Samira El-Maawi «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel», Zytglogge

Ein Vater zieht für seine Familie von Sansibar in die Schweiz. „Langsam aber sicher verwurzelt er sich“, verspricht die Mutter, eine Schweizerin. Aber der Mann von der Insel vor Tansania bleibt auf einer Insel. Einer Insel, von der sich seine Familie, seine Frau und seine beiden Töchter ausgeschlossen fühlen. Eine Insel, der sich die Schweiz verweigert.

Speziell, dass man einen Roman vorgesetzt bekommt, der mit einer Anmerkung beginnt, als wolle man mit einem Beipackzettel vor allfälligen Nebenwirkungen warnen. Aber mir wird mit einem Mal bewusst, was „Weiss“ und „Schwarz“ als Begriffe alles mit sich herumschleppen, ganz besonders dann, wenn sie eine Unterscheidung in Sachen Hausfarbe beschreiben wollen. Unterscheidungen, die es doch eigentlich gar nicht gibt, denn die eigentlichen, die wirklich unterscheiden, die trennen und innerhalb der Gattung Mensch unvereinbar machen, sind jene in den Köpfen und Herzen. Nicht die sichtbaren, sondern die unsichtbaren Unterscheidungen. Nicht die scheinbar offensichtlichen, sondern die verborgenen, die die gären, motten und die Seelen von innen zerfressen.

„Meine Hautfarbe läuft überall mir mir mit, und alle sehen sie zuerst.“

Samira El-Maawi «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel», Zytglogge, 2020, 144 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5049-7

Vielleicht handelt der Roman von Samira El-Maawi davon. Von der Kluft, die das Schubladendenken aufreisst, der menschliche Zwang, alles Leben in Kategorien aufzuteilen und die daraus resultierende Versuchung, dieses Leben auch noch in eine Art Rangliste zu setzen, das eine Leben wertvoller einzustufen als das andere. Eine Diskussion, die sich unendlich ausbreiten und ausweiten lässt. Aber vielleicht ist Samira El-Maawis Roman auch gar kein Roman im herkömmlichen Sinn, sondern vielmehr eine buchlange Meditation darüber, was es heisst, in einer Familie aufzuwachsen, in der der Vater seine Wurzeln im afrikanischen Sansibar weiss und die Mutter eine Schweizerin ist, die alles dafür gibt, den ignoranten Blick auf den Kontinent Afrika aufzuweichen. Der Vater ein Entwurzelter, die Mutter eine Aktivistin.

„Die Wut steckt meinen Vater in ein Gefängnis.“

„In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“, erzählt die Tochter aus der Familie im Buch. Von der Sehnsucht überall, der Sehnsucht zuhause zu sein, zusammen zu gehören, sicher zu sein. Sie erzählt aus der Sicht einer jungen Frau oder eines reifen Mädchens, einer Zehnjährigen, die genau spürt, wie zerbrechlich und fragil ihre Welt ist, wie sehr sie bedroht wird. Ihr Vater, ein gelernter Chemiker bekommt in der Schweiz nur Arbeit in einer Grossküche, in der er sich streng an die Vorgaben seines Vorgesetzten zu halten hat und nicht einmal die Salatsosse um die Nuance eines Gewürzes verändern darf. Einziger Ort, an dem ihr Vater seine Freiheit ausleben kann, ist die Küche zuhause. Dort ist sein Labor. Dort lassen sich die Gerüche seiner Heimat herstellen. Dort schreibt ihm niemand etwas vor. „Dort koche ich mir die Schweiz zur Heimat.“ 

Die Mutter versucht alles, um der Familie Halt zu geben. Sie besucht zusammen mit ihrem Mann Schulen und Kindergärten, sie als Afrikaspezialistin, er als Einheimischer aus Sansibar. Dazu trägt sie Mutter Massai-Armbänder und schlingt sich über Jeans und Bluse eine Kanga, ein rechteckiges, buntes Baumwolltuch. „Die Kanga macht sie zu einer weissen Afrikanerin.“ Ein Versuch aber, der keinen Frieden stiftet im Kampf ihres Vaters; keine Wurzeln schlagen zu können mit der Angst, am andern Ort die letzten Wurzeln zu verlieren. Ihr Vater verschwindet, nachdem er wegen einer Bagatelle arbeitslos geworden ist. Mit einem Mal ist er weg. „Mein Vater hat mein Land mitgenommen.“ Und die Erzählerin fürchtet, dass dies nur ein weiterer Schritt in einer endlos scheinenden Kette von Katastrophen sein wird.

„Gott ist für meinen Vater ein Ausländer.“

„In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“ ist immer wieder durchsetzt von Sätzen, die wie Mantras auftauchen und manchmal ist ein Satz wie ein Monolith aus einer Seit ganz allein. Eine Geschichte, aus der die Autorin nicht aussteigen kann. Eine Geschichte, die einem bewusst macht, wie zerbrechlich das Fundament einer Zehnjährigen sein kann und wie viel Kraft eine junge Seele aufbringen muss, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht. Nicht nur in ihrem Umfeld, sondern in ihr selbst. Ein wichtiges Buch, weil es von der Ignoranz einer Mehrheit erzählt und dem Schmerz eines jungen Menschen, der sich wie ein Schwelbrand in ein Leben hineinbrennt. Und nicht zuletzt beschreibt Samira El-Maawi die Ausgrenzung aus ihrer eigenen Familie mit Beschreibungen, die mir unter die Haut fahren, die mich anders sehen lernen.

Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!

© Daniel Meurer

Interview mit Samira El-Maawi:

Sie erzählen Ihren Roman aus der Sicht einer Zehnjährigen. Warum diese Perspektive und nicht die einer erwachsenen Frau?

In meiner Arbeit ist es mir wichtig, auch ernsthafte Dinge zu thematisieren, diese aber in einer Leichtigkeit. Ich möchte nicht moralisieren oder die Welt von oben herab erklären. Deshalb drehe und wende ich die Thematik so lange in mir, bis sie kompakt wird, so, dass ich sie quasi transformiert habe. (zum Beispiel die Widersprüche, die Ungerechtigkeiten, die da sind und meine Stimme nicht mehr brauchen, weil sie eigenständig wirken), bis ich sie selber so verarbeitet habe, dass ich sie leicht, ja vielleicht sogar verspielt aus mir herausgeben kann; oder manchmal auch, bis ich weiss, wie ich darüber schreiben kann, sodass wir uns berührt, aber nicht angegriffen fühlen.

Für diese Geschichte suchte ich deshalb eine Sprache, die es mir ermöglichte, beobachtend und nicht bewertend zu schreiben. Ich musste an den Kern gelangen. Ich schälte das Thema, aber auch die Sprache und vermutlich auch die Perspektive, und so kam ich darauf, dass ich in dieser Perspektive am besten schreiben kann. Aber auch einer der Gründe aus einer Kinderperspektive zu schreiben war, dass es mittlerweile schon einige Bücher aus der Perspektive erwachsener Menschen gibt. Ich wollte grundlegend anders an das Thema rangehen. Diese Perspektive schenkte mir eine Freiheit, und so wie es aussieht, auch den Leser*innen.

Ich las Ihren Roman nicht wie einen Roman sonst. Ihr Buch erschien mir viel eher als Vatermeditation. Eine Vatersuche nach innen. Gab es später dann auch die Vatersuche nach aussen?

Die Bezeichnung „Vatermeditation“ ist interessant. Stimmt, die Erzählerin sucht ihren Vater, obwohl er ja physisch anwesend ist. Sie will ihn verstehen, seine Geschichte, ihre andere Seite, seine Heimat, die sie nur durch das Kochen, die Düfte kennt. Ob sie ihren Vater später suchen wird – das weiss ich nicht – dafür müsste ich einen Folgeband schreiben, denke aber nicht darüber nach.

Ich unterrichte an einer Schule, an der auch nicht-weisse Kinder zur Schule gehen. Mit ihrem Buch glaubte ich, etwas von ihrer Verunsicherung in ihrem Blick interpretieren zu können. Liegt nicht genau hier eine Gefahr, wenn Leserinnen und Leser plötzlich glauben, verstehen zu können? Gibt es Verstehen?

Ja, ich glaube es gibt ein Verstehen. Verstehen hat ja auch mit Zuhören zu tun; und Zuhören mit darauf eingehen, ernst nehmen, innehalten, über den Tellerrand hinwegsehen. Darin sehe ich also keine Gefahr, natürlich ist es kein selbst durchlebtes Verstehen. Aber um das geht es ja auch nicht. Die Gefahr lauert dort, so finde ich, wenn Leser*innen denken, es seien einfach Geschichten von Betroffenen, sich zwar von ihnen berühren lassen, aber nicht in die Reflexion gelangen, dass man selber etwas damit zu tun hat. Für mich gehört die Selbstreflexion dazu, nur so kann aus dem Verstehen Bewegung entstehen.

Ihr Buch ist eine Meditation über den Schmerz. Vielfachen Schmerz. Und doch spricht weder Bitterkeit noch Verbitterung. Umso mehr eine ungeheure Kraft und die unbeugsame Hoffnung, den Vater auch in seiner Distanz nicht zu verlieren. Wie viel potenziellen Schmerz man in Vaterschaft mit sich herumträgt, weiss ich als Vater erwachsener Kinder sehr wohl, denn wenn Kinder erwachsen werden, werden die Versäumnisse eines Vaters „unbarmherzig“ gespiegelt. Haben Sie sich mit diesem Buch emanzipiert?

Das Buch ist ja keine 1:1 Biografie, ich hätte es aber vor ein paar Jahren nicht so schreiben können, weil ich selber in einem Prozess war: als Tochter, als Schwarze Schweizerin, als Autorin, als Frau.

Ich sehe es so, dass ich mich mit diesem Buch als Schwarze, Schweizerin und als Autorin emanzipiert habe. Ich habe mir Platz genommen und mir selber eine Stimme gegeben. Jedes Kind muss oder sollte sich irgendwann eine eigene Stimme geben.

Eine Ehe zwischen einem Afrikaner von Sansibar und einer Schweizerin und eine gewachsene Familie mit zwei Töchtern sieht aus wie „fleischgewordene Völkerverständigung“. Was braucht es wirklich?

Oh eine schwierige Frage, auf die ich keine wirklich gute Antwort habe, weil ich selbst viele Fragen noch mit mir herumtrage. Sicherlich braucht es das Wissen, dass es um Entwurzelung geht, dass es auch um Abhängigkeit und Macht gehen kann, natürlich abgesehen von der Liebe und der Verbundenheit!

Was waren die Widerhaken im Schreiben an diesem Buch?

Sich immerzu in eine Kindersprache zu bewegen und den Stil durchzuziehen, mit dem Wissen, dass es keine gängige Form ist. Mir treu zu bleiben, egal was die anderen sagen, egal, dass es ein experimentierfreudiges Buch wird und eine Kinderstimme vielleicht weniger ernst genommen wird. 

Aber auch, dass ich einerseits politisch korrekt bin und anderseits das Thema so behandeln wollte, wie es sonst weniger behandelt wird. Mein Anspruch war auch innerhalb des Familiensystems zu zeigen, was ist, wenn ein Elternteil das Kind nicht stärkt, es mit reinzieht in sein Dilemma. Also nicht nur die Gesellschaft nicht entpowernd ist, sondern auch die Familie.

Grundlegend wollte ich in keinen Kampf treten, sondern still hinhalten und diese Stille aushalten, wie auch zutrauen. 

Lesetipp von Samira El-Maawi: Leslie Feinberg «Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen», Krug & Schadenberg, 2020, 480 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-930041-35-0

Welches Buch lässt Sie nicht los?

„Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen“ von Leslie Feinberg. Es geht um Zugehörigkeit, um Ausgrenzung, um die Stärke in der Gemeinschaft, um eine Welt, die noch nicht bereit war für Diversität – ein Stück Zeitgeschichte. Es ist ein Buch, das berührt und zeigt, wie sich ein Mensch trotz Widrigkeit seinen/ihren Platz, seinen/ihren Raum einnimmt. Ein erstaunliches und mutiges Buch!

Samira El-Maawi, geboren 1980 im Kanton Zürich, absolvierte eine 3-jährige Detailhandelslehre, produzierte danach ihren ersten Dokumentarfilm. Es folgte das Grundstudium an der F&F Filmklasse, Tätigkeiten als Regieassistentin beim Theater und als Casting-/Produktionsassistentin bei Werbefilmen. Sie arbeitete als Schreibcoach und Projektmitarbeiterin im Arbeitsatelier «Verein leben wie du und ich». Heute coacht sie Schreib- und psychosoziale Prozesse und ist als freischaffende Autorin tätig.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Franziska Reichel

Sien Volders «Norden», Residenz

Eine junge Frau flieht vor einer grossen Entscheidung. Kann man so einfach aus einem Leben aussteigen? Welchen Preis zahlt man beim Versuch, neu anzufangen. „Norden“ erzählt von einer Sehnsucht, die viele mit sich herumtragen. Nicht zuletzt davon, in ein Auto zu steigen und einfach loszufahren, bis die Strasse endet.

Sarah ist Silberschmiedin, versteht sich als Künstlerin, unabhängig, nicht um Investitionen und Bankkonten an die Kundinnen zu hängen, sondern um die Persönlichkeit ihrer Kundinnen zu unterstreichen. Und weil sich plötzlich eine grosse Schmuckfirma für ihre Unikate interessiert und ihr den grossen Durchbruch verspricht, zieht es Sarah weg von ihrer Stadt, weg von ihrer Werkstatt, um eine Entscheidung zu treffen. Sarah will Zeit, will wissen, wohin sie sich tragen lassen soll. Sie packt ihre Sachen, den Brief von der Schmuckfirma und fährt mit ihrem olivgrünen 1969er Dodge Challenger weg von allen glatt asphaltierten Strassen an den Rand der Zivilisation. Nach Forty Mile, ganz im Norden, an der Grenze zu Alaska.

Forty Mile ist ein altes Goldgräberstädtchen, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich brachte. Ein klein gewordenes Nest, ein paar Häuser, ein Gasthaus, eine Tankstelle und ein Laden, in dem sich die Einheimischen mit dem Nötigsten eindecken können. Ein Ort am Zusammenfluss von Forteile River und dem Yukon, der im Frühling für Monate unpassierbar wird, weil riesige Eisschollen auf dem Strom den Ort zur Sackgasse machen. Sarah findet ein Zimmer bei Mary, die dort mit viel Esprit den Ladern führt und für die Menschen weit mehr ist als bloss die Frau, die den Laden führt.

Sarah ist auch in einer Sackgasse, sucht nach einer Spur, die sie aus ihrem Stillstand herausführt, denn es ist nicht nur der Brief von der Schmuckfirma, der nach einer Entscheidung ruft. 

Sien Volders «Norden», Residenz, 2020, 281 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1734-7

Sarah lernt die Menschen in Forty Mile kennen. Und die Menschen in Forty Mile sind neugierig auf die junge Frau, die auch noch nach Wochen bleibt und mehr und mehr die Herzen jener gewinnt, die an dem Ort am Rand hängengeblieben sind. Zum einen ist da Mary, in deren Zimmer im Obergeschoss des Ladens ein verhülltes Bild verrät, dass in der Vergangenheit der Ladenbesitzerin ein altes Leben endete. Oder Adam, ein junger Musiker, ein Geiger, der Sarah mehr als nur die Gegend zeigt, den Sarah mehr und mehr in ihre Nähe lässt, um festzustellen, dass neben ihr und der Musik aber noch eine dritte Kraft Adam an sich bindet; der Alkohol. Oder Walker, ein Mann, der in den Wäldern lebt, Fallen stellt und für die Menschen dort so etwas wie die Verkörperung eines Ideals ist; ein Trapper, ein Stück real gebliebener Romantik.

Sie alle haben etwas zurückgelassen. Mary, die Ladenbesitzerin, hiess einst Marion Goodwin und war vor ihrer Flucht nach Forty Mile eine gefeierte Malerin, bis sie im Kreuzfeuer von Kommerz und Kunst den Rückzug suchte und ein Leben hinter sich liess. Sarah macht sich auf die Suche nach Spuren ihrer Vermieterin, eigentlich auch auf die Suche nach sich selbst, denn sie spürt unweigerlich, dass das Schicksal dieser Marion Goodwin auch ihr eigenes werden könnte. Und als Adam einmal mehr seinen Halt verliert und im Alkohol zu ertrinken droht, als er sich auf die andere Seite des Flusses rettet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Norden“ ist ein Roman über Selbstfindung. Wo liegt die Bestimmung eines Lebens? Gibt es den unwiederbringlichen Moment, der eine Entscheidung fordert, die nicht zu korrigieren ist? Kann man einem Menschen, selbst wenn man ihn liebt, helfen das zu tun, was nach Bestimmung aussieht? 

Die junge Holländerin Sien Volders hat einen unverkrampften Roman geschrieben. Man riecht das Harz der Wälder, man hört den Rhythmus der Musik, die in der Kneipe im Ort bis in die Nacht den Takt angibt und spürt den kalten Wind, der über den Yukon zieht. Sien Volders romantisiert nicht, obwohl ich meiner eigenen Versuchung, jenes Stück Wildnis zwischen Nordkanada und Alaska nicht automatisch zu verklären, immer wieder entsagen muss. „Norden“ riecht nach Sehnsucht und dem Wissen, dass jeder mit seinen Entscheidungen letztlich allein bleibt. 

Auch wenn der Roman wahrscheinlich in zu vielen Geschichten ein Ende sucht, hat die Lektüre Freude gemacht! 

Interview

Eine junge Frau verlässt für eine Entscheidung ihre Welt in der Stadt Vancouver und fährt in die ehemalige Goldgräberstadt Forty Mile an der Grenze zu Alaska. Von der totalen Zivilisation an den Rand der Zivilisation. Die Stadt verlässt sie nicht wirklich, so wie sie nie wirklich in Forty Mile ankommt. Sind Sehnsuchtsorte nicht verdammt,  Enttäuschungsorte zu werden?

Für mich ist der Norden in diesem Buch das, was einst der Wilde Westen war: ein Ort, an dem der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist. Zunächst geht es ums Überleben, Mensch gegen Natur, um dann zu einer Symbiose überzugehen, in der Mensch und Natur leben können und aus der langsam eine neue Gesellschaft erwachsen kann. Es ist kein Zufall, dass Forty Mile am Rande der wirklichen Wildnis liegt: der am weitesten entfernte Ort, an dem man noch zusammenleben kann, und wo manche sehnsüchtig in den höheren Norden blicken, wo das wirkliche wilde Leben ist. 
Ob ein Sehnsuchtsort zur Enttäuschung wird, hängt sehr stark von der Erwartung ab, ob sie realistisch ist oder nicht: Sarah geht unerwartet dorthin, weil sie Luft und Raum will, um nachdenken zu können, und sie findet es dort. Mary ist vor langer Zeit dorthin geflohen, um eine zerstörerische Spirale zu durchbrechen und hat schliesslich ein neues Leben gefunden. Für beide Frauen ist der Ort eher ein Ort der Kontemplation als ein Ort des Heils. Für Adam ist es tatsächlich ein Ort der Enttäuschung, denn er jagt einer Illusion hinterher: dem Norden als Erlösung, als Sinn. Irgendwann wird es so sein, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hat.

Sarah bleibt zwischen zwei Männern hängen, in einer Art Schwebezustand, noch einem Ort, der Schmerz verursacht. Auch deshalb, weil sie beiden Männern nicht helfen kann. Sarah drängt Hilfe nicht auf und trotzdem finden beide Männer aus Krisen hinaus. Auch Mary, die einst eine gefeierte Malerin war, hat sich in der Abgeschiedenheit von Forty Mile zurückgezogen. Ist Schreiben ein Versuch auch eine Form des „Rückzugs“, Ordnung zu finden?

Wie gesagt, der Norden ist ein Ort, an dem man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Es ist eine Übertreibung der Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten. Das Heil liegt nicht im anderen, sollte nie im anderen liegen müssen. 
Überspitzt gesagt, kann man nur dann wirklich für den anderen da sein, wenn man frei und selbstbewusst, nach Selbstbeobachtung und eventuellem Rückzug, für sich festgestellt hat, was das eigene feste Fundament ist.
Schreiben ist für mich eine sehr analytische Tätigkeit, bei der ich neben dem Erschaffen einer Geschichte immer wieder hinterfragen muss, wie sich Menschen zu sich selbst und zueinander verhalten. 

Sarah kommt an einen Ort, an den sich eine ehemalige Künstlerin zurückgezogen hat. Nachdem sie im Kreuzfeuer von Kritik, Anfeindungen und Unverständnis, nach einem kometenhaften Aufstieg und dem Versuch sie zu instrumentalisieren, wegtauchte, ist sie in Forty Miles so etwas wie die Mutter aller. Auch Sarah droht im Konflikt zwischen Kommerz und Kunst zu zerbrechen. Gibt es eine Grenze zwischen Kunst und Kommerz?

Sarah merkt, wie die berufliche Seite ihres Lebens (ihr Talent und ihre Kunst) sie dazu zu bringen scheint, einen Weg einzuschlagen, den sie nicht unbedingt für sich selbst gewählt hat, und das in einem Tempo, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. 
Das hat sie mit Mary, der ehemaligen Künstlerin, gemeinsam. Beide Frauen gehen nach Norden, um darüber nachzudenken. Es gibt eine klare Grenze zwischen Kunst und Kommerz, aber das muss kein Problem sein. In Sarahs Silberschmiedekunst können Kunst und Kommerz problemlos koexistieren, vorausgesetzt, Sarah selbst ist damit im Reinen. Jede Figur im Buch sucht auf ihre eigene Art und Weise nach Freiheit. Ohne das zu sehr vorschreiben zu wollen, scheint es mir, dass es ein guter Weg ist, Frieden in den Entscheidungen, die man im Leben trifft, zu haben.

Noch eine Person, die zu zerbrechen droht, ist Adam, der Musiker, der Geiger, der das Geheimnis einer ganz besonderen Musikrichtung lüften und zu eigen machen will. Bei ihm ist es der Alkohol. Ist Alkohol an den Grenzen der Zivilisation ein ganz besonderes Trostmittel?

Schaut man sich das Leben rund um den Polarkreis an, sei es in Kanada, Skandinavien oder Russland, ist die besondere Beziehung zum Alkohol durchaus spürbar. 
So nah am Norden, sind die Sommer kurz, heiss und wild, die Winter lang, dunkel und kalt. Alkohol hilft, das Leben zu feiern, wenn die Dinge gut laufen, und die scharfen Kanten zu mildern, wenn es nötig ist. Obwohl der Umgang damit sehr unterschiedlich sein kann (in Skandinavien ist er eher streng), scheint das Verlangen nach dem Rausch ein wenig grösser zu sein als anderswo.
Die Art und Weise, wie Adam sich darin zu verlieren droht, während er einer Illusion hinterherjagt, ist in diesen Gefilden sicherlich sehr gut zu erkennen.

Was faszinierte sie an diesem Ort? An Forty Mile?

Forty Mile ist inspiriert von Dawson City, einer Stadt im hohen Norden Kanadas, in der ich einmal zufällig gelandet bin, weil ein lieber kanadischer Freund von mir plötzlich dorthin zog. Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Fan von Jack Londons Büchern, und als ich dort war, wurde mir klar, dass es dieser Ort ist, dass dies der aktuelle Wilde Westen ist. Ich selbst gehöre eher zu der Sorte von Sarah, die es als Ort der Kontemplation sieht. Ich sehne mich danach, und ich bin so begierig, dorthin zu kommen, weil ich weiss, dass ich immer wieder gehen werde.

Welche Lektüre bewegte Sie in den vergangenen Monaten?

Ich bin eine ausdauernde Wiederleserin und das Buch, das ich in diesen Tagen am häufigsten lese, ist «Sula» von Toni Morisson. Eine sehr kluge, schön geschriebene Novelle, in der die beschriebenen Frauen als Kriegerinnen, als Freundinnen, als Mütter und Töchter, aber vor allem als Geschichtenerzählerinnen vorgestellt werden.
Im Moment geniesse ich Marek Sindelkas Debüt «Chyba» (Klimakummer, auf Niederländisch) sehr.

Sien Volders, geboren 1983, lebt und arbeitet in Gent. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Anthropologie arbeitete Sien Volders als Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin. 2017 erschien ihr hochgelobter Debütroman „Noord“, der 2020 unter dem Titel „Norden“ aus dem Niederländischen übersetzt im Residenz Verlag erscheint.

Bettina Bach, aufgewachsen in Deutschland und Frankreich, lebt in Jena. Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Amsterdam. Bettina Bach übersetzt aus dem Niederländischen und Französischen, u.a. Jan Siebelink und Tommy Wieringa. Für die Übersetzung von Arjan Vissers «Der blaue Vogel kehrt zurück» wurde sie 2014 mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet. 

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp

Wovor fürchten sie sich? Vor den „grossen“ Katastrophen oder den kleinen? Jenen, deren Fangarme in den Medien nach uns greifen oder jene, die sich ganz still und leise in unser Bewusstsein schleichen und dort hartnäckig als Ängste und Bedrohungen haften bleiben? Urs Faes erzählt in seinem neuen Roman in seiner ganz eigenen, seismographisch empfindsamen Sprache von drohenden Abgründen, die sich hinter der Normalität verbergen.

Herta lernt in einem Frankfurter Flughafenterminal einen Mann kennen. Einen, der so gar nicht in ihr Schema zu passen scheint, einen mit Cowboystiefeln und Cowboyhut, einen, über dessen ausgestreckte Beine sie beinahe stolpert. Sie wartet auf ihren Flug nach Zürich, er auf den seinigen nach New York. Ein paar Monate später steht der Mann vor ihrer Haustüre, mit einem grossen, abgenutzten Seesack und der Absicht zu bleiben, obwohl Hertas Kinder Dorit und Eliane ihre Mutter nicht verstehen und sie für überdreht und bekloppt halten.

Jakov Blumental war vor Jahrzehnten in die Staaten ausgewandert, war in der Textilbranche erfolgreich, hatte Familie, Kinder drüben und einen Sohn, der viel zu früh gestorben war. Herta war mit einem Internisten verheiratet, aber immer nur die Ehefrau des Internisten geblieben. Und als dieser sich mit einer Jüngeren in einen zweiten Frühling absetzte, war Herta allein. Was sich zwischen Herta und Jakov anbahnt und sich schnell als dauerhaft abzeichnet, wird für die beiden zu einem zweiten Leben, wenn auch nicht mit gleichen Vorzeichen und Auswirkungen. Schon nach wenigen Jahren zeigt sich, dass Jakov, der nie viel von seiner Vergangenheit freigeben wollte, zuerst der Zerstreutheit und später dem grossen Vergessen zum Opfer fällt. Und als Jakov dann bei einer genauen Diagnose nicht nur einer allmählich wachsende Demenz zugeschrieben wird, sondern der Aussicht, dass sich aus dem schwindenden Gletscher des fest Eingeschlossenen Verfestigtes auftauen werde, das sich einer Zuordnung verweigere und bei Jakov Ungeahntes auslösen kann, wird das Zusammenleben der beiden auf eine harte Probe gestellt.

«Ich bin vergesslich geworden, aber ich vergesse nicht, dass ich vergesse.»

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp, 2020, 239 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42948-8

Herta weiss, dass es in Jakovs Vergangenheit Dinge gibt, die ihr immer verschlossen bleiben. Und als sich das Vergessen bei ihm immer mehr im Alltag bemerkbar macht, in seinen Absenzen, Krisen, seinen Träumen und Notizen, kommt auch noch die Angst, einen Menschen ganz allmählich zu verlieren, auf verschlossene Kammern zu stossen, deren konservierte Atmosphäre das zu vergiften droht, was ihr noch geblieben ist. Kenne ich jenen Menschen, der mir am nächsten ist? Sind die Nächsten jene, von denen ich mir Jahrzehnte lang ein unumstössliches Bild zu machen traute? Was bleibt, wenn man mir nimmt, was stets in Stein gemeisselt schien?

Urs Faes schreibt die Geschichte von Herta und Jakov in Rückblenden, aus der Sicht Elianes, der Tochter Hertas. Herta sitzt am Tisch in ihrem Haus, in dem sich nach den Ereignissen um das langsame Sterben Jakovs langsam die Stille und Gleichförmigkeit wieder einstellt. Vor ihr auf dem Tisch stehen zwei Urnen. Herta will nur den einen Teil Jakovs Asche durch die Firma Ash Logistics nach Übersee liefern lassen. Ein Teil soll bei ihr bleiben. Einen Teil will sie für sich behalten. Nicht nur die Asche, sondern auch jenen Jakov, der ihr eine zweite Liebe schenkte.

«Kann man einen Menschen lieben, der einem kaum noch kennt, der nur noch selten zu einem spricht? Der oft spricht, ohne etwas zu meinen?»

An seiner Buchtaufe im Literaturhaus Zürich betonte Urs Faes, wie wichtig es ihm gewesen sei, nicht einfach einen weiteren Demenz-Roman in eine lange Reihe stellen zu wollen. „Untertags“ erzählt von den Sedimenten unserer persönlichen Geschichte. Davon, dass wir uns mit Bedacht eine Gegenwart zurechtrücken, die wir wie einen Garten hegen und pflegen. Davon, dass unter diesem Garten Magma- und Methankammern lauern, die jederzeit aufbrechen können, erst recht dann, wenn uns Demenz, Alter und Erschöpfung die Schaufel aus der Hand nehmen.

Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta und Jakov durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. „Untertags“ ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.

© Jürgen Bauer

Interview:

Jakov ist untertags unterwegs, schreibst du. Er ist wohl noch da, aber eigentlich schon zum grössten Teil abgetaucht. Für Liebende muss es eine schreckliche Erfahrung sein. Ebenso schrecklich für jene, die langsam ins Vergessen einsinken. Steckt da auch eine Portion Angst von dir?
Das Schwinden der Worte gehört zu den Verlusten, ein Abnehmen der Merkfähigkeit, also auch der Teilhabe an der Gegenwart, des Seins in der Gegenwart und der Rückkehr in Erinnerungen, jene Hallen des Gedächtnisses, in denen alles bewahrt ist, was ein Mensch erfahren hat.
Für sein Gegenüber, das Du, ist das gewiss schmerzhaft, aber nicht nur schrecklich, denn es gibt darin auch tröstliche Momente. Sie finden andere Sprachen, immer wieder, noch spät, und darin die Fülle gelebter Augenblicke, Freude an dem, was schön ist. Der gemeinsame Blick auf eine Distel zum Beispiel, der Gang in Landschaften, sogar hoch zu Pferd. 
Es stimmt schon: die Erfahrung, wie bedürftig und gefährdet wir sind, die ich durch eigene Krankheit gemacht habe, diese Sicht auf unsere Hinfälligkeit, die war immer bewusst. So schwangen eigene Ängste im Erzählen unbewusst mit, auch wenn das Erzählte eine andere Geschichte ist.

Du erzählst die Geschichte von Herta, ohne sie auszuleuchten. Genauso die Geschichte Jakovs. Das scheint eine deiner Grundeinsichten in deinem Roman zu sein. Dass man weder sich selbst noch sein nächstes Gegenüber erkennen kann, auch wenn man den Begriff des „Erkennens“ beinahe mystifiziert. Du bist kein „Sezierer“, wohl eher ein Schriftsteller, der seinem Personal mit allem Respekt möglichst nahe zu kommen versucht. Gibt es Grenzen der Nähe? Im Schreiben und in der Liebe?
Figuren sollen knapp und genau gezeichnet sein, aber immer so zurückhaltend, dass Ihnen auch ein Geheimnis bleibt, und das Portrait im Kopf des mündigen Lesenden entsteht (wie der letzte Vers eines Gedichtes auch erst im Kopf des Lesenden sich bilden soll). Der Erzähler hält sich zurück, das ist die halbe Kunst seines Handwerks: sich zurück – und die Geschichte von Erklärungen freizuhalten. Denn auch erzählte Figuren haben eine Aura von Würde, der man mit Respekt begegnen soll.
Und wo sind neben dem Erzählen diese Grenzen von Nähe wichtiger als in der Liebe: Amo, volo ut sis, ich liebe dich, lautete ein Satz aus dem Mittelalter, damit du der sein kannst, der du bist. Dem andern seinen Raum lassen, damit er seine Autonomie wahren kann (vielleicht auch sein Geheimnis), die ebenso ein Grundbedürfnis ist wie jenes nach Liebe und der Verheissung auf Geborgenheit. Das Gebot von Nähe und Distanz ist wichtig.

Herta wagt noch eine Reise mit Jakov in die Staaten. In der Hoffnung, Jakov Anknüpfung zu bieten und sich selber Antworten auf all die Namen und Gesten ihres Mannes, die ihr Rätsel aufgeben. Eine Reise, die mehrfach nah am Fiasko vorbeischrammt. Drohen nicht in allen Beziehungen „Büchsen der Pandora“?
Herta hofft mit ihren Reiseplänen auf jene Momente des Wiedererkennens von Menschen, Situationen, Orten, die ein Aufgehobensein in der Gegenwart noch einmal ermöglichen, erfüllte Augenblicke. Sie sind möglich, bis spät; es ist auch der Versuch, sich immer neu dem Leben zuzuwenden, zu leben, was noch möglich ist. Hier ist es allerdings schon sehr spät.
Beziehungen müssen nicht eine Büchse der Pandora sein. Aber natürlich ist es so, dass Unvorhergesehenes zum Leben, zu Beziehungen gehört, die gefährdet sind, wie der Einzelne auch. Jede Form von Leben ist immer auch ein Weg ins Nichtversicherbare, so sehr wir das Ausblenden und hundert Versicherungen abschliessen. Aber diese Ambivalenz ist zu ertragen.
Bei Jakov ist es ja auch nicht nur eine Büchse der Pandora, die sich öffnet, sondern aus der Vergangenheit taucht eine grosse Liebe auf, Ini, der dunkle Kern des Romans, und wird noch einmal, schon fast kindlich rein, Gegenwart. Traumatisch war allerdings ihr Ende. Auch das öffnet sich.

«Untertags» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Du schreibst die Geschichte aus einer weiblichen Perspektive. Ist es leichter, damit Distanz zu wahren?
Es geht im Buch, auf verschiedenen Ebenen, um das Erzählen. „Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück“, heisst es einmal. Erzählen antwortet oft auf einen Verlust (Wer sein Land oder seinen Partner verliert, erzählt davon). So geht es auch Herta. „Sie musste erzählen. Den andern. Und sich. Vor allem sich.“ Im Erzählen findet sie wieder zu sich, gewinnt Halt, Ich-Kohärenz. Sogar Patienten mit Diagnose gewinnen im Gedächtnistraining eine zumindest temporäre Identität. Ich habe das beim Recherchieren mit Erstaunen beobachtet. Es verweist auf einen Gedanken in der jüdischen Erzähltradition, dass Erzählen heilt. Ich selber kehre immer wieder zum Erzählen zurück, im eigenen Leben, im Schreiben. So ist «Untertags» ein Buch, das wohl von Verlusten berichtet, aber eben auch vom Erzählen, das Verluste aufhebt in Geschichten.
Mag sein, dass ich der weiblichen Perspektive aufmerksamer, behutsamer folge, weil ich sie immer neu wahrnehmen muss. Das war schon in meinem Erstling «Webfehler» so. Und seither immer mal wieder.

„Wenn man Sprache auch als ein Haus begreife, worin der Mensch wohne, dann müsse doch einer, der die Worte verliere, ins Nichts geraten, unbehaust sein“, sagt Eliane zu ihrer Schwester Dorit. Ist das nicht eine reichlich optimistische Anschauung? Müsste man nicht feststellen, dass viele Erdbewohner Teilobdachlose sind?
Ich wäre in der „Obdachlosenfrage“ nicht so skeptisch. Ich habe schon als Kind im Quartierladen meiner Mutter beobachtet, wie sehr Menschen ein Urbedürfnis haben, zu erzählen, also Worte zu finden, für das, was sie angeht, sie beschäftigt oder bedrückt. Das ist Sprechen und Sprache. Man kann sogar sagen, dass Menschen eine Tendenz haben, oder in ihrem Bewusstsein eine solche besteht, erzählend zu verarbeiten, zu gestalten, sich zu rechtfertigen. Erzählen gehört zu unserer Art in der Welt zu sein, Welt zu erfahren. Kinder wollen erzählen, was sie gesehen und erfahren haben, Reisende auch, Stammtisch- und Partybesucher eben auch. Und durch das Erzählen entsteht, schon fast nebenbei, so etwas wie Empathie, denn wer erzählt, versteht auch, ein Stück weit wenigstens.
Vielleicht ist das heute seltener geworden, weil viele die Wirklichkeit und die Menschen gegenüber nicht mehr wahrnehmen, da sie nur auf das Smartphone blicken, Nachrichten aus zweiter Hand. Erzählen könnte überall stattfinden, spontan, sprudelnd, ungeformt. 
Manche finden für ihre Geschichten später eine feste Form, eine bestimmte, gestaltete Art des Erzählens. Hier beginnt dann die Literatur.

© Silke Keil

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Rezension von «Raunächte» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Ein Stück «Untertags» auf gegenzauber.literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Silke Keil/Suhrkamp

Katharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus

Katharina J. Ferners Roman „Der Anbeginn“ ist ein starkes Stück über keimendes Leben und den Tod, über archetypische Figuren und fiebrige Innenwelten, über vermeintliche Realitäten und flirrende Zwischenwelten. Wer sich gerne von Literatur bezaubern lässt, ist mit diesem Roman reich beschenkt!

Ein Mädchen wächst auf in einem Dorf, das aus der Zeit gefallen ist. Die Szenerie des Romans erinnert an einen langen Traum, eine Zwischenwirklichkeit, an eine Welt, die immer gleich durch die Jahrhunderte getragen wird, in der Tote nicht verschwinden, Lebende umso mehr, wo der Fährmann der Grenzer ist, in der das Matriarchat zur Selbstverständlichkeit wird. Katharina J. Ferner zeichnet eine Welt, die keiner Zeit unterworfen ist, die aber in jedem von uns lebt, weil sie weit über den Traum hinaus in unsere Wirklichkeit hineinspielt. Eine archaische Welt, die sich der Logik, der Ratio lächelnd entzieht. Wer „Der Anbeginn“ liest, lässt sich ein in eine Welt, die in ihrer Gültigkeit in jedem von uns steckt, von der wir uns aber immer schneller und immer weiter entfernen. „Der Anbeginn“ ist märchenhaft aber kein Märchen. Der Roman erzählt von den Urkräften des Lebens, von Geburt und Tod, von Liebe und Leidenschaft, von der Suche und vom Finden.

„Nur weil ich tot bin, heisst das noch lange nicht, dass ich auch so aussehen muss.“

Katharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus, 2020, 192 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-9903918-4-6

Ein Dorf an einem Fluss, nicht weit vom Meer. Während eine Tochter geboren wird, stirbt die Grossmutter. Der Vater ist Maler. Das Kind wächst mit Farbe und Pinsel auf, weiss, dass jene Wirklichkeiten, die gemalt sind, ebenso wirklich sein können, wie jene ausserhalb des Ateliers ihres Vaters. So wie die Grossmutter Wirklichkeit bleibt, obwohl sie der Fährmann geholt hatte. Das Mädchen wächst auf mit Mutter und Vater, mit den zwei Schwestern der Mutter, Ida und Ada, in einem Dorf mit der Bäckerin Svenja, mit anderen Kindern unter denen sie schon bald eine Sonderstellung einnimmt. Man begegnet ihr mit Respekt, so wie sie selbst allem und jedem mit Respekt begegnet. So wie sie den Tieren, selbst den Spinnen in ihrem Zimmer mit Respekt begegnet, sie an ihrem Leben teilnehmen lässt. Die Wiese, der Wald, der Fluss ist genauso ihr Zuhause, wie das Zimmer im Haus ihrer Künstlereltern, das Dorf, die Menschen genauso ihr Körper wie der ihrige.

Das Leben im Dorf ist eines in den Traditionen, in Regeln, die das Zusammenleben geschaffen hat. Eine Welt, die in immer grösserem Kontrast zur Welt in der wir leben gesehen werden muss. Katharina J. Ferner malt auf grosse dreidimensionale Leinwände, schafft eine Tiefenwirkung, die mich einsaugt, die mich fasziniert. Sie schafft, was sonst nur Träume vermögen und tut dies mit traumwandlerischer Sicherheit, mit faszinierender Selbstverständlichkeit. 

„Vater malte mir eine Sonnenblume um den Nabel herum, die Blätter waren so gross, dass sie mir bis zu den Rippen hinauf reichten.“

Dieses Dorf ist eine Zwischenwelt. Ein Dorf, das mit der Natur eins ist. Menschen, die sich als Teil dieser Welt sehen und sie nicht unterwerfen. Hier manifestiert sich die Natur nicht als Gegenüber des Menschen. In „Der Anbeginn“ nistet sich die Natur bis in die Haare der Protagonistin ein. „Der Anbeginn“ ist so rätselhaft wie das Leben selbst, wie die Geburt und der Tod, das Leben und das Sterben. Wer diesen Roman liest, die Geschichte dieser jungen Frau, die Geschichte dieses Dorfes jenseits des grossen Flusses, der begibt sich in eine Art Tagtraum, eine von Farben und Gerüchen satte Welt.

Interview mit Katharina J. Ferner:

Was hat dich bewogen, deinen Roman in einer Art Zwischenwelt anzusiedeln
Die Zwischenwelt hat mehrere Beweggründe. Einerseits bin ich selbst grosser Fan von Erzählkulturen, die eine Tradition des Mystischen, der Märchen und des Surrealismus in der Literatur pflegen. Im deutschsprachigen Raum wird oftmals nicht über vermeintliche Grenzen hinauserzählt, was ich persönlich schade finde. Die Fülle der Geschichten, die so gesponnen werden können und das Eintauchen ins Fantastische eröffnen mir so zusätzlich zur Handlung auch eine poetischere Sprache.
Auf der anderen Seite hängt die Entscheidung mit der Figurenkonstellation zusammen. Ohne eine Zwischenwelt kann die klassisch angelegte Figur des Fährmanns nicht mit dieser Selbstverständlichkeit existieren. Und somit verlören auch die Figuren, die auf ihm aufbauen, an Glaubwürdigkeit und blieben bloss als Hirngespinste der Ich-Erzählerin vorhanden. 

Ist es, als würden sich in deinem Roman die Frauen dem Leben zuwenden und die Männer dem Leben eher abwenden?
Weder noch. Die Frauen halten die Fäden in der Hand. Sie begrüssen das Leben zur selben Zeit, wie sie einen Tod beklagen, insofern würde ich nicht sagen, dass sie sich dem Leben konkret zuwenden.
Die Männer sind bei den Todesritualen nicht dabei, weder bei der Verabschiedung der Verstorbenen noch bei der alljährlichen Schlachtung. Sie weichen dem Tod eher aus. Er ist kein Thema, das sie ständig beschäftigt und begleitet, während er bei den Frauen andauernd präsent ist. 

Dein Roman ist von einer tiefen Weiblichkeit durchsetzt. Nicht dass sie mich stört! Ganz im Gegenteil! Es ist nur, als ob so einen Roman in dieser Art nur eine Frau schreiben könnte. Ich bin von dieser Weiblichkeit ebenso fasziniert wie verunsichert. Faszination und Verunsicherung, die gepaart beinah Schwindel erzeugen. Schreibst du dich von der Realität weg?
Ich nehme das durchaus als Kompliment und denke es ist mir gelungen, viele Themen anzusprechen, die natürlich mit dem Frausein unmittelbar zusammenhängen, wie beispielsweise der Zyklus. Es gibt zwar keine Aufklärung in diesem Dorf, dennoch gibt es ein strenges Gefüge zwischen Männern und Frauen, das auch mit der körperlichen Wandlung und dem Alter zu tun hat. Die Konsequenzen die daraus entstehen, funktionieren im Roman anders, vielleicht gewagter. 

Dein Vater malt. Du malst auch, dichtend und erzählend. Das Mädchen, die junge Frau in deinem Roman, wächst auch in einem Künstlerhaus auf. Was hat der Duft von Terpentin mit dir gemacht?
Der Terpentingeruch hat tatsächlich keinen Ursprung in meinem Elternhaus, sondern in meiner Schulzeit. Bevor ich zu Literatur wechselte, belegte ich dort Bildnerische Gestaltung als Hauptfach. Im Roman fällt der Künstlervater ziemlich aus der Reihe, in einem Dorf, das auf Selbstversorgung angewiesen ist. Aber er gibt seiner Tochter seine Farben mit auf den Weg, damit sie sich die Welt ausmalen kann – genau so, wie ich es ja vielleicht auch mache. Früher habe ich viel fotografiert auf Reisen, nun notiere ich, sammle und (ver-)dichte.

Ich lernte dich an einer Lesung von Michael Stavarič kennen. Auch ein Schriftsteller, der es eindrücklich versteht, auf grossen Leinwänden kolossale Bilder zu erzeugen. Was bedeutet es dir, mit anderen AutorInnen zusammen schöpferisch zu sein, wo doch viele deiner ArtgenossInnen als EinzelgängerInnen gelten?
Da hast du mich natürlich bei einer Lesung kennengelernt, von dem Menschen, der mich textlich schon am längsten und intensivsten begleitet. 
Mittlerweile verfolge ich vermehrt Kooperationen sowohl mit AutorInnen, als auch mit KünstlerInnen anderer Genres. Für mich bringen sie Inspiration, Wertschätzung, stärken das Vertrauen in die eigene Arbeit, fundierte Kritik. Manchmal hart erarbeitete, manchmal beflügelnde Geschenke. Und in diesem Jahr speziell sichern sie mir das eigene psychische Überleben. 
Grundsätzlich pflege und schätze ich aber Alleingänge ebenso. Gerade deswegen liebe ich das Konzept von Aufenthaltsstipendien. 

Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019).

Beitragsbild © Michael Ferner

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol

In der denkbar schwierigsten Zeit gründen Unerschrockene in der Ostschweiz einen Verlag für Prosa, Lyrik und Wort-Art, der Schreibenden aus dem Bodenseeraum eine neue Heimat bieten soll. Der Caracol Verlag mit Sitz im thurgauischen Warth. Das spanische Caracol bedeutet „Häuschenschnecke“. Caracol nannten die Spanier ein Observatorium in der Maya-Stadt Chichén Itzá (Yucatán/Mexiko), wegen der gewundenen Treppe, die im Innern in die Tiefe führt.

Schreiben ist ein Prozess, der in die Tiefe führt. Und die Hoffnung aller Schreibender, dass die Lektüre dies genauso schafft, nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Erica Engeler, die seit Jahrzehnten schreibt und sich dabei vieler Ausdrucksformen kunstvoll bedienen kann, präsentiert mit der Erzählung „Wie ein Bisam läuft“ genau das, was der junge Verlag will; diesen gewundenen Weg nach Innen, das Suchen nach Tiefe. Erica Engeler, eine Autorin der leisen Töne, in ihrem Auftreten zurückhaltend und scheu, überrascht in ihrer Erzählung durch Direktheit, Witz, Schalk und einer Dramaturgie, die sich an inneren Bildern orientiert und alles andere als protokollieren will.

Wandas Leben verheddert sich. Nicht nur weil sich ihre Gegenwart in scheinbaren Zufälligkeiten verliert, sondern weil sich ihre Vergangenheit immer fester um sie windet, ihr den Atem und Orientierung raubt, sie einengt und lähmt. Wandas Mutter stirbt an Krebs. Sie, eine gefragte Pianistin, sie, die sich mit ihrer Krankheit einmal mehr von ihrer Tochter entfernt. Wanda leidet seit ihrer Kindheit an der Distanz zu ihrer Mutter, an einer Familie, die sich schon in ihren Kindertagen von Streitereien zerreissen liess. Bis der Vater die Familie verlässt und die Tochter mit einer Mutter zurücklässt, die dieser fremd bleibt.

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol, 2020, 96 Seiten, CHF 20.00, ISBN 978-3-907296-01-1

Mit dem Krebs kommt Olivia ins Haus der Mutter, eine omnipräsente Hilfe, die der Mutter viel näher zu kommen scheint als Wanda. Und Wanda lernt in einem Café einen Mann kennen, tauscht Blicke aus und verliert ihn wieder. Einen Mann, der an ihr haften bleibt, sein Geruch, als er an ihr vorbeigeht und sich in der Stadt verliert. Wanda verliert sich an ihn, verliert sich in ihren Gedanken an die Mutter, an der lauten, zerstrittenen Vergangenheit der Familie.
Da sind Menschen, an deren Nähe sie sich verbrannte, Menschen, deren Nähe sie nie erreichte. „Wie ein Bisam läuft“ spürt genau diesen Gegensätzen nach, den traumatischen Bildern aus einer Kindheit, der Distanz zu ihren Eltern, den Schwestern Agnes und Verena, dem fehlenden Vater, den die Mutter vor die Tür setzte und der Krankheit, die Wanda mehr als nur die Mutter nimmt, sondern all das, das an Geheimnissen verschlossen bleibt.

„Wie ein Bisam läuft“ ist aber alles andere als Selbstzerfleischung, Selbstreflexion. Erica Engeler spickt ihre Erzählung mit würzigen Dialogen, kurzen, bissigen Sätzen, die in ihrer Prägnanz zum Schmunzeln zwingen. Die Geschichte ist das eine, ihre Sprache das andere. Erica Engeler spielt mit Nuancen, kippt zwischen Vorder- und Hintergründen. So wie das Leben unerklärbar bleibt, so bleibt Wanda vieles unerklärbar. So wie Wanda sich verheddert, so verheddere auch ich mich zuweilen bei der Lektüre – aber mit grösstem Vergnügen.

Ein Interview mit Erica Engeler

„Wie ein Bisam läuft“ ist eine Annäherung zwischen Tochter und Mutter. Ausgerechnet die Mutter-Kind-Beziehung, die so leicht idealisiert und verklärt wird, beschreibst du in deinem Buch als einen lebenslangen Kampf. Nicht so sehr von der Tochter gegen die Mutter, als von der Tochter mit sich selbst, gegen das, was dieses Verhältnis bei ihr anrichtet und auslöst. Wird der Blick einer älter werdenden Schriftstellerin milder?
Deine Überlegungen stellen die Mutter-Tochter-Beziehung mehr in den Vordergrund als bei mir gedacht. Für mich ist es eher eine Nichtbeziehung, oder eine erwünschte, die aber nicht zustande kam. Diese Mutter ist eine anwesend abwesende. Mehr Künstlerin als Mutter. 
Trotzdem lege ich ihr Tagores Verse in den Mund, die auch im wirklichen Leben meiner Mutter präsent waren und sich in mir festsetzten, wie eine Erbschaft oder eine verhaltene Aufforderung zum Schreiben (was auch sie gern getan hätte).

Was mir auffiel und besonderes Vergnügen bereitete, das waren die kurzen, witzigen und prägnanten Dialoge, die in deinem Text eingefügt sind und mehr entlarven, als andere Schriftsteller in ganzen Seiten versuchen. Steckt da in der Lyrikerin und Erzählerin auch noch eine verborgene Theaterautorin?
Das höre ich natürlich gern, aber ein Theaterstück würde ich mir nicht zutrauen. Mich fasziniert einfach die Redehemmung, die Zurückhaltung.

„Wie ein Bisam läuft“, der Titel deiner Erzählung irritiert und macht neugierig. Kannst du etwas erzählen, wie dein Titel seinen Weg auf den Buchumschlag fand?
Der Titel kam ins Buch als (versteckte) Hommage an meine Mutter. Er hat sich von selbst ergeben, war von Anfang an da.

Ein neuer Verlag, der Caracol Verlag. Was ist dir als Schriftstellerin bei einem Verlag wichtig, der dein Buch, deine zukünftigen Bücher herausgibt? Muss ein Verlag ein Stück Zuhause sein?
Ja, im besten Fall ist ein Verlag ein Zuhause. Nachdem mein Manuskript sehr lange unbeachtet (vielleicht auch ungelesen) bei einem anderen Verlag lag, habe ich mich sehr gefreut über die rasche und gut betreute Aufnahme meines Manuskripts im neuen Verlag mit dem schönen Namen Caracol – der für mich direkt aus meiner argentinischen Kindheit kommt.

Vieles in deiner Erzählung ist nur angedeutet, erschliesst sich mir erst bei genauem, vielleicht sogar erneutem Lesen. Auch ein Qualitätsmerkmal deines Textes, denn er macht genau das, was im Zusammenleben mit unseren Nächsten auch passiert; man kombiniert, interpretiert, man verheddert sich, tappt im Dunkeln. Lebt der Mensch mit dem permanenten Irrtum, Beziehungen wären wie Räume, die man mit Scheinwerfern ausleuchten kann?
Im Rahmen einer wortkargen Familie ist der natürliche Wortfluss eingedämmt. Man spricht zwar über Unwesentliches, das ist aber keine Kommunikation.

In einer Szene beschreibst du, wie die Mutter mit einem einzigen Satz alles in der Beziehung zu ihrer Tochter verändert: „Ich habe Krebs.“ Drei Worte, aber es verschieben sich Kontinentalplatten! Ein Satz, der alles verschiebt. Ist uns zu wenig bewusst, was Worte anrichten können?
Das ist schwer zu beantworten. Aber ich glaube, dass man in einer solchen Situation nicht überlegt vorgehen kann. Die Diagnose ist ein Schock, lässt sich weder klein- noch schönreden. Dass dieser Brocken so abrupt kommt, entspricht der Situation. Auch verschwiegene und berühmte Mütter sind nur Menschen – und dürfen es auch sein.

Erica Engeler ist 1949 in Ruiz de Montoya (Provinz Misiones) in Argentinien geboren. Seit 1974 wohnt und schreibt sie in St.Gallen. Seit 1985 veröffentlichte Erica Engeler Romane, Erzählungen und Gedichte.
Zudem war sie als Übersetzerin aus dem Spanischen tätig: Sie hat Werke von Alfonsina Storni, Ernesto Sabato und Roberto Arlt ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Ralph Ribi

Christoph Simon «Swiss Miniatur», Edition Baes

Es gibt Autorinnen und Autoren, da wartet man als fleissiger Leser mit stetig steigender Ungeduld, bis endlich etwas Neues erscheint. Manche verschwinden für immer von der Bildfläche, andere tummeln sich auf anderen Bühnen. Nachdem es mit «Spaziergänger Zbinden» kaum ein Buch gab, dass ich öfter gekauft und verschenkt hatte, liegt nun endlich ein neuer «Christoph Simon» bereit, auch wenn dieser den Hunger nicht stillen kann.

Als vor fast 20 Jahren beim Bilger Verlag Christoph Simons erster Roman „Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen“ erschien, war der Autor genauso unbekannt und neu wie sein Verlag. Beide haben sich etabliert; Christoph Simon als wortgewandter Beobachter und Künstler, der Bilger Verlag mit seinem Gründer und Verlagsleiter Ricco Bilger als Säule in der Schweizer Verlagslandschaft.

Schon der erste Roman versprach vieles. Ich erinnere mich gut, dass ich bei einer Buchvorstellung in einer winzigen Buchhandlung in der Ostschweizer Provinz den BesucherInnen diesen Roman ans Herz zu legen versuchte und prognostizierte, es werde künftig viel von dem Mann zu hören sein.
Das traf zu, wenn auch nicht ganz so, wie ich es in meiner Prophezeiung vorhersagte. Christoph Simon schreibt noch immer. Aber nach Romanen, einem Kinderbuch und einem Lyrikband konzentriert sich Christoph Simon fast ganz auf sein Bühnenprogramm, mit dem er 2018 in den Olymp der Kabarettisten erhoben wurde und den Salzburger Stier gewann.

Christoph Simon «Swiss Miniatur» Edition Baes, 2020, 72 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-9504833-7-6

Christoph Simons sicheres Gespür für den Kern der Sache, seinen Witz in Sätzen und Geschichten lässt sich nun aber endlich auch wieder lesend geniessen, obwohl die Sammlung von Geschichten „Swiss Miniatur“ ein schmales Bändchen geworden ist und ganz offensichtlich Autor und LeserInnen sich gedulden müssen, bis dereinst wieder ein Simon erscheinen wird, der die Nachbarn im Bücherregal zur Seite schiebt. Zumindest sind es Kostproben seines Könnens, manchmal sogar Bezeugungen, dass er durchaus immer wieder einmal den neuen Roman in Angriff nimmt, derzeit aber anderem den Vortritt lassen muss. So gibt es zwei kleine Kapitel mit nicht ganz ernst zu nehmenden Romananfängen und -schlüssen: Erste und letzte Sätze der verworfenen Great Swiss Novel. Zum Beispiel: Zellweger war vierzig und Kreditberater in einer Bankfiliale – was nicht weiter ungewöhnlich ist, verbringen doch viele Kreditberater ihre Arbeitszeit in einer Bankfiliale. Man hört, wie der Motor absäuft – und der letzte Satz: „Gut“, sagte Zellweger, „dass man den Behörden in unserem Land noch trauen kann.“ 

Schlicht köstlich sind die Geschichten, von denen im Anschluss zwei präsentiert werden. Geschichten, Momentaufnahmen aus dem, was sich hinter den Fassaden abspielt:

Romeo und Julia älter

„Warum guckst‘n du so?“
„Ich guck halt.“
„Irgendwas denkst du dir doch dabei.“
„Ich guck nur so.“
„Ich merk doch, dass du dir was denkst.“
„Tu ich aber nicht.“
„Doch.“
„Verdammt nochmal, Julia!“
„Siehst du.“
„Was seh ich?“
„Sonst würdest du es ja nicht so energisch abstreiten.“
„Du machst mich nervös.“
„Dabei hab ich dir gar nichts getan.“ 
„Hör bitte auf.“
„Hab ich etwa damit angefangen?“
„Du hast dich doch darüber aufgeregt, dass ich gucke.“
„Jetzt bin ich also schuld daran, wenn dich etwas stört?“
„Mich stört ja gar nichts!“
„Und deshalb guckst du so.“
„Ich guck dich halt gerne an! Ich guck, weil du so schön bist!“
„Aha. Und ich dachte, der Romeo guckt ‚nur so‘?!“
„In Zukunft werde ich woanders hingucken, wenn dir das lieber ist. Siehst du, ich guck jetzt woanders hin.“
„Na toll. Schau ruhig weg, wenn ich mit dir rede.“

Lokalereignis

Eine ganz unpassende Veränderung war mit Olivier Horn, Immobilien, vorgegangen. Wenn einer ein unbeirrbarer Mann gewesen war, dann er. Das meiste von allem, was das Leben mit ihm unternahm, hatte er selbst ausgeheckt, und er hatte nie gezaudert, wenn eine Leitplanke seiner Bahn versetzt werden musste. Nichts war ihm unmöglich gewesen, und er hatte auch das Glück auf seiner Seite gehabt. Er konnte darauf bauen, dass gut ausging, was immer er sich vornahm. Unvergessen der millionenschwere Verpackungsmaschineningenieur, dem er – ohne Tricks und ohne die Steuer zu hintergehen – die halbe Industriezone K.s verschachert hatte! Aber jetzt? War mit ihm nicht mehr viel los. Horn zeigte nicht die geringste Lust, etwas anzureissen. Er verkroch sich in die düstere Blockhütte bei der Forellenzucht, hörte zu, wie die Fische im Wasser sprangen und die Stechmücken gegen das Fliegengitter surrten. Den traurigen Vorfall mit dem Anglerhaken, der erst im Schilf hängengeblieben, dann plötzlich, nachdem er kräftig an der Angel gezogen hatte, durch die Luft geschnellt war und ihm ein Auge ausgerissen hatte, verwand er einfach nicht. Es schien beinahe so, als geriete Horn dieses, aufs Augenlicht beschränkte Unglück regelrecht zur existenziellen Krise.

Am Schluss der Sammlung «Swiss Miniatur» die längere Geschichte «Bundesrat Liechti». Sie kennen die Geschichten vom Papst, der eingesperrt in seiner Welt einer ganz speziellen Eingebung folgt und unerkannt seinen Palast verlässt. Bundesrat Liechti tut es zwischen zwei Sitzung genauso. Er haut ab. Zwar mit Bügelfalte und Jacket, aber in der Schweiz wäre das möglich (ausser vielleicht für Bundesrat Berset!). Ein freier Tag für einen Bundesrat, ein Tag, der ihn glücklich macht. 

«Swiss Miniatur» macht glücklich – und lässt hoffen.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Ein Interview mit dem Autor:

Als du 2018 den Salzburger Stier gewonnen hast, dachte ich: „Aha, jetzt werde ich wohl mit dem Warten auf einen neuen Roman von Christoph Simon aufhören können.» Ist „Swiss Miniatur» auch ein bisschen Trost für all die, die wie ich warten?
Vielen Dank für die schmeichelnden Worte! Ja, ich möcht eh schon länger mal wieder was Längeres in Angriff nehmen. Mein Hauptverleger Ricco Bilger erwartet noch immer meinen Moby Dick, den ich ihm im Grössenwahn einmal versprochen habe. Die Bühne steht diesem Vorhaben eigentlich nicht im Weg, denn ich kann ja morgens einen Roman schreiben und abends auftreten. Im Weg steh ich mir selber, faul und ängstlich wie ich bin. Ein Roman ist ein Riesenberg an Arbeit, davor scheu ich seit Jahren zurück.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Du tourst als Kabarettist von Bühne zu Bühne, wirst gelobt für deinen Tiefgang und schwarzen Humor. Durchaus zwei Eigenschaften, die der Literatur gut tun würden, vor allem der „schwarze Humor». Aber warum scheint es so schwierig, schwarzen Humor zu einem Roman werden zu lassen?
Es scheint schwierig, weil es tatsächlich schwierig ist. Aber wahrscheinlich ist oberflächlich und ernsthaft Schreiben genauso schwierig. Schreiben an und für sich ist schwierig, herrje. Die Qualen eines Poeten auf der Suche nach dem treffenden Wort – ich glaube, nur eine gebärende Frau kann meine Qualen annähernd nachempfinden.

Deine längste Geschichte in „Swiss Miniatur» ist jene von Bundesrat Liechti. Durchaus ein Feld, das man literarisch beackern könnte, da mir kein Bundesratsroman bekannt ist und es in und um dieses Gremium Spielfelder genug geben müsste, um daraus eine gute Geschichte zu machen. Oder sind Bundesräte, nachdem man sie gerne in den Medien zu Helden macht zu heikel?
Ich habe mir den Liechti jetzt mal in den Kopf gesetzt als Bundesrats-Antihelden, und ich denke, es steckt tatsächlich noch mehr Schmerz und Sehnsucht in dieser Figur. Ein Bundesrat ist ein impotenter Künstler, jemand, der in der Regel nichts erreicht. Oder etwas andres erreicht, als beabsichtigt. Oder was er erreicht, ist die Arbeit anderer. Sie verlieren dauernd in Abstimmungen, sind umgeben von Schlangen und Ratten und Lärm und Unglauben. Ein harter Job. Stressig und repetitiv und rückenleidenfördernd wie Kleinkindhüten im Sandkasten.

gezeichnet von Christoph Simon

Bundesrat Liechti büxt aus, wie der Papst im Film «Habemus Papam», der vor nicht langer Zeit in den Kinos lief. Hast du dir die Filmrechte schon gesichert?
Da erwischst du mich an einer wunden Stelle. Die Filmrechte an meinem ersten Roman wurden verkauft, es wurde am Drehbuch geschrieben, es gab Sitzungen und Treatments und Eingaben. Dann wurde die Drehbuchautorin und Regisseurin schwanger, und seither liegt das Projekt auf Eis. Eine Verfilmung von einem meiner Stoffe würde mir wahnsinnig gefallen.

„Der Suboptimist» ist schon dein viertes Soloprogramm als Kabarettkünstler. „Simon ein begnadeter Figurenzeichner. Sein Personal besteht aus liebenswerten Antihelden, die meistens weniger als mehr auf die Reihe bekommen, das Herz aber auf dem rechten Fleck tragen», sagt eine Kritikerin. Worin unterscheidet sich das Schreiben eines Bühnenprogramms vom Schreiben eines Romans?
Ein Roman ist umfangreicher, ihn zu schreiben dauert exponentiell länger. Ansonsten seh ich keine grossen Unterschiede. Ich versuche meinen Figuren gegenüber wahrhaftig zu sein, ich folge ihren Wünschen und Ängsten, ich sehe ihnen zu, wie sie ihre Probleme zu lösen versuchen und sich weiter drin verheddern. Wenn am Ende des Schreibtages etwas herauskommt, das vor einem Kleintheaterpublikum an Lebendigkeit gewinnt, dann geh ich mit der Geschichte auf die Bühne. Kommt etwas heraus, das mich als Vermittler nicht erfordert, etwas, das eine Leserin im Licht der Nachttischlampe lesen kann, dann landet es gedruckt in einem Buch. Oder Miniatur-Büchlein wie hier.

(Beide Texte sind hier mit Genehmigung des Verlags und des Autors abgedruckt.)

© Michael Isler

Christoph Simon lebt in Bern. Mit seinen Romanen «Warum Antilopen nebeneinander laufen» oder «Planet Obrist» oder wie zu letzt wie seinem wunderbaren Buch «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) hat sich eine neue grosse Stimme im deutschsprachigen Raum etabliert. Christoph Simon tourt aber auch seit Jahren erfolgreich mit Solo-Bühnenprogrammen, momentan mit «Der Suboptimist».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Michael Isler 

Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett-Cotta

Es gibt Lesemomente, die einem das Gefühl geben, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben. Das passierte schon bei Iris Wolffs dritten Roman „So tun als ob es regnet“. Noch intensiver war der Sprachschauer bei der Lektüre ihres aktuellen Romans „Die Unschärfe der Welt“. Ein Leseerlebnis, das sich einbrennt. Ein Buch, das man nicht gerne weglegt. Eine Geschichte, die tief berührt und Sprache, die deutlich macht, wie Handwerk zu Kunst wird.

Im Banat, einem Gebiet im Westen Rumäniens, leben die Banater Schwaben, eine Deutsch sprechende Bevölkerungsgruppe, ein Bergland, in dem Iris Wolff aufwuchs. So wichtig die ProtagonistInnen, so wichtig ist in den Romanen der Autorin dieses Kulturgebiet. In Iris Wolffs Romanen wird eine Gegend zu einem Protagonisten. Auch darum, weil dieses Gebiet mit intensiven Emotionen aufgeladen ist. Auch darum, weil sich dieses Gebiet über Grenzen hinaus nach Serbien und Ungarn erstreckt. Und nicht zuletzt darum, weil das Banat immer wieder Konfliktgebiet der Geschichte war.

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“

Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie. Wie Hannes, der junge Pfarrer im Dorf und seine Frau Florentine eine Familie werden. Wie der kleine Samuel aufwächst und schon von Beginn weg ein Sonderling ist, zuerst lange stumm, dann still, später einer, der wie kaum andere zuhören kann. Die Geschichte von Hannes Eltern, von seiner Mutter Karline, die der jungen Familie zur Hand geht und für Samuel ein Anker, eine Insel wird. Die Geschichte einer spektakulären Flucht, langer Jahre in der Fremde und einer Liebe, die sich wiederfindet. Von Stana, einem Mädchen, das mit Samuel gross wird und hin- und hergerissen ist zwischen dem Sanftmut ihres Freundes und der Strenge ihres Vaters, den permanent schwelenden Konflikten, den Übergriffen, seien sie auch bloss seelischer Natur. Stanas Vater ist ein Zudiener der Diktatur, mit Geschenken und Zuwendungen käuflich.
„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte eines Dorfes, etwas vergessen von der Geschichte, im Schatten der grossen Ereignisse in den letzten Jahren der Ceaușescu-Diktatur und den darauffolgenden Wirren in einem Land, das sich nur schwer aus den Klauen jahrzehntelanger diktatorischer Strukturen befreien konnte. 

Jede Geschichte passiert auf hunderte mögliche Weisen, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“

Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5

Was das Überragende dieses Romans ausmacht, ist nicht die Geschichte. Auch wenn sie raffiniert erzählt und gekonnt konstruiert ist. Das grosse Kunststück dieses Romans ist dessen Sprache. Was die Sprache in mir als Leser erzeugt. Iris Wolffs Blick in die Geschichte, ihr Erzählen ist kein fotografisches, filmisches. Iris Wolff öffnet einen Spalt breit, lässt die Tür mehr verschlossen, geheimnisvoll offen und erzeugt bei emphatischen LeserInnen dafür umso mehr innere Bilder, einen regelrechten Sinnenrausch. Sie beschreibt nicht, was sie sieht, sondern, was ihre Eindrücke in ihr erzeugen, das Echo des Geschehens. Ihre Sätze sind unterlegt, sagen weit mehr als sie vordergründig erzählen. Es ist, als würde man stets eine vielfach gespiegelte, weit detailreichere Realität dahinter, darunter oder darüber mitlesen, obwohl die Autorin nur einen Spalt breit die Tür öffnet.

„Vielleicht war getäuscht zu werden die grösste Sehnsucht von allen.“

„Die Unschärfe der Welt“ schärft den Blick auf die Welt. Auch auf das politische Geschehen Rumäniens, den Zusammenbruch, die Wirren nach der Hinrichtung des Diktators und seiner Frau, einer Flucht und den krassen Gegensätzen damals zwischen Rumänien und Deutschland und die Öffnung gegen Westen. Ein ungeheuer vielschichtiges, vielstimmiges und tiefgründiges Buch.

Für Anfänge musste man sich nicht entscheiden, Enden kamen von allein, wenn man sich nicht entschieden hatte.“

„Die Unschärfe der Welt“ ist eine Perle. Eine, die auch in Zukunft ihren Glanz nicht verlieren wird.

Ein Interview mit Iris Wolff:

„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte von Samuel und den Fixsternen im Leben Samuels. Nimmt der Titel des Romans auch Bezug auf die Art deines Erzählens? Du leuchtest nicht aus, du erklärst nicht. Dein Blick auf die Welt ist nicht der durch ein Okular.
Der Titel hat sich aus einem Satz heraus entwickelt, den Stana im vierten Kapitel sagt: “Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung.“ Es geht für die Figuren immer wieder darum, sich auf die Wirklichkeit ihrer Erfahrungen einzulassen – ohne vorgefertigte Deutungen und Konzepte. Es ist nicht ausreichend, ein Leben einzeln zu betrachten. Der Blick des Buches gleicht eher einem Kaleidoskop, in dem sich die einzelnen Teile immer wieder neu zusammensetzen, in dem es (für Menschen, Meinungen und Ideen) immer nur ungefähre Aufenthaltsorte gibt. Für mich als Schreibende liegt in dieser Unschärfe, Wandelbarkeit eine grosse Freiheit.

Dein Roman ist ein Fenster in das Land deiner Herkunft; Rumänien im 20. Jahrhundert. Ein Land, das Jahrzehnte vom Machtapparat eines Diktators geprägt wurde. Kann man überhaupt einen Roman schreiben, der in diesem Jahrhundert spielt, in dem der Diktator Ceaușescu direkt oder indirekt keine Rolle spielt? In der Schweiz werden nur wenige Romane geschrieben, in denen Politik eine Rolle spielt.
Ich mag es, mich mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen, Zeiten und Umstände zu recherchieren, die nicht die meinen sind. Aber mir sind meine Figuren immer dann besonders nah, wenn sie aus der Zeit fallen. Sei es, dass sie den Mut finden, ihr eigenes Glück einem grösseren Zusammenhang unterzuordnen – wie Samuel, der viel aufgibt, um seinen Freund Oz zu retten. Die Gewalt- und Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat Spuren in den Lebensläufen der Menschen hinterlassen. Als politische Autorin sehe ich mich jedoch nicht. Es geht mir immer um die Figuren, um die Plausibilität ihrer Welt, um eine grösstmögliche Nähe zu den Leserinnen und Lesern.  

Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagte in ihrer Nobelpreisvorlesung, was für ein Alptraum es sei, die Frage gestellt zu bekommen, ob das denn alles so passiert sei. In deinem Roman sagt jemand: „Jede Geschichte ist auf hunderte mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“ Haben wir es in Zeiten von Fakenews verlernt, aus den Geschichten die ihr eigene Wahrheit zu filtern?
Welch schöne Frage. Mir als Schreibende wird eine gewisse Weite, eine Offenheit der Komposition immer wichtiger. Trotz der Komplexität des Romans ist alles nur ein Ausschnitt, die erzählte Welt setzt sich imaginär über den Bildraum fort. Das versetzt die Lesenden in eine aktivere Rolle, sie werden zu Fährtenlesern, die die Verbindungen suchen. „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein“, schreibt Novalis. Die Freiheit der eigenen Deutung ist wichtig, und ebenso die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zuzulassen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguität. Ich will als Autorin keine Wahrheit verkünden, sondern Wahrnehmung zur Verfügung stellen.

Samuel ist einer, der „mit Worten umging, als würden sie sich durch übermässiges Aussprechen abnützen“.  Er lebt in krassem Gegensatz zu all jenen, die sich permanent in den sozialen Medien kommentieren müssen. Spricht da deine Sehnsucht?
Für meine Protagonisten gibt es keine Sicherheit jenseits des eigenen Erlebens. Für alle sprachlichen Äusserungen, für alle Ideen und Vorstellungen gibt es immer nur einen Grad der Gewissheit, eine Wahrscheinlichkeit. Ich finde das befreiend, vor allem in einer Welt, die von Gewissheiten und Meinungen bestimmt ist, in der oftmals die Deutung vor der Erfahrung, das Urteil vor der Begegnung kommt. Die Stille ist (ebenso wie die Poesie) da ein heilsames Gegengift.

Du schaffst es, Sätze zu schreiben, die sich einbrennen. Sätze, die mich neidisch machen, weil ich weit weg bin von einer solchen Quelle. Sätze, die zeigen, dass sich die Literatur, die Kunst schon in einem einzigen Satz offenbaren kann. Musst du dich in einen „Schreibzustand“ versetzen, damit dir solche Sätze und Bilder einschiessen?
Ich muss in meinen Geschichten das Land meiner Herkunft berühren. Etwas geht davon aus, etwas führt immer wieder dahin zurück. Eine gute Freundin sagte einmal, dass eine bestimmte Sprache an einen bestimmten Ort geknüpft ist. Meine Sprache, die Melodie der Sätze, die Bildhaftigkeit entwickelt sich bislang nur, wenn ich von Siebenbürgen oder wie jetzt in meinem aktuellen Roman, aus dem Banat ausgehe – diesem faszinierenden Landstrich, in dem verschiedene Kulturen über Jahrhunderte zusammenlebten. Ich glaube, das ist meine Quelle.

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Falko Schubring

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt

Robert Akeret macht sich auf, auf eine lange Reise. Nicht zur Erholung, nicht einmal auf die Suche nach dem Glück. Robert Akeret will seinem kleinen Leben Bedeutung verschaffen. Er will ein Grundstein der Wissenschaft werden, sein Name ein Denkmal, das bleiben soll.

Robert Akeret bezeichnet sich selbst als Kryptozoologe („Lehre von den versteckten Tieren») und schimpft seine Gegenwart, dass nicht längst an jeder Universität ein Lehrstuhl dieser Wissenschaft vertreten ist. Er hält nichts von der eidgenössischen Bescheidenheit, der Abneigung gegen das Weitschweifende, Weltumspannende. „Ein Leben ohne Zuschauer» sei sinnlos. Er macht sich auf, jenes Lebewesen zu finden, dass das Bindeglied zwischen Mensch und Tier sein soll. Jenes Lebewesen, das man in Vietnam Nguoi Rung nennt, in China Deren, Alma im Altaigebirge, Batutut auf Borneo oder Orang Pendek auf Sumatra.

Insel der unbegründeten Hoffnung

Lukas Maisel siedelt seinen farbigen, üppigen und verspielten Roman in naher Zukunft an, einer Zeit, die aus dem Flughafen und der Stadt Dubai eine heruntergekommene, kaputte Destination macht, ohne zu erzählen, was die Welt derart veränderte. Akeret schliesst sich zusammen mit Blum, einem Studenten der Ethnologie, einem jungen, empfindsamen Mann, der auf dieser Reise, deren Zweck Akeret im Dunkeln lässt, unbekannte Sprachen, Geheimsprachen zu erforschen hofft, wie Akeret eigentlich nur weg will und auf die grosse Offenbarung hofft. Als dritten auf dieser Expedition heuert Akeret Mansur an, einem Mann aus Sulawesi, Angehöriger der Bugs, einem alten Seefahrervolk. Und als letzter noch Jonah, einen stillen Maschinisten, Sohn eines Fischers, geflohen, der mit dem umgebauten Schiff mit dem übergrossen Käfig und seinem tuckernden Motor zurecht kommen soll.

So sehr sich Akeret und Blum auf ihre Aufgabe zu konzentrieren versuchen, so ergeben scheinen Mansur und Jonah, scheinbar zufrieden mit der Aufgabe allein, ohne Zukunft, ohne Perspektiven.

Insel des berauschten Paradiesvogels

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Akeret war schon als Kind ein Sonderling, einer, der mit seiner Fragerei den letzten Nerv rauben konnte. Einer der sich mit keiner Antwort abspeisen liess, einer, der sich auch in der Schule nicht abspeisen liess. Sein Lieblingsbuch damals war „Das Buch der geträumten Städte“.
Und als Erwachsener schimpft Akeret sie alle, die Lehnstuhlzoologen, die sich fürchten, ihre schlaffen Körper ins Unbekannte zu stürzen. Ob von Erfolg gekrönt oder nicht, Akeret weiss, sie würden schimpfen, ausrufen, denn er hatte nicht studiert und bekannte sich mit Vehemenz zu einer Wissenschaft, die bei Zoologen nur Kopfschütteln verursacht. Aber er würde es ihnen zeigen. Und wenn der Moment des Triumphs kommt, wird das Wesen Homo Akereti heissen! Akeret und Blum belauern sich, jeder wissend, dass das Unternehmen nie ohne den andern gelingen kann. Man misstraut sich, versteckt sich hinter seiner Aufgabe, der ganz persönlichen Aussicht auf den grossen Triumph, jedes Scheitern ausblendend.

Während die Natur immer wilder wird, der Fluss immer schmaler, das Weiterfahren mit der Marie immer schwieriger, während die Eingeborenen immer feindlicher werden, sich das, was ihnen begegnet immer mehr verschliesst, steigert sich Akerets Entschlossenheit. Irgendwann bringen Eingeborene den Forschungsreisenden tatsächlich ein Wesen, weder Mensch noch Tier. Ein eindeutig menschlicher Kopf mit haarigem Rumpf und Fischlaib, zusammengenäht mit grobem Garn. Ein Versuch, die Fremden zu beschwichtigen? Ein Glücksbringer, ein Ningyo? Eine Warnung?

Lukas Maisels Sprache ist wie seine Geschichte von einer anderen Welt, erfrischend altbacken, genauso wie der Protagonist, der in naher Zukunft unterwegs ist, wie die einstigen Entdecker, wohl wissend, wie viel Leid, Zerstörung und Krankheiten sie auslösten – im Dienst von Wissenschaft und Forschung, Eroberung und Status. So sehr es Akeret um die Erfüllung seines Traumes geht, dem Zusammenschluss zwischen seiner ganz eigenen Logik und allgemeingültiger Wahrheit, so geht es Lukas Maisel nicht um das Ziel, nicht um die Erfüllung. Das „Buch der geträumten Inseln“ liest sich tatsächlich wie ein Traum zwischen den Wirklichkeiten. Ein Mann fährt durch seine Welt, ohne je in ihr anzukommen. Die Welt bleibt fremd. 

„Ich weiss, wonach ich gesucht habe, wenn ich es finde.“ Unglaublich erfrischend!

Interview mit Lukas Maisel:

80 Prozent der gegenwärtigen AutorInnen beschäftigen sich in ihrem Schreiben in irgend einer Weise mit sich selbst, transformiert oder nicht. Wer weiss, vielleicht ist diese Selbstschau in ihrem Roman so weit verfremdet und verborgen, dass ich an ihr vorbeilese. Umso mehr interessiert mich der Ursprung ihres Romans. Was stand ganz zu Beginn?
Ich habe kein Bedürfnis, etwa meine Familiengeschichte niederzuschreiben. Ich fände es öde, das zu schreiben, und öde, zu lesen. Das ist so eine unnötige Verdopplung der Wirklichkeit, obwohl man doch alle Mittel hätte, eine ganz andere Wirklichkeit zu erschaffen. — Am Anfang dieses Romans standen ein paar Zeilen, die ich am Literaturinstitut in einem Kurs geschrieben hatte. Es gibt darin noch keine Figuren, allein die Bedrohung durch geheimnisvolle Wesen in einem Regenwald. Diese Miniatur hat viele Fragen aufgeworfen, denen ich nachgehen wollte. Es verbanden sich andere Ideen mit dieser, etwa jene von einer Expedition, bei der möglichst viele Insektenarten beschrieben und benannt werden sollten. Ich finde den menschlichen Drang, alles zu benennen, und die Hybris, es auch zu tun, unglaublich faszinierend. Erst später kam dann Robert Akeret hinzu, die Hauptfigur.

Sind Sie zu Recherchezwecken tatsächlich gereist? Und wie weit hat sich ihr Romanvorhaben während dieser Recherchen von seiner ursprünglichen Form entfernt? Oder folgten Sie einem (ge)strickten Plan?
Ja, ich bin gereist, auf die indonesischen Inseln Sumatra, Sulawesi und Ternate, auch auf Waigeo, das zum indonesischen Teil Neuguineas gehört. Auf Ternate gibt es den Vulkan Gamalama, auf den mich ein barfüssiger Führer gebracht hat, der ständig Nelkenzigaretten rauchte: das Urbild Jonahs, einer der Figuren im Roman. Auch auf Sulawesi verbrachte ich einige Zeit, um Mansur nachzuspüren, dem indonesischen Helfer der Expedition. Es geht um Details, aber Details sind alles in einem Roman. Der Kern des Romans hat sich dabei kaum verändert.

Die verbissene Suche nach etwas, was vielleicht nicht einmal sein kann, dass sich allen Wahrscheinlichkeiten entzieht, ist ein weit verbreitetes Phänomen. All die aktuellen Verschwörungstheorien sind Beispiele genug. So wie der Abenteurer Robert Akeret über die Lehnstuhlzoologen schimpft, schimpft der Verschwörungstheoretiker auf den Mainstream, die Wissenschaft, die Politik. Ist dieses „Aufsitzen“ nicht ein urmenschliches Bedürfnis? Ein Stück Zuhause?
Das wiederkehrende Narrativ ist: Nichts sei, wie es scheint, die vorherrschende Meinung sei falsch. Das würde auch Akeret unterschreiben, doch anerkennt er die wissenschaftliche Methode und die durch sie gewonnenen Erkenntnisse. Er glaubt aber, dass die Wissenschaft etwas übersehen hat, das ein unbefangener Laie eher finden kann. Man sieht nur, was man weiss, meinte Goethe.

Frauen scheinen in Ihrem Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle zu haben. Ist es, weil die vier Archetypen, die sich auf diese Forschungsreis begeben auch wirklich den verschiedenen, männlichen Archetypen entsprechen?
So ganz stimmt das nicht: Professorin Dr. Unland beansprucht mehrere Kapitel, und auch Margarete ist keine unwichtige Figur. Den Bechdel-Test jedenfalls würde der Roman bestehen.

„Er wusste wohl, dass Scheitern möglich war, ans Aufgeben aber glaubte er nicht. Mit leeren Händen heimzukehren, war keine Möglichkeit.“ Dieses Missionarische. Wie weit gilt dieser Satz auch für die Schriftstellerei, das Leben als „Jungautor“?
Es ist schon so, wie Meister Yoda sagt: »Tu es oder tu es nicht. Es gibt kein Versuchen.« Natürlich ist Talent ungleich verteilt und wichtig für das Schreiben, aber genauso wichtig ist die Bereitschaft, aus jeder Zurückweisung, jedem Scheitern zu lernen. Ich hatte schon einige Jobs, ich habe in einer Weinabfüllerei, einem Warenlager, einer Druckerei etc. gearbeitet — ich weiss, dass jeder andere Beruf mich langweilen würde, nur das Schreiben nicht. Darum ist jedes Scheitern für mich, wie für Akeret, kein Anlass zu Zweifeln, sondern treibt mich weiter an.

© Rowohlt Verlag

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für das Manuskript seines ersten Romans, Buch der geträumten Inseln, erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 den Förderpreis des Kantons Solothurn. Er lebt in Olten.

Webseite des Autors

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling

Wer Ulrike Almut Sandig live erlebt, wird tief beeindruckt sein. Eine Performerin par excellence! Und klar, wenn dann eine Lyrikerin und Erzählerin wie sie ihren ersten Roman ankündigt, nach über einem Dutzend Veröffentlichungen und noch mehr Preisen, dann sind die Erwartungen hoch. Nichts desto trotz hat „Monster wie wir“ bei mir eingeschlagen. Eine Sternschnuppe aus dem Literaturhimmel, hell und heiss.

Gute Bücher sollen nicht schmeicheln, sie sollen zuweilen sogar weh tun. Auch wenn man damit ein gewisses LeserInnensegment gleich mal ausschaltet; jene, die unterhalten werden wollen, jene, die bestätigt werden wollen, jene, vor denen Schreibende mit ihrem Geschriebenen zu gefallen haben. Gute Bücher dürfen Schmerzgrenzen überschreiten – wenn sie wirklich gut geschrieben sind – und wenn die überschrittenen Grenzen nicht um ihrer selbst willen überschritten werden. Gute Bücher sollen provozieren, und wenn es nur die Angst ist, in Abgründe zu schauen.

„Eine gute Geschichte beginnt weit vor ihrem ersten Wort, und sie hört auch nicht auf.“

„Monster wie wir“ ist wie der Gang über eine schmale Hängebrücke. Man kann den Abgrund durchaus überqueren, wenn man sich am Geländer hält und mit geschlossenen Augen auf die andere Seite tappt. Man spürt den Wind, das Schaukeln, das Filigrane der Konstruktion. Oder man schreitet entschlossen voran, blickt hinunter, lässt sich nicht beirren, nimmt in sich hinein, was da passiert; diesen Schwindel, die Angst, die unfassbare Tiefe.

Mit dem Romandebüt von Ulrike Almut Sandig passiert bei der Lektüre genau das, auch wenn man eigentlich nicht mehr von einem Debüt sprechen kann. Wenn sich eine Dichterin, eine Schriftstellerin so trittsicher in Erzählungen und Lyrik bewegt, nicht nur „eingesperrt“ zwischen zwei Buchdeckeln, sondern noch viel beeindruckender performativ, dann ist der erste Roman einfach der erste Roman, dieses erste Mal, bei dem sich Ulrike Almut Sandig in der langen Form versucht – und wie!

„Ich will, denkt er, alles. Alles ausser zurück.“

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-89561-183-4

Sie sind alle einsam. Ruth, die Geige spielt und etwas vom Glauben an Vampire bis in ihr Erwachsensein mitgenommen hat, irgendwo im ostdeutschen Nirgendwo aufwächst im Haus einer Pfarrersfamilie. Viktor, der Sonderling, mit dem sich Ruth in der Schule anfreundet, der sich fürchtet vor seinem „Scheissschwager“, der sich an ihm vergeht. Von Fly, Ruths Bruder, der Fliegen und sein Cello malträtiert, weil er von seinem Grossvater ausgesaugt wird. Von all den Eltern, die durch Ignoranz das Leiden multiplizieren, nur weil nichts und niemand die blutenden Krusten aufbrechen will, um endlich dorthin zu gelangen, wo der Eiter das Fleisch erhitzt. Einsam und verletzt. Victor taucht irgendwann ab, um in Frankreich mit Glatze und Springerstiefeln als Au Pair aufzutauchen. Viktor wird zu einem Hulk, der die Kinder in der reichen Familie beschützen soll; Lionel, der sich in seinem Zimmer mit seiner Musik zudröhnt und Maud, noch klein und unschuldig. Aber auch dort grassiert die Verlogenheit, wird alles unter der Oberflächlichkeit weggewischt.

„Ja, man kann wirklich über Nacht erwachsen werden.“

„Monster wie wir“ erzählt schonungslos von der Verlogenheit, von Übergriffen und unheilbaren Verletzungen. Dass sich Ulrike Almut Sandig an diesem Stoff nicht die Finger verbrennt, ist ihrer Sprache, ihrem Geschick, den Bildern und der Art und Weise zu verdanken, wie sie trotz maximaler Nähe keinem Voyeurismus, keinem „Veröffentlichen“ verfällt. Die Verletzten, die Gezeichneten, die Geschundenen und Versehrten bleiben stark, weil die Autorin nicht ihren Niedergang beschreibt, sondern die Kraft, die aus ihrem Kampf erwächst. Und weil Ulrike Almut Sandig eben keine Debütantin ist, sondern sich wie wenige sonst der Möglichkeiten der Sprache bewusst ist, weil sie weder mit den Figuren noch mit mir als Leser spielt, nicht unnötig emotionalisiert, wird der Roman zu einem ganz speziellen Leseerlebnis!

Interview mit Ulrike Almut Sandig

Sie schreiben Gedichte, Erzählungen, mit „Monster wie wir“ ihren ersten Roman, sie geben Zeitschriften heraus, arbeiten mit Komponisten und Musikern zusammen, performen auf der Bühne und im Studio, füttern eine spannende Webseite, reisen für Lesungen quer durch Deutschland bis in die Schweiz und lesen dabei nicht nur, sondern diskutieren über Themen wie „Europäische Identität“. „Daneben“ haben sie eine Familie. Atemlos?

Nein. Ich habe das Glück, ein sehr abwechslungsreiches Berufsleben führen zu dürfen. Es gibt wenig Routine, stille Schreibmonate wechseln mit Probetagen und Reisemonaten. Der Wechsel der Genres und Kunstformen tut meiner Arbeit gut, finde ich. Er sorgt für einen frischen Blick auf Themen und Techniken und verunsichert mich auf eine produktive Art. Aber es gibt einige Konstanten, die meiner Arbeit den festen Boden geben, auf dem alles steht. Die wichtigste ist meine Familie. Bei weiten Reisen begleitet mich manchmal meine Tochter, letztes Jahr waren wir zweimal gemeinsam in Indien. 

Als ich sie im vergangenen Winter in Basel an den internationalen Lyriktagen zusammen mit der Musikerin und Singer-Songwriterin Pamela Méndez sah, hörte und geniessen konnte, öffnete sich mir das Herz. Nicht zuletzt deshalb, weil ich bei ihrer Performance Zeuge ihrer eigenen Offenbarung wurde. Ist das Ulrike Almut Sandig?

Ich versuche, auf der Bühne keine Kunstfigur zu sein, weil mich das zu viel Kraft kosten würde. Aber so ein Ich hat natürlich viele Identitäten, Geschlechter und Rollen. In meinen Büchern schreibe ich dagegen selten über mich selbst. Vieles, was autobiografisch wirkt, ist eigentlich fiktiv. Und andersherum. Die Dinge lassen sich besser untersuchen, wenn man sich dabei nicht im Weg steht, aber bereit ist, sich selbst Material zu sein.

Almut ist ein alter germanischer Vorname und bedeutet „die Edelmütige“. Von diesen Edelmütigen ist in ihrem Roman wenig zu spüren, ausser dem Vater Ruths, dem Pfarrer und ein paar Alten, die aber mehr verrückt und entrückt erscheinen. Drückt da etwas die Pfarrerstochter durch, die uns mahnt vor den Abgründen der Unmenschlichkeit?

Ich möchte nicht mahnen und nicht belehren. Aber die Theologen, die ich kenne, wollen das ebenso wenig wie ich. Ich sehe meine Arbeit als ein Untersuchen der Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur. Dabei will ich keine Figuren vorführen oder für verrückt erklären. Ich fand es wichtig, auch den Figuren im Roman, die hart und brutal sind, mit Respekt zu begegnen. Es gibt nicht den Täter, der nur Täter ist. Und keinem Opfer werde ich gerecht, wenn ich es nur als Opfer sehe.

Es wird nicht nur der Übergriff am Menschen geschildert, sondern auch der an der Natur. Zum Beispiel der, der durch den Braunkohleabbau in Deutschland ganze Ortschaften frisst. Ein Eingriff, der in den dicht besiedelten und kleinräumigen Nachbarländern Österreich und Schweiz so nicht denkbar wäre. Nichts desto trotz grassiert der apokalyptische Übergriff, der auch durch Fridays for Future oder Corona keinen Aufschub erreichte. Wie viel Hoffnung haben sie? Auch Hoffnung für die Literatur?

Der Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Braunkohle ist im Juni 2019 von der Bundesregierung gesetzlich beschlossen worden. Laut Martin Kaiser, dem Geschäftsführer von Greenpeace, bedeutet der Beschluss der Kohlekommission, dass die seit Jahren durch Aktivist*innen bekämpfte Rodung des Hambacher Forstes in der Nähe von Köln abgewandt ist. Auch weitere Devastierungen von Ortschaften in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland können dadurch gerettet werden. Allerdings warten viele Einwohner*innen der unmittelbar betroffenen Ortschaften seit Jahren auf ihre Umsiedlung, weil ein Leben in der Nachbarschaft der Braunkohlekraftwerke wegen der Luftverschmutzung etc. nicht lebenswert ist. Der Protest der Einwohner hält sich aber auch aus einem anderen Grund in Grenzen. In diesen Gegenden sind die Braunkohlegesellschaften ein wichtiger Arbeitgeber, oft für Generationen. Also obwohl Deutschland das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhält, wenn es wie beschlossen erst 2038 aus der Braunkohle aussteigt, steht ihm neben dem Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung auch eine Umstrukturierung der Arbeitsstruktur grosser Landstriche gegenüber. Das muss möglich sein, ganz einfach weil es keine Alternative gibt. Es geht also weniger um Hoffnung als um Alternativlosigkeit.

Und Hoffnung für die Literatur? Gar nicht nötig. Die ist doch so vielseitig und aufregend wie selten! Nie in der Geschichte war der Anteil der Analphabeten so gering wie im 21. Jahrhundert. Es wird gelesen, es wird diskutiert, es wird gestritten. Oft gehen die aufregendsten Impulse von Dichtern und Dichterinnen aus. Würde die Lyrikszene sich allerdings weiter aus ihrem selbstgeschmiedeten goldenen Käfig herauswagen, könnte ihr Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen noch viel grösser sein.

Mit dem Romantitel „Monster wie wir“ richten sie den Blick nicht nur auf ihr Romanpersonal, sondern auch auf mich Leser. Kein sehr schmeichelhafter Wink. Aber ganz offensichtlich ist das Schmeicheln nicht das Ihre, ausser mit der Sprache selbst.

Ach, Schmeicheln ist bloss eine Technik, sein Gegenüber klein zu halten. Die Gewaltformen, von denen ich in «Monster wie wir» erzähle, ziehen sich durch alle Bildungsschichten und Familien. Aber Ruth, eine der beiden Hauptfiguren meines Romans, entdeckt im Klavierspiel eine produktive Kraft: «Im Tastenspiel wohnte ein monströser Golem, der es mit allem, was einem so zustossen konnte, aufnahm.» So ein Golem wünsche ich jeder und jedem.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ulrike Almut Sandig am 17. Lyrikfestival Basel 2020

zu einem Filmporträt über die Autorin

Webseite der Autorin

Beitragsbild: Michael Aust © Villa Concordia

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese

Tom und Patrick waren Freunde. In den wilden Jahren ihrer Jugend zerriss es ihre Freundschaft. Leben, die vorgezeichnet schienen, warf es aus der Bahn. Ein Vierteljahrhundert später treffen sich die beiden wieder in Bern. Zwei Versehrte stehen einander gegenüber. Patrick hat in Übersee studiert, Tom ist Lehrer geworden. Alleine sind beide.

Patrick ist zur Beerdigung seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt. Kurz vor seinem Rückflug steht er vor der Wohnungstür seines einstigen Freundes. Wenn die Vergangenheit nach einem Vierteljahrhundert so einfach vor der Türe auftaucht, dann nicht, um Hallo zu sagen, denn als sie sich gegenübersitzen, ist da das leise Surren von Patricks Handprothese.

Damals waren sie Freunde, Blutsbrüder, besuchten das Gymnasium, trafen sich nach der Schule, lümmelten in Rohbauten und Einkaufszentren herum, rauchten, tanzten in den Kellern des Ortes und verdienten sich auf dem Ticketschwarzmarkt vor grossen Konzerten einen ordentlichen Batzen Geld. Dass es dabei mit konkurrierenden Gangs zu Konflikten und handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, schien die Freundschaft zwischen Tom und Patrick nur zu stärken, zumal sich die beiden mit aller Deutlichkeit von ihren Eltern abnabeln wollten. Patrick von Eltern, die nie da waren, selbst wenn die Mutter mit Pumps und vollen Tüten eines Lieferservices den peinlich gewordenen Geburtstag feiern wollte. Tom von seiner Mutter, die sich mit Alkohol tröstete. Weg von Eltern, die sie bloss Zombies nannten.

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-906907-31-4

Bis Tom Jasmin in seiner Klasse erstmals wahrnimmt. Ein Mädchen, das anders ist als jene, die im Keller tanzen. Ein Mädchen, das sich anders gibt, auch in der Schule. Auch keines von denen, die seinem grossen und athletischen Freund Patrick wie die Fliegen aufsitzen. Einmal steht Jasmin vorne beim Lehrerpult und hält wie alle anderen einen Vortrag. Aber der Vortrag ist eine Kampfansage gegen die Gewohnheiten der Gesellschaft; Halbnackte Hühner in Massentierhaltung, geschredderte Küken in einem Container, gestapelte Schweinehälften wie Tote in einem Konzentrationslager. Pater Zyrill, der Lehrer, bricht den Vortrag ab und schickt die Gymnasiasten an die frische Luft. Aber Tom ist fasziniert vom Mut seiner Mitschülerin. Sie treffen sich und er erfährt, dass Jasmin nicht bloss Vegetarierin ist, sondern Teil von „Straight Edge“, einer Bewegung, einem Lebensstil ohne Alkohol, Tabak oder andere Drogen, gegen häufigen PartnerInnenwechsel, nüchtern, gradlinig und selbstbestimmt. Tom verliebt sich. Er verliebt sich aber auch in die Kraft seiner Freundin, die sich nicht einfach blossen Schimpfen und Auflehnen hingibt, sondern in den Augen Toms auch für Veränderungen einsteht. Erst recht als klar wird, dass Jasmin Teil einer Gruppe junger AktivistInnen ist.

Tom ist mittendrin. Die alkoholabhängige Mutter, sein Freund Patrick, der mit seiner cool-lässigen Art die Welt zu nehmen versteht, Jasmin, die nicht bloss Steine wegkickt, Toms Onkel, der ihn zum Denken ermuntert und doch ganz anders ist wie sein erloschener Vater. Jasmin nimmt Tom mit und aus ihrer Überzeugung wird seine. 

Aber kann man eine Überzeugung wie einen Mantel umlegen? Wann wird Überzeugung zu eigenem Leben? Was bleibt von dem, was man in seiner Jugend wie ein Schwamm in sich aufgesogen hat? Den Plänen und den Träumen, den Vorstellungen und Visionen? Spiegelt mein gegenwärtiges Leben noch einen Funken dessen, was damals im Brennpunkt war, explosiv werden konnte?
Ein Vierteljahrhundert später treffen sich zwei Ernüchterte. Ist die Handprothese seines Freundes ein Grund, dass Tom Philosophieleher geworden ist? Ist jene Katastrophe, die damals Tom und Patrick beinahe das Leben gekostet hätte, bloss einfach ein Ende mit Schrecken oder ein Anfang?

Peter Zimmermann nimmt mich mit in die 90er Jahre, konfrontiert mich mit mir selbst, der ich auch einmal meine Überzeugung für jeden sichtbar mit mir herumtrug. Was bleibt vom Kampf gegen das Immergleiche, Unumstössliche, gegen Tradition und Establishment? Peter Zimmermanns Roman ist sehr konventionell erzählt, bleibt auf der eingeschlagenen Linie. Ich hätte dem Roman mehr Sprache und Konstruktion gewordenen Mut gewünscht. Doch auch wenn Peter Zimmermanns Debütroman manchmal etwas hölzern wirkt, lohnt sich die Lektüre allemal, weil da einer einen Kampf ausleuchtet, den wir alle mit uns herumtragen; die Rebellion und das, was davon bleibt.

Ein Interview mit Peter Zimmermann:

Tom wurde Philosophielehrer. Sie lassen im Verborgenen, wie sehr die verheerende Geschichte damals einer der Gründe wurde, warum Tom diesen Beruf auswählte. Und warum er einer der Menschen geworden ist, denen nicht die Karriere an erster Stelle steht, sondern ihr Idealismus. Ist jener Idealismus, den man sich bewahrt, nicht immer das Resultat von Leben, das an einem nagt?
Ja, das kann sein. Ich mag solche Figuren. Sie sind mir sympathischer als jene, die das Leben an sich abperlen lassen, keine Ideale besitzen und am Leben ihrer Mitmenschen nagen. Das ist es ja auch, was Tom in Bezug auf seinen Freund Patrick befürchtet: Dass dieser sich zu einem «zufriedenen, satten Geist» entwickelt. Auf der anderen Seite kann das Leben so sehr an einem nagen, dass der Idealismus, den man sich bewahrt, zahnlos wird, zu einer Flucht vor der Realität verkommt. Ich denke, Tom befindet sich da an einer Grenze.

Tom hat einen Onkel, den Bruder seines Vaters, der ganz anders ist, der Sätze sagt wie „Dein Verstand muss intuitiv werden. Er darf nicht sezieren, darf sich nicht in Einzelheiten verlieren“. Das tut doch aber die Literatur sehr oft. Man verliert sich in den Einzelheiten, den Details und traut der Intuition nur wenig. Oder liegt dort der Unterschied zwischen Handwerk und Kunst?
Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Ich betrachte das literarische Schreiben – zumindest mein eigenes – eher als Handwerk. Aber ich verstehe den Sinn Ihrer Frage: Gewisse Texte sprechen uns in emotionaler und intellektueller Hinsicht auf eine ganz besondere Weise an und in diesen Fällen sagen wir üblicherweise, dass wir es mit Kunst zu tun haben.

 

aus den Notizen Peter Zimmermanns

Was zeichnet solche Texte aus? Ich formuliere eine Gegenthese zu Ihrer Aussage: Oft vernachlässigt Literatur den präzisen Blick auf die Details. Man verliert sich im Abstrakten, produziert «Geschwurbel» und behauptet, es wäre Kunst. Ich will Ihnen aber auch nicht widersprechen. Womöglich liegt die echte Kunst – oder das gute Handwerk – darin, die richtigen Details so zu wählen und zu arrangieren, dass Bedeutungen entstehen, die über die wörtliche Bedeutung des Textes hinausreichen. Dazu braucht es vielleicht tatsächlich so etwas wie Intuition. Ein solches Mehr an Bedeutung lässt sich dann wiederum bloss intuitiv erschliessen und nicht vollständig ausbuchstabieren, was zu dieser besonderen Leseerfahrung führt, die uns dazu bringt, von Kunst zu sprechen.

Was bleibt von dem, was einem in jungen Jahren umtreibt? Wie wächst Ideologie? Was ist von den Idealen des jungen Peter Zimmermann geblieben?
Das ist eine sehr persönliche Frage. Nun gut: Die Ideale des jungen Peter Zimmermann haben sich zu einem guten Teil darauf bezogen, was für ein Leben er führen möchte. Unter anderem wollte er auf keinen Fall Lehrer werden. Genau das ist aber aus mir geworden. Diese Entwicklung bereue ich keineswegs. Das Unterrichten ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, die mir zwanzig Jahre lang grossen Spass bereitet hat. Allerdings nähere ich mich inzwischen dem Leben an, das ich mir als Jugendlicher erträumt habe: Nachdem ich diesen Frühling meine Stelle am Gymnasium gekündigt habe, um fortan nur noch in der Lehrerbildung tätig zu sein, werde ich in Zukunft deutlich weniger verdienen, aber auch deutlich mehr Zeit fürs Schreiben haben. Im Vergleich zu früher lebe ich heute in grösserer Übereinstimmung mit den Idealen des jungen Peter Zimmermann.

Sie zielen mit Ihrer Frage aber wohl auf andere Dinge. Wie steht es um meine moralischen Ideale? In gewisser Hinsicht war das auch mein Ausgangspunkt, als ich den Roman zu schreiben begann. Wie wird aus einem fünfzehnjährigen Jugendlichen, der genau dieselben Werte wie seine Eltern vertritt und der vor seinen Mitschülern ein flammendes Plädoyer für die Erneuerung der Schweizer Luftwaffe hält, in kurzer Zeit jemand, der auf die Strasse geht, um gegen die Anschaffung des F/A-18 zu demonstrieren? Auch wenn der Roman nicht als persönliche Aufarbeitung gedacht ist, interessiert mich grundsätzlich, wie ein solcher Wandel zustande kommt.

Im Erwachsenenalter und bis heute sind meine moralischen Überzeugungen im Wesentlichen aber stabil geblieben. Eine andere Frage ist die nach dem moralischen Engagement und der Konsequenz im Handeln. In dieser Hinsicht gilt es, Abstriche einzugestehen. Mein damaliges Ich hätte meine diesjährige Reise nach Costa Rica wohl kaum gutgeheissen. Auf der anderen Seite wäre es sicherlich erfreut zu hören, dass ich während der Recherche zum Buch endlich wieder zum Vegetarier geworden bin und inzwischen auch auf viele Milchprodukte verzichte.

Zur Frage nach der Ideologie: Meiner Meinung nach wächst Ideologie in der Weigerung, die Stimmen der Anderen zu vernehmen. Und Idealismus schlägt dann in Ideologie um, wenn entsprechende Überzeugungen entgegen ihrem Anspruch, vernünftig und allgemeingültig zu sein, lediglich der Verteidigung eigener Interessen dienen. In dieser zweiten Hinsicht würde ich, um auf das Thema des Romans Bezug zu nehmen, eher die Gegner einer veganen Lebensweise und Lebensmittelproduktion unter Ideologieverdacht stellen wollen als deren Befürworter.

am Aareufer © Peter Zimmermann

Sie schildern in ihrem Roman einen „Einbruch“ der jungen AktivistInnen in einen Schweinebetrieb. Eine Sauerei aus der Sicht der jungen Leute, eine Sauerei aus der Sicht des Schweinezüchters. Ihre Schilderungen sind so krass wie die Bilder des Tierschützers Erwin Kesslers. Erziehung, Überzeugung und Korrektur geschieht aber in den wenigsten Fällen durch Abschreckung. Und doch reizt kaum etwas so sehr wie das Krasse, das Schreiende, das Brutale. Warum stechen sie nicht noch viel mehr in die eiternde Beule?
Weil es den Roman aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Die Schilderungen sollten drastisch genug sein, um die Reaktionen der Figuren und das weitere Geschehen plausibel zu machen, ohne dabei die Grenze zum Reisserischen zu überschreiten. Die entsprechenden Passagen dienen der Geschichte und nicht umgekehrt. Aber ja, das Krasse und Schreiende reizt. Tatsächlich hat mir ein Literaturagent geraten, das Manuskript in die Tonne zu treten und die Geschichte neu aufzuziehen, mit literweise Blut und allem. Das entspricht jedoch nicht meinen Vorstellungen. Auch wenn in meinen Texten immer mal wieder brutale oder krasse Ereignisse vorkommen, reizt mich insgesamt doch eher das Subtile.

Um einen weiteren Aspekt Ihrer Frage aufzugreifen: Wäre es meine Absicht gewesen, Leserinnen und Leser zu überzeugen, hätte ich ein Sachbuch geschrieben. Und da stimme ich Ihnen zu: Abschreckung funktioniert nicht. Man müsste eher versuchen, vegetarische und vegane Lebensweisen noch stärker positiv zu besetzen, gegen das Vorurteil anzuschreiben, es handle sich dabei um genussfeindliche Einstellungen, die nur von miesepetrigen Besserwissern vertreten werden. Auf der anderen Seite bin ich schon der Meinung, dass jede Person, die Tierprodukte konsumiert, wissen sollte, unter welchen Bedingungen diese hergestellt werden. Dass ein solches Wissen oftmals schockiert, liegt in der Natur der Sache.

Tom liebte Jasmin, liebt jene Jasmin vielleicht auch noch nach einem Vierteljahrhundert als Imago. Tom ist alleine geblieben, Jasmin längst verheiratet und Mutter von Kindern. Bleibt Tom an seiner Geschichte hängen?
Dieser Schluss drängt sich auf. Aber das eigentliche Geschehen wird ja von drei Kapiteln eingerahmt, die in der Gegenwart spielen. Diese Kapitel sind mir wichtig, auch sie erzählen eine Geschichte: Tom trifft nach fünfundzwanzig Jahren auf seinen Jugendfreund, die Ereignisse von damals werden zum Thema. Das könnte durchaus der Ausgangspunkt einer Entwicklung sein, die es Tom ermöglicht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Das Leben nagt an ihm, aber es besteht die Chance, dass es ihn nicht zerfrisst.

© Ayșe Yavaș

Peter Zimmermann, geboren 1972, wuchs in Nidwalden auf. Er promovierte in Philosophie und arbeitet als Fachdidaktiker an der Universität Fribourg. Ab 2016 publizierte er diverse Texte in Literaturzeitschriften und wurde für sein Schreiben bereits verschiedentlich ausgezeichnet: 2016 gewann er den Schreibwettbewerb von Das Magazin und den Literaturwettbewerb Treibhaus des Literarischen Monats, 2018 erhielt er einen Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung für die Arbeit an «Was der Igel weiss», und 2019 den Irseer Pegasus. Peter Zimmermann lebt in Bern.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas