Andrea Scrima «Wie viele Tage», Droschl

Andrea Scrima lebt und arbeitet als bildende Künstlerin in Berlin. Ihr erster Roman erzählt nicht so sehr eine Geschichte, als dass er sich mit Augen-Blicken beschäftigt, mit Wahr-Nehmung, in Pendelbewegungen zwischen Berlin und New York.

Neben Betrachtungen über Geschehnisse um sie herum, in Ateliers, in Wohnungen, in Strassen und Städten, sind es Menschen; Nachbarn, Bekannte und Freunde, ihr Bruder, mit dem sie sich fast symbiotisch verbunden fühlt, ihre Verwandten und ihr Vater, den sie durch Krankheit verliert. «Wie viele Tage» ist eine literarische Auseinandersetzung mit der Erinnerung.

«Mein Bewusstsein läuft diesem Moment hinterher, und dem nächsten, und dem danach; ich nehme mir vor, mir jedes Detail einzuprägen, doch ich kann es nicht, und ich kann nicht in der Gegenwart existieren und im Wissen, dass ich ein Grossteil dessen, was ich um mich herum sehe, vergessen werde.»

Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert. Sie kann profansten Momenten Poesie abgewinnen, mit Sprache und Melodie. Und doch scheint Andrea Scrima weit vom Geschehen distanziert zu sein. So nah sie mit ihren Empfindungen dem Geschehen kommt, so weit scheint sie sich vom Wahrgenommenen zu distanzieren, nicht wirklich dazugehörend, nicht mitgenommen werden wollend.

«Wie viele Tage» liest sich nicht leicht, wenn auch nicht verschlüsselt. Wer das als «Roman» verkaufte Buch liest, sucht vergeblich nach einem durchgehenden Handlungsstrang, einer vielleicht verborgenen Geschichte. Ich las das Buch wie lyrische Prosa, eine mäandernde Textspur durch ein Leben, das Empfinden einer Empfindsamen. Keine Nabelschau, aber der Lyrik näher als einer Erzählung.

Andrea Scrima schreibt, wie sie arbeitet, wie sich das Sehen in ihrer Kunst manifestiert. Wie sie ihre Umgebung, ihre Welt zu erfassen versucht, wie sie sich mit ihr vertraut macht. Wie wenig sie dabei von sich selbst gefangen ist! Andrea Scrima muss keine Geschichte loswerden. Sie nimmt mich mit auf eine Reise durch ihre Welten.

Ein Buch über Lebensspuren, Aufbrüche und Einsichten von dem, was bleibt oder sonst ins Vergessen rutscht. Erinnern schafft Ordnung. Andrea Scrima erinnert sich, ordnet, bringt Erinnern in Ordnung, ordnet Erinnerungen neu und fragt sich immer wieder, nach jeder «Neuordnung», ob das, was geworden ist, nun ganz anders ist.

Andrea Scrima, geboren 1960 in New York City, studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York und an der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt.
Ihre Arbeiten waren in internationalen Museen und Ausstellungen zu sehen.
Sie schreibt Literaturkritiken für «Quarterly Conversation, Music & Literature» und «The Brooklyn Rail».

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Sorj Chalandon «Mein fremder Vater», dtv

Émile ist mit der dunkelhäutigen Fadita verheiratet. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Clément scheinen sie das perfekte Bild einer Familienidylle abzugeben; ein Paar, das sich wirklich liebt und ein Sohn, der in Liebe aufgehoben und geborgen ist. Wenn da nur die Geschichte nicht wäre. Kann man den Schrecken einer Kindheit besiegen? Kann man sich aus den Fesseln von Schuldgefühlen befreien? Kann man wahrhaft vergeben? Kann man all die Schläge und Erniedrigungen verzeihen?

Dass Sorj Chalandon preisgekrönter Journalist ist und mit vielen seiner Romane in der französischen Presse und Preisgerichten für Furore sorgte, wundert mich nach der Lektüre von «Ein fremder Vater» nicht. Lange nicht mehr las ich einen Roman mit derart zunehmender Beklemmung wie diesen übermässig berührenden Roman einer Kindheit. Ich wartete über lange Strecken förmlich  auf die drohenden Katastrophen, die Implosion einer eingeschnürten Kleinfamilie. Sorj Chalandon geht mit seinem Schreiben derart nahe an seine Kindheit, eine üble Kindheitsgeschichte des in den 70er Jahren gross werdenden Émile, dass die Lektüre zuweilen selbst zum Martyrium wird, beinahe unerträglich.

Im Frühling 2011 sitzen der mittlerweile selbst zum Vater  gewordene Émile und seine greise Mutter allein im Krematorium und wohnen der Einäscherung des Vaters und Ehemanns bei. So allein, wie der Verstorbene und sie fast ein Leben lang waren. Unversöhnt, noch immer mit der Angst und dem Schrecken von Jahrzehnten in den Knochen.

«Sie sah nichts, meine Mutter. Nie hatte sie etwas gesehen.»

André Cholans lebt Anfang der Sechzigerjahre mit seiner Familie in Lyon. Er ist arbeitslos, im Höchstmass cholerisch, gewalttätig seiner Familie gegenüber, jähzornig und gefangen in einem wirren Geflecht aus Lügen und Phantastereien, die er dem kleinen Sohn als die Wahrheit verkauft. Er habe Verbindungen zum algerischen Widerstand genauso wie zur CIA, sei einst Fallschirmjäger gewesen, Fussballprofi, Prediger, Sänger, Judolehrer und fallen gelassener Berater von Charles De Gaulle, dem amtierenden französischen Staatspräsidenten, einem Mann, der nicht nur ihn, sondern das algerische Volk verraten habe. Ein Mann, der den Tod verdient habe, das Attentat unterstützt von ihm dem Geheimagenten, dem es unmöglich ist, dass sein Zuhause durch Schnüffler und Gegner ausspioniert werde. Darum bleibt die Wohnung, das Zuhause von Émile für jeden Besuch verschlossen. Nicht einmal Nachbarn grüsst man. Im dunklen Treppenhaus lauscht man und schliesst tagsüber die Fensterläden.

Ein paranoider Vater macht seinen einzigen Sohn zu seinem Verbündeten, täuscht diesem eine Welt vor, die es nicht gibt, gegen die man sich aufzulehnen hat, rebellieren muss. Vater André erfindet eine ganze Reihe von Figuren, Geschichten, Tatsachen und Zusammenhänge, die den kleinen, schmächtigen, asthmatischen Émile gleichermassen beeindrucken, beängstigen und in eine Welt einbetten. Obwohl der Vater ihn misshandelt, schlägt, für Stunden in einen Schrank sperrt und ihn mitten in der Nacht weckt, um ihn kampftauglich zu drillen. Einen Vater will man lieben. Einem Vater will man glauben.

«Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde (…). Mein Vater war meine letzte Wunde. Ich braucht dreiundsechzig Jahre, um dieses Buch zu schreiben. Ich weiss nicht, ob ich weitere schreiben werde» Sorj Chalandon

Ein wahrhaft ver-rückter Vater, der seinen eingeschüchterten Sohn zu seinem wichtigsten Verbündeten macht – mit verheerenden Folgen. Die verquere Welt des Vaters mischt sich mit der seines Sohnes, wird zu einer trüben, undurchsichtigen, giftigen Suppe.
Und die Mutter? Sie hat längst resigniert, sich in ihrem Elend eingerichtet, alles entschuldigend mit dem Satz «Du kennst deinen Vater.» Es reiht sich eine Katastrophe an die andere, Verwundung an Verwundung.

«Meine Mutter ohne Gebrauchsanweisung. Ein Gesicht wie ein weisser Lappen. Augen, Mund, Stirn wie eingefroren.»

«Mein fremder Vater» ist keine Abrechnung. Der Roman macht allen Vätern und Müttern bewusst, was sie mit ihrem Tun und Lassen anrichten können, dass Fehler unweigerlich passieren. Das Schlimmste aber bleibt, wenn Kinder mit den von Müttern und Vätern begangenen Fehlern alleine gelassen werden.
Ein Buch von schmerzlicher Tragik über einen am  des Romans erwachsenen Mann, der seinen eigenen Sohn in die Arme nehmen kann und um die Verantwortung weiss, die in den Liebesbezeugungen seines kleinen Sohnes liegt.

Unbedingt lesen, auch wenn es einem fast das Herz zerreisst.

Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung «Libération». Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Le petit Bonzi» (2005), «Une promesse» (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und «Mon traître» (2008). Sein vierter Roman «La légende de nos pères» (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. «Die Legende unserer Väter». Der folgende Roman «Retour à Killybegs» (2011; dt. «Rückkehr nach Killybegs», 2013) wurde mit dem Grand Prix du roman de l’Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. Auch der Roman «Le quatrième mur» (2013; dt. «Die vierte Wand», 2015) war für den Prix Goncourt nominiert.

Peter Stamm «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer

Manche Begegnungen sind schicksalshaft. Selbst wenn daraus kein andauerndes Beieinander wird, wenn gemeinsame Zeit längst zerronnen ist. Aber es bleibt das Bild, der Eindruck, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben.

Man stelle sich vor: Irgendwann begegnet man irgendwo einem Menschen, der sich in kaum etwas von dem unterscheidet, was man einst selbst war. Man erkennt sich in jemandem, fühlt sich von der Zeit, der Vergangenheit eingeholt. Man stelle sich vor, man komme mit diesem überraschenden Gegenüber ins Gespräch, Leben würden sich kreuzen, Gegenwart mit Vergangenheit, um festzustellen, dass sich die eigene Geschichte zu löschen beginnt, während man sich immer tiefer in die Geschichte des Gegenübers verstrickt.

Peter Stamms neuer Roman, nimmt etwas von dem wieder auf, was sein erster Roman „Agnes“ zu erzählen begonnen hatte. In „Agnes“ fordert eine junge Frau ihren Geliebten, einen Schriftsteller auf, ihre Geschichte, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, die Geschichte ihrer Liebe. Mehr noch; Geschichte im Erzählen vorwegzunehmen. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ fügt Peter Stamm jenem Drängen aus seinem ersten Roman noch weitere Schichten hinzu.
Christoph lernt die viel jüngere Magdalena kennen, muss ihr ihre Geschichte erzählen, die vor vielen Jahren damit begann, dass er eine Frau kennenlernte, die ihr in fast allem gleiche, die er aber aus den Augen verloren habe. Magdalena wundert sich über einen älteren Mann, der ihr eine Geschichte erzählen will, die sich immer deutlicher mit der gegenwärtigen Geschichte mit ihrem Freund zu decken scheint. Christoph hatte damals, als er Magdalena verlor und mit ihr eine gemeinsame Zukunft, endlich den Stoff für seinen Roman gefunden. Den einzigen, den er je geschrieben hatte und der mit zunehmender Zeit immer mehr zur Ahnung werden sollte. So wie ihm Magdalena entglitt, tat es auch das Schreiben, selbst als er sich mit allem Elan auf die Suche nach Inspiration machte, für Jahre weg aus seinem gewohnten Umfeld zog, sich unsichtbar machte. Um im anderen Leben festzustellen, dass man nicht vorkommt, nicht einmal mehr seine eigenen Spuren, erst recht nicht das Buch, das man einst geschrieben und verkauft hatte, sichtbar bleiben.

In Peter Stamms neuem Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Peter Stamm verrät, wie sehr er sich Sicherheit für sein Schreiben wünscht. Man fragt sich zwar; Glaube ich, was ich lese? Nie aber; Weiss ich, was ich lese? Ein Roman, der das Zeug zur Verunsicherung hat. Ein Roman, der Fragen stellt, die ich für mich schon lange beantwortet zu haben glaubte. Ein Roman, der konzentriert erzählt, nie abschweift, beinahe sachlich erzählt. Peter Stamm kocht nicht Altes auf. Dafür spritzt er mit heissem Wasser!

Foto: Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Nacht ist der Tag» und «Weit über das Land» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Webseite des Autors

Aharon Appelfeld «Meine Eltern», Rowohlt

Im Gedenken an den grossen Autor Aharon Appelfeld, der am 4. Januar 2018 fast 86 jährig gestorben ist.

Sommer 1938, jüdische Sommerfrischler am Fluss Prut in Rumänien. Noch hält die Welt den Atem an. Noch kracht es nicht, kein Kanonenlärm, keine Bomben, dafür rumort es überdeutlich, bricht offener Hass hervor, während man sich unter Juden tröstet und beschwichtigt.

Aharon Appelfelds Roman, kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 erschienen, ist ein Erinnerungsbuch. Eines an seine Eltern, an einen bekümmerten, pessimistischen Vater, der am Menschen zweifelt und an eine überaus fürsorgliche Mutter, die Geschichten liebt, trotz allem stets an das Gute glaubt und dem zehnjährigen Erwin, Appelfelds Protagonisten in seinem Roman, was die Juden in der Gesellschaft nach und nach verlieren.

Aharon Appelfeld selbst war im Sommer 1938 erst sechs. Das Erwin in seinem Roman «Meine Eltern» schon zehn ist, lässt erahnen, dass der Roman weit mehr sein soll als ein Erinnerungsbuch an seine leiblichen Eltern, seine wirkliche Kindheit. Aharon Appelfeld relativiert alle Fragen nach dem «Autobiographischen». «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an eine verlorene Zeit. Jenen letzten, wenn auch nicht mehr wirklich heiteren Sommer, der den Übergang markiert von grossbürgerlicher Selbstverständlichkeit zu beinahe einem Jahrzehnt jüdischer Apokalypse.

Man sonnt sich im Sommer 38 in den Wiesen am Fluss. Man reitet mit geliehenen Pferden durch die Landschaft, sitzt abends vor dem gemieteten Sommerhaus und geniesst, was einem nur noch die Natur geben kann; «Frieden». Umgeben von Menschen, die genau spüren, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Karl König, ein Schriftsteller, der an seinen Fähigkeiten zweifelt. Eine Wahrsagerin, die aus den Händen die Zukunft liest der Missachtung verzweifelt. Pepi, die einmal mit einem Christen liiert war und in diesem besonderen Sommer auf Männerschau ist. Der Einbeinige, der sein Bein im letzten Weltkrieg verlor oder Doktor Zajger, der sich nur hier am Fluss vor seiner Arbeit retten kann.
Für sie alle bildet sich in diesem Sommer «ein Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde».

Selbst in den Stimmen der Bauern der Umgebung, die ihre Häuser und Pferde vermieten, sie mit Lebensmitteln versorgen, selbst jene des Kutschers, der sie zurück in die Stadt fährt; Hass, Misstrauen und Feindseligkeit.
Vater und Mutter Erwins repräsentieren den grossen Teil der damaligen unter Generalverdacht stehenden Juden: Der Vater längst säkularisiert, die Mutter eine stille, alles andere als demonstrative Gläubige. Und trotzdem schien auf allen jüdischen Gesichtern ein Blutmal zu wachsen, unauslöschlich.

Jener Sommer am Fluss wird zum Wende- und Brennpunkt. Während die einen der Depression verfallen, fröhnen die andern erst recht der Zerstreuung. Während bei den einen die Ahnung zur Gewissheit wird, entschuldigen und wischen andere jede schwarze Wolke weg.
«Meine Eltern» ist ein einzigartiges Buch, weil es die Momente beschreibt, in denen die Lunte brennt, sich das Höllengewitter zusammenbraut, die stinkende Suppe überkocht.

«Solange man noch Kaffee und Kuchen serviert, ist das ein Zeichen, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht.»

In Büchern wie «Auf der Lichtung» oder «Tzili» beschrieb Aharon Appelfeld seine eigene Odyssee als Junge in den ukrainischen Wäldern, stets auf der Hut vor seinen Häschern, quer durch einen Krieg, quer durch einen Kontinent. «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an einen verlorenen Frieden, an nie zurückgewonnene Geborgenheit. Ein zartes Buch über einen Moment der Weltgeschichte, der sich nicht grausamer hätte wandeln können.

Aharon Appelfeld, 1932 in Jadowa in der rumänischen Bukowina geboren und 2018 bei Tel Aviv gestorben, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und zugleich «zu den großen Erzählern Osteuropas» (Imre Kertész). Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine hochgelobten Romane und Erinnerungen wurden in fünfunddreissig Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen zuletzt «Meine Eltern», «Ein Mädchen nicht von dieser Welt» und «Auf der Lichtung». Über Aharon Appelfeld, der unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet wurde, sagte Philip Roth: «So einzigartig wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Sprache.»

Elvira Dones «Hana», ink press

Albanien, bis 1990 eine weitgehend abgeschottete Diktatur und danach ein dem Auseinanderbrechen preisgegebener Staat, existiert bis heute in den krassen Gegensätzen zwischen Städten wie Tirana und gesellschaftlich und landschaftlich abgeschnittenen Landstrichen wie der Norden. Kein Wunder halten sich dort in den Bergen, in vergessenen und von vielen verlassenen Tälern Bräuche und Traditionen, die mittelalterlich erscheinen.

«Wenn du eine Frau bist und Albanerin und eine Katholikin aus den Bergen mit deinem schuldigen und von den Kommunisten verbannten Jesus, bleibt dir nichts anderes übrig, als jenes Elend zu verdrängen. das zu schlucken sie dich gezwungen haben, während sie es dir als Leben verkauften.»

Eine dieser aus dem späten Mittelalter stammende Tradition sind «Schwurjungfrauen»: Wenn eine Familie keine Söhne hat, dann schwört eine der Töchter, sich künftig wie ein Mann zu benehmen und bis ans Ende ihrer Tage ein Mann zu bleiben. Von dem Moment an übernimmt sie / er alle Funktionen und Rollen eines Mannes und wird auch als solcher respektiert.

So wird am 6. November 1986 Hana zu Mark. Als Mädchen verlor sie ihre Eltern, wuchs bei Tante und Onkel auf. Und als ihre Tante an ihrer Herzschwäche stirbt und ein bösartiger Tumor auch das Leben ihres Onkels, des einzig übrig gebliebenen Verwandten auszulöschen droht, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben, nach dem drohenden Tod des Onkels nicht ungeschützt zum Freiwild zu werden; eine arrangierte Heirat. Aber Hana will nicht heiraten. Sie ist 19, studiert Literatur an der Universität der albanischen Hauptstadt Tirana. Sie ist alles andere als hinterwäldlerisch. Hana fühlt sich ohnmächtig ihrer verstorbenen Tante und ihrem kranken Onkel verpflichtet. Der einzige Weg, den Besitz und das Andenken an ihre Familie nicht wie vieles andere dem Untergang und Zerfall preiszugeben, ist ein Schritt in eine andere Welt, ein hoher Preis ohne Weg zurück. Das ländliche Albanien ist eine archaische Gegend, ein Land in Traditionen und Sitten gefangen, nicht zuletzt im Würgegriff von Blutrache, die ganze Teile von Familien, vornehmlich die Männer, zwingt, im Verborgenen zu leben.

Aber Hana ist auch nach einem Jahrzehnt als Mark nicht vergessen. Eine Cousine, die wie viele andere mit ihrer Familie auswanderte und in den USA eine neue Existenz aufbaute, schreibt Hana Briefe. Und im Oktober 2001, fast 15 Jahre nach der ersten Metamorphose, beginnt der langsame Weg vom kettenrauchenden, trinkfesten Mark zurück zu Hana, der nur in grösstmöglicher Distanz von ihrer Heimat die zweite Metamorphose gelingen kann. Wieder eine Verwandlung, mit der sie alles verlieren kann und wieder aufnimmt, was sie einst für immer ablegte.

Elvira Dones ist ein äusserst feinfühliges Buch gelungen. Ein Roman, der alles andere als reisserisch eine Geschichte von einem eingeschlossenen Leben zwischen den Geschlechtern erzählt. Von unumkehrbar scheinenden Situationen, der Häutung mit einer vieltausend Kilometer weiten Flucht, nicht leichter wird. Elvira Dones schrieb nicht einfach eine Reportage, sondern ein zartes Porträt einer mehrfachen Wandlung, eine Geschichte im krassen Gegensatz zwischen Albanien und den USA. So sehr Tradition und Sitten das sind, was die Verbleibenden in den Bergen Albaniens zusammenhält, so weit weg droht sich Hana in der Anonymität der US-amerikanischen Gesellschaft zu verlieren. Nur Familie, genau jene Bande, die sie in Albanien zum Mann, zur Schwurjungfrau werden liess, hilft ihr, in der absoluten Fremde zu sich selbst zurück. Ein ganz besonderer Entwicklungs- und Befreiungsroman.

Im Mai 2018 erscheint von Elvira Dones bei ink press «Kleiner sauberer Krieg»:
Kosovo-Krieg: 24. März 1999, Einsatz der Nato: 1. Luftangriff, bis 12. Juni 1999, Pristina. Die Bomben regnen auf Pristina, die Stadt ist von Serben umgeben, niemand bewegt sich. Rea, Nita und Hana, drei junge Frauen, stecken in einer Wohnung fest und warten: Kein Strom, kein Wasser, kein Telefon. Im Fernsehen schaut die ganze Welt diesem kleinen sauberen Krieg zu. Leben oder sterben, es spielt keine große Rolle. Elvira Dones gibt ihren drei Protagonistinnen eine Stimme, um das erste Mal den Kosovo-Krieg aus der Sicht der Frauen zu erzählen.

Elvira Dones ist eine schweizerisch-amerikanische Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin albanischer Herkunft. Nach sieben Romanen in ihrer Muttersprache hat sie die zwei aktuellsten in ihrer adoptierten Sprache Italienisch geschrieben: «Verine giurata» (2007) und «Piccola guerra perfetta» (2011). Ihre Bücher sind in verschiedene Sprachen übersetzt.
Laura Bispuris Debütfilm «Vergine giurata/Sworn Virgin», basierend auf «Hana» und mit Alba Rohrwacher als Hauptdarstellerin, wurde an der Berlinale 2015 uraufgeführt und u.a. in New York, San Francisco und Hongkong ausgezeichnet. «Hana» ist ihr erster Roman auf Deutsch.
Adrian Giacomelli geboren 1981, lebt und arbeitet als Übersetzer, Autor und freier Künstler in Frankfurt am Main.

 

John Burnside „Ashland & Vine“, Knaus

Ich hörte John Burnside an der BuchBasel 2017 im vergangenen November zum ersten Mal. John Burnside ist ein schottischer Bär. Ein Mann, dessen Leben sich in sein Gesicht und in seine Stimme grub. Ein Mann, dem man alles zutraut, auch den Mut, seine Geschichte irgendwo in den USA anzusiedeln, mit Themen, die die Staaten schon mehr als ein Jahrhundert umtreiben; traumatische Kriege, Rassenhass und Bürgerrechtsbewegungen, Selbstjustiz, Drogen und Gewalt.

Jean lebt zurückgezogen in einem viel zu gross gewordenen Haus mit Zimmern, die sie längst nicht mehr bewohnt, in denen Geschichten, Erinnerungen eingeschlossen sind. Sie ist alt geworden, hackt Holz vor ihrem Haus, nicht nur, um Brennholz für den Winter zu bekommen. Ihr Leben ist am Ende. Was sie lebendig bleiben lässt, ist das stille Erinnern im Takt der Axt.

Kate ist jung, meist von Alkohol zugedröhnt oder masslos verkatert. Sie lebt bei Lauritz, einem Dokumentarfilmer, der sie in lichten Stunden durch die Aussenbezirke der Stadt schickt auf der Jagd nach Geschichten. Bis sie, obwohl die Adresse nicht auf Lauritz Liste steht, in Jeans Garten steht und die beiden Frauen ins Gespräch kommen. Jean macht Kate ein Angebot. Bleibt diese von nun an trocken, trinkt keinen Alkohol mehr, erzählt Jean ihr ihre Geschichte, ihre Geschichten. Und als wäre dies der Moment gewesen, den Kate brauchte, um von der Sauferei loszukommen, aufzuwachen, bleibt sie wirklich trocken. So trocken, dass es sogar Lauritz merkt, dass mit seiner sonst so willigen Mitbewohnerin etwas passiert.

«Wenn Menschen Geschichten erzählen, lügen sie, was die Ereignisse betrifft, aber nicht über die anderen Dinge, da lügen sie nicht – zumindest nicht absichtlich.»

Dabei zeigt es sich, dass beide, die alte Jean und die junge Kate, eine Geschichte loszuwerden haben. Beide verloren ihren Vater, Kate durch den Alkohol und Jean durch einen ungesühnten Mord an der Kreuzung «Ashland and Vine». Beide Frauen schleppen Geschichten mit sich herum, von denen sie sich nur distanzieren können, wenn sie erzählt sind, geteilt. Erst erzählt, ergeben Geschichten einen Sinn. Beide tragen Geheimnisse mit sich herum, deren Last sie niederdrückt, verunmöglichen, ein befreites Leben zu führen. Beide sind nicht nur verwundet, sondern jede auf ihre Art allein gelassen, zurückgelassen. Beide von ihren Liebsten, die ihnen am meisten bedeuteten, verlassen.

Jean wartet auf den Tod. Dass Kate in ihrem Garten erschien, war wie ein Zeichen und eine letzte Chance, vielleicht doch noch mit den Gespenstern aus ihrer Vergangenheit Frieden zu schliessen. Mit den «Mächtigen», die hinter dem Mord an ihrem Vater nie ihr Gesicht zeigen mussten, mit ihrem Bruder Jeremy, der damals auf Seiten der Alliierten in den Krieg zog, um für sein Vaterland zu kämpfen und als Gebrochener und an der Seele Verstümmelter aus diesem Krieg zurückkehrte, mit dem Verschwinden der beiden Kinder ihres Bruders, Simon und Jennifer, beide in den Wirren des Kalten Krieges, Simon als Deserteur in Vietnam und Jennifer im bewaffneten Untergrund, abgetaucht. Und mit Lee! Lee war nicht nur Jeans Geschäftspartnerin, sondern ihre grosse Liebe, die aber einen Geck heiratete und mit der Hochzeit für immer verschwand.

John Burnside erzählt ganz behutsam aus dem Leben zweier ganz unterschiedlicher Frauen, einer jungen, die die Liebe bisher nicht finden konnte und einer alten, die sie endgültig verloren glaubt. John Burnside ist ein grosser Erzähler. Einer, der in grossen Bögen erzählt, Personen bis in ihre Feinheiten lebendig macht, der Gefühlswelten plastisch formt, einem das Personal in seinem Buch zu Freunden macht. Trotz der 400 Seiten ist «Ashland & Vine» leicht zu lesen. Burnside fesselt bis ganz zum Schluss mit der Preisgabe von Geheimnissen und lässt genauso viel verschlüsselt, um die Geschichte glaubhaft bleiben zu lassen.

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis.

Uwe Timm „Ikarien“, Kiepenheuer und Witsch

Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb der Franzose Étienne Cabet den Roman “Voyage en Icarie“ (Reise nach Ikarien), einen utopischen Roman, die Gesellschaft neu zu erfinden. In Uwe Timms grossem Roman „Ikarien“ reist ein amerikanischer Soldat mit deutschen Wurzeln, Michael Hansen, durch das vom Krieg geschundene Nachkriegsdeutschland auf den Spuren des deutschen Wissenschaftlers Alfred Ploetz, den Wegbereiter der Eugenik („Erbgesundheitslehre“).

Uwe Timm ist einer jener wenigen Schriftsteller, die einem ein ganzes Leben durchs Lesen begleiten können. Vom Kinderbuch (zB. „Die Zugmaus“) übers Jugendbuch (zB. „Der Schatz auf Pagensand“), Abiturlektüre („Halbschatten“), Essays (zB. „Von Anfang und Ende“) bis zu Romanen, die unauslöschlich zu einem Begleiter des Lebens wurden (zB. „Rot“). Das schaffen nur wenige. Vielleicht noch der 2017 verstorbene Peter Härtling.

Der Roman beginnt mit einer Szene, die zeigt, worum es Uwe Timm in seinem neuen Roman geht. Der Krieg ist aus. In den Strassen einer zerstörten Stadt hüpft, springt und lacht ein tapsiger Junge. Es ist Karlchen. Seine Eltern hatten ihn 12 Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Karlchen ist ein Junge mit Down-Syndrom. Ein Kind, dass die Nationalsozialisten unter ihrem Euthanasie-Programm umgebracht hätten, dass keinen Platz gehabt hätte im arischen Herrenrassensystem des Tausendjährigen Reiches.

In einem Interview erzählte Uwe Timm, diesen Jungen hätte es so gegeben, in der Stadt Coburg, in der die Menschen nach dem Krieg aufzuwachen schienen. Aber so ungebremst die Freude des Jungen war und so gross das Staunen, dass ehemalige Parteibonzen plötzlich die Gosse wischen, so schnell fiel das Leben wieder in alte Muster zurück. Man hänselte Karlchen wieder ungeniert und einstige Parteigrössen waren zurück in wichtigen Ämtern und Positionen.
Der Stoff habe ihn während Jahrzehnten beschäftigt, nicht nur weil Alfred Ploetz der Grossvater seiner Frau sei, sondern weil ihn der Stoff seit seinem Roman «Morenga» umtreibe, der schrecklichen Geschichte deutscher Kolonialmacht in Afrika.

Michael Hansen, ein junger amerikanischer Offizier mit deutscher Herkunft, soll nach letzten regionalen Kämpfen und Scharmützeln das Archiv des 1940 verstorbenen Arztes und Begründers der Eugenik Alfred Ploetz in Sicherheit bringen und durch Befragungen herausfinden wie die Verwicklungen zwischen den Nazis und dem Rassenhygieniker Alfred Ploetz waren. Michael Hansen macht sich auf den Weg durch ein zerstörtes Deutschland, durch Landschaften, die wie Idylle trügen und Städte, in denen Menschen in Schutt und Asche hausen. Das Deutschland der grossen Dichter und Denker, das Deutschland, das sein Vater und später die ganze Familie verliess, ein Deutschland, dass für den Rückkehrer nur schwer zu verstehen ist.

“Ikarien“ erzählt auch von der Idee vieler Erneuerer im 19. Jahrhundert, neue Gesellschaftsformen, neue Arten des Zusammenlebens zu schaffen und zu formen. Der junge Alfred Ploetz war fasziniert von den Ideen des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, der in Amerika die Gemeinde Ikarien gründete, eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die nach ganz anderen Gesetzen funktionieren sollte, ein utopisches Projekt. Ploetz besuchte jene Gemeinde noch vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, war aber enttäuscht darüber, dass das Experiment an den Schwächen der Menschen zu scheitern drohte. In ihm wuchs die Überzeugung, dass nur in einem optimierten Menschen jene Qualitäten brauchbar werden, die eine neue Ordnung sichern würde. Aus einem Idealisten wurde ein glühender Verfechter und Begründer der Rassengesetze und all ihrer fatalen Folgen. Zucht und Züchtigung als Optimierung. Nicht unerwartet erhält Uwe Timm nach der Lektüre seines Romans viele Briefe von Leserinnen und Lesern und ihren Familiengeheimnissen, die plötzlich aufbrechen.

Michael Hansen findet den ehemaligen KZ-Häftling Wagner, einen einstigen Freund und Weggefährten Alfred Ploetz und führt mit ihm Interviews. Gespräche, die klar machen sollen, wie es zu den Auswüchsen des Rassenwahns kommen konnte. Befragungen mit einem Mann, der sich Jahre lang im Keller eines Antiquariats verstecken musste, jenem Ort, an dem auch all die verbotenen Bücher während des Naziregimes ein Asyl gefunden hatten. Hansen findet aber auch eine Zwischenwelt, ein aus der Zeit gefallenes Land, verunsicherte Menschen, Frauen ohne Männer, ein Deutschland, das nach dem Endkampf nicht nur äusserlich mit seiner Zerstörung zu kämpfen hatte.

“Man muss sich im Anderen und den Anderen in sich sehen.“

Zugegeben, „Ikarien“ ist für jene gut und spannend zu lesen, die an Geschichte interessiert sind, die nicht bloss unterhalten sein wollen, die sich mit einem solchen Buch Fragen zu stellen bereit sind, die alles andere als leicht zu beantworten sind, die sich Themen stellen wollen, die schwer verdaulich sein können. Nicht zuletzt der Frage, wie man selbst reagiert hätte in einer anderen Zeit, einem anderen Umfeld, unter anderen Vorzeichen. „Ikarien“ ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das Stellung bezieht, gegen all die Leugner und Verdreher, die als gewählte Volksvertreter wieder Politik machen, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Was im 19.Jahrhundert Cabel in seinem „utopischen“ Ikarien nicht schaffte, schaffte die braune Ideologie im 20. Jahrhundert nicht, denn Gesellschaft wächst nicht aus Ideen, sondern aus den Sehnsüchten des Menschen.

Alfred Ploetz ist eine Faust-Figur, jemand, der einen Homunkulus erschaffen will, alles in den Dienst der Rationalität setzt, Empathie von Wissenschaft trennt. Ein Pakt nicht mit dem Teufel, aber mit den Nazis, dem Faschismus, in der Hoffnung, dass «Erkenntnis» zum politischen Programm wird.
Aber «Eugenik» ist keine «deutsche Erfindung», sondern eine Zeiterscheinung, die schon in den USA, Schweden und Dänemark Anwendung fand.
«Optimierung», «Selbstoptimierung, «pränatale Medizin» – Parallelen zu Gegenwart!

Uwe Timm, geboren 1940, freier Schriftsteller seit 1971. Sein literarisches Werk erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt „Vogelweide“, 2013, „Freitisch“, 2011, „Am Beispiel eines Lebens“, 2010, „Am Beispiel meines Bruders“, 2003, mittlerweile in 17 Sprachen übersetzt, „Der Freund und der Fremde“, 2005, und „Halbschatten“, 2008. Uwe Timm wurde 2006 mit dem Premio Napoli sowie dem Premio Mondello ausgezeichnet, erhielt 2009 den Heinrich-Böll-Preis, 2012 die Carl-Zuckmayer-Medaille und den Schillerpreis 2018.

Florjan Lipuš „Seelenruhig“, Jung und Jung

Florjan Lipuš ist Stilist. „Seelenruhig“ ist kein Roman, keine Erzählung und auch kein Essay. Aber Sprachkunst, solche, die man nicht so einfach in sich hineingiessen kann. Es sind Sprachbilder, um die ich mich bemühen musste, die sich nicht so einfach erschlossen. Und doch betört mich das schmale Büchlein, bettet mich ein in eine dicke Wolke aus Fabulierfreude, rätselhaften Innenansichten und der Gewissheit, dass Sprache viel mehr erzeugen kann, als blosse Wiedergabe.

In Florjan Lipuš Seele ist keine Ruhe. Und doch passt der Titel. Der grosse Kärntner begegnet den verstorbenen Seelen; seiner Mutter, seinem Vater, seiner Grossmutter. Er streift durch die Landschaft seiner Heimat, vorbei an Orten, an denen scheinbar nur noch wenig erinnert an das, was einmal unauslöschlich schien. An die Orte seiner Kindheit. Den Stein, nicht weit vom kleinen Hof seiner Eltern, auf dem sein Vater während der Arbeit auf dem Feld ausruhte. Ein Stein, der heute mitten in einem Wald Wanderer dazu einlädt, eine Rast einzulegen. Ein Stück Wald, in dem nichts mehr an den einstigen Hof, sein einstiges Zuhause erinnert. Das vergessen sein wird, wenn er, Florjan Lipuš einmal nicht mehr sein wird.

“Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Florjan Lipuš schreibt gegen das schwere Erbe seiner eigenen Lebensgeschichte an. Nicht nur dass man ihm als kleiner Junge seine Mutter durch Denunziation, Folter und Mord nahm. Da lastet auch ein stummer Vater, der ihm durch sein beharrliches Schweigen nicht nur seine Fragen, sondern auch seine Antworten vorenthielt. Antworten, nach denen Lipuš auch nach 80 Jahren noch sucht. Immer und immer wieder, mit jedem seiner Bücher, und in diesem mit ganz besonderer Perspektive. Ein Buch voller Fragen an den Vater, an seine Geschichte, an in den Tod gezerrte Geheimnisse.

“Sie wusste um den Albtraum, der früher auf ihm gelastet hatte und den sie mit vereinten Kräften vertrieben hatten, eigentlich war sie es, die an die Stelle des Albs ihre Liebkosungen und ihren Liebesüberschwang eingesetzt hatte.“

“Seelenruhig“ ist ein Buch über seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die schon in seinen frühen Jahren, fühlbar, spürbar und sichtbar wird. Ein Blitzen um und über ihm. Eine feinstoffliche Wahrnehmung. Er beschreibt sie so bildhaft, spürt seinen Empfindungen nach, dass er mich mitnimmt, mich während des Lesens glauben macht, diesen ganz nah zu kommen. Auch wenn es sich im Nachhinein nur als Sehnsucht erweist, es dem Autor in dieser Weise gleichtun zu können.

“Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach aussen.“

Ich bewundere Florjan Lipuš für seinen Mut. Einen Mut, den er selbst wohl gar nicht als solchen erkennen würde. Er tut, was er kann. Und das kann er mit jedem seiner Bücher unverwechselbarer. Wie da einer schreibt, über Leidenschaft, Lust und Zorn. In einer Art, die mich zweifeln lässt, ob ich selbst schon zu taub, zu blind, zu einfältig bin, oder das Vergessen schon alles schluckte. Zorn dann, wenn sein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hervortritt. Die Sehnsucht nach Entschleunigung, wenn ihn eine Kirche mit Ruhe umschliesst. Und die unverhohlene Kritik über eine Kirche, die zur Selbstreflexion unfähig ist. Eine machtversessene Kirche, darüber wie sehr sie knechtet und alles andere als an der Mündigkeit ihrer Seelen interessiert ist. In diesen Passagen des Buches ist keine Altersmilde zu spüren. Sein Text geisselt und schimpft.

Zugegeben, die „Erzählung“ verlangt einem einiges ab. Aber Florjan Lipuš belohnt mich mit einer Tiefe, von der es in der aktuellen Literatur dergleichen nicht viele gibt.

Florjan Lipuš veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Petrarca-Preis 2011 und den Franz-Nabl-Preis 2013.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Susan Kreller „Pirasol“, Berlin Verlag

„Pirasol“ ist ein Haus, eine Fabrikantenvilla neben der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. „Pirasol“ ist Schauplatz vieler Kriege, einem Ehekrieg mit einseitiger Bewaffnung, einem Vater-Sohn-Krieg mit ungleichlangen Schwertern, dem Rachefeldzug einer Vertriebenen und einem Kampf einer Frau ein Leben lang mit sich selbst.

Gwendolin ist 84 Jahre alt und lebt mit Thea, die 15 Jahre jünger ist, in der Fabrikantenvilla „Pirasol“. Eigentlich hätte Gwendolin alles für ein sorgenfreies Leben; Reichtum als Alleinerbin eines Industriellen, eine Familie und jemanden, der sich um sie „kümmert“. Wenn da die Geschichte nicht wäre; eine apokalyptische Kindheit und Jugend ums Ende des letzten Weltkriegs, die Hölle einer Ehe, den Verlust eines Sohnes, zweier Familien und den Terror ihrer Mitbewohnerin Thea.

“Den Tod hat Gwendolin erkannt, der Tod beginnt sein Leben dann, wenn man vor die Gräber der anderen gerät. Dann geht das Sterben los, ein für alle Mal, und die Falten im Gesicht sind nichts als Friedhofswege, über die man geht.“

„Pirasol“ heisst die Villa, weil einst ein Verwandter aus Brasilien half, dass das Haus überhaupt fertig gebaut werden konnte. Ein Zeichen der Dankbarkeit, ein Schild an diesem Haus, in dem Dankbarkeit verloren ging.

Ein grosses, stattliches Haus, lange bewohnt vom Papierkönig Willem, Herrenhaus der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. Gwendolin mag dieses Haus, trotz allem, trotz der üblen Geister, die sich darin einnisteten. Allen voran eine Ehe lang Willem, der sie aus der grauen Kammer einer Haushälterinnenschule heiratete und Thea, die nach dem Tod des Despoten und Familienoberhaupts die Geschicke des Gemäuers an sich reissen will. Thea droht Gwendolin mit Gwendolins verlorenem Sohn, der nach Jahrzehnten in die Stadt zurückgekehrt sein soll, ein Krimineller, die Schande, der Grund, warum einst ein Teil der Fabrik einem gelegten Feuer zu  Opfer fiel. „Der Junge“, Gwendolins Sohn, von dem sie sich in ihrer unausgesprochenen Schuld nicht einmal traut, den Namen auszusprechen. Von seinem Vater mit Schlägen, Missachtung, allen Formen des Entzugs gestraft, von seiner Mutter schutzlos allein gelassen, weil er sie mit in den Abgrund gerissen hätte. Dorthin zurück, woher sie vor der Ehe mit Willem gekommen war: Traumatisiert vom Verschwinden ihrer Mutter während der Feuerstürme über Deutschland und ihres Vaters ins KZ Oranienburg bei Berlin. In den letzten Kriegstagen versteckte eine Nachbarin Gwendolin hinter einem Medizinschrank vor den einrückenden Russen. Danach irrte sie herum, bis ihr Vater auftaucht, ein Totgeglaubter, einst ein sprachgewaltiger Theaterkritiker. Ausgezehrt bis auf die Knochen vor ihrer Wohnungstür, nur noch ein Gespenst, ein stummes Überbleibsel dessen, was einst Familie war.

Gwendolin verliert ihre Familie noch ein zweites Mal durch die starke und unbeirrbare Hand ihres Ehemannes Willem. Dieser drangsaliert seinen aus seiner Sicht nichtsnutzigen Sohn so lange und grausam, dass dieser mit einem Seesack aus dem Haus flieht, Feuer in der Kantine der väterlichen Fabrik legt und verschwindet. Aus dem Haus verschwindet, aus der Familie, nie aber aus dem zu tiefst in Schuldgefühlen blutenden Herz seiner Mutter Gwendolin.

Als Willem stirbt, alle Zeit und alle Mittel dagewesen wären, um sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn zu machen, taucht Thea auf. Ein Racheengel aus der Vergangenheit, ein vielköpfiger Drache, der sich in Gwendolins Haus festkrallt. Es entflammt ein Krieg, bei dem sich Thea eine ganze Meute Verbündeter zulegt und Gwendolin auf scheinbar verlorenem Posten zum Rückzug gezwungen ist. Wenn da das Wort nicht wäre, die Bücher und ganz zum Schluss jener Mut, den es braucht, um die Kröte auszuspucken.

Es sind nicht nur zwei Frauen, die sich gegenüberstehen. Gwendolin kämpft gegen das Ertrinken in den Tsunamiwellen des Krieges, in einem Ehe- und Vater-Sohn-Krieg. „Pirasol“ ist ein „Zwiebelroman“. Während des Lesens stösst man Schicht für Schicht hin zum Zentrum der Geschichte. Überzeugend gebaut von einer Autorin, die Psychologie verbildlichen kann. Die Geschichte Gwendolins, die unfreiwillig von einer Front zur nächsten taumelt. Ein Roman, fein gesponnen, bis zu einem Finale, einem scheinbar kleinen Schritt mit grosser Wirkung. Ein Roman über Familie und die Sehnsucht nach einem wirklichen Zuhause.

Ein Interview mit Susan Kreller:

Väter und Mütter, die nicht da sind, wenn man sie braucht. Väter, die prügeln und ihre Kinder zu brechen versuchen. Mütter, deren Hände gebunden sind, die sich in Schuldgefühlen winden. Familien, die nichts von dem versprühen, was das Idealbild verspricht. Ihr Roman zeichnet ein düsteres Bild dessen, wonach sich fast jeder sehnt. Belügen wir uns mit dem Idealbild Familie?

Nun ja, der Roman zeichnet ja auch ein überaus helles Familienbild, nämlich immer dann, wenn es um Gwendolins Kindheit bis zur Inhaftierung des Vaters im Jahr 1943 geht. Gwendolin ist ein geliebtes Kind und hat Eltern, die über Gwendolin hinaus auch noch einander lieben. Heller geht es nicht, finde ich. Mein Buch suggeriert also durchaus, dass das Idealbild Familie nicht notwendig eine Lüge sein muss. Dass Gwendolins Kindheit und das heile Familienleben zerstört werden, ist rein äußerlichen Faktoren geschuldet. Das Glück dieser Kindheit lebt dennoch fort und beschützt Gwendolin ein Leben lang. Allen düsteren Familienszenen im Buch steht immer diese glückliche und geglückte Kindheit gegenüber.

Gwendolins Vater wird ins KZ Oranienburg weggesperrt. Ein Politischer. Ein Mann des Wortes. Aus dem Lager schreibt er nichtssagende Briefe, codierte Briefe, die nur die Tochter versteht und seiner Frau verschlossen bleiben. Briefe, die irgendwann ausbleiben und das Schlimmste vermuten lassen. Sprache ist immer codiert. Sprache ist ein Code. Was steckt hinter dem Code ihres Romans?

Man kann die Sprache des Buches auf denkbar viele Arten decodieren, einen einzigen, festgelegten Code kann es m.E. gar nicht geben. Eine Möglichkeit eines solchen Codes könnte sein, dass der Sprachduktus der personalen Erzählinstanz zwar ein sehr ernsthafter ist, aber die ganze Zeit von Lakonie und Ironie durchzogen ist – genau wie Gwendolins Leben, das auf den ersten Blick nur schwer wirkt, in dem aber immer wieder Leichtigkeit, Verschmitztheit und Hoffnung aufleuchten.

Gwendolin ist eine Erdulderin bis fast am Schluss ihres Romans. Wahrscheinlich ein Wesenszug der meisten Frauen ihrer Zeit, bevor Frauen sich das Recht nahmen, sich zu emanzipieren. Braucht es die Emanzipation der Geschlechter? Bräuchte es nicht vielmehr die Emanzipation all jener, die noch immer nur erdulden?

Für mich war „Pirasol“ nie nur die Emanzipationsgeschichte einer Frau, obwohl die spezifischen Geschlechterrollen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich eine große und für den Roman wesentliche Rolle spielen. Trotzdem geht es hier vor allem um die Emanzipation eines stillen Menschen, eines Menschen, der durch die unglücklichen Umstände seines Lebens nahezu verstummt ist und erst spät den eigenen Ton lauter dreht. Gwendolin befreit sich aus dem Gefängnis ihrer eigenen Stille. Und es geht auch um Tröstung. Der Roman zeigt einen Menschen, der zum ersten Mal im Leben getröstet ist und seine eigene Traurigkeit zwar nicht ablegt, aber endlich annimmt.

Nach mehreren Kinder- und Jugendromanen ist „Pirasol“ ihr erster Roman in der „Liga der Grossen“. Spürt man unter den Autoren eine Zweiklassengesellschaft? Und worin unterscheidet sich das Erzählen, wenn es denn verschiedene Ligen gibt?

Ich versuche es meist auszublenden, dass es im deutschsprachigen Raum eine strikte institutionelle Trennung zwischen der Kinder- und Jugendliteratur und der sogenannten Erwachsenenliteratur gibt. Für mich gibt es nur eine einzige Literatur, und ich gehe beim Schreiben für verschiedene Adressatenalter weitgehend gleich vor. Natürlich gibt es trotzdem Unterschiede, vor allem mit Blick auf die Erzählstruktur, auf das Alter der Protagonisten und auf die Perspektive, aus der ein Thema behandelt wird. Und ein wenig auch mit Blick auf die Sprache. Aber ich bleibe dabei: Für mich gibt es nur eine Literatur.

Eine der Schlüsselszenen in ihrem Roman ist der Moment, wo der Papierkönig Willem die kunstvoll gefalteten Papiertiere seines Sohnes, die er in den gemeinsamen Ferienwochen mit der Mutter gesammelt hatte, alle im offenen Kamin verbrennt. Willem tut alles, um seinen Sohn zu brechen. Aber er bricht ihn bloss auf. Väter und Mütter machen Fehler, immer wieder, die meisten ohne es zu wollen. Wo liegt der Unterschied zwischen Fehlern, die man verzeiht und solchen, die unheilbar verwunden?

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Das ist sicher eine der großen Lebensfragen, und ich weiß nicht, ob man sie überhaupt pauschal beantworten kann. Ob ein Fehler verziehen oder nicht verziehen wird, hängt ja nicht nur vom Fehler ab, sondern auch von dem Menschen, der den Fehler verzeihen soll. In meinem Buch geht es aber ohnehin nicht ums Verzeihen, sondern eher darum, dass man mit dem, was die Fehler anderer Menschen (und natürlich die eigenen Fehler) im Leben angerichtet haben, zu leben lernt.

Vielen Dank!

Susan Kreller, geboren 1977 in Plauen, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über englischsprachige Kinderlyrik. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie 2012 mit dem Jugendbuch »Elefanten sieht man nicht« bekannt. Sie erhielt unter anderem das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, den Hansjörg-Martin-Preis (2013) und 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Schneeriese«. Sie arbeitet als Schriftstellerin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Bielefeld. »Pirasol« ist ihr Roman-Debüt im Berlin Verlag.

Franzobel „Die Trinkersonne“, Burgart-Presse

Gute Gründe, seine Zeit in den sozialen Netzwerken zu vertrödeln, gibt es wenige. Aber wer lange genug im Mist kratzt, stösst auch mal auf ein Samenkorn, vielleicht ein Geldstück oder sogar einen Funkelstein. „Die Trinkersonne“ von Franzobel aus der Burgart-Presse ist ein Funkelstein! 

Franzobel, 2017 vielen bekannt geworden mit seinem preisgekrönten Roman „Das Floss der Medusa“ legt zusammen mit dem Illustrator Kay Voigtmann einen ganz besonderen Erzählband vor. „Die Trinkersonne“, vier Erzählungen nebst fünf Radierungen Kay Voigtmanns, handkolorierte Bilder, die genauso wie Franzobels Erzählungen dem Schrägen huldigen. Skurrile Illustrationen neben skurrilen Erzählungen – als wären die beiden Künstler Brüder.

Vom Moment des Elfmeters im vollen Stadion, wenn nicht nur die Uhren langsamer ticken, sondern Menschen. Vom Tierpfleger im Zoo und den Geheimnisse in der Nacht, wenn alle Besucher für ein paar Stunden ausgeschlossen sind. Von einer höllischen Gondelfahrt, bei der man trotz Bergfahrt fällt und fällt. Und von der Müllsacksammlerin, dem letzten Menschen, der so etwas wie ein ganzheitliches Welterklärungsmodell besass. Wundersame Geschichten knapp an der Wirklichkeit. Geschichten, die einem mit einem Schmunzeln stehen lassen und man sich wie bei einem intensiven Traum wundert, was alles geblieben ist.

Zugegeben, wer das Buch kauft, muss tief in die Tasche greifen. Aber dieses Buch ist kein Gebrauchsgegenstand, kein Mitbringsel, niemals Altpapier. Es ist in dreifacher Hinsicht ein Kunstwerk; vier witzig, phantasievolle Geschichten, fünf kongeniale Radierungen, die eigentlich nie und nimmer ins Bücherregal gehören und ein Buch, dass sich in Buchkunst und Sorgfalt vom meisten, dass sich Buch nennt, deutlich abhebt. Ein Buch, ein Schatz.

Der Buchverlag burgart-presse wurde von Jens Henkel im Februar 1990 in Rudolstadt gegründet und ediert seither ausgesucht literarische und gestalterische Kostbarkeiten. Vorausgegangen waren seit 1985 einige bibliophile Bucheditionen für die Pirckheimer-Gesellschaft der DDR und für die Galerie Oben Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Heute ist die burgart-presse der einzige Verlag in Thüringen, der sich fast ausschließlich auf originalgrafische Künstlerbücher konzentriert.

Jens Henkel, Leiter der Burgart-Presse und Kustos der Heidecksburg Rudolstadt

Im Mittelpunkt des Verlagsprogramms, bisher sind über 110 Editionen entstanden, stehen Erstveröffentlichungen zeitgenössischer Autoren und Künstler. Die Einbeziehung von Originalgrafik und der Buchdruck im Handsatz lassen lediglich limitierte Editionen in einer Auflage von 50 bis 100 Exemplaren zu. Bücher und graphische Arbeiten für ausgesuchte Liebhaber. Für Bibliophile, die nicht nur einfach lesen wollen. Für Leidenschaftliche, denen Bücher durch die Hände mitten ins Herz gehen!

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, ist einer der populärsten und polarisierendsten österreichischen Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas Born-Preis (2017). Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Krimis „Wiener Wunder“ (2014) und „Groschens Grab“ (2015) sowie 2017 sein Roman „Das Floss der Medusa“, für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und den Bayerischen Buchpreis erhielt.

Rezension zu „Das Floss der Medusa“ auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Umschlagentwurf des Künstlers Kay Voigtmann