Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol

In der denkbar schwierigsten Zeit gründen Unerschrockene in der Ostschweiz einen Verlag für Prosa, Lyrik und Wort-Art, der Schreibenden aus dem Bodenseeraum eine neue Heimat bieten soll. Der Caracol Verlag mit Sitz im thurgauischen Warth. Das spanische Caracol bedeutet „Häuschenschnecke“. Caracol nannten die Spanier ein Observatorium in der Maya-Stadt Chichén Itzá (Yucatán/Mexiko), wegen der gewundenen Treppe, die im Innern in die Tiefe führt.

Schreiben ist ein Prozess, der in die Tiefe führt. Und die Hoffnung aller Schreibender, dass die Lektüre dies genauso schafft, nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Erica Engeler, die seit Jahrzehnten schreibt und sich dabei vieler Ausdrucksformen kunstvoll bedienen kann, präsentiert mit der Erzählung „Wie ein Bisam läuft“ genau das, was der junge Verlag will; diesen gewundenen Weg nach Innen, das Suchen nach Tiefe. Erica Engeler, eine Autorin der leisen Töne, in ihrem Auftreten zurückhaltend und scheu, überrascht in ihrer Erzählung durch Direktheit, Witz, Schalk und einer Dramaturgie, die sich an inneren Bildern orientiert und alles andere als protokollieren will.

Wandas Leben verheddert sich. Nicht nur weil sich ihre Gegenwart in scheinbaren Zufälligkeiten verliert, sondern weil sich ihre Vergangenheit immer fester um sie windet, ihr den Atem und Orientierung raubt, sie einengt und lähmt. Wandas Mutter stirbt an Krebs. Sie, eine gefragte Pianistin, sie, die sich mit ihrer Krankheit einmal mehr von ihrer Tochter entfernt. Wanda leidet seit ihrer Kindheit an der Distanz zu ihrer Mutter, an einer Familie, die sich schon in ihren Kindertagen von Streitereien zerreissen liess. Bis der Vater die Familie verlässt und die Tochter mit einer Mutter zurücklässt, die dieser fremd bleibt.

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol, 2020, 96 Seiten, CHF 20.00, ISBN 978-3-907296-01-1

Mit dem Krebs kommt Olivia ins Haus der Mutter, eine omnipräsente Hilfe, die der Mutter viel näher zu kommen scheint als Wanda. Und Wanda lernt in einem Café einen Mann kennen, tauscht Blicke aus und verliert ihn wieder. Einen Mann, der an ihr haften bleibt, sein Geruch, als er an ihr vorbeigeht und sich in der Stadt verliert. Wanda verliert sich an ihn, verliert sich in ihren Gedanken an die Mutter, an der lauten, zerstrittenen Vergangenheit der Familie.
Da sind Menschen, an deren Nähe sie sich verbrannte, Menschen, deren Nähe sie nie erreichte. „Wie ein Bisam läuft“ spürt genau diesen Gegensätzen nach, den traumatischen Bildern aus einer Kindheit, der Distanz zu ihren Eltern, den Schwestern Agnes und Verena, dem fehlenden Vater, den die Mutter vor die Tür setzte und der Krankheit, die Wanda mehr als nur die Mutter nimmt, sondern all das, das an Geheimnissen verschlossen bleibt.

„Wie ein Bisam läuft“ ist aber alles andere als Selbstzerfleischung, Selbstreflexion. Erica Engeler spickt ihre Erzählung mit würzigen Dialogen, kurzen, bissigen Sätzen, die in ihrer Prägnanz zum Schmunzeln zwingen. Die Geschichte ist das eine, ihre Sprache das andere. Erica Engeler spielt mit Nuancen, kippt zwischen Vorder- und Hintergründen. So wie das Leben unerklärbar bleibt, so bleibt Wanda vieles unerklärbar. So wie Wanda sich verheddert, so verheddere auch ich mich zuweilen bei der Lektüre – aber mit grösstem Vergnügen.

Ein Interview mit Erica Engeler

„Wie ein Bisam läuft“ ist eine Annäherung zwischen Tochter und Mutter. Ausgerechnet die Mutter-Kind-Beziehung, die so leicht idealisiert und verklärt wird, beschreibst du in deinem Buch als einen lebenslangen Kampf. Nicht so sehr von der Tochter gegen die Mutter, als von der Tochter mit sich selbst, gegen das, was dieses Verhältnis bei ihr anrichtet und auslöst. Wird der Blick einer älter werdenden Schriftstellerin milder?
Deine Überlegungen stellen die Mutter-Tochter-Beziehung mehr in den Vordergrund als bei mir gedacht. Für mich ist es eher eine Nichtbeziehung, oder eine erwünschte, die aber nicht zustande kam. Diese Mutter ist eine anwesend abwesende. Mehr Künstlerin als Mutter. 
Trotzdem lege ich ihr Tagores Verse in den Mund, die auch im wirklichen Leben meiner Mutter präsent waren und sich in mir festsetzten, wie eine Erbschaft oder eine verhaltene Aufforderung zum Schreiben (was auch sie gern getan hätte).

Was mir auffiel und besonderes Vergnügen bereitete, das waren die kurzen, witzigen und prägnanten Dialoge, die in deinem Text eingefügt sind und mehr entlarven, als andere Schriftsteller in ganzen Seiten versuchen. Steckt da in der Lyrikerin und Erzählerin auch noch eine verborgene Theaterautorin?
Das höre ich natürlich gern, aber ein Theaterstück würde ich mir nicht zutrauen. Mich fasziniert einfach die Redehemmung, die Zurückhaltung.

„Wie ein Bisam läuft“, der Titel deiner Erzählung irritiert und macht neugierig. Kannst du etwas erzählen, wie dein Titel seinen Weg auf den Buchumschlag fand?
Der Titel kam ins Buch als (versteckte) Hommage an meine Mutter. Er hat sich von selbst ergeben, war von Anfang an da.

Ein neuer Verlag, der Caracol Verlag. Was ist dir als Schriftstellerin bei einem Verlag wichtig, der dein Buch, deine zukünftigen Bücher herausgibt? Muss ein Verlag ein Stück Zuhause sein?
Ja, im besten Fall ist ein Verlag ein Zuhause. Nachdem mein Manuskript sehr lange unbeachtet (vielleicht auch ungelesen) bei einem anderen Verlag lag, habe ich mich sehr gefreut über die rasche und gut betreute Aufnahme meines Manuskripts im neuen Verlag mit dem schönen Namen Caracol – der für mich direkt aus meiner argentinischen Kindheit kommt.

Vieles in deiner Erzählung ist nur angedeutet, erschliesst sich mir erst bei genauem, vielleicht sogar erneutem Lesen. Auch ein Qualitätsmerkmal deines Textes, denn er macht genau das, was im Zusammenleben mit unseren Nächsten auch passiert; man kombiniert, interpretiert, man verheddert sich, tappt im Dunkeln. Lebt der Mensch mit dem permanenten Irrtum, Beziehungen wären wie Räume, die man mit Scheinwerfern ausleuchten kann?
Im Rahmen einer wortkargen Familie ist der natürliche Wortfluss eingedämmt. Man spricht zwar über Unwesentliches, das ist aber keine Kommunikation.

In einer Szene beschreibst du, wie die Mutter mit einem einzigen Satz alles in der Beziehung zu ihrer Tochter verändert: „Ich habe Krebs.“ Drei Worte, aber es verschieben sich Kontinentalplatten! Ein Satz, der alles verschiebt. Ist uns zu wenig bewusst, was Worte anrichten können?
Das ist schwer zu beantworten. Aber ich glaube, dass man in einer solchen Situation nicht überlegt vorgehen kann. Die Diagnose ist ein Schock, lässt sich weder klein- noch schönreden. Dass dieser Brocken so abrupt kommt, entspricht der Situation. Auch verschwiegene und berühmte Mütter sind nur Menschen – und dürfen es auch sein.

Erica Engeler ist 1949 in Ruiz de Montoya (Provinz Misiones) in Argentinien geboren. Seit 1974 wohnt und schreibt sie in St.Gallen. Seit 1985 veröffentlichte Erica Engeler Romane, Erzählungen und Gedichte.
Zudem war sie als Übersetzerin aus dem Spanischen tätig: Sie hat Werke von Alfonsina Storni, Ernesto Sabato und Roberto Arlt ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Ralph Ribi