Michael Kumpfmüller «Tage mit Ora», Kiepenheuer & Witsch

«As I walked along the beach and drank with her / I thought about my true love, the one I really need» (Bright Eyes, «June On The West Coast»)

Zwei lernen sich kennen. Er hat die 50 schon überschritten, sie ist zehn Jahre jünger. Er wurde verlassen, sie muss sich irgendwann entscheiden. Er ist erstaunt darüber, dass dieses Wunderwesen sich für ihn interessiert, sie bleibt ein Rätsel, auch nach einer gemeinsamen Reise durch den Süden der USA.

Michael Kumpfmüller liebt das Spielfeld menschlicher Beziehungsdramatik, jenen Zustand, der in ebenso viel Sehnsucht wie Leidenschaft (wörtlich!) eingebettet ist. Man lebt mit jemandem zusammen, den man kennenlernt, kennenlernen will, letztlich auch muss, lebt in einem Zustand, einem Gefüge, das maximale Nähe und manchmal sogar maximale Distanz bedeuten kann.

Beide sind leidgeprüft, „Versehrte“. Wie auch anders, wenn man den Sturm und Drang hinter sich hat. Lynn, die Ex von ihm, hat sich stufenweise aus seinem Leben verabschiedet. Am Schluss blieb gar nichts, alles aus der gemeinsamen Wohnung abtransportiert, was hätte erinnern können. Die Ex trat aus der Bezeichnung aus, ohne Erklärungen, letztlich unerklärlich. So unerklärlich wie seine Verbindung zu Ora, die mit einer gemeinsamen Reise zu eine Bindung werden soll, wie das Entstehen von Zweisamkeit.

Er lernt Ora bei einer Hochzeit kennen. Und obwohl sich Flüchtigkeit nicht aus dem neuen Gefüge vertreiben lässt, entschliessen sie sich, eine gemeinsame Reise zu tun. Sie will und er fühlt sich durch ihre Entschlossenheit geschmeichelt. Eine gemeinsame Reise als Chance sich kennenzulernen? Zum einen ist man als Schicksalsgemeinschaft aneinander gebunden. Man fliegt im gleichen Flieger, fährt im selben Auto, sitzt am gleichen Tisch und teilt (vielleicht, warum nicht) das gleiche Zimmer und Bett. 13 Tage durch den Süden der USA, an der Hand genommen von einem Song der Indie-Band Bright Eyes und ihrem Song „June On The West Coast“. Eine Reise nicht als Touristen auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten, sondern eine Reise zum andern. Die langen Fahrten durch die Wüsten und wüsten Orte als Kontrast zu dem, was in den beiden passiert; Landschaft, Städte, Koffer und Hotels als Kulisse für ein Abenteuer, das sich eigentlich nur zwischen den beiden abspielt.

„Tage mit Ora“ ist eine Reisegeschichte, beschreibt den Weg einer Liebe aus der Sicht eines Mannes, dessen Desillusion ihn schwanken lässt, hinein in Zustände, Situationen und fremd gewordene Emotionen, die sich dem Erzählenden nur bis zu einem gewissen Grad erschliessen. Michael Kumpfmüller schreibt über die Liebe, eigentlich über das Abenteuer, das zwei eingehen, mit all den möglichen Konsequenzen, entschlossen, sich zu ent-schliessen, bis zur absoluten Verletzlichkeit aufzutun.

Ora will das Abenteuer des Reisens, den Entschluss wider der Vernunft. Wer reist schon mit jemandem, den er erst durch die Reise kennenlernen will? Es gibt keine erklärbaren Gründe, warum man ein solches Abenteuer starten sollte – ausser um seiner selbst willen.

Von Seattle an der Westküste entlang, durch Niemandsland und Wüsten bis nach San Diego und von Los Angeles wieder zurück in eine Zukunft, die alles offen lässt. In einem Gespräch verriet Michael Kumpfmüller, er sei für den Roman gar nie in jenem Teil der USA gewesen. Was er an Kulisse brauchte, nahm er sich. Es war die Reise der beiden und der Song von Bright Eyes, eine Rundreise, wie es eine Reise immer ist, hin und zurück.

„Ich verstehe so vieles nicht, sage ich. Dich am allerwenigsten. Ich versuch es. Manchmal verstehe ich etwas. Ora: Ich verstehe mich selbst überhaupt nicht.“

Interview:

Kennt man sich je oder ist Liebe der permanente Versuch in die Nähe eines Gegenübers zu gelangen, über jene magische Grenze hinaus, die aus Nebeneinander Miteinander macht? Oder ist „Tage mit Ora“ die Umschreibung einer grossen Illusion?
Das, was wir Liebe nennen, ist als Phänomen flüchtig, aber keine Illusion. Am Liebesthema interessiert mich, was mich auch bei anderen Themen interessiert: Inwieweit können wir Handelnde sein oder zu solchen werden, obwohl existenziell so vieles vorbestimmt und festgelegt ist, und im Laufe eines Leben immer mehr. Ich glaube an das, was wir Freiheit nennen, so klein sie auch immer sei; wir müssen sie nutzen und schätzen, nur so sind wir aus eigenem Antrieb am Leben, was das mögliche Scheitern einschliesst. Das Schlimmste wäre, nicht gelebt, weil nichts riskiert zu haben, und also kann uns als lebendig Lebende eigentlich nichts Schlimmes passieren.

Beide, der Mann und die Frau sind „Versehrte“, was in der zweiten Hälfte des Lebens alle sind. Und doch reisst Ora den Erzähler aus der Desillusion heraus. Alles scheint möglich. In 13 Tagen bricht vieles auf. Aber weil eine Reise eben nur eine Reise ist und man bei einer solchen in fast allen Fällen an den Ausgangsort zurückkehrt, bleibt doch wenig Hoffnung, wenn man zurück auf dem Boden der Realität ist.
Alles ist möglich, und am Ende vielleicht doch nicht. Wer weiss. Ich weiss es selbst nicht. Manche Leser sind ganz sicher, dass da ein Liebespaar mit Perspektive nach Hause kommt, andere bezweifeln das, wieder andere sind ganz sicher, dass nicht. Liebesgeschichten sind immer offen, nur wollen wir das üblicherweise nicht wahrhaben. Würde diese nur die 13 Tage dauern, die die Reise dauert – was wäre so schlimm daran? Eine Liebesgeschichte bleibt es. Und ich mag sie sehr.

Was Sie so heiter beschreiben, was im Roman so flockig erscheint, ist Resultat vieler kleiner und grosser Katastrophen. Sie verraten wenig von jenen des Erzählers, gar nichts von jenen in Oras Leben. Aber beide haben in ihrem Reisegepäck Pillen gegen das Unglück. Gibt es eine Hoffnung gegen die Kränkungen der Liebe?
Es gibt die Arbeit an der eigenen Erfahrung und die Erkenntnis, dass das Leben episodisch ist. Dinge fangen an und enden, aber indem sie enden, entsteht die Möglichkeit, sich auf eine neue Episode einzulassen und ein Stück weiter neu zu entdecken. Das finde ich gar nicht so übel.

Sie erzählen, dieses eine Lied der Indie-Band Bright Eyes habe die Kulisse, die Reiseroute zu ihrem Roman geliefert, eine Route, die nur Staffage ist, die Sie nicht einmal physisch zu recherchieren brauchten. Versetzt Sie Musik derart in eine andere Landschaft? Hören Sie Musik bei Schreiben und wenn ja, misstrauen Sie ihrer Wirkung nie?
Musik ist ein Begleiter und Türöffner für die innere Imaginationsarbeit, aber manchmal stört sie auch, so wie in intensiven Schreibphasen (vor allem am Anfang) fast jede literarische Lektüre stört und ich mich nur mit ganz Fremdem und Abgelegenem beschäftigen mag; ist der Schreibprozess stabil, werde ich schnell wieder offener.

Bei der Lesung erzählten Sie, wie sehr sie der Umstand befreit, dass Sie nach Beendigung eines Romans nicht mehr in ein grosses Loch fallen, weil wieder ein Neubeginn gestartet werden muss, dass Sie an mehreren Stoffen gleichzeitig arbeiten, Stoffe, die sich in verschiedenen Stadien des Gedeihens befinden. Das klingt logisch. Aber ist es leicht, so viele Welten nebeneinander mit sich zu tragen?
Das ist ja alles ganz neu für mich, und ja, zu meiner Überraschung kein Problem. Wahrscheinlich deshalb, weil die Welten, die ich da in mir trage, alle in einem völlig anderen Aggregatszustand sind. Man kann aus einem publizierten Buch öffentlich lesen und zugleich (wieder zu Hause) am nachfolgenden schreiben und (allerdings nur in der Endphase) darüber nachdenken, welche Verrücktheit man sich als Nächstes vornehmen möchte. Dieses dreifache «Aufgeregtsein» (denn darum geht es beim Schreiben immer) geniesse ich gerade sehr; er macht mich heiter.

PS Und wem es vergönnt ist, dem Autor bei einer Lesung zu lauschen; seine Stimme lohnt es!

© Joachim Gern

Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman «Hampels Fluchten» seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman «Durst» und 2008 «Nachricht an alle», für den er vor dem Erscheinen mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2011 wurde der Roman «Die Herrlichkeit des Lebens» zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Mittlerweile ist «Die Herrlichkeit des Lebens» in 25 Sprachen übersetzt worden. 2016 erschien der Roman «Die Erziehung des Mannes» (Rezension auf literaturblatt.ch).

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes», Kiepenheuer & Witsch

Nein, kein Sachbuch, auch kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman darüber, wie ein Mann durch Anpassung allein eben nicht zum Mann wird. Lernt man etwas bei der Lektüre dieses Buches, wo doch der Titel einiges verspricht, vor allem all den Frauen, die dieses Buch erwerben? Das Versprechen wird eingelöst, aber eben literarisch. Michael Kumpfmüller erzählt exemplarisch Georgs Geschichte, einen langen Kampf um Liebe, schon als Kind begonnen. Georgs Vater nimmt sich mit aller Selbstverständlichkeit und Offenheit im Schosse seiner Familie neben der Ehefrau eine Geliebte, während Georgs Mutter leidet, unsichtbar für den Mann, aber ein Alp für die Kinder. Der Autor setzt dem Protagonisten den Stachel, das Wissen, dass es gerade in der Liebe mit Sicherheit keine Sicherheit gibt, alles den Irrtum impliziert. «War das Leben nicht dazu da, dass man es lebte, unvermeidliche Irrtümer eingeschlossen? Wer sich nie irrte, lebte nicht, so viel meinte ich begriffen zu haben, wobei ich auch das Gegenteil dachte.» Georgs Vater straft gerne, entzieht Liebe macht die Klappe zu, auch als Georg sich gegen Jura aber für Musik entscheidet. Nach ersten Liebesversuchen trifft er Karin, lebt sieben Jahre mit ihr zusammen, ohne einmal mit ihr zu schlafen. Sie will nicht. Er duldet es, «käme sich schäbig vor, sich zu trennen». Dann ist es Jule, die zuerst so ganz anders ist, Kinder will und auch heftig tut, dass es geschieht, ihn heiratet, was Georg einerseits schmeichelt aber gleichsam von einer Tatsache in die nächste stösst. «In diesem einen Moment hatte ich gewusst, wer Jule für mich war. Ein kleiner, leuchtender Punkt, etwas, das mich aus allerfernster Ferne berührte, ein Versprechen mehr als eine Tatsache, etwas, an dem ich nicht achtlos vorübergehen zu dürfen glaubte.» Aus Leidenschaft wird Ehekrach und Scheidungskrieg vor den Augen dreier Kinder, all das, was den Vater eine Generation zuvor nicht zu bewegen schien.

Michael Kumpfmüller schreibt von den Schrecken des Mannseins, der Verunsicherung darüber, wie Mannsein allein nicht genügt, wie sehr einem das Leben aus der Hand genommen und zerrissen werden kann. Georg ist kein Verlierer, aber ein von Verunsicherung Gepeinigter. Michael Kumpfmüller spielt mit dem Nerv der Zeit. Braucht es mehr als die Liebe eines Menschen, um zu überleben? Bei Georg ist es die Musik.