Patrick Tschan mit «Der kubanische Käser» in Amriswil

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Patrick Tschan brachte seinen neuen Roman «Der kubanische Käser» und einen «Kuba Mutschli» der Käserei Stoffel aus Unterwasser im Toggenburg, dem Ausgangspunkt Tschan Romane «Polarrot» und «Der kubanische Käser».

Traditionelle Lesungen sind das eine. Aber wenn sich interessierte Menschen, die das Buch bereits gelesen haben, an einem gedeckten Tisch mit dem Schriftsteller treffen, dann schlägt Literatur ganz andere Wellen. Dann wird fassbar, was Schreiben bedeutet, deutlich, was Leidenschaft erschafft, durchscheinend, wie Literatur entsteht.

«Irgendwann im April 2019 tat der Säntis einen Schritt zu Seite und rief derart verheissend nach Noldi, dass sich der Chäserrugg aus Erbarmen duckte, damit der Gallus seine Einladung über den Walensee, die Bündner Alpen, das ligurische Hochgebirge und den Anfang des Apennins bis aufs offene Meer rufen konnte, diese weiter klang, am hohen Atlas-Gebirge nach Westen abbog, sich über den Atlantik bis in die Karibik kämpfte, wo gerade jetzt der Noldi vor seine Mine trat, ganz weit weg ein ungewohntes, aber doch vertrautes Geräusch hörte, auf den Karstkegel stieg um es besser zu hören, jetzt sicher war, dass der Gallus aus Amriswil zu «Literatur am Tisch» lud, worauf der Noldi sogleich ein Mutschli und einen Grind einpackte, die Beine unter die Arme nahm, dieses Tal, indem das Glück kubanisch sprach, verliess, einschiffte, über den Atlantik segelte, in Genua anlegte, noch einen Gang höher schaltete um ja rechtzeitig am Tisch mit Käse, Brot und Wein, an der St. Gallerstrasse 21, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic einzutreffen.
Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Herzlich Patrick

«Ein Tisch. Ein Buch. Ein Autor. Sechs Leserinnen. Zwei Leser. Das sind in diesem Fall die Zutaten fürs Zusammensein am Familientisch. Angerichtet haben die Schose Irmgard und Gallus Frei-Tomic in Amriswil. Gestern stand Patrick Tschan mit seinem Buch «Der kubanische Käser» im Zentrum zwischen Chüeboden, Brot, Murmeli, Weingläsern, Käsesorten, Noldi Abderhalden aus Alt St. Johann im Jahr 1620 und ziemlich lauten Fürzen. ‹Es war ein hueren Puff zu dieser Zeit in dieser Ecke der Welt›, steht im Buch. Ein sauschöner Abend. Herzlichen Dank an Patrick, Irmgard, Gallus, die andern und an den ‹Kugelfang-Noldi›!» Gregor Meili.

«Der kubanische Käser» ist aber noch mehr als ein Roman: In szenischen Lesungen zusammen mit Schauspielerinnen und Jodlerinnen soll «der Käser» in Zukunft die Kleinbühnen beleben. Die Vorbereitungen dazu sind in vollem Gange (Informationen).

 

Patrick Tschan «Der kubanische Käser», Zytglogge, Gast in Amriswil

Noldi Abderhalden, den ein schauderhafter Rausch aus seinem geliebten Toggenburg (Tal in den Schweizer Voralpen) 1620 in die Hände von Söldnern trieb, wird durch Zufall ein Kriegsheld. Aber statt auf seinen Lorbeeren auszuruhen und ein Leben lang von diesem einen, glorreichen Moment zu profitieren, schwemmt ihn sein Verlangen nach mehr bis in ein abgelegenes Tal auf Kuba, wo er die Zeit seines Dienstes für die Krone aussitzen muss.

In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. In manchen Gegenden dezimiert er zusammen mit Seuchen, Armut und Hunger die Bevölkerung um mehr als die Hälfte. Ein jahrzehntelanges Gemetzel, bei dem es vordergründig um den rechten Glauben geht, aber eigentlich nur um Macht, Besitz und Geltungssucht, ein Morden, das bis in die entferntesten Winkel vordringt und das Antlitz Europas für immer grundlegend verändert.

Anwerber der Spanischen Armee streifen durch die Lande und suchen nach Frischfleisch für den Kampf gegen den Protestantismus. In einer eisigen Winternacht, in der Noldi Abderhalden seinen Liebeskummer im Schnaps zu ertränken versucht, setzt er sturzbetrunken sein Zeichen unter einen Vertrag, wird als Sechzehnjähriger mitgenommen, um irgendwo und überall im Namen des richtigen Glaubens Köpfe rollen zu lassen. Nach Ausbildung, Drill und Entjungferung rettet er in einer Schlacht das Leben seines Kommandanten Gómez Suárez de Figueroa, schlägt eine dahersirrende Kanonenkugel mit blossen Fäusten aus seiner tödlichen Bahn, wird zum umjubelten Held, gelangt bis an den Hof des Königs, wo er aber wegen seiner unstillbaren Lebenskraft und Leidenschaft für Jahrzehnte in die spanische Kolonie Kuba verbannt wird, um dort eine Hand voll Schweizer Kühe zur Herde werden zu lassen.

Noldi Abderhalden erwacht zu spät, mehr als einmal. Aber Noldi Abderhalden ist es gewohnt, in die Hände zu spucken und die Dinge anzupacken. Er sitzt seine Zeit nicht einfach ab, sondern mausert sich auf der anderen Seite der Welt zum Züchter, Käser und Geschäftsmann. Sogar das Donnerrollen, das aus seinen Lenden zu stammen scheint, bekommt er in den Griff, lernt Liebe kennen und das Glück des Tüchtigen. Nur die Sehnsucht nach dem kleinen Tal zwischen Säntis und Churfirsten lässt sich nie ganz zähmen, ob im Geschmack seines Käses oder nach dem Verstreichen seiner besiegelten Pflicht.

Patrick Tschan ist gelungen, was er wirklich kann. Er mischt Historie mit Fiktion, würzt mit Humor und träfer Sprache, heizt ordentlich mit schnoddriger Schärfe und fast südamerikanischer Erzählfreude und formt eine Geschichte, die in eidgenössischer Literaturlandschaft seinesgleichen sucht. Der Roman strotzt vor Helvetismen, es wird gewettert (gleich mehrdeutig) und geflucht, dass es eine Freude ist. Ob ‹Heilandsack›, ‹huere Feigling› oder spanisch ‹Me cado en la lache!‘, Patrick Tschan erzählt nicht zimperlich. Mehr als einmal bebt das Zwerchfell während des Lesens, mehr als einmal überrascht Patrick Tschan durch das Tempo in seinem Erzählen. Schon einmal war der Ursprung eines Tschan’schen Abenteuers das kleine Toggenburg im Kanton St. Gallen. Damals war es im Roman „Polarrot“ Jack Breiter, der zuerst als Heiratsschwindler in St. Moritzer Hotels sein Glück versucht und später den Nazis das Polarrot für ihre Fahnen hektoliterweise verkauft. Noldi Abderhalden, der mit zwölf durch ein Unglück zusehen muss, wie seine Eltern sterben müssen, ist das, was man ein «Stehaufmännchen“ nennt, Archetyp dessen, was den einen oder andern auch in der Gegenwart an der Gerechtigkeit zweifeln lässt. Was die Geschichte so sehr lesenswert macht, ist dieser ganz eigene Ton, den Tschan für seine Heldengeschichte trifft. Ein Roman mit grossen Händen, starken Oberarmen und markigen Sprüchen!

Am 29. Mai, 2019, bringt Patrick Tschan seinen neuen Roman „Der kubanische Käser“ an die St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Wer das Buch bis zu diesem Datum gelesen hat und mit Schriftsteller und Gästen diskutieren und austauschen will, ist mit Anmeldung (info@literaturblatt.ch) herzlich bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic eingeladen. Die Runde beginnt um 19 Uhr, dauert bis ca. 21 Uhr und kostet inkl. Speis und Trank 30 Fr.

Ein paar Fragen an Patrick Tschan:

Schon in deinem Roman „Polarrot“ fragte ich mich, wie der Mann aus Allschwil bei Basel an seine Geschichten kommt, die nun schon ein zweites Mal im Toggenburg, das so weit weg vom Nabel der Welt scheint, seinen Ursprung haben? Liegen dort die besseren Geschichten als in der Stadt Basel? Oder braucht es einen dicken Nacken, der all das tragen kann, was deinen Protagonisten in die Quere kommt?
Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Bei Breiter könnte es sein, dass der vorlagegebende Onkel aus dem Thurgau kommt und dies für eine Romanfigur nicht unbedingt eine literaturgeschwängerte Region ist. Und so fiel mir das Toggenburg mit seinem «Armen Mann» ein. Beim Abderhalden war die interessante konfessionelle Konstellation im Toggenburg interessant. Und ein Ort, wo die Berge Frümsel, Hinterrugg, Chäserrugg, Leistchlamm, Brisi oder Schafsberg und Alpen Chüeboden, Vrenechele, Obere und Untere Schnebere oder Chreialp heissen, der schreit geradezu als literarische Kulisse verwendet zu werden.

Neben den Ortsbezeichnungen sind es aber vor allem Flüche und Kraftausdrücke, die du in deinem Roman zu einem Mantel Abderhalden werden lässt. Abderhalden, der Käser aus dem Toggenburg, schlägt sich zwar wacker im Dreissigjährigen Krieg, ist aber alles andere als ein Schläger oder Grobschlächtiger. Seine Flüche, seine Jodler sind wie die Türme seiner eigentlich so sehr gebeutelten Seele. Flüche als eine Art der Befreiung? Liest man deine im Roman verwendeten Flüche, dann sind sie Banner der Verbildlichung innerer Zustände, so ganz anders als die Flüche heute, die ausgerechnet eine Ausdrucksform der Liebe in den Dreck ziehen. War da pure Lust oder auch ein bisschen Rehabilitation jener Kraftausdrücke, die Leiden-schafft?
Wohl beides. Ein Noldi Abderhalden ist nicht einer, der sich hinsetzt und sein Verhältnis zu Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen reflektiert, dies dann den Lesenden fein säuberlich mitteilt. Das wäre berichtet statt erzählt und somit langweilig. Also jodelt und flucht Noldi, wenn seine Gefühlswelt wieder mal derart von Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen durcheinandergeschüttelt wird, dass er nicht mehr weiss, ob die Chreialp wirklich da oben ist und der Chässerugg nicht in den Walensee gefallen ist. Ja, und die alten Flüche sind wahrlich eine Lust, stecken doch eine Menge überlieferter lokalgefärbte Gefühls- und Glaubenswelten in ihnen, Heilandsack!

Der dreissigjährige Krieg, wohl einer der vernichtensten Kriege gemessen an der damaligen Bevölkerung, ist der Grund dafür, dass Noldi Abderhalden gegen Bezahlung für 10 Jahre in den Dienst der Spanischen Krone in Schlachten zog. Kriege, die an Brutalität kaum zu überbieten waren. Er ist Schauplatz seiner und deiner Heldengeschichte. Eine Heldengeschichte, die wie alle Heldengeschichten nicht nach Wahrheitsgehalt gemessen werden kann und soll. Wir brauchen sie. Je verrückter, desto wirkungsvoller. Und weil die Literatur alles darf, ist sie der ideale Ort, um Heldengeschichten zu produzieren. Literatur als «Opium für das Volk»?
Leider rauchen viel zu wenige aus dem Volk diese Art von Opium. Obwohl: ein paar gute Geschichten gut erzählt wären wohl für viele Wunden heilsamer als mutlose, nach Aktualitäten schielende Mainstream-Berichte.

Wenn erzählt wird, sind es die Momente, in denen Brüche entstehen, die bannen. Noldi verliert als Kind seine Eltern, muss der Katastrophe zuschauen. Im Krieg ist er es, der im Moment eingreift, etwas aus der logischen Konsequenz buxiert. Das, was ihm als Kind damals unmöglich war. Manchmal sind wir zum reagieren verdammt, manchmal gelingt es uns zu agieren. Noldi ist in deinem Roman einer, der es in die Hand nimmt. Das braucht es in einer Welt, in der sich alle so schnell stets als Opfer sehen. Richtig?
Das hast Du wunderbar gesagt, mit den Brüchen. Am besten sind sie dann, wenn sie aus der Figur kommen. So wirkt jedes Klischee weniger klischeehaft. Der Noldi nimmt ja erst in Kuba sein Leben in die Hand; mit dem Entschluss zu käsen. Vorher hätte er viele Gründe gehabt, sich selbst zu veropfern. Aber dieses gibt es in der Manstream-Gegenwartsliteratur ja genug. Das ist auch nicht spannend, das berichtet und erzählt nicht.

Vielen Dank und deinem Buch die verdienten Leserinnen und Leser!

Patrick Tschan, 1962 in Basel geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und ist seit vielen Jahren in der Werbung und Kommunikation tätig. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussballnationalmannschaft. Zuletzt erschienen von ihm die Romane «Keller fehlt ein Wort» (2011), «Polarrot» (2012),»Eine Reise später» (2015) bei Braumüller. «Der kubanische Käser» ist sein erstes Buch bei Zytglogge.
Beitragsbild © Gallus Frei-Tomic
8. Literaturblatt

Patrick Tschan «Der kubanische Käser»

Das wunderbarliche Leben und Lieben des Noldi Abderhalden

Es war nicht so, dass Noldi Abderhalden in dieser bitterkalten Winternacht im Februar 1620 freiwillig über die eisigen Trampelpfade auf den Chüeboden oberhalb Alt-St. Johanns aufgestiegen wäre, um von dort seinen ganzen Schmerz über dieses verdammte Tal hinwegzuschreien.
Nein. Die Heidi hatte ihn verlassen. Wegen dem Heiri Obderhalden.
Er war so stolz gewesen, dass gerade er die Heidi küssen und mit ihr gehen durfte. Wie ein Pfau war er Hand in Hand mit ihr die Dorfstrasse rauf und runter flaniert, unter den neidischen Blicken der anderen Burschen, die wie er fast täglich wegen der Heidi einen Ständer weggedrückt hatten. Geheiratet hätte er sie,  auf der Stelle – hätte er gekonnt, hätte er gedurft.
Aber, was eh nicht gut ausgehen durfte, war durch den Heiri bereits nach dem zweiten Gang am Ende der Dorfstrasse abgeklemmt worden.
«Komm Heidi», hatte er gerufen, und die Heidi hat die Hand vom Noldi losgelassen, sich beim Heiri untergehakt, sich zu Noldi umgedreht, ihm zugeraunt, der Heiri käme eben draus, im Gegensatz zu ihm, er solle jetzt ja nicht flennen, sondern zum kleinen Babettli gehen, die käme auch noch nicht draus, aber irgendwann kämen sie dann beide draus, und dann käme es schon noch gut für ihn.
Und so krümmte er sich jetzt dort oben auf dem Chüeboden vor Liebesschmerz mit einer Flasche saurem Wein im Kopf, beobachtet von Bär, Wolf und Gämsbock, tobte, schrie, stampfte, weinte und schluchzte so laut, dass sich Bär, Wolf und Gämsbock einig waren, dass nur Menschen sich so saudumm aufführen konnten.
Da er die Heidi doch schon ein gutes Stück weggetrunken hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich ausser Schreien und Toben dort oben wollte, und machte er sich daran, wieder vom Chüeboden hinabzusteigen, bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit und das einsetzende Schneetreiben, wählte im Suff zweimal die falsche Abzweigung, rutschte aus, landete unsanft auf dem Hintern, und da er auf dem blanken Eis nicht mehr hochkam, entschied er sich, in den Spuren der schweren Holzfällerschlitten auf dem Hosenboden ins Tal zu rutschen. Hei, da nahm der Noldi Fahrt auf, zog die Beine an und gab leichte Rücklage, nutzte die Schneewechten als Steilwandkurven, eine Tannenwurzel riss ein Stück Leder aus der Hose und dem Hintern und eine Eule stob aufgeschreckt in das ewig Gründunkle des Tannenwalds. Am Ende der Schussfahrt landete er geradewegs vor den Füssen eines Anwerbers für Reisläufer der von Plantas.
«Ha», rief der Anwerber, «da kommt ja einer vom Chüeboden geflogen. Schau, Trommler, ein stämmiges Exemplar von einem Alt-St. Johanner Sautreiber! He, was meinst du?»
Der Trommler antwortete mit einem kräftigen ‹Terrrräng›.
«Der wäre doch was, um gegen die vermaledeiten Bündner Protestanten, gegen den Jörg Jenatsch und Konsorten zu kämpfen. Was meinst du, Trommler?»
Terrrräng!
«Jörg Schnaps?», lallte Noldi und versuchte aufzustehen.
Der Anwerber drückte ihn zu Boden. Jetzt erst spürte er den stechenden Schmerz in seinem Hintern von all den blauen Flecken, Hautschürfungen und Rissen, die er sich beim wilden Ritt über Steine, Felsvorsprünge, Tannennadeln und -zapfen zugezogen hatte.
«Schnaps?»
«Schnaps!»
«Ja, was würde so ein daher gerutschter Sauhirt denn für Schnaps geben?»
«Kuhhirt!»
«Von mir aus. Also, was gäbe ein Kuhhirt für Schnaps?»
Terrrräng!
«Was würde denn so ein Herr mit Trommler wollen?», lallte Noldi dagegen.
Der Anwerber reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. «Deinen Todesmut.»
Terrrräng!
«Das ist alles?» Noldi versuchte, die helfende Hand abzuschütteln, und fiel dabei fast wieder um.
«Ja.»
Terrrräng!
«Und was, was … also was, was gibt den, den Schnaps?», brabbelte Noldi.
«Dein Kreuz. Hier. Für zehn Jahre.» Der Werber hielt ihm ein Blatt mit grossem Wappen und mächtig geschwungener Schrift unter die Nase, zog eine Feder aus der Umhängetasche und zeigte Noldi die Stelle fürs Kreuz.
Terrrräng!
«Zeig den Schnaps, du, du, du Seelenkrämer …»
«Voilà.» Der Anwerber zeigte auf den Trommler und dieser zog ein kleines Fässchen Schnaps aus seinem Beutel.
Noldi nahm das Fässchen, zog den Zapfen, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und ächzte: «Wuaah!»
«Veltliner.»
Terrräng!
«Gib … du, du Buhler, du.»
«Trommler!»
Der Tambour hob die Trommel hoch, der Anwerber legte das Blatt darauf und fragte Noldi scharf: «Name?»
«Noldi, du, du Leichenfledderer, du.»
«Wie noch?»
«Abderhalden, natürlich, du, du, Schnitter, du …»
Der Werber schrieb den Namen und Vornamen auf das Blatt, drückte die Feder in Noldis Hand, führte sie zur Stelle, wo dieser zu unterschreiben hatte, und machte dort drei Kreuze. Daraufhin nahm Noldi einen zu grossen Schluck Schnaps, prustete die Hälfte wieder hinaus und besudelte das Blatt. Der Trommler schrie «He!», der Werber nahm das Papier und wischte den Schnaps ab, und Noldi, ohne Stütze, fiel hin, krümmte sich, umschlang das Schnapsfässchen und entschied sich, nie mehr aufzustehen und für immer und ewig einzuschlafen.
Terrrräng! Terrrräng!
Er blieb liegen.
Terrrräng! Terrrräng! Terrrräng!
Er tat ein tiefer Seufzer.
«Wache!», befahl der Anwerber. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten traten aus dem Dunkel der Nacht, hoben den Noldi hoch und schleppten ihn in einen Stall, wo sie ihn neben eine Kuh warfen.

Babettli, die das alles von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, stürmte, kaum waren die Soldaten wieder im Dunkel und Anwerber wie Trommler im Wirtshaus verschwunden, die Treppe hinunter, auf die Dorfstrasse und in den Kuhstall, in den sie den Noldi verfrachtet hatten.
Es war ein jämmerliches Bild, das sich ihr bot: ein verdreckter, blutverkrusteter Noldi, der sich an sein Schnapsfässchen klammerte und wirres Zeug stammelte. Die danebenliegende Kuh war so leibarm, dass sie trotz grosser Kälte nicht einmal dampfte.
Erfasst von Mitleid und ihr gänzlich unbekannten anderen Gefühlen legte sie sich eng an Noldis Rücken, begann sein Haar zu streicheln, sein Gesicht, seinen Hals, und irgendwie rutschte ihre Hand unter sein Hemd und von da – sie hatte wirklich keine Ahnung, welcher Teufel sie da ritt – in seine Hose, und da war das Ding, von dem alle sprachen, das sie aber noch nie gesehen, geschweige denn angefasst hatte.
Noldi stöhnte, spürte im Halbtraum etwas in seiner Hose, das sich wie ein Murmeltier anfühlte, weich, pelzig, warm, fettig, und von dem er hoffte, dass es ja nicht zubeissen würde. Irgendwann begann das Murmeli mit ihm zu sprechen, fragte ihn, wie er das finde, er antwortete, es solle weitermachen, aber einfach nicht beissen, es fragte, was er da mit den bewaffneten Männern gemacht habe, Zeugs verkauft, eben, antwortete er, was für Zeugs, er habe seine Todesverachtung verkauft, warum er dies getan habe, er sei halt so todesverachtend unglücklich, warum er denn so unglücklich sei, weil er die Heidi verloren habe.
Da biss das Murmeli dermassen zu, dass der Noldi sofort wieder nüchtern war, wie am Spiess vor Schmerz schrie, die Kuh darob verstört aufschreckte, ihm ein Huf an die Backe donnerte, derweil er noch einen Rockzipfel von dem weinend aus dem Stall stiebenden Babettli im Augenwinkel erhaschte.
Er krümmte sich noch mehr vor Schmerz, Liebeskummer und Suff, trank noch ein paar Schluck und schlief schliesslich ein, träumte von Murmelis und Heidis und Kühen und wurde am anderen Morgen durch einen kräftigen Fusstritt geweckt, in den eisigkalten Dorfbrunnen geschmissen und in die Uniform eines Söldnerregiments der katholischen Truppen der von Planta gesteckt.

Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussball-Nationalmannschaft.

Am 27. März, um 19 Uhr, ist Buchtaufe im Literaturhaus Basel. Petrik Tschans neuer Roman «Der kubanische Käser» erscheint bei Zytglogge. Der hier veröffentlichte Text ist der Einstieg in den Roman.

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