bedrohung. Schwule standen unter Generalverdacht, Träger einer hochansteckenden Krankheit zu sein. So konnte auch ein siebenjähriges Mädchen unmöglich bei einem schwulen Paar aufwachsen.

Unter den wenigen Dingen, die Matilda in ihr neues Leben in Mexiko mitnimmt, ist ein rotes Büchlein, in das Pascal, ihr Vater, kleine Episoden wie in einem Tagebuch hineinschrieb. Ein Büchlein, das ihr verschlossen bleibt, weil sie in den Jahren nach ihrem Neubeginn auf der andern Seite des Ozeans die Sprache ihrer Kindheit vergisst. Nur ein paar wenige Fotos bleiben, auch wenn die damit verbundenen Erinnerungen immer blasser werden.

Regula Portillo erzählt ganz behutsam. Sie trennt nicht auf, ordnet nicht in Gut und Böse. Lucías Leben nimmt seine Richtung nicht, weil Lucía die Richtung wählt, sondern weil man sie stösst und drängt, zwingt und weitgehend alleine lässt. Genauso das Leben von Matilda, das Leben von Tobias, ihrem Onkel in der Schweiz. Bleibt die Frage, ob man es schafft, den Knoten zu lösen, den Kloss freizulegen. „Andersland“ ist ein Roman über das verlorene Glück.

Interview mit Regula Portillo:

Ganz am Schluss des Buches steht unten auf einer sonst leeren Seite: „Vielen Dank Veronica, dass ich mich von deiner Geschichte inspirieren lassen durfte.“ Können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Romans erzählen?

Veronica steht ganz am Anfang dieser Geschichte. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide acht Jahre alt waren. Kurz davor war ihr alleinerziehender Vater gestorben. Sie wohnte deshalb vorübergehend bei einer Pflegefamilie im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und wartete darauf, von ihrer Mutter, die im Ausland lebte, abgeholt zu werden. Eigentlich wäre Veronica lieber in der Schweiz bei ihrem Onkel geblieben. Diese Ausgangslage hat mich nie ganz losgelassen – wobei ich nicht weiss, ob die Ausgangslage, so wie ich sie schildere, überhaupt der Realität entspricht. Ich war ja noch sehr klein damals. Veronica und ich haben uns daraufhin aus den Augen verloren; erst vor ein paar Jahren haben wir den Kontakt zueinander wieder aufnehmen können. Ich habe ihr von meinen Erinnerungen an sie erzählt und von Matilda, der Protagonistin in Andersland. Ihre beiden Lebenswege sind natürlich sehr unterschiedlich verlaufen und doch gibt es einige Überschneidungen. Der Verlust der deutschen Sprache zum Beispiel.

Matilda verliert ihren Vater mit sieben. Ihr Onkel tröstet sie: „Er wartet anderswo auf uns.“ Verständlich. Im jenseitigen „Andersland“. Aber Ihr Roman erzählt auch vom diesseitigen „Andersland“, einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause, wo alles anders ist. Auch vom „Andersland“ der Erinnerungen, die sich wandeln, die verblassen, die verklären. Ein schöner Titel! Wie sind Sie auf ihn gestossen?

Ursprünglich wollte ich Tobias und Michael miteinander über den fragwürdigen Ausdruck «vom anderen Ufer sein» reden lassen. Doch unabhängig davon, dass die Szene so nicht im Buch erscheint, war mir Ufer vom Bild her zu schmal, es sollte grösser, weiter sein – ein Stück Land, das auch positiv besetzt, erobert und gestaltet werden kann. Daraus entstand «Andersland». Es gefällt mir, dass Matilda, die so sehr zwischen die Welten fällt und zeitenweise verloren ist, diesen Ort schon als Kind zu ihrem eigenen erklärt. Obwohl damit auch viel Schmerzhaftes verbunden ist. Es ist ein Ort, an dem ihre verschiedenen Welten, Erinnerungen und Lieblingsmenschen Platz finden und keinen Normen entsprechen müssen.

AIDS schien vor dreissig Jahren apokalyptische Ausmasse anzunehmen. Heute scheint man sich mit dieser Epidemie arrangiert zu haben, obwohl in Deutschland beispielsweise noch immer jährlich 600 Menschen an den Folgen der Immunsystemzerstörung sterben. Wollten Sie eine globale Katastrophe in Erinnerung rufen?

@ Ayse Yavas

Ja. Aids hat sehr viel Leid angerichtet und ist auf jeden Fall ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten darf. In der Generation meiner Eltern kennen die allermeisten jemanden, der daran gestorben ist. Problematisch war ja nicht nur die Krankheit an sich, sondern auch die Stigmatisierung, die damit verbunden war – bzw. bis heute ist. Lange Zeit war von «Sex-Seuche» oder «Schwulenkrankheit» die Rede. Positiv war, dass Schwulenverbände und die staatlichen Gesundheitsbehörden früh zusammenspannten, um die beispiellose Aufklärungs- und Präventionskampagne «STOP AIDS» zu lancieren. Ich glaube nicht, dass jemals eine andere Kampagne so viele Menschen erreicht und geprägt hat. Dadurch hat eine Annäherung stattgefunden, die gesellschaftlich sehr bedeutend ist. Es ist auch dieses Momentum, das ich festhalten wollte: Wie selbst die schlimmste Katastrophe eine Chance bietet.

Matilda wird im Moment ihrer „Umsiedlung“ nie nach ihrer Meinung gefragt, jedenfalls nicht von den Entscheidungsträgern. Sie wird wie ein Gegenstand nach Mexiko verfrachtet und in ein neues Leben hineingestellt, abgestellt. „Zum Wohle des Kindes“ wird zum Wohl ausgewählter Erwachsener, um dem Gesetz zu genügen. Ein ewiges Dilemma? Nehmen wir Kinder zu wenig ernst?

Ein Dilemma, ja. Nach dem Tod von Matildas Vater gibt es zwei Entscheidungen, bzw. Verfügungen, in die Matilda nicht miteinbezogen wird. Zuerst entscheidet das Jugendamt, dass Tobias aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht für Matilda sorgen darf. Für Matilda, aber insbesondere für Tobias ist das ungeheuerlich. Matildas Wunsch, bei Tobias leben zu dürfen, hätte unbedingt berücksichtigt werden müssen. Weniger eindeutig ist es danach, als Matilda von ihrer Mutter nach Mexiko geholt wird. In den meisten Fällen spricht vieles dafür, dass das Kind nach dem Tod eines Elternteils beim anderen Elternteil leben kann. Auch bei Matilda. Zumal sich Lucía ja auch sehr ernsthaft bemüht, Matilda eine liebevolle Mutter zu sein. Lucías Fehler ist, dass sie Matildas Vergangenheit keinen Platz einräumt.

Ob Kinder generell zu wenig ernst genommen werden, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass sich auf dieser Ebene schon auch viel verändert hat und die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern – auch in Extremsituationen – stärker gewichtet werden als früher. In der Regel haben Kinder innerhalb der Familien heute mehr Mitspracherecht als zu Zeiten, in denen meine Eltern und Grosseltern Kinder gewesen sind.

Lucía leidet ein Leben lang, Matilda genauso, Tobias ihr Onkel auch. Einziges Mittel gegen dieses Leiden ist die Versöhnung. Nicht zuletzt die Versöhnung mit sich selbst. Und Versöhnung funktioniert nur über die Sprache, über das Sprechen. Das tägliche Brot aller TherapeutInnen. Millionen leiden unter dem Zwang der Menschheit, alles in die zwei Schubladen „weiblich“ und „männlich“ zu spalten. Versöhnen wir uns tatsächlich oder öffnen sich mit jeder Versöhnung nur neue Türen zu dunklen Räumen?

Versöhnung hat auch mit Verständnis zu tun; dem Willen und der Möglichkeit, sich in die Schuhe des Anderen hineinzuversetzen. Es ist zum Beispiel leicht, die eigenen Eltern zu kritisieren – bis man selber Kinder hat und merkt, was es bedeutet, vollumfänglich für einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein. Die eigenen Themen und Abgründe lösen sich durchs Elternsein ja nicht einfach auf.

Ich denke, Versöhnung und Akzeptanz liegen nah beieinander. Habe ich eine Situation akzeptiert, werde dann aber aufs Neue mit ihr konfrontiert, können da durchaus wieder Türen zu dunklen Räumen aufgehen. Habe ich mich aber wirklich mit mir, der Situation, einem anderen Menschen oder dem, was passiert ist, versöhnt, bin ich davon befreit – so hoffe ich es zumindest.

Vieles wäre einfacher, wenn wir uns von unseren starren Geschlechter-, Rollen- und Familienbildern verabschieden könnten. Warum sollte beispielsweise Tobias nicht für ein Kind sorgen dürfen? Dass er es kann, hat er ja längst bewiesen. Oder warum ist die Wahrnehmung eine ganz andere, wenn sich eine Frau gegen ein Kind ausspricht als wenn ein Mann dasselbe tut? Sich von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich unserer Rollen, die wir selber ja auch verinnerlicht haben, zu befreien, ist keine einfache Sache. 

Regula Portillo, geboren 1979, wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg und Buch- und Medienpraxis an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebte und arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihr Schaffen hat sie Förder­preise und Werkbeiträge von Stadt und Kanton Bern und dem Kuratorium für Kultur­förderung des Kantons Solothurn erhalten. 2017 ist ihr ­erster Roman «Schwirrflug»­ erschienen. Seit 2018 lebt sie mit ihrer Familie in Bern und ­arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

Webseite der Autorin

Beitragsfoto © Ayse Yavas