Gaël Faye „Kleines Land“, Piper

Wir, eine Gruppe Lese- und Literaturinteressierter, treffen sich monatlich und diskutieren über ein Buch, eine Schriftstellerin, ein ganzes Werk, die Gegenwartsliteratur eines Landes, eine Literaturverfilmung… So wie es viele tun im Wissen darum, dass man einem Buch eigentlich nicht gerecht wird, wenn man es nach der Lektüre bloss in ein Regal schiebt. Dass ich dabei auch Bücher lese, die sonst an mir vorbeigehen würden, versteht sich von selbst.

So wie der Autor selbst kehrt Gabriel nach vielen Jahren im unfreiwilligen Exil in Frankreich zurück in das Land seiner Kindheit. Ein Entschluss, der nicht zu reifen brauchte, sondern einer, der Mut brauchte, um in ein Land zurückzukehren, dass ihm mit Macheten und Gewehren, die Mutter, die Familie, die Heimat nahm. Zurück in ein Land, das nicht mehr das sein würde, was es einst war.

Gabriels Kindheit in Burundi war die eines privilegierten Jungen. Zusammen mit seiner Schwester, einem erfolgreichen Vater und einer schönen Mutter wächst der junge Gabriel unter einer paradiesischen Glaskuppel auf, weit weg von Armut und dem schwelenden Konflikt zwischen Tutsis und Hutus.

1994 kostete der Stammeskrieg, der zu einem Völkermord ausartete eine Million Todesopfer. In hundert Tagen massakrierten Angehörige der Hutu-Mehrheit ca. 75% der Tutsi Minderheit und moderate Hutus, die sich dem Morden entgegenstellten. Ein Konflikt, der nicht erst in jenem Jahr entgleiste, sondern in den Ländern dieser beiden Volksgruppen immer wieder zu grossen Auseinandersetzungen führten.

Gabriel spürt diesen Konflikt. Aber Vater und Mutter versuchen den Jungen aus der Politik und den gegenwärtigen Konflikten und Problemen herauszuhalten. Gabriel zieht nach der Schule mit seiner Clique durchs Quartier. Sie klauen Mangos von den Bäumen der Nachbarn, baden im Fluss und treffen sich in einem ausgeweideten Autobus. Aber nicht nur die politische Situation im Land spitzt sich zu. «Nachts liess Mamas Zorn die Wände unseres Hauses wackeln.» Gabriel muss zusehen, wie die Ehe der Eltern immer mehr zu Maskerade wird, bis sie auseinanderbricht und Gabriels Mutter das Haus verlässt. Das Paradies beginnt zu bröckeln. Aber auch im Land rumort es. Obwohl die ersten freien Präsidentschaftswahlen Grund zur Hoffnung wären, stirbt diese, durch Morde und Attentate. Das empfindliche Ungleichgewicht im Land beginnt zu kippen. Gabriel und seine Freunde hören in der Ferne Schüsse. Das Personal in Gabriels Elternhaus erscheint nicht zur Arbeit und die Schule bleibt geschlossen. Angst schleicht sich ein. Ein Gefühl, das Gabriel so nicht kannte. «Da kann ich in meinem Gedächtnis wühlen, wie ich will, ich komme nicht mehr auf den Moment, ab dem es uns nicht mehr reichte, das bisschen zu teilen, was wir besassen, und wir keinem mehr trauten, jeden als Gefahr ansahen, eine unsichtbare Grenze zogen gegen die Aussenwelt, unser Viertel zur Festung erklärten und unsere Sackgasse zum Sperrgebiet.»

So beschaulich sich der erste Teil des Romans liest, so schrecklich, beissend und unwirklich wird das Geschehen im zweiten Teil von «Kleines Land». Gabriels Welt bricht auseinander. Aus lauter Angst kehrt die Mutter zurück ins Haus. Doch der Krieg im Land frisst sich in die Herzen aller. Die Reise zur Hochzeit von Verwandten wird zum Spiessrutenlauf und ein verzweifelter Anruf zum letzten Lebenszeichen. Gabriels Vater schafft zusammen mit seinen beiden Kindern die Flucht ins ehemalige Mutterland Frankreich. Die Mutter bleibt zurück. Mit ihr die für immer verlorene Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit.

Ich gebe zu, das Buch hat seine Schwächen. Vieles von dem, was der Autor «verspricht», von dem er zu erzählen beginnt, lässt er fallen. So poetisch die Sprache in manchen Passagen ist, so hölzern an anderen. Und doch schafft es Gaël Faye mit seinem Buch, dass eine Tür aufgerissen wird. «Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.» Gaël Fayes Roman zwingt einem, nachzudenken. «Kleines Land» ist ein Buch über unheilbaren Verlust. Über den Irrtum, dass man sich durch Flucht zu retten vermag.

Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens.
Übersetzer: Andrea Alvermann und Brigitte Grosse

Ein Buch zur Vertiefung: «Hundert Tage» (2008, Wallstein Verlag) von Lukas Bärfuss!
Ein sehenswerter Film: «Hotel Ruanda» von Terry George, 2004

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