Michael Krüger «Vorübergehende», Haymon

Ein von Resignation und Abgeklärtheit durchsetzter Mann fortgeschrittenen Alters lässt die Welt im Zug an sich vorbeiziehen. Alles, was er sieht, hört und fühlt, bestärkt ihn im Gefühl, mit den Irrungen und Wirkungen der Welt abgeschlossen zu haben. Er sitzt im Abteil, einer, der alles hinter sich hat. Bis ihm der Zufall in eben diesem Abteil ein schlafendes Mädchen in den Schoss legt, ein Mädchen ohne Geld, ohne Papiere, ohne Geschichte. Jara.

Er wacht langsam auf, merkt, dass jemand neben ihm seinen Kopf an seine Schulter lehnt und schläft. Ausgerechnet im Zug, jenem Ort, an dem man gezwungen ist, Nähe zuzulassen. Ausgerechnet bei ihm, der die Welt wenn möglich auf Distanz hält. Und während er selbst in seinen Träumen der Permapenetration entgegenzuhalten versucht, rutscht der Kopf einer jungen, unbekannten Frau langsam immer tiefer in sein Leben. Das Mädchen wacht auf, als der Schaffner nach den Fahrscheinen fragt und bleibt, als der Mann für das Mädchen zahlt, bleibt, als er aussteigt, bleibt, als er dem Mädchen die Tür zu seiner Wohnung öffnet.

Ein Mädchen, von dem nicht einmal der Name stimmt, das ihm keine Fragen beantwortet, sich gleichermassen distanziert wie in vollkommener Selbstverständlichkeit den Platz einer Tochter einnimmt. Ein Mädchen ohne Geschichte, scheinbar ohne Familie, mit einer Sprache, die, wenn das Mobilphone klingelt und eine unbekannte Welt sie in einer fremden Sprache sprechen lässt, das Mädchen nicht einordnen lässt. 
Jara bleibt, auch als sich die Maschinerie des Sozialstaates einschaltet und er sich erklären muss, warum ein alter Mann mit einer fremden, jungen Frau unter einem Dach in der selben Wohnung lebt. Jara zeichnet, hockt am Boden in ihrem Zimmer, füllt unzählige Blätter mit Bleistiftzeichnungen, ordnet, trennt und fügt zusammen, ein ‹Atlas der verborgenen Welten›, in sich versunken, ekstatisch.

Jara ist der Gegenpol zum fertigen Leben des Erzählers. Ein Mann, der nur noch Unwesentliches hinzufügt, der mit knochentrockenem Kommentar die Welt erklärt, ernüchtert und entgeistert. Ein Mann, der von Vortrag zu Vortrag, von Veranstaltung zu Veranstaltung tingelt und Lebensrezepte verkauft, Losungen für eine zu optimierende Gesellschaft. Einer, der alles hat; Erfolg, Recht und Selbstbestätigung. Ein Leben fest in seinen Fugen verkrallt. Jara ist voller Geheimnisse, uneinnehmbar, rätselhaft. Sie ist da und nicht da, lässt sich nicht führen und schon gar nicht in eine Rolle zwängen. Aus dem Gefühl des Mannes, das an Verliebtsein erinnert, wird ebenso viel Verunsicherung. Jara bringt den alten Mann zum Grübeln. Die Wand aus Vergrämung bröckelt.

„Vorübergehende“ ist die Geschichte eines kalt gewordenen Mondes, der von der Kraft eines heissen Meteoriten erschüttert wird. Kein Märchen einer Läuterung, keine Liebesgeschichte eines in die Jahre Gekommenen. Michael Krüger spielt mit einer Rolle, mit einem Typ Mensch, dem er wahrscheinlich des öfteren im Zug gegenübersitzt. Jener Sorte Mensch, der der Erfolg ein Leben lang recht gegeben hat, die schlussendlich aber doch spurlos von der Bühne abtritt. Er verurteilt nicht, entblösst nicht, lässt den Leser rätseln, wie viel Selbst in jenem Mann steckt, von dem er erzählt.

Michael Krüger auf ein paar Fragen an ihn: «Eigentlich ging es mir darum, einen Menschen/ Mann zu zeigen, der bis an sein Ende seiner erlernten Beschäftigung nachgeht und stirbt. Diese Beschäftigung besteht darin, andere zu motivieren – das hat er gelernt, dafür wird er bezahlt. Aber Optimismus kann man nicht lernen, und also sieht er, dass er irgendwie auf die schiefe Bahn gerät, die direkt in die Melancholie führt: kein Coaching kann ihn davon abhalten. Also ergreift er die erste beste Gelegenheit und nimmt sich eines Mädchens an, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht, er nimmt sie illegalerweise bei sich auf und macht sich de jure sogar damit strafbar. Aber das ist ihm egal, weil er natürlich merkt, dass dieses Wesen von einem anderen Stern durchaus von dieser Welt ist und sein Leben ohne grosse Mühe von Grund auf verändert.»

Foto © Peter Hassiepen

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München und ist zurzeit Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war viele Jahre Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der «Akzente» sowie der «Edition Akzente». Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010).

Rezension von Michael Krügers Gedichtband «Einmal einfach» (Suhrkamp) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

György Dragomán «Löwenchor», Novellen, Suhrkamp

György Dragománs deutsch erschienene Romane «Der weisse König» und «Der Scheiterhaufen» sind Eckpfeiler in meiner Bibliothek. Zum einen, weil er mit ungeheurer Kraft zu erzählen vermag, zum andern, weil sich Bilder aus seinen Romanen tief in meine Erinnerungen einbrannten. Seine Bücher beschreiben die Sehnsucht nach Heimat. Und wer sie im Umfeld, im Zuhause, am Geburtsort nicht findet, findet sie vielleicht in der Kunst.

György Dragomán ist mit 15 weggefahren aus seinem rumänischen Heimatort Târgu Mureş, dem Ort, an dem er aufwuchs und zu schreiben begann. Weg vom Ceaușescu-Rumänien ins benachbarte Ungarn. Seine Novellen erzählen vom Wegfahren, vom Fremdsein, vom Verlassensein. Von Menschen, die einzig in der Musik jenes Stück Heimat und Zuhause finden, das es zum Leben, zum Überleben braucht. Kurze Geschichten wie jene von einem jungen Mann, der gezwungen ist, für seine Ehe, seine Liebe, die Familie zurück-, den Kontakt sterben zu lassen. Über eine Mutter, die eine junge Liebe mit einem Fluch belegt, der sich dann auch wirklich zwischen den beiden Jungvermählten einzunisten scheint und sich wie ein Geschwür auswächst, zu wuchern beginnt und einen Fötus nach dem andern sterben lässt. Wie die Musik, der Gesang, das einzige ist, was gegen solches Gift antreten kann.

Es sind kurze Geschichten, vielstimmig, überraschend, sanfte und lärmende, kräftige und ganz zarte. György Dragomán spielt polyphon, wechselt von einem Instrument zum andern. Manchmal erzählend, manchmal anklagend, manchmal monologisierend, manchmal dramatisch. So wie es in der Musik Menschen gibt, die aus einer Vielzahl von Instrumenten die unterschiedlichsten Klangformen, tonalen Erzählweisen extrahieren können, so schafft es György Dragomán mich von seinem grossartigen Können zu überzeugen. Er spielt mit Sprache so wie Musiker mit ihrem Instrument. Seine Sprache ist mehr als Instrument. Er vermag in mir als Leser so unterschiedliche und divergente Resonanzen zu erzeugen, dass ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass es ein und derselbe Autor ist.

Die Übersetzerin Timea Tankó, 1978 geboren, arbeitet seit 2003 als literarische Übersetzerin aus dem Französischen und dem Ungarischen (u.a. Andor Endre Gelléri, István Kemény und Antal Szerb). Timea Tankós Übersetzung von György Dragománs «Löwenchor» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Kurzrezension auf dem 28. Literaturblatt von György Dragománs Roman «Der Scheiterhaufen»: Rumänien im Umbruch, ein Land am Zerbrechen. Emma ist dreizehn, lebt noch nicht lange in einem Internat, weil ihre Eltern angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein sollen. Völlig überraschend taucht im Internat eine alte Frau auf, behauptet, ihre Grossmutter zu sein und nimmt Emma weg aus dem Internat, obwohl Emma von ihren Eltern nie etwas von einer Grossmutter gehört hatte. Herausgerissen in eine unbekannte Welt am Rand einer Kleinstadt, hinein in ein Haus voller Geheimnisse, erobert Emma ihre neue Umgebung. In der Schule, zuerst verachtet und geschimpft als Enkelin einer Irren, aus einer Familie von Verrätern, lernt Emma sich zu behaupten. Sie lernt, dass hinter allem verborgen Wahrheiten stecken. Auch bei ihrer Grossmutter, zu der sie sich immer mehr hingezogen fühlt, die ihr ein Nest gibt, eine Burg vor den Anfeindungen des Mobs. Wie in seinem letzten Roman «Der weisse König» beweist der Autor, wie hoch seine Meisterschaft der eindringlichen Bilder, an den Grenzen zum Surrealen, ist. «Der Scheiterhaufen» ist ein Buch, das man riechen kann, das sprachlich auf der Zunge zergeht.

© Ekko von Schwichow

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. «Der weisse König» (2005; dt. 2008) ist in dreissig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.

 

Ursula Krechel «Geisterbahn», Jung und Jung

Ursula Krechel erzählt in ihrem vielstimmigen Epos aus verschiedensten Familiengeschichten während und nach dem NS-Regime. Angelpunkt ist die Stadt Trier, die Stadt, in der die Autorin geboren wurde. «Geisterbahn» ist wirklich Geisterbahn, den die Geister aus der Vergangenheit werden beschworen. Die einen treten ganz deutlich aus dem Damals hervor, die andern nur noch als Kontur.

Obwohl chronologisch erzählt, schildert Ursula Krechel die Erlebnisse, Verstrickungen, Leidenswege, Untergänge und Überlebenskämpfe ihrer Protagonisten nicht wie Nacherzählungen. «Geisterbahn» ist mit dem Instrumentarium einer Lyrikerin erzählt. Drängt sich bei vergleichbaren Unterfangen eine cineastische Umsetzung auf, spürt Ursula Krechel in ihrem Roman viel mehr dem fokussierten Blick nach. Es sind nicht die raumgreifenden Kamerafahrten durch die Zeit, sondern die Einsichten in die Innenwelten der Betroffenen.

Josef Dorn irrt durch Deutschland, zuerst durch eine Tausendjährige Ewigkeit, dann durch ein unendliches Nachkriegsdesaster. Josef Dorn ist der älteste Sohn einer Schaustellerfamilie, einer stolzen Sintifamilie, die im Vorkriegsdeutschland von Stadt zu Stadt zog, mit sich selbst und der Welt zufrieden. Bis dem Patriarchen Alfons Dorn bei einer Berliner Messe der Kauf einer neuen Autoscooterbahn verweigert wird: An Zigeuner verkauft der Händler nicht. Alfons und sein Ältester Josef finden den Weg zurück zu Familie nicht mehr. Die Katastrophe von Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung beginnt: Fünf Kinder der Dorns verlieren in Auschwitz ihr Leben, eine Tochter gerät in die Experimentenmühlen des KZ-Arztes Josef Mengele. Selbst dem im KZ geborenen Ignaz Dorn, der viel später im stillgelegten Trierer Bahnhof ein Restaurant eröffnet, wird seine Existenz von Neonazis demoliert und von der Staatsmacht gerügt, als er die Verantwortlichen mit Namen nennt.

«Geisterbahn» ist aber viel mehr als die Familiengeschichte der Dorns. Da ist der Polizistenvater, der im Roman mit Grossbuchstaben wie ein Geist immer wieder mit MEINVATER betitelt wird, eine Person, eine Stimme, die während und nach dem Krieg mit ungebrochenem Gehorsam Menschlichkeit verweigert. Oder den sich ewig anpassenden Dr. Neumeister, der nach dem Krieg Psychiater wird. Oder den mutigen Kommunisten Willi Torgau. Ursula Krechel verwebt Stimmen und Leben ineinander. So wie die Wirklichkeit es auch tut und Literatur und Erzählen allzuoft auseinander dividiert, als ob die Geschichte Ordnung schaffen würde.

«Geisterbahn» ist eine opulente Sinfonie von Stimmen, Bildern, Eindrücken, Begebenheiten, Wirklichkeiten. «Geisterbahn» überrascht und fesselt, auch wenn der Roman von mir als Leser einiges abverlangt und erst im zweiten Teil den grossen Zusammenhang offenbart, die Nähe zur erzählenden Stimme. «Geisterbahn» offenbart die Akribie der Recherche, die schiere Menge an Wissen, Einsichten und gewonnenen Zusammenhängen. Ursula Krechel ordnet und legt auseinander, besticht mit tiefgreifender Empathie. Und obwohl sie unverblümt schildert, verfällt sie nie dem Moralisieren.

«Geisterbahn» ist ein Monument in der Gegenwartsliteratur. Die Trilogie «Shanghai fern von wo», «Landgericht» (mit dem sie 2012 den Deutschen Buchpreis gewann) und «Geisterbahn» nicht bloss ein Eckpfeiler deutscher Vergangenheitsbewältigung, sondern Fixstern jener Art des Schreibens, die nicht nur Bilder vermittelt, sondern solche erzeugt. Bilder, die bleiben!

© Gunter Glücklich

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays. Nebst vielen anderen Preisen gewann Ursula Krechel 2012 den Deutschen Buchpreis für ihren beim Verlag Jung und Jung erschienenen Roman «Landgericht».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Charles Lewinsky «Der Stotterer», Diogenes

Charles Lewinsky glänzt mit Witz, beissendem Zynismus, ungebrochener Schreibfreude und elektrisierender Spannung. «Der Stotterer» ist die Geschichte eines jungen Mannes, der zurückschlägt. An den Rand gedrängt, blossgestellt und abgestempelt macht Johannes Hosea Stärckle seine Schwäche zur Stärke, seinen Makel zum Schwert. An Alexandre Dumas «Der Graf von Monte Christo» erinnert dreht ein Eingesperrter den Spiess um und wandelt seinen Niedergang zum Triumphzug.

Er sitzt in der JVA, Justizvollzugsanstalt. Wohl für eine ganze Weile. Betrügereien. Und weil ihm als Stotterer das Schreiben leichter fällt als das Sprechen, geht er auf den Deal des Anstaltsgeistlichen, den er nur Padre nennt, ein und beginnt zu schreiben. Zuerst nur an den Padre, selbstzensuriert, später auch in ein Tagebuch, ungefiltert. Er schreibt und schreibt, erzählt aus seinem Leben, zuerst mit einiger Distanz, dann immer ungehemmter, schreibt Geschichten, Briefe. Zuerst als Geschäft mit dem Geistlichen. Dieser verspricht sich Läuterung, Johannes den einen Posten als Gefängnisbibliothekar. Weg von den dröhnenden Stanzmaschinen, die einem nicht nachdenken lassen. Zuerst ist das Schreiben nur Deal, dann immer mehr Hoffnung, bis Johannes, ermutigt auch durch einen Ehrenplatz bei einem Schreibwettbewerb (ausgerechnet zum Thema Gerechtigkeit in einer Zeitschrift für Geistliche), ermuntert durch den Priester und einen Verleger immer mehr an ein Buch glaubt. So sehr, dass er befürchtet, die Zeit im Knast könnte knapp werden.

«Die Wahrheit ist ein Sicherheitsgurt für Leute, die keine Phantasie haben.»

Er hatte es nicht leicht, schon als Kind in einer Familie, die sich einer Sekte angeschlossen hatte, einem Vater ausgeliefert, der dem Bibelzitat näher stand als seiner Familie, der seinen Glauben durch Zucht und Ordnung unterstrich und seinen Sohn letztlich in die gierigen Fänge des Sektenoberhauptes Bachofen auslieferte und einer Mutter, die sich lieber an ihrer Kochschürze festhielt, als an der Liebe zu ihren drei Kindern. Nach dem Suizid der Schwester, der keiner sein durfte, und einer traumatischen Beerdigung nimmt er Reissaus, um sich aus den Fesseln seiner Familie zu befreien, flieht in eine Stadt, mittellos und ohne Bindung.

«Die Schriftstellerei ist ein Art der Hochstapelei, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar. Der einzige Beruf, in dem man gelobt wird, wenn man gut gelogen hat.»

Er, dem man in der Schule auch mal «Schwächle» über den Pausenhof nachrief, findet überraschend schnell eine Arbeit. Und ganz nach dem literarischen Vorbild Felix Krull schärft er in unscheinbarer Gestalt seine Superkräfte: zum einen seine Kunst des geschliffenen Schreibens, zum andern seine Fähigkeit der Empathie! Wie nur wenig andere ist Johannes fähig, sich in die Seele eines Gegenübers zu versetzen, seine geheimen Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte zu ergründen. Die besten Voraussetzung, um mit geschriebener Sprache, dem richtigen Ton und überdurchschnittlicher Intelligenz zu viel Geld zu kommen. Wohl auf dem Rücken eines Opfers. Aber wer tut das nicht? Tut der Padre in seinen Gefängnisgottesdiensten am Sonntag etwas anderes? Einfach ohne materiellen Gewinn.

«Geschichtenerzähler müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner.»

Johannes versteht es, selbst im Gefängnis, seine Fähigkeiten als Schreibkünstler hinter der Fassade des unbeholfenen Stotterers zu seinen Gunsten einzusetzen. Es bekommt die Stelle als Gefängnisbibliothekar, erreicht die Gunst des stillen Herrschers in der JVA, des «Advokaten», die Unterstützung des Padre, der ihn soweit unterstützt, bis er als gemachter Mann die Gefängnismauern verlässt.

«Eine nette Lüge ist besser als eine unangenehme Wahrheit.»

«Der Stotterer» ist vielschichtig, raffiniert komponiert und leichtfüssig erzählt. Ich spüre förmlich die Lust des Autors an den sich überlagernden und überschlagenden Stoffen. Was aus der Geschichte des Stotterers bestimmt «autobiographisch» ist, ist Charles Lewinsky grosse Meisterschaft, sich in einen Menschen hineinzuversetzen. Ganz bestimmt mit der Einsicht, gar nicht so sehr anders zu sein. Jeder kämpft mit seinen Waffen.

Maurice Haas © Diogenes

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturg und Regisseur an diversen Bühnen gearbeitet, bevor er als Autor von Shows und Serien zum Fernsehen ging. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller, international berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Anna Stern «Wild wie die Wellen des Meeres», Salis

Ava hat sich abgesetzt. Was formell ein Praktikum in einem schottischen Naturschutzgebiet ist, ist eigentlich die Insel, auf die sich Ava absetzen will, um ein neues Leben zu beginnen, all jene Fragen für sich zu beantworten, die die «untergegangene» Heimat nicht mehr beantworten konnte. «Wild wie die Wellen des Meeres» macht die Gischt spürbar, das Salz auf den Lippen, den Schmerz des Verlorenen und die Sehnsucht nach Liebe und Ordnung.

«Wild wie die Wellen des Meeres» ist ein Sedimentroman, der beim Lesen Schicht um Schicht freilegt, als sei ich der Archäologe, als würde ich die Stein gewordenen Wurzeln eines Lebens freilegen, Wurzelfaden um Wurzelfaden.

Ava ist schwanger, erfährt dies erst kurz bevor sie nach Schottland abreist. Aber sie reist trotzdem. Sie braucht Distanz zu einem Leben, dass sich in der Enge verkeilt hat. Distanz zu Paul, dem werdenden Vater, dem Mann, der nicht zu ihrem Mann an ihrer Seite werden kann, solange die Geister der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen. Distanz zu ihrer Familie oder dem, was davon übrig geblieben ist, dem Tod ihrer Mutter, dem Unfall ihres Vaters und den Beinahekatastrophen um ihre jüngeren Geschwister. Distanz vor dem Gefühl, viel mehr als Heimat verloren zu haben. Distanz zu Therapie und Zwängen, aus denen sie sich nur selbst befreien kann.

Ich bin manchmal nicht ich, sagt Ava, es tut mir leid.

Die Feldstation des Reservats (Das Beinn Eighe National Nature Reserve) liegt unweit des kleinen schottischen Dorfes Kinlochewe an der Westseite des Landes mit Sicht auf Loch Maree. Ava will dort Ruhe finden, um einen Weg, vielleicht einen Ausweg zu finden. Gegen den Willen fast aller, trotz der Bedenken Pauls, ihres Freundes, der nicht verstehen will und kann, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Paul ist Polizist, daran gewöhnt und daraufhin geschult, dass man Probleme anpacken soll. Ava und Paul sind seit ewig ein Paar. Ava kam als junges Mädchen in Pauls Familie, ausgesiedelt aus einer Familie, der der Boden entzogen wurde. Paul, zuerst mehr ein grosser Bruder, acht Jahre älter, wird Vertrauter, Freund. Und als Ava Studentin wird, ziehen sie zusammen, in eine kleine Mansardenwohnung. Aber nicht nur die Wohnung wird Ava schnell zu eng. Es ist die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, auch wenn Ava sich den Fragen verweigert.

Sorgen, sagt Ava, ich mag es nicht, wenn man mit Fesseln anlegt.

Ava kämpft. Sie kämpft mit sich und der Entscheidung, ob sie ihr ungeborenes Kind behalten kann oder nicht. Sie kämpft gegen die Geister aus der Vergangenheit, die selbst ihre Träume dominieren. Sie kämpft gegen die Liebe, weil sie ihr nicht traut, weil sie sich fürchtet, damit neuen Katastrophen Platz zu geben. Sie kämpft mit Fragen an Die Welt, ohne je eine Frage an sie selbst zuzulassen. Aber sie kämpft vor allem gegen sich selbst. Ein Kampf, der sie letztlich in Lebensgefahr bringt. Ava will in ihrer Enge Weite spüren, das Meer, dieses verlorenen Gefühl Everything is going to be alright.

Anna Stern schrieb einen facettenreichen Roman, bildstark, verspielt und mit grosser Sogwirkung. Ein Roman, der die Umweltwissenschaftlerin nicht ausklammert, voller Engagement für alles, was Leben bedeutet, für die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, Fragen die Ava seit ihrer Kindheit an das Leben stellt. So wie Ava (Avis hiesst Vogel) mit zwei ungleich farbigen Augen sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellt, so ungleich sind Lee und Luv ihres Lebens, von abweisender Kälte wie die Winde in Schottland bis irritierende Wärme wie unter der Decke zusammen mit Ava. „Wild wie die Wellen des Meeres“, eine Collage aus Realität und Traum, Songtexten und Briefen, Familienfotos und Polaroid-Bildern, Notizen und Erzähltem.

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Seit 2018 Doktorat am Institut für Integrative Biologie. 2017 Teilnahme an der Kunstausstellung EAM Science Meets Fiction mit den Kurzgeschichten «Karte und Gebiet» und «Quecksilberperlen». 2014 erschien ihr erster Roman «Schneestill», 2016 «Der Gutachter», in dem Ava Garcia und Paul Faber zum ersten Mal auftauchen (beide Salis). 2017 folgte der Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bei lectorbooks. Die Arbeit am neuen Roman wurde von der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen mit Werkbeiträgen unterstützt.

Anna Stern liest an den Wortlaut-Literaturtagen 2019 in St. Gallen, vom 28. – 31. März. Moderiert wird die Lesung von Gallus Frei.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder aus dem Roman, mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Vielen Dank! © Anna Stern (Titelbild: © Anna Stern, nach leagueoflostcauses.com)

Christoph Hein «Verwirrnis», Suhrkamp

Zugegeben, ich verehre diesen Schriftsteller. Und je mehr ich von ihm lese, desto tiefer brennt sich der Respekt ein. Christoph Hein erzählt mit derart viel Selbstverständlichkeit, als wäre jedes Buch mehrfach durchlebt und jedes für sich das Resultat eines ganzen Lebens. «Verwirrnis» ist die Geschichte einer Liebe, die ihren Platz nicht findet, nicht in der Geschichte, nicht in der Gesellschaft, nicht einmal im Leben der Geliebten.

Friedeward Ringeling ist ein Sonderling. Professor, ein gefeierter Intellektueller, selbst ohne Parteizugehörigkeit in der DDR von fast allen geschätzt und verehrt, aber stets ein wenig steif, distanziert, äusserst korrekt und auf dem Campus seiner Universität respektiert, auch wenn man ihn «kleiner Professor» heisst. Doch Friedeward trägt einen Schmerz mit sich herum. Er ist ein Versehrter, ein vom übermächtigen Vater Bestrafter, ein vom steinernen Katholizismus Ausgesperrter, ein Mann, der nie zu seiner Liebe zu Wolfgang stehen konnte, sie im Verborgenen leben und verlieren musste. Ein von der Geschichte Überrollter, ein Einsamer mitten in der Gesellschaft.

Friedeward lernt als Schüler Wolfgang kennen und lieben, ein ganzes Leben lang, in einer Zeit, in der eine solche Neigung nicht nur von Kirche und Gesellschaft unterdrückt wurde, sondern ein vom Staat geahndetes Verbrechen war. Seine Liebe bleibt unglücklich, auch wenn er sie mit Hilfe eines lesbischen Paars zumindest an der Oberfläche zu kaschieren vermag. Permanent in der Angst vor der Denunziation, vor dem Siebenstriemer seines Vaters, stürzt sich Friedewald in seine Arbeit und in ein geschlossenes Seelenleben, von dem nur wenige wissen.

«Verwirrnis» ist die Geschichte einer Freundschaft, einer verbotenen, nicht tolerierten Liebe zwischen Friedeward und Wolfgang. Einer Liebe, die sich im Verborgenen halten muss, hinter Mauern, am Rand der Gesellschaft. Es ist die Geschichte der DDR, ebenso eine Geschichte der Abgrenzungen und Mauern. Es ist die Geschichte einer Familie, jene Friedewards, einer Familie die sich hinter unumstösslichen Mauern der Strenge und Unduldsamkeit von einer aufbrechenden Gesellschaft abgrenzt.

„Verwirrnis“ ist als Titel des Romans genau so treffend wie verwirrend, denn zumindest im Duden scheint dieses Wort in der Form nicht zu existieren. Und trotzdem beschreibt es nicht nur das Leben Friedewards, sondern eine ganze Zeit, ein ganzes Jahrhundert.

Fiedewards Kindheit und Erziehung war geprägt von Angst, Schmerz und Verwirrungen. Sein Vater, ein Pädagoge, erzog seine Kinder mit eiserner Hand und schreckte auch nicht vor drastischen Körperstrafen zurück, selbst dann, als die DDR die Körperstrafe in Schulen schon längst gesetzlich gebannt hatte. Die Schläge des Vaters wirkten ein ganzes Leben. Friedeward fürchtet sie selbst noch vor seinem eigenen Ende, obwohl der Vater Jahrzehnte tot ist.
Der grosse „Fehler“ im Leben von Friedewards Vater war nicht so sehr die Peitsche, sondern seine Uneinsichtigkeit, des Vaters unumstössliche Überzeugung gut und richtig gehandelt zu haben. Genau die Haltung, die auch viele Überzeugte nach der Nazizeit mit in ein „neues“ Leben nahmen.

Der erste Weltkrieg war nicht mit den Unterschriften 1918 im Wald von Compiègne bei Paris beendet, der zweite Weltkrieg nicht mit der bedingungslosen Kapitulation am 7. Mai 1945, noch viel weniger die DDR mit dem Mauerfall. Jede Zeit hallt nach, so wie der erste Weltkrieg im Tod Friedewards Vater, der ein halbes Jahrhundert nach dem „Ende“ des 1. Weltkriegs an den Folgen eines Giftgasangriff starb. «Verwirrtes» ist ein Roman über Folgen und Auswirkungen.

Unglaublich mit welcher Selbstverständlichkeit Christoph Hein schreibt. Wenn ich seine Roman lese, überwältigt mich der Ton. Hein zelebrieren weder Sprache, Konstruktion noch Inhalt. Er erzählt. Und das mit derart schlafwandlerischer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, dass es mich tief beeindruckt. Wenn ich dann feststelle, dass die Lektüre und die Gespräche darüber zu einer Entdeckungsreise werden, Schicht für Schicht, verstärkt das den Respekt vor dem Schreiben Christoph Heins noch mehr.

Grosse Literatur, einmal mehr!

© Heike Steinweg

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle «Der fremde Freund / Drachenblut».
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Rezension von «Trutz» von Christoph Hein auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Daniela Krien «Die Liebe im Ernstfall», Diogenes

Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Fünf Frauen, fünf Leben, fünf Varianten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Leben zwischen Traum, Entwurf, Realität und Ernüchterung. Eingebetet in eine Gegenwart, die oft nicht dem entspricht, was hätte sein können. Ein Roman wie ein Teppich, dicht verwoben, kunstvoll konstruiert. Ein literarisches Soziogramm. Viel mehr als ein femininer Schicksalsroman.

Als Paula Ludger kennenlernte, wohnte sie schon Jahre mit Judith zusammen. Paula und Judith waren Freundinnen, obwohl sie schon als Teenager grundverschieden waren. Was durch nichts zu brechen war, schaffte die Heirat von Paula und Ludger. Eine Freundschaft zerbricht. Judith ist Ärztin und als „Unberührbare“ dauernd auf der Suche nach dem perfekten Mann. Eine Suche, die längst zum Selbstzweck geworden ist. 

Brida liebt Götz, den Mann, den nichts aus der Ruhe zu bringen scheint, den Fels. Brida ist Schriftstellerin und zerbricht an der Unmöglichkeit, jenes Leben zu führen, das ihr bestimmt sein muss. 

Malika ist die Schwester von Jorinde, die Verschmähte von Götz, die ungeliebte Tochter umtriebiger DDR-Intellektueller. Bis Malika ihre Schwester retten soll, bis sich die Spiesse zu drehen scheinen. Und Jorinde, der einst alles zu Füssen liegen schien, zieht der immer grösser werdende Spagat zwischen Pflichten und Berufung den Boden unter den Füssen weg.

Obwohl Daniela Krien in ihrem zweiten Roman „Die Liebe im Ernstfall“ die Geschichten der fünf Frauen hintereinander erzählt, sind alle Leben, alle Geschichten tief ineinander verflochten. Sie berühren sich nicht einfach wie bei einem Episodenroman, sondern füllen ein Pentagon weiblicher Lebensentwürfe, ein Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Liebe und Hass, zwischen eigenem Selbst und unergründlichem Gegenüber.

„Die Liebe im Ernstfall“ ist ein Roman über die Spielarten der Liebe, darüber wie viel Schmerz sich Liebe aufladen kann. Wie aus Liebe Schuld werden kann. Paula verliert ein Kind an den Folgen einer Impfung. Sie verliert Kind und Glück. Judith verliert auch ein Kind, mehr als eines und spürt die Schuld, die sich in ihr Leben schleicht. Brida verliert Götz und das Familienglück mit ihren zwei Kindern, ein Glück das unumstösslich schien. Malika verliert schon früh die Liebe ihrer Eltern, die Liebe ihrer Mutter. Und Jorinde den Platz, der ihr zugesprochen scheint. Liebe ist ein Gefühl. Und Gefühle sind nie in Stein gehauen, auch wenn sie übergross und übermächtig erscheinen.

Obwohl der Titel des Romans, die fünf Frauenleben nach Fallstudie riecht, ist Daniela Kriens Roman mehr als Liebesgeschichte, viel mehr als Fallstudie. Daniela Krien erzählt von fünf Frauen, die im ganz normalen Leben wirklich zu leben versuchen, nicht nur funktionieren und reagieren, sondern agieren. Aber aus Wunsch und Idee wird Krampf und Kampf. Daniela Krien erzählt von Sehnsüchten. Der Sehnsucht nach Liebe zu einem Gegenüber, einem Gegenüber, das versteht und jener Sehnsucht, sich selbst dabei treu zu bleiben. 

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin, 2011 erschien ihr Roman «Irgendwann werden wir uns alles erzählen», der in 14 Sprachen übersetzt wurde. Ihr 2014 veröffentlichter Erzählband «Muldental» wurde 2015 mit dem Nicolaus-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Daniela Krien lebt mit zwei Töchtern in Leipzig.

Daniel Krien liest aus ihrem Roman «Die Liebe im Ernstfall» am 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2019, am Samstag, den 30. März! Weitere Informationen finden Sie auf wortlaut.ch! Moderation: Gallus Frei-Tomic

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Christian Zehnder «Die verschobene Stadt», Otto Müller Verlag

Felix Degalier studiert in Lausanne Medizin, nachdem er zu seiner kranken Mutter gezogen war. Lausanne ist ihm fremd, genauso die Sprache. Er kennt sich zwar aus und spricht französisch, doch der Mann scheint über Monate nie dort anzukommen, wo er sich eigentlich bewegt. «Die verschobene Stadt» ist eine Lebensspur, die sich beinahe verliert. Der Roman ein zartes Stück Sprache, das anderes will als «bloss» erzählen.

Es ist bei der Lektüre, als würde man dem Boden enthoben. Es ist kein Wegreissen, kein Hinfallen, kein Abheben, kein Wegdriften. Was als Geschichte erzählbar ist, wird nicht von aussen geschildert, sondern von innen. Mir erzählt Christian Zehnder von Felix Degalier, von Luc, Helena und Geneviève, von den Mietern mit ihrem kränklichen Kind, die sich in der ehemalige Wohnung der Mutter einnisten – und doch liegt der Erzählmittelpunkt, der Fluchtpunkt der Erzählperspektive in der getriebenen Seele von Felix.

Felix wohnt mit Luc zusammen in dessen Wohnung, aber nicht wirklich zusammen, denn die beiden treffen sich je länger je weniger. Felix studiert Medizin, aber nicht wirklich, denn alles andere scheint ihn und sein Leben zu bewegen, nur sein Studium nicht. Felix lebt, existiert in Lausanne, der Universitätsstadt am Lac Léman, aber nicht wirklich, denn phasenweise entzieht sich ihm die Stadt, entgleitet ihm, verschiebt sich, wird ihm fremd.

Obwohl chronologisch konstruiert, erzählt der Autor alles andere als linear. Sprunghaft, manchmal assoziativ, als würde er nicht erzählen wollen, sondern schildern, was die sprunghafte, unstete Wahrnehmung mit dem Protagonisten macht.
Nachdem Felix Degalier weg von Zürich zu seiner Mutter nach Lausanne gezogen war, diese zuerst pflegte, vermietet er die Wohnung nach deren Tod fast vollständig möbliert einer jungen Familie. So wie die Möbel in dieser Wohnung nach dem Tad seiner Mutter stehen bleiben, als wäre sie eben erst weggegangen, bleibt die Bindung, die Verbundenheit zu einer Welt, die mit der Mutter gestorben war. Felix wird zu viel mehr als einem Vermieter, angebunden an eine Familie, die ihn durch ein krankes Kind regelrecht einspannt.

«Die verschobene Stadt» macht es mir nicht leicht. Ein Buch, das mich pendeln lässt zwischen Faszination, vor allem für die Sprache, und Verunsicherung dann, wenn ich mich losgelassen fühle. So wie Felix in einer Stadt, einer Welt, unter Menschen, die ihn nicht einlassen. Schon «Julius», sein 2011 bei dtv erschienener Roman, war die Geschichte eines jungen Mannes, der von einem alten Leben Abschied nimmt und in einem neuen nicht richtig anzukommen scheint.

Wer sich auf ein sprachliches Abenteuer einlassen will, der liest «Die verschobene Stadt»! Flimmernd, durchscheinend und traumhaft.

Foto © Matthias Günter

Christian Zehnder, geboren 1983 in Bern, studierte Literatur und Philosophie in Fribourg und München. Er ist Mitarbeiter am Institut für Slawistik der Universität Fribourg. Nach Studienaufenthalten in Sankt Petersburg, Moskau, Warschau und zuletzt in Chicago lebt er heute in Bern. Bisher erschienen sind von ihm die Erzählungen und Romane «Gustavs Traum», «Julius» und «Die Welt nach dem Kino». «Die verschobene Stadt» ist sein erstes Buch im Otto Müller Verlag.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Florian Wacker «Stromland», Berlin Verlag

Der Zwillingsbruder verschwindet. Die Schwester macht sich mit einem Bündel Briefen und ihrem Freund auf die Suche nach ihm. Eine Suche, bei der die Motive der Reise immer mehr ihre klaren Umrisse verlieren. Eine Reise in ein Land, das ebenso viel Sog entwickelt wie Verständnis verweigert. «Stromland» führt mich als Leser weit weg; eine Reise in die Tiefen des brasilianischen Urwalds und in jene menschlicher Abgründe.

«Stromland» ist eines jener Bücher, die niemals nur in stillen Stuben geschrieben wurden. Man spürt der Sprache, der Geschichte und den Konstruktion des Buches an, wie sehr sich Florian Wacker auf ein Abenteuer einliess. Nicht nur geographisch, denn Florian Wacker beschreibt derart bildhaft und sinnlich, dass einem die feuchte Hitze des Urwalds genauso an die Kehle springt wie die modrigen Dämpfe und die Schreie in pechschwarzen Nächten. Florian Wacker beschreibt einen Kontinent, der während mehrerer Jahrhunderte im Würgegriff von Eroberung, Gier, Anarchie und der Suche nach Glück war und ist. Ob im 18. Jahrhundert noch unter dem Banner der Kirche oder in der Gegenwart auf der Suche nach Gold – das, was ein stubenwarmer Europäer (so wie der Schreibende) unter Recht und Ordnung versteht, hat wenig mit dem zu tun, was im Dschungel von Natur, Kultur, Ethnien und der Suche nach dem «Paradies» aufeinanderprallt.

«Der Gedanke, Thomas zu finden, war wie ein Tischtennisball, der einen winzigen Riss hatte und der so jeden Schlag, jedes Aufsetzen zu etwas Zufälligem machte, trudelnde, kreisende Bewegungen, eine eiernde Flugbahn.»

Thomas fahrt im Filmtross von Werner Herzogs Filmequipe ins Amazonasgebiet. Nachdem der Regisseur Werner Herzog 1972 mit «Aguirre, der Zorn Gottes» schon einmal einen Film mit Klaus Kinski im Dschungel des Amazonas drehte, macht sich die Filmcrew zehn Jahre später noch einmal auf den Weg, um unter widrigsten Umständen, den mittlerweile zur Legende gewordenen Film «Fitzcarraldo» zu drehen. Thomas, schon als Jugendlicher vom Film mehr als fasziniert, macht sich auf eine Reise, viel weiter als bloss in einen Dschungel. So wie im Film «Fitzcarraldo» ein Abenteurer davon träumt, in der peruanischen Dschungelstadt Iquitos ein Opernhaus zu erbauen, so sehr träumt Thomas nicht bloss einen Film mitzureden, sondern von Distanz zu seinem steifen Elternhaus und Nähe zu neuen Lebensformen. in der Ferne zu finden. Er verspricht zwar seine Schwester Irina zurückzukehren, taucht aber in Deutschland nie mehr auf. Nach zwei Jahren Ungewissheit macht sich Irina mit ihrem Freund und dem Bündel Briefe ihres Bruders, Lebenszeichen, die mehr Geheimnisse offenbaren als klare Hinweise über sein Verbleiben, auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder.

«Ich weiss, dass Wahnsinn ein anderes Wort für Erkenntnis ist und dass wir überwältigt werden und us zu Tode fürchten vor dem, was wir sehen, hören und riechen.»

Zwillinge spüren mehr. Irina glaubt nicht an den Tod ihres Bruders. Entgegen alles Vernunft und aller Beschwörungen lässt sie nicht locker. Die Reise in den Urwald wird eine Reise in die Tiefen der menschlichen Abgründe, manchmal knapp am Tod vorbei, über die Grenzen von Ratio, in ein Land, das seit Jahrhunderten Traumland ist, Eldorado von Abenteurern, Schatz- und Glückssuchern.
Aber Florian Wacker rapportiert nicht einfach. Der Schriftsteller webt ein Netz, erzählt Familiengeschichten, Geschichten von Niederlagen und Siegen, vom Gegensatz der Kulturen, dem Aufeinanderprallen von Welten.
Seine Erzählweise ist in höchstem Masse sinnlich und durchwachsen von Bildern, die nur durch erlebte Recherchearbeit erzeugt werden können. Florian Wacker malt mit satten Farben, grosszügig und raumgreifend aufgetragen. Wer die Filme «Aguirre, der Zorn Gottes» und «Fitzcarraldo» von Werner Herzog kennt, erfährt bei der Lektüre, wie sehr jene Filme mit den Bildern aus Wackers Roman «Stromland» verwandt sind.

«Jesuiten, Dominikaner, Hidalgos, Glücksritter, Naturforscher, Geologen – sie alle waren dagewesen, hatten sich mit schwerem Gepäck durch den Wald gekämpft, waren gebissen und gestochen worden, hatten sich die Maria geholt, im Fieber gelegen, hatten fantasiert, nach der Mutter gerufen; sie hatten den Wald verflucht und waren doch seiner Schönheit erlegen, sie starben und wurden liegen gelassen.»

Ein vielschichtiges, spannendes, mitreissendes Buch.

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband «Albuquerque» (2014), der Jugendroman «Dahlenberger» (2015) und der Roman «Stromland» (2018). Zuletzt wurde er mit dem Limburg-Preis (2015), dem Mannheimer Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur (2017) und dem Harder Literatur-Förderpreis (2018) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.

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Delphine de Vigan «Loyalitäten», DuMont

Delphine de Vigan erzählt jenen Teil des Lebens, der schmerzt. Und dabei schont sie weder sich selbst noch den Leser. Man kann Delphine de Vigans neusten Roman als eine verwobene Geschichte derer erzählen, die sich in entgegengesetzten Loyalitäten unentwirrbar verstricken. Oder aber man liest ihren Roman als gesellschaftlichen «Klimabericht», wie sich Wolken und Stürme zusammenbrauen, die sich die Gesellschaft selbst einbrockte.

Théo ist 12, ein guter Schüler, still, zurückhaltend, unauffällig. Er trifft sich mit seinem einzigen Freund Mathis, manchmal in einem Versteck unter einer Treppe im Schulhaus, manchmal bei Mathis zuhause oder irgendwo in den Regionen der Grossstadt Paris, die sich der Kontrolle entziehen. Sie trinken. Flaschenweise. Immer mehr. Trinken, bis ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, bis sie sich im Dämmerzustand von Rausch und Beinahebewusslosigkeit von all den Zwängen und Klammergriffen befreien können. Théo Eltern sind getrennt, entzweit. Seine Mutter eingespannt in ihren Beruf, ihr schlechtes Gewissen und die Angst, dass alles zu kippen droht. Sein Vater lebt abgeschottet in seiner Depression in seiner vermüllten Wohnung in einem Hochhaus in der gleichen Stadt. Arbeitslos geworden, aus dem Tritt geraten ringt er seinem Sohn, der jede zweite Woche bei ihm verbringt, das Versprechen ab, seiner Ex nichts von seinem Niedergang, seinem Elend, seiner Ausweglosigkeit erzählen, aus Angst, damit das Sorgerecht zu verlieren.

Théo lebt viele Leben. Das des perfekten Sohnes und Schülers, das des Verbündeten seines Vaters. Das des letzten Rettungsankers im kaputten Leben eines Ausgestossenen. Das eines braven Verbündeten einer Mutter, die vom Vater nicht einmal den Geruch in den Kleidern des Sohnes erträgt. Das des Wissenden, Weiler genau spürt, wie sehr seine Mutter unter dem Druck ihres Lebens zu schwanken beginnt. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Mathis macht mit, trinkt mit. Auch er Opfer im Grabenkrieg seiner Eltern. Einer Familie, die sich hinter einer wohlgehüteten Fassade versteckt, alles tut, damit die stinkenden Geheimnisse nicht ans Licht geraten. Mathis will weder seine Eltern noch seinen Freund verlieren, spürt aber ganz genau, dass der Abgrund an beiden Fronten unaufhaltsam auf ihn zurast. Nur zu gerne würde sich Mathis seiner Mutter anvertrauen. Aber er weiss, dass dann Welten einstürzen, seine Freundschaft in Gefahr ist. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Und Helène, die junge Lehrerin der beiden Freude, der das Verhalten der beiden immer mehr Rätsel aufgibt, lässt sich zu Spekulationen hinreissen, spürt, dass etwas geschieht, was schlecht ist, was aufzuhalten wäre. Sie, die als Kind von ihrem Vater misshandelt und gedemütigt wurde, die sich geschworen hat, nicht und niemals wegzuschauen. Sie, deren Blick durch die eigenen Biographie geschärft ist, die Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen. Sie setzt sich ein und damit aus, eckt an, verteilt sich in ihrem ungebrochenen Eifer, droht alles aufs Spiel zu setzen, an ihrem Kampf zu zerbrechen. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Was mit Théo und Mathis geschieht ist Spiegel der Gesellschaft. Immer früher werden Sucht- und Betäubungsmittel aller Art zu ständigen Begleitern, auch bei Kindern. Die Lust, Grenzen auszuloten mag eine Ursache sein. Aber als Erklärung taugt «Grenzerfahrung» nicht. Théo zerstört sich.

Delphine de Vigan beschreibt Enge, manövriert mich als Leser in eine Atmosphäre der psychischen Gewalt, die selbst die Autorin während des Schreibens zu überraschen schien, wie sie an einer Lesung im Literaturhaus Zürich erklärte. «Brutal und banal.» Scheidungskinder, die in Extremsituationen stehen, nur schon dann, wenn Elternteile verbal über den jeweils anderen herziehen, die sie als Kinder beide lieben wollen (und müssen). Delphine de Vigan schürt nicht in Gefühlen, auch nicht in jenen des Lesers. Sie ist Seismographin, Stimmengeberin jener, denen die Lautstärke und Kraft fehlt.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension von «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau