Willi Achten «Die wir liebten», Piper, Gastbeitrag von Frank Keil

Willi Achten gibt den einstigen Heimkindern der Bundesrepublik Deutschland mit seinem wuchtigen Roman „Die wir liebten“ eine literarische Stimme. 

Frank Keil

Im Gnadenhof
Gastbeitrag von Frank Keil

Vorab zur Einleitung und zum besseren Verständnis: Was für die Schweiz die „Verding-Kinder“ sind, das sind für die Bundesrepublik die „Heimkinder“. Kinder und Jugendliche, die im Nachkriegsdeutschland ihrer Freiheit beraubt wurden; die in meist kirchlichen Heimen beider Konfessionen, aber auch in kommunalen Heimen untergebracht wurden. Die dort arbeiten mussten, deren Schulpflicht zuweilen ausgesetzt war und denen Kontaktmöglichkeiten zu Eltern, Verwandten oder Freunden untersagt wurden – ohne das staatliche Stellen ihrer Pflicht der Kontrolle nachgingen; ohne dass es irgendeine unabhängige Instanz gab, an die sich die Kinder und Jugendlichen hätten wenden können. Bis weit in die 1970er-Jahre ging das, als sich zugleich die bundesdeutsche Gesellschaft unter dem Einfluss der so genannten Studentenrevolte immer mehr liberalisierte. Salopp gesagt: Während in der Öffentlichkeit über antiautoritäre Erziehung debattiert wurde, wurde in den Heimen noch handfest und unhinterfragt geprügelt.
Erst als ab etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre eine neue Generation von Erziehern und Erzieherinnen in der staatlichen wie privaten Jugendhilfe auftauchte, änderten sich die Heime; viele wurden nach und nach geschlossen; neue Lebens- und Wohnformen für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen entwickelten sich.

Und dennoch dauerte es weitere 30 Jahre, bis die Geschichte der repressiven, jahrzehntelang gültigen Heimerziehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und besonders die längst erwachsenen und zugleich tief traumatisierten einstigen Heimkinder gehört und dann befragt wurden. Es war interessanterweise ein Buch, das diesen Prozess einleitete: „Schläge im Namen des Herrn“ des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski, 2006 (!) erschien es.

Seitdem wurde nach anfänglich erheblichen Widerständen der beiden Kirchen verschiedene Entschädigungsfonds für die einstigen Heimzöglinge aufgelegt. Seitdem gibt es auch eine tiefgehende historische Forschung – aktuell wird etwa untersucht, in wieweit an den Heimkindern nicht zugelassene Medikamente erprobt wurden und in wie weit sie wichtigen Unternehmen zuarbeiten mussten, ohne je dafür entlohnt worden zu sein. Es gibt zudem – wie bei den Verding-Kindern auch – eine Reihe von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder; Lebens- und Überlebensberichte, autobiografisch grundiert, oft in kleinen Verlagen erschienen oder in Selbstverlagen veröffentlicht.
Was aber bisher weitgehend fehlt, ist eine literarische Aufarbeitung – vergleichbar mit dem so genannten Internatsroman. Nun hat Willi Achten mit seinem Roman „Die wir liebten“ erste, wichtige Pflöcke eingeschlagen.

Und der schickt Edgar und Roman, die zwei Brüder, die Söhne des Bäckers, in die apokalyptische Heim-Welt. Die beiden Jungen kennen das Haus, vor dem sie nun stehen, zwangsweise hierher gebracht. Das Haus, das ein Heim beherbergt. Sie standen schon öfter davor; letzten Weihnachten erst, als sie den übriggebliebenen Kuchen ablieferten, eine Spende; an der Pforte hatten sie ihn abgegeben, weiter waren sie wie auch die Jahre zuvor nicht gekommen, und es war ihnen recht. Hatten dafür die Zigarre entgegengenommen, vom Heimleiter, auch wenn ihr Vater, der Bäcker, der den Kuchen spendete, der sich nicht mehr verkaufen liess, gar nicht rauchte. Aber das erzählten sie nicht, so wie sie auch nicht fragten, was das für ein Heim sei und wie es einem dort ergehe und wie man in dieses Heim komme, das „Gnadenhof“ heisst; besser nicht fragen, weil Fragen Wissen nach sich ziehen kann. Und dann – womöglich – Handeln.

Da sind wir sind Seite 253 angekommen. Alles, was wir zuvor gelesen haben, war notwendiges Vorspiel, war unverzichtbares Intro, einerseits. Ist die Vorgeschichte einer nun offen ausbrechenden Katastrophe, die notwendig zu erzählen ist, um zu verstehen, was auf den nun folgenden, etwas mehr als 100 Seiten geschieht. 

Willi Achten «Die wir lieben», Piper, 2020, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05994-7

Denn sie sind anfangs eine ganz normale Familie. Im Grossen und Ganzen jedenfalls, in einem kleinen Ort, im Rheinland. Vater, Mutter, zwei Kinder. Eine Grossmutter noch dazu, ein Vetter der Grossmutter, der in der väterlichen Backstube arbeitet und hilft, dann noch die Grosstante Mia; die etwas anders ist, sehr eigen sozusagen, die für ihr Leben gern strickt, alles einstrickt, wirklich alles, sitzend unter einer Marienfigur. Die Mutter hat eine Art Kiosk, einen Lottoladen, auch sie arbeitet viel, und sie arbeitet gern. Es ist das Jahr 1971, als wir dazu kommen.

Ob es zwischen den Eltern die grosse Liebe ist, wohl eher nicht. Vielleicht war sie es mal. Vielleicht haben sich die beiden durchaus mehr erhofft, voneinander. Nun sind sie eine ganz normale, eine klassische Familie, in einer Zeit – ich erinnere das, es ist eine prägende Erinnerung –, als in den Nachrichten die Zahl der unehelichen Kinder vermeldet wurde, die stieg und stieg. Und entsprechend kommt alles ins Rutschen, als der Vater auf dem Dorffest mit der Tierärztin tanzt, zu Procul Harum, zu A Whiter Shade of Pale. Und sich dann mit ihr trifft. Und dann das erste Mal nachts nicht nach Hause kommt. Sondern woanders ist, wo er bleibt. Nicht gleich, aber bald.

Die beiden Jungs ahnen, was nun passieren wird. Auch wenn sie das Gegenteil hoffen. Und der Vater ist ja morgens da, steht in der Backstube; wann immer es möglich ist, helfen ihm die Söhne, springen ein, vielleicht kann das das Schlimmste verhindern. Und noch ist der Vater ja da, noch hören sie mit ihm gemeinsam Radio, wenn Fussball ist, bis die Ergebnisse feststehen. Über das, was geschieht, mit ihnen, im Einzelnen wie mit allen zusammen, wird nicht gesprochen. Es wird gehofft. Und das ist nicht genug; es ist bei weitem nicht genug.

Denn sie alle sind nicht allein auf der Welt. Es gibt den Dorfpolizisten, der schon vorher Dorfpolizist war und dem entsprechend eine gnadenlose Brutalität zu eigen ist. Und es gibt die Fürsorgerin, die die zerbrechende Familie nicht aus ihrem Blick lässt und die nur darauf wartet, dass sie einschreiten kann; aus eigenem Antrieb heraus wie von Amts wegen. Aber erst mal nimmt sie sich Mia vor, die zurückgebliebene Großtante, das schwächste Glied in einer sich auflösenden Kette, um die sich der Staat doch zu kümmern hat. Und dann ist es soweit und Edgar und Roman können nicht mehr entkommen.

Willi Achten erzählt das so kraftvoll wie schonungslos. Er verfügt über einen realitätssicheren und wahrhaft packenden Erzählstil, dass man zuweilen kaum weiterlesen mag, weil man das fürchtet, was auf den nächsten Seiten passieren wird und das passiert dann auch. Er holt uns in eine Welt zurück, die historisch gesehen, so lange her nicht ist und auf die oft genug nur verklärend geschaut wird, weil es damals besonders schaurige Popmusik gab und die regierenden Männer unförmige, schwarze und schwere Schuhe trugen und sich das dünne Haar mit Birkenwasser tränkten, ach, ist das lange her, so gefühlt, und was war das seltsam.
Was Willi Achten uns mit seiner eigentlich ganz klassischen Familiengeschichte dagegen nahe bringt, ist ein zuweilen fast körperlich zu fassendes Erschrecken über die eingangs kurz skizzierte Erziehungswelt der 1970er-Jahre; von prügelnden Lehrern bis nahezu allmächtigen Fürsorgerinnen, flankiert von oft hilflosen Erwachsenen, die gerade anfingen an der sich vorsichtig ausbreitenden Liberalität bei der Gestaltung von Lebensentwürfen zu erproben.

Und so ist der zweite Teil des Romans nichts geringeres als eine geradezu apokalyptische Reise in die Abgründe der westdeutschen Heimerziehung, die fast lückenlos und nahezu ungebremst, weil auch personell gestützt auf die Ideale und Abläufe der Nazizeit aufbaute und die sich jahrzehntelang ungeprüft und unhinterfragt austoben konnte, auch weil sie Gesetz war und niemand in die Speichen des sich drehenden Rades griff. Und die so spät in Frage gestellt wurde und die noch später endetet, nach der so genannten Heimkampagne kritischer Pädagogikstudenten, bei der nicht zuletzt eine gewisse Ulrike Meinhof eine nicht unwichtige Rolle spielte.
Dieser Zeit und besonders ihren Opfern hat Willi Achten mit seinem Roman ein überaus lesenswertes Dokument überlassen.

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Heike Lachmann / Piper Verlag

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag

„Yeki Bud. Yeki Nabud“, (Es gab jemanden, es gab niemanden.) damit beginnen persische Märchen. Ein Hakawati ist ein Geschichtenerzähler, der mit seiner Schauspielerei das Erzählte unterstreicht, nichts anderes als der Autor selbst, Pierre Jarawan, der einst deutscher Meister im Poetry Slam war und nun, nach seinem 2016 erschienen Debütroman „Am Ende bleiben die Zedern“ mit „Ein Lied für die Vermissten“ erneut einen atmosphärisch starken Roman vorlegt.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist ein Familienroman, ein Roman über Freundschaft, die zerstörerische Kraft des Schweigens und die „verlorene Generation“ eines Bürgerkriegs der während 15 Jahren (1975 – 1990) fast 100 000 Tote, 20 000 Vemisste und unzählige Vertriebene forderte. Ein Krieg, der aus dem Paris des Nahen Ostens, der Orchidee des Mittelmeers ein Trümmerfeld machte. Im Libanon, einem Land, aufgerieben in der Geschichte der letzten 70 Jahre, im Dauerkriegszustand mit Israel, zerfleischt von Milizen, annektiert von der syrischen Diktatur, erschüttert von abertausend Bomben. 

„Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.“

Ob der Bürgerkrieg in Libanon oder die Kriege nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens – für mich waren es „Sofakriege“, denen man sich während der Nachrichten oder beim Lesen der Zeitungen aussetzte, die durchaus Betroffenheit auslösten, aber zumindest für mich im Hintergrund blieben. Eine Tatsache, für die ich mich heute bis zu einem gewissen Grad schäme, denn diese Kriege klopften immer wieder unüberhörbar an meine Tür, sei es durch das Schicksal von Flüchtlingen, die ich kennenlernte oder eben durch die Literatur.

„Erinnerungen waren Pforten, hinter denen sich ganze Reiche auftaten, die ich noch zu entdecken hatte.“

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag, 2020, 464 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-8270-1365-1

Pierre Jawaran erfindet Amin und erfindet ihn nicht. Einen Jungen, der zusammen mit seiner Grossmutter nach dem Tod von Amins Eltern nach Deutschland flieht. 12 Jahre später findet die Grossmutter den Mut, wieder zurück ins Land ihrer Familie, in ihre Heimat zu reisen, um einen Neuanfang zu wagen. Einen Neuanfang als Familie, als Unternehmerin, als Malerin. Amin lernt in seiner neuen Umgebung Jafar kennen, einen Mitschüler aus seiner Klasse, den einzigen, der sich für ihn zu interessieren scheint. Jafar ist anders. Nicht nur weil er als kleiner Junge ein Auge verlor, sondern weil er in seinem Wesen wild und nur schwer fassbar ist, weil er mit Amin durch die Ruinen der Stadt zieht, weil er wie ein Hakawati Geschichten erzählen kann, so gut, dass sich damit sogar Geld verdienen lässt, wenn auch nicht immer zum Vorteil aller.

„Das Schweigen ist tiefer als die Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt.“

Amin wächst behütet bei seiner Grossmutter auf, einer Frau, die in der Altstadt Beiruts ein Café eröffnet und Bilder von sich an die Wand hängt. Bilder, die kryptisch von den Schrecken des Bürgerkrieges erzählen, so wie das einzige Bild von Amins Mutter, die als junge Frau als Studentin nach Paris kam, eifrig zu malen und zu lieben begann und schwanger und mit dem Bild „Ein Lied für die Vermissten“ nach Hause kam. Die Grossmutter, die die Wahrheit in Bilder und Geschichten verpackt, verpackt die Wahrheit auch für ihren Enkel. Die Wahrheit um Amins Eltern, um Amins Grossvater, ihren Mann, so wie sich in dem Land zwischen den Fronten alles hinter dem Schweigen zu verbergen scheint.

„Schon ein Sandkorn genügt, um eine grosse Geschichte daraus zu machen.“

Amin lernt, dass nichts von Dauer ist, weder die Liebe noch die Freundschaft, weder der Moment grösstmöglicher Nähe noch das Gefühl von abgrundtiefer Verlassenheit, weder Sicherheit noch Geborgenheit. Er begibt sich auf die Suche, die Suche nach seiner Wahrheit, seiner Geschichte, den verlorenen Momenten, die das Glück versprachen. Pierre Jawarans Schreiben widerspiegelt genau dieses Suchen. Sei es die Suche nach Gerüchen, Augenblicken, Erinnerungen, sei es jene nach dem, was Herkunft ebenso ausmacht wie Zukunft. Pierre Jarawan beschränkt sich aber nicht nur auf die Suchreise eines jungen Mannes. Sein Roman ist die Geschichte eines Landes, eines Sehnsuchtsorts, eine Kampfschrift gegen das Vergessen, Verschweigen und Verdrängen.

© Pierre Jarawan

Interview mit Pierre Jarawan

Irgendwo im ersten Teil Ihres neuen Romans heisst es „Das alte Schiff Beirut. Das Prinzip, das es über Wasser hält, heisst Verdrängung.“ Gilt dieses Prinzip nicht für jedes Schiff, wenn es nicht in den Stürmen untergehen will? Würde dieses Prinzip nicht für jedes Land, jede Stadt, jeden Menschen gelten, müssten wir nicht längst das Steuer herumreissen, was wir auch nach einer Pandemie nicht tun werden?

Ganz sicher ist Verdrängung immer der erste Schritt, bevor es überhaupt eine Form der Aufarbeitung gibt oder geben kann. Verdrängung ist nicht per se negativ, sie kann auch heilsam sein. Und ganz sicher gilt das für alle Länder und Gesellschaftsformen, in denen es Konflikte gab, die eine bestehende Ordnung aufgelöst haben. Ein Schiff kann sich das Prinzip der Verdrängung nicht aussuchen, es ist ein physikalisches Gesetz, so wie sie in Gesellschaften sicher etwas Normales ist, das erstmal passiert. Allerdings darf man Verdrängung und das aktive Verhindern von Aufarbeitung nicht gleichsetzen. Die Figur, die den Satz äussert, bezieht beide Seiten mit ein. Beirut funktioniert, weil verdrängt wird, im Stadtbild, in der Gesellschaft – aber die Frage der Vermissten bspw. wird nicht nur verdrängt, sie wird in ihrer Aufarbeitung mit politischen Mitteln verhindert. 

Wir sollten hier auch nicht zwei unterschiedliche Ebenen vermengen, indem wir die Auswirkungen einer Pandemie mit denen eines Bürgerkriegs vergleichen, zumal wir im ersten Fall diese Auswirkungen noch nicht kennen.

© Pierre Jarawan

Sie selbst sind ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Aber sie wollen nicht bloss ver- und bezaubern. Sie transportieren. Was steht auf ihrer Fahne ganz oben auf ihrem Mast?

Auch die echten Hakawati, die traditionellen Geschichtenerzähler, wollten nie nur verzaubern oder unterhalten. Ihre Geschichten beinhalteten immer auch eine Art Moral und Aussage über die Gesellschaft. Es ist in meinem Fall nicht so, dass ich programmatisch schreibe, also mit wehender Fahne an den Schreibtisch trete, um eine bestimmte Botschaft loszuwerden. Wenn jemand meine Romane liest, und sie einfach nur spannend findet, und sich gut unterhalten fühlt, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung. Im Fall von „Ein Lied für die Vermissten“ war es mir allerdings tatsächlich ein Anliegen, das Thema durch das Erzählen vor dem Verschwinden zu bewahren, denn genau dieses Verschwindenlassen durch Schweigen passiert – der Roman versucht, dem etwas entgegenzusetzen.

© Pierre Jarawan

„Ein Lied für die Vermissten“ erzählt von Beziehungen, Freundschaften, von der Liebe. Sei es die tiefe und gleichsam verletzliche Beziehung Amins zu seiner Grossmutter, die Freundschaft zu Jafar, oder die Liebe zu Zarah oder Soraya. Die Nähe scheint immer flüchtig, instabil. So wie der Frieden im Nahen Osten. Ist jeder/jede letztlich schmerzvoll auf sich selbst zurückgeworfen?

Das ist schwer zu verallgemeinern. Denn in den Gesellschaften des Nahen Ostens spielt das Individuum gar keine so grosse Rolle. Es geht fast immer um eine Gemeinschaft, sei es die Familie, oder eine Art Glaubensgemeinschaft, und dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein ist vielleicht eher ein Abgrenzen, das man gegenüber anderen vollzieht. Aber es stimmt schon, Amin erkennt am Ende des Romans, dass sich sein Leben – wie die Region – in einem immer wiederkehrenden Kreislauf abzuspielen scheint, aus Verlust und Wiederfinden, aus Rätselhaftigkeit und Erkenntnis, und so wieder von vorn …

© Pierre Jarawan

Amins Mutter malte. Ihr Mutter, Amis Grossmutter, bei der er aufwuchs genauso. Sie malen auch, wenn nicht mit Pinsel, dann sicher mit Sprache. Findet da manchmal ein Kampf statt zwischen dem Sprachmaler und dem der Historie verpflichteten Erzähler?

Ich empfinde es nicht so. Die Historie ist die Grundlage, die diese Geschichten ermöglicht. Sie wirbelt die Figuren durcheinander, zwingt sie zu unterschiedlichen Handlungen, aber sie bleibt im Hintergrund. Sie ist immer nur das auslösende Ereignis, das etwas in Gang setzt, mit dem die Figuren sich auseinandersetzen müssen. Insofern betrachte ich Historie eher als etwas sehr Fruchtbares für mein Schreiben. Als eine Art Katalysator oder – um in Ihrem Bild zu bleiben – als Leinwand oder Grundierung, auf das dann die Sprache gemalt werden kann.

© Pierre Jarawan

Bleibt der Arabische Frühling ein Frühling, dessen Blühten verdorren oder erfrieren? Wie sehr blutet das libanesische Herz? Ist das der Grund, warum sich ihr Schrieben in ihren ersten zwei Romanen ganz um die Geschichte des Libanons dreht? 

Das ist leider unmöglich pauschal zu beantworten, weil die Revolutionen in den Arabischen Ländern unterschiedliche Ausgangspunkte, Voraussetzungen und Verläufe hatten. Ich habe mich immer an dem Begriff gestört, schon 2011, weil er einerseits zu romantisch ist, angesichts der zahlreichen Menschen, die beim Kampf um grundlegende Menschenrechte ihre Leben verloren haben, andererseits, weil er eine zeitliche Begrenzung suggeriert, die schon damals irreführend war. 

Ich habe den Arabischen Frühling als Endpunkt für den Roman gewählt, weil ich mit diesem Moment der Hoffnung aufhören wollte, der damals zweifellos bestand, und nur aus heutiger Perspektive sind wir in der Lage, diese Hoffnung als tragisches Missverständnis zu entlarven. Und im Bezug auf den Libanon bedeutet 2011 eine Umkehrung von etwas Grundlegendem. Nachdem jahrzehntelang Libanesen in das sichere Syrien fliehen mussten, kehrt sich das plötzlich um, eine alte Ordnung wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Es ist nicht so, dass mein libanesisches Herz blutet, auch wenn ich natürlich eine Enttäuschung angesichts unterschiedlicher Punkte verspüre – die Perspektivlosigkeit für die Jugend, der Unwille, die Vergangenheit aufzuarbeiten, aber ich würde nicht sagen, dass das der Grund ist, weshalb die Historie in beiden Romanen eine grosse Rolle spielt – und ich würde sogar widersprechen darin, dass sie sich „ganz um die Geschichte des Libanons drehen“ – da beide Bücher sich für mich um andere Fragen viel zentraler drehen, nämlich um die Leerstellen, die dort entstehen, wo es eben kein Sprechen über Geschichte gibt. Wie oben gesagt: Für mich ist die Historie eher ein Katalysator, um etwas Kleineres im Grösseren zu erzählen, und das Miterzählen von Geschichte erlaubt es, den Lesern Zusammenhänge vor Augen zu führen, die dieses Kleine erklärbar machen.

© Marvin Ruppert

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern den Libanon wegen des Bürgerkriegs verlassen hatten. Im Alter von drei Jahren kam er nach Deutschland. 2012 wurde er internationaler deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. 2013 nahm er an der Weltmeisterschaft in Paris teil. Sein Romandebüt «Am Ende bleiben die Zedern» erschien 2016. Der Roman wurde als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt. Pierre Jarawan lebt in München.

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Helena Adler «Die Infantin trägt den Scheitel links», Jung und Jung, Gastbeitrag «Konzepte»

Die Österreicherin Helena Adler beherrscht die Kunst der Übertreibung wie weiland der Grossmeister des Grants, Thomas Bernhard. Sie verwandelt eines seiner Lieblingsthemen, die Verkommenheit des Landlebens, in ein Sprachkunstwerk zwischen katholischer Klagelitanei und brachialem Punksong.

Wutrede aus der „Misthaufenresidenz“
Gastrezension von Christian Lorenz Müller

Biobauernhöfe haben ein gutes Image. Anstelle von Gülle und Kunstdünger lässt krümeliger Mist das Gras und das Getreide spriessen; den Kühen wird nicht zwei Mal am Tag ein Protein-Burger aus brasilianischem Soja vorgesetzt, sondern gesundes Vollkorn-Heu von der artenreichen Wiese hinter dem Haus. Die ländliche Idylle ist in den Köpfen der Stadtbevölkerung längst wieder komplett – auch in Salzburg. Dort zerschmetterte in den 1970er Jahren Franz Innerhofer das Bild vom beschaulich-friedlichen Landleben. Der Bergbauernsohn war vom eigenen Vater über Jahre hinweg als Arbeitssklave missbraucht worden; seine stark autobiographisch geprägten Romane zeichnen nach, wie er sich unter grössten Mühen einen Weg aus einer sprach- und fühllosen Familie bahnt, wie er zum Schriftsteller wird, und, von der literarischen Welt tief enttäuscht, schliesslich wieder verstummt. 

Nun hat ein anderes Bauernkind aus Salzburg einen Roman über das Aufwachsen auf dem Land vorgelegt. Helena Adler, Jahrgang 1983, stammt von einem biologisch bewirtschafteten Betrieb, der hoffentlich nicht in allem das Vorbild für den Hof abgegeben hat, den sie beschreibt. Allein schon die Figuren in ihrem provokanten Text sind allesamt zum Fürchten: Zuvorderst das „wilde Vatertier“, das zwar „lieb zu seinen Kindern“ ist, ansonsten aber „alle anderen auffrisst.“ Kurz vor Weihnachten fährt dieses Vieh mit seinem Nachwuchs in die nahe Stadt, kauft auf dem Christkindlmarkt Halbedelsteine, an deren Heilkraft es glaubt, und pöbelt ein paar Minuten später im Dom gegen die katholische Kirche. Die Mutter hingegen, eine Person von „abgründiger Fürstlichkeit“, füllt die Opferstöcke der Gotteshäuser mit einem Geld, das die Familie nicht hat. So überschuldet ist das Anwesen, dass erst ein Blitzeinschlag Erleichterung bringt: Der Stall brennt ab und die Versicherung zahlt. Der Vater hat wieder die Mittel für seine Ausflüge in einschlägige Spelunken und Hurenhäuser, von denen er manchmal erst nach Tagen übel zugerichtet zurückkommt. Und dann gibt es noch die Grosseltern und die Urgrosseltern, und es gibt die älteren Schwestern, Zwillinge, die sich „ihr Erbgut, ihr Hirn und die Jausenbrote“ teilen. Dass sie die Ich-Erzählerin einmal in die Selchkammer einsperren und ihr weismachen, sie werde bald „ganz schwarz“ aussehen „wie der alte Speck“, gehört noch zu den minderen Gemeinheiten, die sie ihr im Lauf der Jahre antun. 

„Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?“

Es geht also denkbar derb und direkt zu in Adlers Roman. Dementsprechend ist auch die Sprache, sie packt sofort zu, sie zerrt die LeserInnen hinein in eine Welt, in der sich gegen das Beherrschtwerden nur wehren kann, wer kräftige Fäuste hat oder eine – wie man in Salzburg sagt – g‘schnappige Goschen. Die Hände der Erzählerin sind baybyweich wie Pfoten, also bleibt ihr nichts anderes übrig, als Widerworte zu geben. Wohl auch deswegen gerät „Die Infantin trägt den Scheitel links“ über weite Strecken zu einer kunstvollen Wut- und Verteidigungsrede, die immer wieder überrascht, verblüfft und verstört. Adler schwingt sich auf ihre Sprache wie auf einen Traktor, sie tritt das Gaspedal durch und brettert sicher durch schwieriges, literarisch eigentlich längst abgeschriebenes Gelände: Durch das sanft sich dahinhügelnde Katholische zum Beispiel, durch das Bitten und Beten und Psalmodieren; durch tiefe Wälder voller Jäger- und Wildererdramen und einmal sogar über die rauen, kalten Hochebenen körperlicher Arbeit, in der ein knapper Realismus herrscht.

Allerdings geht es fast immer mit Höllenradau dahin, was meistens Vergnügen macht, nach den ersten furiosen Kapiteln aber auch enerviert. Etwas vom Gas zu gehen oder den Traktor auch einmal im Leerlauf vor sich hinbullern zu lassen, hätte vor allen Dingen den Figuren gutgetan. Nur selten stolpern sie nicht schrill und überzeichnet durch die Seiten, nur selten gelangen sie kurz zu sich selbst, ehe wieder Vollgas gegeben wird und der thrashige Traktorritt weitergeht. Was steht hinter dem brutalen Gehabe des Vaters, hinter der Herrschsucht der Urgrossmutter, den Bosheiten der Zwillinge? Ist all die brachial inszenierte Wut, sind die Häme, die Verachtung der Hauptfigur vielleicht nur Fassade? Erst gegen Ende des Romans, als der Hof verkauft und die Kühe von ihrem Erzfeind, dem Fleischwolf gefressen worden sind, bringt die Autorin das erste Mal die Familiengeschichte ins Spiel, versucht, so etwas wie ein Innenleben ihrer Figuren zu rekonstruieren: 

„Er erzählt von der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Idealisiert den Vater, der mit dem Auto im Suff einen Offizier getötet hat und dafür ins Gefängnis musste, als er, mein Vater, gerade sechs Jahre alt war.“

Derartige Sätze tragen nicht wirklich dazu bei, die Bestien vom Bauernhof nachträglich zu Menschen zu machen. Dass über ihre verschütteten Ängste, ihre unterdrückten Sehnsüchte kaum etwas zu erahnen ist, unterscheidet „Die Infantin trägt den Scheitel links“ grundlegend von Debütromanen zum gleichen Thema, zum Beispiel von Reinhard Kaiser-Mühleckers „Der lange Gang über die Stationen“ oder von Franz Innerhofers „Schöne Tage“. Trotzdem wird klar, dass das Grosswerden auf einer „Misthaufenresidenz“ über die Jahrzehnte nicht eben leichter geworden ist. Auch das Aufkommen der Biolandwirtschaft hat daran nichts geändert.

© Eva-Maria Mrazek

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Diese Rezension ist eine Kooperation zwischen der Literaturzeitschrift «Konzepte» und literaturblatt.ch!

Die Konzepte erscheinen einmal jährlich und versammeln auf bis zu 180 Seiten Texte arrivierter sowie erstklassiger junger Autorinnen und Autoren. Lyrik und Prosa, Essays, Hörspiele und Rezensionen. In jeder Ausgabe werden Arbeiten von bildenden Künstlern oder Fotografen präsentiert.

Werke von bereits etablierten Autorinnen und Autoren stehen neben bislang unbekannten Stimmen. Damit ermöglichen die Konzepte den Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Ebenen und weisen den Weg für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „Jung“ bezieht sich hier weniger auf das Alter, sondern vielmehr auf das „zu festigende Standbein“ neuer Autorinnen und Autoren.

Seit nun schon dreissig Jahren erweisen sich die Konzepte als „Entdeckerquelle“ für schriftstellerische Debüts. Viele der hier erstmals vorgestellten Autorinnen und Autoren sind aus der zeitgenössischen Literaturszene inzwischen nicht mehr wegzudenken. Die Konzepte begleiteten den Weg zahlreicher wichtiger literarischer Stimmen, so z.B. Tanja Dückers, Joachim Zelter, Jan Wagner, Kurt Drawert, Ulrike Draesner, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Marion Poschmann, Björn Kuhligk. Mit den jüngsten Ausgaben der Konzepte zeigt sich verstärkt das Interesse bekannter Dichter, neue Werke in der Zeitschrift vorzustellen, so z.B.  Günter Herburger, Jürgen Brôcan oder José F.A. Oliver.

Die Chefredaktion hatte von 1999 bis 2003 Markus Orths inne. 2003 übergab er die redaktionelle Verantwortung an die Lyrikerin Christine Langer (Findelgesichter, Jazz in den Wolken, Verlag Klöpfer & Meyer). Seit 2015 wird sie von Christian Lorenz Müller (Wilde Jagd, Roman, Hoffmann und Campe) unterstützt.

Hier bestellen Sie die einmal jährlich erscheinende Literatur-Zeitschrift Konzepte.

Beitragsbild © evatrifft.com

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese

In Zeiten globaler Katastrophen, ob virus- oder klimabedingt, verliert sich der Fokus auf die kleinen Katastrophen, die für Betroffene ein ganzes Leben nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Regula Portillo schrieb mit „Andersland“ einen Roman über das Auseinanderbrechen von Familien und wie sehr eine andere Epidemie, die in den letzten drei Jahrzehnten über 30 Millionen Tote forderte, das Leben nicht nur der Direktbetroffenen zerreissen kann.

Pascal lernt in Mexiko Lucía kennen. Lucía wird schwanger, will das Kind in ihrer Not aber nicht zur Welt bringen. Pascal setzt sich durch, das Mädchen Matilda kommt zur Welt und Pascal nimmt es mit in die Schweiz. Keine einfache Aufgabe für einen alleinerziehenden Vater. Aber Tobias, sein Bruder und dessen Lebenspartner Michael unterstützen Tobias und Matilda wächst in den ersten sieben Jahren wohlbehütet in der Fürsorge der beiden Brüder auf.

Bis Pascal an seinem Arbeitsort zusammensackt und ein Herzinfarkt Matilda zur Halbwaisen macht. Pascals Bruder Tobias setzt alles daran, dass Matilda bei ihm und Michael aufwachsen, in ihrer kleinen Welt bleiben kann. Aber Lucía in Mexiko erfährt vom Tod ihres einstigen Geliebten. Verschüttete Muttergefühle werden wach und Lucía setzt alles daran, dass Matilda bei ihr in Mexiko ein neues Zuhause findet, eine Familie, einen kleinen Bruder, einen sicheren Hafen.

„Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut“, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1984)

Aber auch Tobias setzt alles daran, dass das kleine, vaterlose Mädchen, das er in den ersten sieben Jahren wie eine eigene Tochter lieben lernte, das untrennbar in sein Leben gehört, bei ihm und Michael bleiben kann. Aber weil in den 90ern die Angst vor AIDS grassiert und man dem schwulen Paar den amtlichen Segen verweigert, gemeinsam das Kind aufziehen zu dürfen, fliegt Matilda mit der fremden Mutter nach Mexiko, in eine fremde Familie, ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Zurück bleiben gebrochene Herzen. Jenes von Matilda, das den Schmerz wie einen Kloss mit sich durch ihr Leben trägt und jenen von Tobias, dem nicht nur eine liebgewordenene Nichte entrissen wurde, sondern dem man amtlich das Recht verweigerte, das Sorgerecht für die Tochter seines toten Bruders zu erkämpfen. 

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, 30.90 CHF, ISBN 978-3-906907-30-7

Regula Portillo beschreibt in ihrem zweiten Roman die Auswirkungen dessen, was die Entwurzelung der kleinen Matilda in den Leben in Mexiko und der Schweiz auslöst. Lucía versucht alles, um dem Mädchen ein gutes Zuhause zu schenken. Ihr Mann Fabio behandelt das Mädchen ebenso herzlich wie die Grosseltern. Und doch fällt Matilda der Start im neuen Leben schwer. Der Knoten bleibt, entwirrt sich nie, zieht sich im Mädchen phasenweise nur noch heftiger zusammen, vor allem Jahre später, während der Pubertät und noch später, als die erwachsen gewordene Matilda selbst spürt, dass ihr in Beziehungen die Nähe schnell beengend wird.
Gleichzeitig schliesst sich die offene Wunde, die der Abschied von Matilda hinterliess, bei Tobias nie. Tobias stürzt sich in den Kampf, sein politisches Engagement für die Rechte Homosexueller, nicht zuletzt jenes, selbst Familie sein zu dürfen. In den 90ern, als in der Gesellschaft die kollektive Angst vor AIDS grassierte, galt jede Berührung mit Menschen dieser Risikogruppe als Bedrohung. Schwule standen unter Generalverdacht, Träger einer hochansteckenden Krankheit zu sein. So konnte auch ein siebenjähriges Mädchen unmöglich bei einem schwulen Paar aufwachsen.

Unter den wenigen Dingen, die Matilda in ihr neues Leben in Mexiko mitnimmt, ist ein rotes Büchlein, in das Pascal, ihr Vater, kleine Episoden wie in einem Tagebuch hineinschrieb. Ein Büchlein, das ihr verschlossen bleibt, weil sie in den Jahren nach ihrem Neubeginn auf der andern Seite des Ozeans die Sprache ihrer Kindheit vergisst. Nur ein paar wenige Fotos bleiben, auch wenn die damit verbundenen Erinnerungen immer blasser werden.

Regula Portillo erzählt ganz behutsam. Sie trennt nicht auf, ordnet nicht in Gut und Böse. Lucías Leben nimmt seine Richtung nicht, weil Lucía die Richtung wählt, sondern weil man sie stösst und drängt, zwingt und weitgehend alleine lässt. Genauso das Leben von Matilda, das Leben von Tobias, ihrem Onkel in der Schweiz. Bleibt die Frage, ob man es schafft, den Knoten zu lösen, den Kloss freizulegen. „Andersland“ ist ein Roman über das verlorene Glück.

Interview mit Regula Portillo:

Ganz am Schluss des Buches steht unten auf einer sonst leeren Seite: „Vielen Dank Veronica, dass ich mich von deiner Geschichte inspirieren lassen durfte.“ Können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Romans erzählen?

Veronica steht ganz am Anfang dieser Geschichte. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide acht Jahre alt waren. Kurz davor war ihr alleinerziehender Vater gestorben. Sie wohnte deshalb vorübergehend bei einer Pflegefamilie im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und wartete darauf, von ihrer Mutter, die im Ausland lebte, abgeholt zu werden. Eigentlich wäre Veronica lieber in der Schweiz bei ihrem Onkel geblieben. Diese Ausgangslage hat mich nie ganz losgelassen – wobei ich nicht weiss, ob die Ausgangslage, so wie ich sie schildere, überhaupt der Realität entspricht. Ich war ja noch sehr klein damals. Veronica und ich haben uns daraufhin aus den Augen verloren; erst vor ein paar Jahren haben wir den Kontakt zueinander wieder aufnehmen können. Ich habe ihr von meinen Erinnerungen an sie erzählt und von Matilda, der Protagonistin in Andersland. Ihre beiden Lebenswege sind natürlich sehr unterschiedlich verlaufen und doch gibt es einige Überschneidungen. Der Verlust der deutschen Sprache zum Beispiel.

Matilda verliert ihren Vater mit sieben. Ihr Onkel tröstet sie: „Er wartet anderswo auf uns.“ Verständlich. Im jenseitigen „Andersland“. Aber Ihr Roman erzählt auch vom diesseitigen „Andersland“, einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause, wo alles anders ist. Auch vom „Andersland“ der Erinnerungen, die sich wandeln, die verblassen, die verklären. Ein schöner Titel! Wie sind Sie auf ihn gestossen?

Ursprünglich wollte ich Tobias und Michael miteinander über den fragwürdigen Ausdruck «vom anderen Ufer sein» reden lassen. Doch unabhängig davon, dass die Szene so nicht im Buch erscheint, war mir Ufer vom Bild her zu schmal, es sollte grösser, weiter sein – ein Stück Land, das auch positiv besetzt, erobert und gestaltet werden kann. Daraus entstand «Andersland». Es gefällt mir, dass Matilda, die so sehr zwischen die Welten fällt und zeitenweise verloren ist, diesen Ort schon als Kind zu ihrem eigenen erklärt. Obwohl damit auch viel Schmerzhaftes verbunden ist. Es ist ein Ort, an dem ihre verschiedenen Welten, Erinnerungen und Lieblingsmenschen Platz finden und keinen Normen entsprechen müssen.

AIDS schien vor dreissig Jahren apokalyptische Ausmasse anzunehmen. Heute scheint man sich mit dieser Epidemie arrangiert zu haben, obwohl in Deutschland beispielsweise noch immer jährlich 600 Menschen an den Folgen der Immunsystemzerstörung sterben. Wollten Sie eine globale Katastrophe in Erinnerung rufen?

@ Ayse Yavas

Ja. Aids hat sehr viel Leid angerichtet und ist auf jeden Fall ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten darf. In der Generation meiner Eltern kennen die allermeisten jemanden, der daran gestorben ist. Problematisch war ja nicht nur die Krankheit an sich, sondern auch die Stigmatisierung, die damit verbunden war – bzw. bis heute ist. Lange Zeit war von «Sex-Seuche» oder «Schwulenkrankheit» die Rede. Positiv war, dass Schwulenverbände und die staatlichen Gesundheitsbehörden früh zusammenspannten, um die beispiellose Aufklärungs- und Präventionskampagne «STOP AIDS» zu lancieren. Ich glaube nicht, dass jemals eine andere Kampagne so viele Menschen erreicht und geprägt hat. Dadurch hat eine Annäherung stattgefunden, die gesellschaftlich sehr bedeutend ist. Es ist auch dieses Momentum, das ich festhalten wollte: Wie selbst die schlimmste Katastrophe eine Chance bietet.

Matilda wird im Moment ihrer „Umsiedlung“ nie nach ihrer Meinung gefragt, jedenfalls nicht von den Entscheidungsträgern. Sie wird wie ein Gegenstand nach Mexiko verfrachtet und in ein neues Leben hineingestellt, abgestellt. „Zum Wohle des Kindes“ wird zum Wohl ausgewählter Erwachsener, um dem Gesetz zu genügen. Ein ewiges Dilemma? Nehmen wir Kinder zu wenig ernst?

Ein Dilemma, ja. Nach dem Tod von Matildas Vater gibt es zwei Entscheidungen, bzw. Verfügungen, in die Matilda nicht miteinbezogen wird. Zuerst entscheidet das Jugendamt, dass Tobias aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht für Matilda sorgen darf. Für Matilda, aber insbesondere für Tobias ist das ungeheuerlich. Matildas Wunsch, bei Tobias leben zu dürfen, hätte unbedingt berücksichtigt werden müssen. Weniger eindeutig ist es danach, als Matilda von ihrer Mutter nach Mexiko geholt wird. In den meisten Fällen spricht vieles dafür, dass das Kind nach dem Tod eines Elternteils beim anderen Elternteil leben kann. Auch bei Matilda. Zumal sich Lucía ja auch sehr ernsthaft bemüht, Matilda eine liebevolle Mutter zu sein. Lucías Fehler ist, dass sie Matildas Vergangenheit keinen Platz einräumt.

Ob Kinder generell zu wenig ernst genommen werden, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass sich auf dieser Ebene schon auch viel verändert hat und die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern – auch in Extremsituationen – stärker gewichtet werden als früher. In der Regel haben Kinder innerhalb der Familien heute mehr Mitspracherecht als zu Zeiten, in denen meine Eltern und Grosseltern Kinder gewesen sind.

Lucía leidet ein Leben lang, Matilda genauso, Tobias ihr Onkel auch. Einziges Mittel gegen dieses Leiden ist die Versöhnung. Nicht zuletzt die Versöhnung mit sich selbst. Und Versöhnung funktioniert nur über die Sprache, über das Sprechen. Das tägliche Brot aller TherapeutInnen. Millionen leiden unter dem Zwang der Menschheit, alles in die zwei Schubladen „weiblich“ und „männlich“ zu spalten. Versöhnen wir uns tatsächlich oder öffnen sich mit jeder Versöhnung nur neue Türen zu dunklen Räumen?

Versöhnung hat auch mit Verständnis zu tun; dem Willen und der Möglichkeit, sich in die Schuhe des Anderen hineinzuversetzen. Es ist zum Beispiel leicht, die eigenen Eltern zu kritisieren – bis man selber Kinder hat und merkt, was es bedeutet, vollumfänglich für einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein. Die eigenen Themen und Abgründe lösen sich durchs Elternsein ja nicht einfach auf.

Ich denke, Versöhnung und Akzeptanz liegen nah beieinander. Habe ich eine Situation akzeptiert, werde dann aber aufs Neue mit ihr konfrontiert, können da durchaus wieder Türen zu dunklen Räumen aufgehen. Habe ich mich aber wirklich mit mir, der Situation, einem anderen Menschen oder dem, was passiert ist, versöhnt, bin ich davon befreit – so hoffe ich es zumindest.

Vieles wäre einfacher, wenn wir uns von unseren starren Geschlechter-, Rollen- und Familienbildern verabschieden könnten. Warum sollte beispielsweise Tobias nicht für ein Kind sorgen dürfen? Dass er es kann, hat er ja längst bewiesen. Oder warum ist die Wahrnehmung eine ganz andere, wenn sich eine Frau gegen ein Kind ausspricht als wenn ein Mann dasselbe tut? Sich von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich unserer Rollen, die wir selber ja auch verinnerlicht haben, zu befreien, ist keine einfache Sache. 

Regula Portillo, geboren 1979, wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg und Buch- und Medienpraxis an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebte und arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihr Schaffen hat sie Förder­preise und Werkbeiträge von Stadt und Kanton Bern und dem Kuratorium für Kultur­förderung des Kantons Solothurn erhalten. 2017 ist ihr ­erster Roman «Schwirrflug»­ erschienen. Seit 2018 lebt sie mit ihrer Familie in Bern und ­arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

Webseite der Autorin

Beitragsfoto © Ayse Yavas

Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition.fotoTAPETA

Ein monumentales Werk, das einmal gelesen im Bücherregal nicht nur wegen seiner Ausmasse eine Sonderstellung einnehmen wird! Bernt Spiegel hält der Welt einen Spiegel vor, den Spiegel der Geschichte. In seinem 900seitigen literarischen Schwergewicht erzählt er mit Leichtigkeit und beeindruckender Detailkenntnis das durch die Geschichte gepeitschte Leben zweier Kinderfreunde von den späten Zwanzigerjahren bis nach dem zweiten Weltkrieg. Ein unvergleichliches Epos, dessen Nachhall lange mitschwingt!

Noch ein Roman über den aufkommenden Faschismus im Deutschland der Dreissigerjahre bis zum zerstörerischen Ende des Tausendjährigen Reiches? Ja! Noch ein 900seitiger Schmöker, der sich ohne Krampfgefühle in der Handmuskulatur in Rückenlage nicht lesen lässt? Wenn er gut geschrieben ist, warum nicht! Noch einer, der sich mit einem Romandebüt an einen grossen, schwergewichtigen Stoff wagt? Unbedingt, vor allem, wenn der Autor mit 93 zum Newcomer wird!

Als ich das Buch aus dem Paket schälte, glaubte ich nicht, dass ich es lesen würde. Dann juckte mich die Tatsache, dass ein ehemaliger Professor der Psychologie ein derart gewichtiges Debüt veröffentlicht, in einem Verlag, der sich mir bisher entzog. Ich gab ihm 50 Seiten, später noch 50 dazu. Und nun habe ich den blauen Ziegel gelesen, bin beeindruckt und begeistert, nicht nur weil mich Thema und Geschichte fesselte, der Autor fast biblisches Alter hat, sondern weil der Mann einen Roman geschrieben hat, der den Strahl seines Lichts genau dorthin richtet, wo das kollektive Gedächtnis immer mehr mit Absicht vergessen will.

Viktor Zaberer und Ludwig Herkommer kommen fast zur gleichen Zeit unter dem gleichen Dach zur Welt. Kurz nach dem ersten Weltkrieg. Viktor, Sohn eines einflussreichen Industriellen, kurz nach seiner Geburt von der Mutter verlassen, Ludwig, Sohn von Herkommer, dem Chauffeur des Industriellen Zaberer. Sie sind Milchbrüder, beide, weil sie wie Brüder aufwachsen, wie Zwillingsbrüder, auch wenn Ludwig von Beginn weg der Mutigere der beiden ist, unerschrocken und ungerührt, sobald es darauf ankommt und Viktor dafür nachdenklicher und langsamer. Eine Konstellation, die sie in der Schule „unbesiegbar“ werden lässt, erst recht, als sich zu den beiden Bienchen, Sabine Strauss, gesellt, ein bisschen älter, aber mit keiner Zelle eine von den Zicken in der Schule. Die drei werden zur Bande, schwören sich „Bruderschaft“.

Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition Fototapeta, 2020, 850 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-940524-85-0

Doch mit der grassierenden Wirtschaftskrise, dem aufkommenden Nationalsozialismus und dem immer lauter werdenden Antisemitismus findet die gemeinsame Freundschaft ein jähes Ende, weil Viktor zuerst ins Internat wechselt, später zu studieren beginnt und wegzieht, Ludwig sich den Verlockungen einer Festanstellung bei der SA ergibt und die Jüdin Bienchen die Karriere einer Geigerin beginnt. Die Biographien driften auseinander, obwohl sie immer wieder aneinander erinnert werden und sich ihre Wege, zufällig oder auch nicht, kreuzen.

Noch später, die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, wird Viktor ein gefragter Testpilot, zuerst bei den Segelfliegern, später auch in kriegswichtigen Fliegern, bleibt aber Zivilist, obwohl es für ihn, je deutlicher der Krieg und dann auch Tatsache wird, immer schwieriger wird, sich hinter seinen pazifistischen Absichten zu verstecken. Er liebt das Fliegen, die Fliegerei, die Flugzeuge, nicht die Kriegsmaschine.
Ludwig, der sich wie kaum ein anderer durch seine Kaltblütigkeit auszeichnet, wird von der SS angeworben und entwickelt sich in der Nazimaschinerie zum Fachmann für besondere Verhörmethoden.
Bienchen allerdings gerät immer mehr in Bedrängnis, kann durch Glück einmal den Fängen der Nazischergen entwischen, landet aber schlussendlich in einem Nebenlager des KZs Mauthausen.

Bernt Spiegel spannt den Bogen von den späten Zwanzigern bis in die Monate nach dem Zusammenbruch und der Kapitulation Nazideutschlands. Er erzählt die Geschichten der drei Familien. Aber vor allem erzählt Bernd Spiegel von der sich langsam einschleichenden Macht einer Ideologie, die auf Misstrauen, Hass und Schuldzuweisung gründet. Einer Ideologie, die sich auch in der Gegenwart wieder auszubreiten droht und vergessen lassen will, dass jene Kräfte den Tod von vielen Millionen zu verantworten haben. Kein Fliegenschiss der Geschichte!

Bernd Spiegel erzählt erlebte Geschichte, ist Zeitzeuge. Und auch wenn der Schluss des Romans allzu moralisch sauber daherkommt, Dialoge zuweilen überladen wirken und nicht jede der 900 Seiten romantragend ist, wickelt mich der Autor in einen erstaunlichen Sog. Er fasziniert mich durch sein Wissen, seine Innenansicht, sein Fasziniertsein von Technik, Musik und menschlichen Schwächen, seine Lust, in die Tiefe einzutauchen und seinen langen Atem.

„Milchbrüder, beide“ ist ein Roman über das kollektive und individuelle Erblinden. Viktor folgt blind seiner Faszination für die Fliegerei, Ludwig blind jener von Macht und Ordnung, Bienchen der Musik. Sie alle bezahlen einen hohen Preis. Die einen mit Einsicht und Ernüchterung, die anderen erblinden bis tief in die Seele.
Bernt Spiegel bleibt ganz nah bei den Protagonisten. Die Geschichte, der Faschismus, die Macht der Geschehnisse, der Krieg, alles spiegelt sich in den Protagonisten des Romans. „Milchbrüder, beide“ belohnt mutige LeserInnen, nicht zuletzt mit der ewigen Frage, wo Naivität endet und Schuld beginnt.

Interview mit Bernt Spiegel:

In einer Mail an mich schrieben sie: Der Roman selbst stellt zwar keine historische Wirklichkeit dar, aber er ist gewissermassen nah „an der Wirklichkeit entlang“ geschrieben. Auch wenn ich ihren Roman nicht einfach in die Schublade der historischen Romane ablegen möchte, bezweifle ich den ersten Teil, denn der Roman strotzt vor Wirklichkeiten und der zweite Teil des Satzes ist in ihrem Fall, zu ihrem Roman überhaupt nicht notwendig, denn jede Seite lebt von der Unmittelbarkeit, von der Erfahrung. Was in anderen Romanen manchmal allzu sehr nach Recherche und Wissensbeweis riecht, ist in ihrem Roman Abbild unzähliger Erinnerungen. Ich nehme an, der Roman hätte gleich noch viel umfangreicher werden können.
Das war von mir etwas schlampig formuliert, dieses „keine historische Wirklichkeit“. Wenn ich so darüber nachdenke: Wohl kein einziges Ereignis, das ich geschildert habe, und kein einziges der zahllosen kleinen Geschichtchen und Vorfälle, die ich erzähle, hat sich wirklich ereignet. Und wenn da und dort vielleicht doch, dann hat es sich mindestens nicht so abgespielt, wie es von mir geschildert wird. Das Entscheidende nämlich ist: Diese ganzen Einzelereignisse dienen nur dazu, die einzelnen Charaktere, auch in ihrer Entwicklung, allmählich immer deutlicher werden zu lassen, und sie hatten (oder haben) im Ganzen nur die Aufgabe, die bedrückende Atmosphäre der schlimmen Jahre – auch in ihrer fortwährenden Veränderung – nicht einfach zu schildern (gewissermassen bloss zu behaupten), sondern sie für den Lesenden ganz unmittelbar spürbar und miterlebbar werden zu lassen. Das ist die „eigentliche historische Wirklichkeit“, die dieser Roman bietet. Aber das geht nur, wenn nicht nur aus der Sicht der Opfer bzw. der Betroffenen erzählt wird, sondern auch aus der Sicht der Täter! Und das wiederum setzt voraus, dass die Dialoge in ganz verschiedenen Stilen geschrieben werden müssen, damit diese schwierige Position, auch aus der Sicht der Täter zu berichten, wirksam wird. Es ist ein Unterschied, ob ein SA-Rüpel oder ein ranghoher SS-Führer mit Hochschulbildung spricht, ob ein hochrangiger Industrieller oder sein Fahrer spricht oder ob der Leser bei den Offizieren einer Widerstandsgruppe mit zuhören kann – da gibt es Dutzende von verschiedenen Sprachstilen. Manchmal wurde mir selber Angst, wenn ich eine dekuvierende Ansprache, die ein ranghoher SS-Offizier in engstem Kreis hält, meiner Frau vorgelesen habe. Aber das ist eben die eigentliche Wirklichkeit dieses Romans, aber es sind nicht die einzelnen Personen, die es so nicht gibt, und nicht die einzelnen Alltagsereignisse, die so nicht stattgefunden haben.

Sie sind Jahrgang 1926, ein aussergewöhnliches Alter für einen literarischen Erstling. Nichts an diesem Roman riecht nach Erstling. Verraten Sie etwas über die Entstehungsgeschichte ihres Romans, der mehr literarisches Vermächtnis zu sein scheint?
Ich habe mir sehr viel Zeit gelassen. Die Grundidee – die politische Verführung eines Einzelnen und eines ganzen Volkes – hatte ich Mitte der sechziger Jahre. Von da an habe ich systematisch Gedanken in einer Zettelkartei gesammelt (da finden sich sogar schon ausformulierte Szenen darin). Allmählich erreichten die kleinen schweizerischen „Biella-Ordner“, in denen meine Zettel untergebracht waren, nebeneinander gestellt schliesslich einen reichlichen Regal-Meter. Einige 1000 Zettel und viel unnützes Zeug natürlich mit darunter. Erst Ende der Neunzigerjahre – ich hatte allmählich mehr Zeit – begann ich zu sichten und zu ordnen und zugleich die Zeitgeschichte zu studieren. Erst so ca. 2007/2008 fing ich an zu schreiben, aber das war anfangs eher die „Konstruktion“ des Romans, nämlich das Zusammenspiel der verschiedenen Erzählstränge (die zum grossen Teil ja im Roman unsichtbar verlaufen und von denen dann nur da und dort mal ein Stück davon erzählt wird). Das ist ein nicht ungefährliches Vorgehen, weil es leicht zu Unmöglichkeiten kommen kann, und es funktionierte erst dann richtig, als ich die einzelnen Stränge in Form langer Papierbahnen nebeneinander an der Wand hängen hatte. Dieser übersichtliche „Fahrplan“ erwies sich als sehr nützlich – ich war in allen Zeitabschnitten des Romans „zuhause“ und konnte es mir leisten, gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Romans zu schreiben („gleichzeitig“ nicht im strengen Wortsinne gemeint).

Gemeinsame Feinde schweissen zusammen. Ein erfolgreiches Programm des Nationalsozialismus. Damals die Ungerechtigkeit des Versailler Friedensvertrags nach dem ersten Weltkrieg, später das Weltjudentum, heute das Fremde, die Flüchtlinge, seit je die Vermischung des reinen Deutschtums. Ihr Roman erzählt eigentlich von einer grossen Freundschaft. Einer Freundschaft, die in der Kinderstube beginnt und selbst durch die Wirren der Zeit nie ganz gelöscht wird. Liegt nicht in der Freundschaft ein völkerverbindendes, friedensstiftendes Prinzip?
Nun ja, es war eine grosse Freundschaft, auch eine lange währende, aber auch eine Freundschaft, die von Anfang an grossen Belastungen ausgesetzt war, die immer grösser wurden, je mehr sich die beiden auseinander entwickelten. Es war eine Freundschaft, die nicht auf einer mehr oder weniger innigen Zuneigung beruhte, sondern mindestens primär den beiden durch den Zwang der Milchbrüderschaft (und das Wissen darum) „von aussen“ aufgedrängt war.

Dass Freundschaften über die Grenzen hinweg einen hervorragenden Beitrag zur Völkerverständigung leisten können, steht für mich ausser Frage. Meine Mutter war Französin, sodass es stets vielfältige persönliche Verbindungen „nach drüben“ gab, was in der Nazizeit natürlich wieder zu Problemen anderer Art führte. Das Dorf, in dem ich heute wohne, unterhält schon seit den sechziger Jahren mit grossem Erfolg eine Partnerschaft zu Plougerneau, einem ebenso kleinen Nest in der Bretagne.

Ihre drei Hauptfiguren sind drei Archetypen; Viktor, der Zurückhaltende, Nachdenkende. Ludwig, der Intuitive, Drängende. Sabine, die sich Abgrenzende, Fokussierte, die Künstlerin. Anderes Personal ist zwar da, aber wirkt nur durch seinen Mangel, wie die fehlende Mutter von Viktor. Waren die Figuren ihres Romans von Beginn weg so deutlich? Drängten sich welche auf oder verabschiedeten sich ungewollt?
Ich hatte eigentlich nie Probleme, Ärger oder gar Streit mit meinen Figuren. Das verlief alles eher anstrengungslos. Auch in den schlimmsten Übeltäter konnte ich mich gut hineindenken, und wenn ich ihn sprechen liess, sprach ich in seiner Sprache. Fragte mich meine Frau, wie geht es weiter mit dem Soundso, dann antwortete ich nur: „Was weiss denn ich? Keine Ahnung, ich muss genau aufpassen und gut mitschreiben.“ Das ist freilich stark übertrieben, aber so ähnlich war es schon.

Ein ganzes Volk verfällt einem Wahn. Aber mit dem Ende des Krieges im Mai 1945 ist dieser Wahn nicht mit einem Mal ausgelöscht. Sie machen das in den letzten Kapiteln ihres Buches sehr deutlich. Wann wird aus purer Begeisterung alles schluckender Wahn?
Ich glaube, die Grenze zwischen Begeisterung und Wahn ist nicht zu ziehen. Schon eine eben erst aufkommende Begeisterung vermindert die Kritikbereitschaft (was in diesem frühen Phasen einer Entwicklung temporär durchaus von Vorteil sein kann).

Was Ludwig fehlt, ist Empathie. Wahrscheinlich ein Schlüsselwort, wenn es um Demokratie, Friedenssicherung, Stabilität und Freiheit geht. Was wünschen Sie nachfolgenden Generationen?
Eine sanfte Skepsis gegenüber allen Aufrufen gleich welcher Art. Sie fördert die Kritikfähigkeit und die Kritikbereitschaft und schützt vor einer der gefährlichsten Eigenschaften der Menschen, nämlich aufwiegelbar zu sein. Mit den sog. sozialen Medien erleben wir gegenwärtig genau das Gegenteil.

Bernt Spiegel, Jahrgang 1926, Psychologe und Verhaltensforscher. Professor an den Universitäten Mannheim, Saarbrücken und Göttingen. Gründete in den 50er Jahren das „Institut für Marktpsychologie“ in Mannheim. Auch Autor eines Bestsellers über das Motorradfahren. Bernt Spiegel lebt und arbeitet bei Heidelberg.

Beitragsfoto © Stefan Warter, Berlin

Julia Malik «Brauch Blau», FVA

Das Leben ein einziger Alptraum? Vom ersten bis fast zum letzten Satz ist „Brauch Blau“ eine Achterbahnfahrt ohne absehbares Ende. Eine Lektüre, die mich einnimmt und fesselt, die ungeschönt zeigt, wie feindlich das Leben sein kann, wie sehr man sich im Überlebenskampf an Dingen zu halten versucht, die einem mit sich in die Tiefe zu reissen drohen.

Sie wacht in einem Hotelzimmer auf, das sie im Moment des Aufwachens nicht zu kennen glaubt. Alles ist fremd, sogar ihr Körper, der nicht zu ihrem Denken passt. Nach und nach schaltet sich Erinnerung dazu, auch die an ihre Kinder, die bei ihr hätten sein müssen. Sie rafft die Kleider zusammen, taumelt aus dem Zimmer in eine Welt, die wie Kulisse wirkt, sucht ihre Kinder, ihre Wohnung, ihre Stimme, ihre Arbeit, ihre Geschichte, ihr Leben.

Alles im Leben der jungen Frau ist aus den Fugen geraten. Herbert, der Vater der beiden Kinder, hat sie sitzen gelassen, weil er ein besseres Leben gefunden hat, auf das er nicht verzichten will. Ihr fehlt Geld, denn das bisschen, das sie zuweilen mit ihrem Singen verdient, reicht längst nicht mehr, sie und die Kinder über die Runden zu bringen. Rechnungen bleiben liegen, sie klaut Lebensmittel im Supermarkt. Sie rennt von Vorsingen zu Vorsingen, von Absage zu Absage, als ob sich ihr alles verschliessen würde. Und wenn sie sich traut, ihrer Mutter anzurufen, schlägt ihr die Kälte ihrer Mutter noch einmal ins Gesicht.

Julia Malik «Brauch Blau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-627-00271-8

„Eingebettet in die Familie“ klingt idyllisch, suggeriert den Traum, den Wunsch, den man in jede Zelle eingebrannt mitbekam. Julia Malik erzählt, wie ein Traum zum Alptraum wird, wie man sich trotz allen Bemühens nicht aus den Fängen und Klauen von Familie lösen kann, nicht einmal für einen kurzen Moment des Blaumachend. Jedes noch so gut gemeinte Tun zieht einem nur noch tiefer in den dröhnenden Sog von Kindergeschrei, Forderungen, endlosen Diskussionen, Missverständnissen, immer weiter weg von sich selbst, dem was die junge Frau eigentlich tun will; eine gute Mutter sein, eine gute Sängerin sein, eine gute Liebende sein, ein guter Mensch sein.

Das rauschhafte Sein auf den Opernbühnen der Welt steht in krassem Kontrast zur unkontrollierbaren Welt, der Realität. Was sich nach den Proben und Aufführungen durch einen Joint, eine Tablette, ein bisschen Gras zudecken lässt, rächt sich als Mutter und Organisatorin eines Lebens, das ausser Kontrolle geraten ist. Der jungen Frau gelingt es nicht mehr, in ihrem Leben zu agieren, alles ist auf Reaktion reduziert. Selbst wenn sich auf ihrer verzweifelten Jobsuche eine Tür zu öffnen scheint, ein bisschen Perspektive möglich wird, wird ihr das Heft aus der Hand genommen, reduziert sich das Leben auf den Moment.

Manche mögen sich fragen, warum man sich einen solchen Tripp antun sollte. Julia Malik setzt mich in einen Tunnel, in eine geschlossene Rutsche, in der ich ohne mein Dazutun in die Tiefe sause. Sie zwingt mich, mich mit den Existenzen jener auseinandersetzen, die verzweifelt versuchen, das Leben in den Griff zu bekommen; Alleinerziehende, KünstlerInnen ohne fixes Einkommen, Sitzengelassene und Verlassene, nicht nur verlassen von Liebe und Sicherheit, sondern verlassen von all den Vorstellungen und Träumen, die man einst zu Maximen machte.
Weil Julia Malik ein Sperrfeuer der Sprache zündet! Sie protokolliert nicht, schildert nicht von Aussen, sondern von Innen, gemischt mit all den Bildern, die von objektiven Wahrnehmungen abgekoppelt scheinen. So nah, dass mir manches beinah unerträglich, das Gelesene beinah zum eigenen Schmerz wird.
„Brauch Blau“ ist die Metamorphose einer jungen Mutter und Künstlerin, der es erst im letzten Satz gelingt, das Alte abzustreifen.

Beeindruckend!

© Lottermann and Fuentes

Interview mit Julia Malik

Das Irgendwie-Leben einer alleinerziehenden, zweifachen Mutter zwischen drohender Armut, Rausch und Kater, permanentem Überlebenskampf, totaler Isolierung und ekstatischer Sehnsucht hat nichts gemein mit plakativem Familienidyll, trautem Heim und wohliger Sicherheit. Und doch ist das Schicksal der jungen Frau das jener Frauen, die in ihrer Not fast ersticken, niemals die Kraft hätten, ihre Stimme zu erheben. Ist ihr Roman Manifest?
Haha, ich hoffe doch, dass mein Roman so ein Manifest ist der Menschen, die durch eine Familie nicht in eine Idylle versinken, sondern sich dem stellen, was die Widersprüche zwischen der eigenen Hingabe, emotional und künstlerisch, körperlich natürlich auch, und dem Funktionieren als Elternteil herausfordern. Ich habe das oft erlebt, selbst, und beobachtet, bei anderen, ausserdem ist man ja dadurch, dass man nach einer Geburt auf einmal die nächste Generation ist, nicht plötzlich erwachsen, man will doch trotzdem wild sein können, ist doch immer noch getrieben, auch von irrationalen Sehnsüchten und natürlich dem normalen Chaos aus Familie, Zuhören, Einkaufen, Steuererklärungen, Geldverdienen, Kindergeburtstagen, Geburtstagen der Freundinnen, länger arbeiten und wenn die Kinder dann auf einmal eine neue Regenhose brauchen, gerät alles ins Kippen. Das geht nämlich ganz schnell, dass ein Chaos hereinbricht, wenn die Summe aller einzelnen Aufgaben für einen alleine viel zu viel ist. Und was passiert da in einem drin? Das hat mich interessiert. 

Ihr Roman ist eine sprachliche und dramatische Achterbahn, einmal realistisch klar, dann traumhaft verzerrt. Er reisst mich als Leser auf der ersten Seite schon in die Urangst aller Mütter, die Kinder zu verlieren und endet mit einer Art Häutung, als wärs der Beginn einer Metamorphose. Fürchteten Sie sich vor dem totalen Absturz? Wäre der nicht zumutbar gewesen?
Ja, natürlich fürchte ich mich vor dem totalen Absturz, alles andere wäre ja eine Verharmlosung, ein totaler Absturz ist genau das. Ich fürchte mich davor, aber es hat mich mehr interessiert, den Kampf und ihre Versuche und auch ihre Möglichkeiten kennenzulernen, als das Elend zu erforschen. Meine Hauptfigur lässt sich, obwohl sie dort schon ist, nicht hineinfallen, sie will einfach nicht aufgeben und sie beansprucht auch ihr Glück. Sie lernt, sich etwas zu nehmen, ein Verhalten, das ich oft an Männern beobachtet habe und sehr interessant fand. Das ist wohl auch mein innerer Tarantino gewesen, der sagte, jetzt macht sie das aber einfach, jetzt marschiert sie einfach rein und endet das Sozialdrama. Sie bleibt ja trotzdem einer psychologischen Logik verpflichtet, sie zwingt nur all ihre Willensstärke zusammen und ändert ihre Gedankenmuster, ihre Handlungen und ihren Weg und das ist ja durchaus möglich.

Die Protagonistin ist Sängerin ohne festes Engagement, hofft auf eine Rolle auf einer grossen Bühne und ist zu fast allem bereit, eine Rolle zu ergattern. Die Welt draussen in der Realität und die Welt der Illusionen auf der Bühne? Die Welten scheinen diametral auseinander zu liegen. Das ganze Spektrum zwischen Sein und Schein?
Ja, die Welten liegen diametral auseinander und sind beide wahr, genau wie ihr Leben diametral verschieden ist, das, was sie als Frau ausmacht, was sie zum Leben braucht, wie eine Pflanze und das, was ihr Alltag von ihr verlangt.

Sie will eine Rolle in „Norma“ einer tragischen Oper von Vincnzo Bellini. Eine Priesterin, die zwei heimliche Kinder versteckt hält, hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Status. Sie selbst sind erfolgreiche Schauspielerin, Mutter, Musikerin und Schriftstellerin. Priesterin und Dienerin?
Ja, ich glaube, ich fürchte, ich hoffe, ich bin auch Priesterin und Dienerin. Ich diene demütig meinem Schreiben und meinen Kindern und natürlich meinen Leidenschaften; der Musik und dem Spielen – und die eine oder andere Messe passiert dabei wohl auch. Manchmal vergesse ich mich und nehme ich mich ungeheuer ernst. Dann wird mir etwas heilig, wahrscheinlich eher aus Versehen … und dann gibt es Entscheidungen, die radikal und schmerzhaft sind, von der auch die Norma erzählt, die man aushalten muss, was eigentlich auch nach der Musik von Bellini verlangt. 

„Brauch Blau“, sagt der kleine Sohn, als er eine rote Serviette vorgesetzt bekommt. „Brauch Blau“, sagt die Mutter, weil sie nicht das gewünschte Leben vorgesetzt bekommt. Eine Frau, die die Enge nicht mehr erträgt. Ist Muttersein nicht die einzige Rolle, die man nie ablegen kann?
Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich kann man sogar das Muttersein ablegen, wenn man das will. Es gibt ja Menschen, mehr Männer, aber sicher auch Frauen, die ihre Kinder verlassen, sie verlassen können. Für mich ist das definitiv nicht möglich, ich will das auf keinen Fall, ich möchte meine Kinder erleben. Aber in Gedanken passiert das natürlich schon, momentweise, das ist ja das Spannende in der Kunst, dass man sich etwas Anderem komplett hingibt und sein Leben vergisst. Wie schön ist es dann für mich, wieder aufzutauchen und Waffeln zu backen und mit meinen Kindern Lego zu spielen.

© Julia Malik

Julia Malik, 1976 in Berlin geboren, ging für das Schauspielstudium an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Anschliessend folgten Engagements an verschiedenen Theatern, unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Hannover und am Théâtre National du Luxembourg. Sie dreht Film- und Fernsehproduktionen, arbeitet an dem Kinofilm «LASVEGAS» und spielt Geige in der Berliner Band «Hands Up – Excitement!». «Brauch Blau» ist ihr erster Roman.

Hands Up – Experiment! You’re next successful experience – Tour Teaser 2018

Julia Malik: Selbstbehauptung einer Frau / Interview bei Geistesblüten

Über Eva und Lilith in „Schwestern wie Tag und Nacht“ von Margrit Schriber

Natürlich könnte man Margrit Schribers Roman «Schwestern wie Tag und Nacht» vordergründig als literarischen Kriminalroman lesen. Oder als eine Erzählung über Geschwisterrivalitäten, wie sie häufig in Familien mit mehr als einem Kind vorkommen. Man könnte es ebenso als eine Geschichte über Neid und Niedertracht, von Glück und Pech im Leben, von Aufstieg und Untergangverstehen.

© Evelina Jecker Lambreva

Gasttext von Evelina Jecker Lambreva

Alice Zaugg, eine der angesehensten Frauen im Dorf, ist verschwunden. Martha, die «niemand für ihre Schwester hielt», hatte sie zuletzt gesehen – an ihrem traditionellen «Schwesternverwöhntag». Nun wird Martha auf dem Polizeiposten befragt. Frau Irene – oder die «Haselmaus», wie Martha sie bezeichnet – ermittelt. Martha erzählt von Schwesternliebe und Abhängigkeit, von Bewunderung und Eifersucht, von Schwestern wie Tag und Nacht. Die selbstbewusste, ehrgeizige Alice ist verstrickt in Dorfintrigen, ihre Lebensgeschichte und ihr Aufstieg sind das Abbild einer Gesellschaft, die Erfolg über Menschlichkeit stellt. Doch weshalb ist Alice verschwunden? Margrit Schriber erzählt die spannungsgeladene Beziehungsgeschichte von zwei ungleichen Schwestern, von Liebe und Loyalität, aber auch von Enttäuschung und Verachtung. Raffiniert verpackt sie den Stoff in die Erzählform eines Kriminalromans, der in zwischenmenschlichen Abgründen nach der Antwort auf die Frage sucht: Was ist mit Alice Zaugg geschehen?
(Klappentextzu «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibro Verlag Luzern, 2015)

Der Roman ist so vielschichtig wie die in der Erde verborgene Zwiebel einer prächtigen Pflanze, deren herrliche Blüten wir bewundern dürfen. Zwischen den Zeilen geht es jedoch um viel mehr als bloss um die meisterhafte Darstellung einer komplizierten Hass-Liebe-Beziehung zwischen zwei Schwestern, die eine zielstrebig und erfolgreich, während die andere ein passiv-abhängi-ges Schattendasein im Schutz der Powerfrau führt.
Eigentlich, so könnte man sagen, geht es jedoch im Roman gar nicht um zwei Frauen. Es geht um DIE FRAU und zwei sich ewig widersprechende und widerstreitende Seiten der weiblichen Seele, die eine – Abbildung von Lilith, die andere – von Eva, literarisch eingebettet in die Figuren der beiden Schwestern Martha und Alice.

Was haben Lilith und Eva mit Alice und Marta zu tun?
Nach dem deutschen Psychiater Hans-Joachim Maaz, stellen die mythischen Frauenfiguren Lilith und Eva zwei gegensätzliche Grundprinzipien des Frau- seins dar, zwei sich feindselig gegenüberstehende Formen von Weiblichkeit, die unversöhnlich im Kampf miteinander verstrickt sind und mehr oder weniger in jeder Frau verborgen leben. In seinem Buch «Der Lilith Komplex» (2005, DTV) erläutert Maaz, dass nach der jüdischen Überlieferung Gott Lilith als die erste Frau Adams schuf, in gleicher Weise wie er Adam entstehen liess. Lilith aber verweigerte, sich Adam unterzuordnen, sie war nicht zur Selbstunterwerfung bereit, stellte den Anspruch auf Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, waren doch nach ihrer Auffassung beide, Adam und sie, aus derselben Erde gemacht und ins Leben gerufen worden. Ihre Haltung verunsicherte und verärgerte Adam, es kam oft zu Streit. Schliesslich flüchtete Lilith vor Adam und aus dem Paradies. Sie wurde von Gott bitter bestraft und verurteilt, ein Dasein als wollüstige Verführerin und Kindsmörderin an den elendesten Orten der Welt zu führen. Aus Erbarmen mit Adam, der nicht allein leben wollte, schuf Gott dann Eva – aus Adams Rippe. Eva war für Gehorsam und Unterwerfung vorgesehen. Als weibliche Grundeinstellung und Lebensprinzip symbolisiert Eva also Passivität, Aufopferungshaltung, Unterordnung, Gehorsam, Fürsorge, Selbstaufgabe, Keuschheit, Treue, Mütterlichkeit. Lilith hingegen zeichnet sich aus durch Aktivität, Initiative, Eigenständigkeit, Lustbetontheit, Leidenschaft, Verführungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Mutterschaft und Mütterlichkeit lehnt sie ab.

Margrit Schriber «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibri, 2014, 220 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-905927-45-0

Diese zwei Seiten der weiblichen Seele werden in «Schwestern wie Tag und Nacht» beeindruckend und gekonnt dargestellt: Marta verkörpert in der Tat die Anteile von Eva, Alice diese von Lilith. Marta ist anspruchslos, selbstunsicher und kleinmütig. Sie kocht, putzt, geht einkaufen, kümmert sich fleissig und still um den Haushalt, um das Wohlbefinden ihrer Schwester, sie ist für die peanuts im gemeinsamen Leben zuständig. Alice, die «New Yorkerin», «die Frau von Format» ist ehrgeizig, mutig, eigensinnig, zielstrebig, lust- und genussbetont, sie weiss, was sie will, wie ihren Willen durchzusetzen, und sie ist eine erfolgreiche Unternehmerin.

Beide weibliche Seiten bilden in der Art eine Einheit, dass Lebenslust und Zurückhaltung, Leidenschaft und Gehemmtheit, Ehrgeiz und Unsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstzweifel, Enthusiasmus und Befangenheit – obwohl sie alle miteinander in einem Dauerkonflikt stehen – dennoch Hand in Hand durchs Leben gehen, um es exemplarisch zu meistern. Und sie schaffen es, denn sie fordern sich gegenseitig heraus, erfahren Herausforderung als Motor einer jeden Fortentwicklung.

In Margrit Schribers Roman haben wir es mit einem Weiblichkeitsmodell zu tun, bei dem sich zwei innere Frauenbilder gleichzeitig bekämpfen und ergänzen. Ein Weiblichkeitsmodell also, bei dem das traditionelle Frauenrollenbild gleichzeitig ein neues Rollenverständnis der Frau stützt, hält, quasinährt, mütterlich umsorgt und anregt. Das moderne Frauenbild jedoch möchte sich, je erfolgreicher es in seiner Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit wird, desto schneller von den Altlasten der Tradition befreien und jegliche herkömmlichenweiblichen Verhaltensweisen abstreifen.

So organisiert Alice gegen Ende des Romans hinter dem Rücken von Marta stillschweigend deren Platzierung ins Asyl. Logisch wäre nun zu erwarten, dass Marta ihr Schicksal gehorsam hinnimmt und ins Asyl umzieht, dass Lilith Eva schliesslich definitiv besiegt und in die Vergessenheit versenkt hat. Doch es passiert genau das Umgekehrte. Eva tötet Lilith – und dies ist das grosse Rätsel des Romans: Was hat diese unerwartete Entwicklung zu bedeuten? Dass Tradition letztlich doch über allem steht und alles überlebt? Dass das mutige Überschreiten von Grenzen kein weibliches Privileg sein kann und deshalb nie unbestraft bleibt? Dass es Grenzen gibt, die sogar für Lilith gelten?

«Was ist mit Alice Zaugg geschehen?» So endet der Klappentext des Romans «Schwestern wie Tag und Nacht». Dieses paradoxe Schicksal der Frau, die gefangen in ihrem ewigen inneren Kampf zwischen Eva und Lilith sich ständig weiter entwickelt, um sich dann doch selbst zu limitieren, die unaufhörlich wächst, um sich anschliessend wieder ungeschehen zu machen, die fortlaufend siegt um sich letztendlich selbst zu zerstören, dieses typisch weibliche Phänomen wird vermutlich weiter ein Mysterium bleiben.

Mit «Schwestern wie Tag und Nacht» ist Margrit Schriber eine literarisch hervorragende und psychologisch äusserst präzise Sektion der weiblichen Seele gelungen, die die Autorin den Leserinnen und Lesern mit dichterischer Feder vor Augen führt.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Die vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matthes & Seitz

Heute vor 495 Jahren starb Thomas Müntzer vor den Toren der Stadt Mühlhausen, nachdem man ihn gefoltert und ganz offensichtlich gezwungen hatte, einen Abschiedsbrief zu verfassen, in dem er die Aufständischen zum Verzicht weiteren Blutvergiessens aufrief. Thomas Müntzer, ein zorniger Theologe, der nicht einsehen wollte, dass Armut hier, Reichtum dort gottgegebenes Programm sein sollte.

Wer kennt nicht Martin Luther – oder hat zumindest von ihm gehört oder gelesen. Wer kennt Thomas Müntzer? Wahrscheinlich kennt ihn nicht einmal Éric Vuillard. Denn abgesehen von seinen niedergeschriebenen Texten, den Briefen und Predigten des zornigen Theologen und Reformators weiss man im Gegensatz zu seinem eher sanftmütigen Glaubensbruders Luther nicht viel. Sicher ist, dass er durch seine Schriften und Predigten im 16. Jahrhundert den Zorn, die Wut der Armen und Rechtlosen zu entfachen wusste, dass das Feuer Aufstand und Krieg bedeutete, dass die Obrigkeit, Klerus und Patrizier, Adel und Würdenträger die Macht der Mächtigen gegen die Ohnmacht der Armen ausspielten und Thomas Müntzer am 27. Mai 1525, also vor genau 495 Jahren, Jahrhunderte vor Revolution und Aufklärung, im thüringischen Mühlhausen gefoltert, öffentlich enthauptet und sein Haupt aufgespiesst wurde.

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matther & Seitz, 2020, 64 Seiten, CHF 21.50, ISBN 978-3-95757-837-2

Zwischen 1452 und 1454 wurden in der Druckerwerkstatt von Johannes Gutenberg in Mainz die ersten Bibeln gedruckt. Innerhalb von drei Jahren 180 Bibeln, während in Klöstern Mönche in der gleichen Zeit jeweils eine einzige in für das Volk unverständlichem Latein abschrieben. „Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“ Einem modrigen Körper, der sich mit allerlei Rechtfertigungen und Behauptungen stramm am Leben hielt. Aber Thomas Müntzer genügt die deutsche Bibel nicht. Er predigt auch in deutscher Sprache und seine Kirchen füllen sich. „Warum war der Gott der Armen so merkwürdig auf Seiten der Reichen, immer mit den Reichen? Warum forderte er mit dem Mund derer, die alles genommen hatten, alles zu lassen?“ In jenen unruhigen Zeiten waren solche Gedanken Häresie, Grund genug, wie Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen zu landen (1415). Und nachdem Thomas Müntzer vor Erbprinzen, Vögten und Bürgermeistern den Satz „Man soll die gottlosen Regenten töten“ ausspricht, ist das Ende des Fürsprechers der Armen besiegelt.

Éric Vuillars Buch ist kein Roman, kein durch Fiktion aufgeblasenes Konstrukt. „Der Krieg der Armen“ hat nie aufgehört, setzt sich in Venezuela, bei den Obdachlosen in Kalifornien, den Flüchtenden an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland fort. Die Kraft dieses Buches liegt in seinem Konzentrat!

Man kann das Buch lesen wie ein historisches Sachbuch. Aber man kann dieses schmale Buch auch lesen wie eine Warnung an die Zukunft. Damals waren es Adel und Klerus, die sich in ihren „gottgewollten“ Privilegien sonnten, die Menschen durch Steuern, Frondienst, Leibeigenschaft und Sklaverei ausnützten. Heute sind es die Oligarchen, Wirtschaftsbosse und Finanzhaie, die sich hinter Argumentationen wie „Der Markt steht allen offen, man muss nur wollen (und können)“ verstecken, die sich vor jenen fürchten, die die scheinbar in Stein gemeisselten Privilegien in Frage stellen. Thomas Müntzer machte die Bibel zum Programm, jenes Buch, das nichts von seiner revolutionären Brisanz eingebüsst hat.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Rezension von «14. Juli» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Melania Avanzato

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt

Hans Joachim Schädlich beweist mit seiner Art des Schreibens, dass sich Literatur durchaus der Schlichtheit, dem (scheinbar) Einfachen verschreiben kann, um Grossartiges zu erzählen. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hauses und ihrer Bewohner. Wer im Laufe seines Lebens einmal ein Haus gebaut hat, weiss, wie sehr man dem Irrtum verfallen kann, man baue ein Stück Beständigkeit, vielleicht sogar Ewigkeit.

Ein zweiflügliges, schmiedeeisernes Tor, eine leicht geschwungene Auffahrt an einem Springbrunnen vorbei, im Erdgeschoss grosse Räume, Parkett und Stuck, ein Wintergarten, über dem Treppenpodest ins Obergeschoss ein grosses, hohes Bleiglasfenster, ein Turmzimmer. Die Gründerzeitvilla, von einer zu Reichtum gekommenen Familie 1890 gebaut, wird 1940, mitten im grossen Krieg das Zuhause der Familie Kramer. Hans und Elisabeth Kramer und ihre vier Kinder.

Als sie in die Villa einziehen, Vater Kramer längst eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, prosperiert das Tausendjährige Reich. Man richtet sich ein für eine glorreiche Zeit. Elisabeth Kramer, die jung gar nicht heiraten wollte und von einer sozialen Aufgabe irgendwo auf der Welt träumte, schob man in eine kaufmännische Lehre und in den sicheren Hafen der Ehe. Auch Hans hätte gerne studiert. Aber da der Vater Drogerien besass und Nachfolgesorgen, war schnell klar, in welche Richtung das Leben verlaufen würde, erst recht mit der Marschrichtung der Partei.

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt, 2020, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-498-06555-3

Hans ist kein strammer Nazi, seine Frau Elisabeth noch viel weniger. Aber man richtet sich mit und in den Umständen ein. Der Nationalsozialismus ist Naturgesetz, so wie das generelle Misstrauen, die Judenfeindlichkeit und der logisch scheinende Weg in einen Krieg. Den Kramers geht es schliesslich gut und man ist überzeugt, einer Herrenrasse anzugehören. Man ist erfolgreich, hält sich Gärtner, Kindermädchen, feiert Feste und pflegt Beziehungen zu Parteispitzen. Bis nach der Katastrophe von Stalingrad der Wind zu drehen beginnt, man vorsichtiger wird und vor allem Elisabeth den herannahenden Zusammenbruch erahnt.

Irgendwann reicht das Geld nicht mehr. Man verkauft die Villa, zieht sich ins Obergeschoss zurück. Die Amerikaner fahren mit ihren Jeeps im Ort ein. Es gibt Kaugummis und Zigaretten. Später fällt der Ort in die sowjetische Zone. Der Russe kommt, man muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, kann nur das Nötigste mitnehmen.

Hans Joachim Schädlich erzählt wahrscheinlich die Geschichte seiner Familie. Was am Roman des Schriftstellers begeistert, ist aber nicht einmal so sehr die Geschichte der Familie, die durch die Wirren der Zeit gespült wird. Es ist die Geschichte dieses Hauses, mit Selbstbewusstsein gebaut, für Grosses bestimmt. 2008 wird die Villa abgerissen, muss dem Fortschritt weichen. Kurz vor ihrem Abbruch, aus der Villa ist ein Pflegeheim geworden, besucht Elisabet zusammen mit ihrem Sohn noch einmal jenes Haus, das für wenige Jahre, in den Glanzzeiten des Tausendjährigen Reiches, zum Stammhaus einer aufstrebenden Familie hätte werden sollen.

Aber was am Roman Hans Joachim Schädlichs wirklich fasziniert, ist die Lakonie seiner Sprache, seines Erzählens. Er zeichnet mit einem spitzen Stift, malt nicht aus, verliert sich mit keinem Satz. Wo andere mit der grossen Kelle ans Werk gehen, bleibt Hans Joachim Schädlich beim Wesentlichen, hangelt sich am Gerüst durch die Zeit. Umso mehr steigen bei mir selbst die Bilder auf, füllen sich mit Farben, Stimmungen, sogar mit Gerüchen. Hans Joachim Schädlich ist eine Ikone!

Interview mit Hans Joachim Schädlich:

In „Die Villa“ ist die Protagonisten nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Villa in Reichenbach, erbaut in der Gründerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel besucht die greise gewordene Frau Kramer noch einmal die Villa, kurz bevor das Gemäuer weichen muss und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses über mehr als ein Jahrhundert bis in die Neuzeit. Häuser erzählen Geschichten, alte Häuser viele Geschichten. Sie sind die Bühne, die Kulisse, flüstern von Zeiten, die längst vorbei sind. Mauern suggerieren Beständigkeit, beinahe Ewigkeit, zumindest aus menschlicher Sicht. Rückt Geschichte mit fortschreitendem Alter in ein anderes Licht?
Geschichte offenbart sich mit fortschreitendem Alter immer klarer, zumindest aus meiner Sicht.

Kramers, die mitten im letzten Weltkrieg die letzten „grossbürgerlichen“ Bewohner dieser Villa waren, waren das, was die meisten im Tausendjährigen Reich waren; wenn nicht stramme Nazis, dann doch mindestens überzeugt davon, dass Parteizugehörigkeit unverzichtbar ist, erst recht als Unternehmer und Arbeitgeber. Damals die Partei, heute der Glaube an stetes Wirtschaftswachstum und Konformismus?
Es bedarf wohl der Kompetenz vom Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Historikern, um Ihre Frage zu erörtern.
Ich bemerke zumindest, dass man es damals und heute mit grundsätzlich verschiedenen Bedingungen zu tun hat. Damals herrschte die Nazidiktatur in Deutschland und seit den vierziger Jahren in fast ganz Europa. Heute gibt es in einem freien Europa gemeinsame, regulierende Behörden (EU).

Ihre Sprache ist glasklar, ihre Sprache Programm. Sie hat nichts Verschwenderisches, ihre Sätze mäandern nicht um ihrer selbst willen. Sie bauen mit ihren Sätzen keine dicken Mauern, keine tiefen Keller. Aber ein filigranes, fast durchscheinendes Gefüge, das in die Höhe strebt. Kurze Kapitel, jedes wie ein Bild. Sie erklären nicht, deuten und ergründen nie. Alles liegt bei mir, dem Leser. Was ist bei ihrem Schreiben oberste Maxime?
Ein poetisches Prinzip meiner Schreibarbeit besteht darin, Denkräume für die Phantasie des Lesers zu schaffen. Manche nennen das lakonischen Stil. Das Mittel des lakonischen Stils ist – informationstheoretisch gesprochen – die Reduktion redundanter Ausdruckselemente.
Ein anderes Prinzip ist bei historischen Stoffen die geschichtliche Präzision. Die umfangreichsten Recherchen habe ich wohl für meinen Roman „Tallhover“ betrieben. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte z.B. für das Kapitel über Lenins Reise im April 1917 aus der Schweiz über Deutschland, Schweden, Finnland nach Petrograd keine präzisen Daten ermittelt, dann hätten Leser, die das nachprüfen können, vielleicht gemeint, das Ganze stimme gar nicht. Diese Reise gewann aber welthistorische Bedeutung. Aus der historischen Präzision folgt die Glaubwürdigkeit des Textes.

So wie die Denkmalschutzbehörde am Schluss, kurz vor Abbruch der Villa „für die Nachwelt“ eine photogrammetrische Erfassung der Liegenschaft vornimmt, hält man bei der Beerdigung einen Nachruf am Sarg des Verstorbenen. Ein paar Eckdaten, ein paar Geschichten. Sie setzen dem Haus, den Menschen, die darin wohnten ein Denkmal, aber ohne mahnenden Finger: „Denk mal!“ Wo lag der Anfang ihres Buches auf dem man die Bezeichnung „Roman“ vergeblich sucht?
Der Anfang des Buches lag in dem Wunsch begründet, die Villa und ihre Bewohner – eine deutsche bürgerliche Familie in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in einer Kombination aus Fakten und Fiktion gleichnishaft zu verknüpfen, exemplarisch für Aufstieg und Niedergang.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe in letzter Zeit Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Juvacev hiess, für mich entdeckt. Er ist 1942, im Alter von 37 Jahren, in einem sowjetischen Gefängnis in Leningrad  verhungert. Seine Arbeiten wurden in der Sowjetunion erst in den Zeiten der Perestroika gedruckt. Peter Urban, der große Cechov-Übersetzer, hat als erster „Charms“ ins Deutsche übersetzt. Im Galiani Verlag ist von 2010 – 2011 eine vierbändige „Charms“-Ausgabe erschienen. 

© Jürgen Bauer

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Rezension von «Felix und Felka» von Hans Joachim Schädlich auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Jürgen Bauer