Delphine de Vigan «Die Kinder sind Könige», DuMont

Als Mélanie jung war, wäre sie am liebsten ein Star in einem der blühenden Big Brother Formate geworden. Aber man wollte sie nicht. Jahre später, zusammen mit ihren Kindern, wird sie begehrte Youtuberin mit Hunderttausenden Followern, beginnt mit einem sphärenhaften Flug ins scheinbare Glück. Bis zur Katastrophe. „Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan sticht mitten hinein.

Zugegeben, ein erstes Mal legte ich das Buch nach den ersten 30 Seiten weg. Ich hatte keine Lust, mich mit der Welt von YoutuberInnen und FollowerInnen zu beschäftigen, all dem hohlen Nachrennen um Sichtbarkeit, Anerkennung und medialer Präsenz. Vielleicht hatte ich keine Lust, weil mich das Thema als Schreiberling für meine Internetseite und Nutzer von digitalen Plattformen selber betrifft, weil es Zeiten gab, in denen ich sehr wohl mit Neugierde meine Klicks in den Statistiken meiner Webseiten „überprüfte“. Dann nahm ich das Buch doch noch einmal zur Hand, nicht zuletzt darum, weil ich Delphine de Vigan bisher stets schätzte für die Art, wie sie Themen der Zeit mit dem Personal ihrer Romane verknüpft, weil ihre Auseinandersetzung nie platt ist und sie mich stets zwingt, mich mit meiner eigenen Wahrnehmung auseinanderzusetzen. 

Eine junge Frau, gekränkt in ihrem Selbstwertgefühl, mit der Angst drohender Bedeutungslosigkeit, beginnt, ermuntert durch ihren Mann, der spürt, dass seiner Frau etwas fehlt, auf den Tummelplätzen von Social Media zu spielen. Erst ganz zaghaft. Aber sie merkt, wie gut ihr all die Zeichen auf dem Bildschirm tun, immer mehr und irgendwann auch mit ihren beiden Kindern. Mit Kimmy und Sammy. Was als Spass und Beschäftigung beginnt, wird mit der Zeit zu einem Geschäft, das jeden Tag bestimmt, sieben Tage in der Woche. Was sie zu Beginn nur aus der Sehnsucht nach Resonanz tat, wird durch Verträge mit der Freizeitindustrie zum lukrativen Unternehmen. So sehr, dass Bruno, Melanies Mann, seinen Posten im IT-Bereich aufgibt und sich nur noch im Hintergrund seines medial inszenierten Familienglücks engagiert. Melanie ist glücklich. Sie und ihre beiden Kinder repräsentieren das Glück. Das Leben ist ein grosses Spiel und ihre Familie die Gewinner.

Bis alles in sich zusammenbricht. Bis Sam zu seiner Mutter kommt und erklärt, Kim, seine kleine Schwester, sei verschwunden, beim Versteckspiel im Quartier nicht mehr aufgetaucht. Melanie, von sich selbst überzeugt, die Fürsorglichkeit in Person zu sein, macht sich auf die Suche nach ihrer kleinen Tochter, irgendwann die ganze Nachbarschaft, dann die Polizei. Aber das Mädchen finden sie nicht. Es bleibt verschwunden, spurlos.

Delphine de Vigan «Die Kinder sind Könige», DuMont, aus dem Französischen von Doris Heinemann, 2022, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-8321-8188-8

Zum Polizeiteam, das sich auf die Suche nach der kleinen Jimmy macht, gehört Clara. Eine stille, introvertierte Frau, die früh und schnell nacheinander ihre Eltern verloren hatte und sich nur mehr schwer in die Anhängigkeiten einer Beziehung traut. Claras Fähigkeiten, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden, ihre Empathie für die kleinen, unscheinbaren menschlichen Regungen, ihre Verbissenheit sich durch nichts abschütteln zu lassen, machen Clara zu einem eigentlichen Gegenpart zur haltlosen Verzweiflung der jungen Mutter Melanie. So sehr die eine den Boden unter den Füssen verliert, den klaren Blick und jede Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren, so sehr krallt sich Clara in den Fall des verschwundenen Mädchens. Bis es völlig überraschend auftaucht und klar wird, dass es nicht um Mord oder Erpressung geht, sondern eigentlich um einen blinden Rettungsversuch.

Klar erzählt Delphine de Vigan spannungsreich und clever vom Ausbeuten von Kindern im Netz, von einem Kriminalfall, der eine ganze Nation in Atem hält. Noch viel mehr erzählt die Autorin von Liebe, von instrumentalisierter Liebe, fehlender Liebe, der Sehnsucht nach Liebe. So blind die Sucht nach Publicity die Mutterliebe pervertieren kann, so blind macht Clara die Angst, verletzt zu werden. Delphine de Vigan seziert das Zuviel und Zuwenig, wie sehr die Angst der Liebe die Luft abschnüren kann.

Im letzten Teil des Romans, in nicht zu ferner Zukunft, die beiden Kinder sind erwachsen geworden, radikal von der Mutter emanzipiert, schnappt Melanie, die noch immer ihr ganzes Leben im Netz produziert und verkauft, die Meldung auf, dass ihre Tochter Jimmy sie vor Gericht verklagt.

Das Netz ist voller Bilder von Kindern. Wir wissen um die Untiefen des World Wide Web, tummeln uns aber in naiver Bedenkenlosigkeit in eben diesen Untiefen. Menschlicher Voyeurismus scheint keine Grenzen zu kennen. Ein Paradox in einer Zeit, in der alles nach Privatsphäre schreit, der Begriff der Menschenwürde inflationär verwendet wird. Delphine de Vigans Roman ist ein subtiler Griff in die eiternde Wunde einer Gesellschaft!

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman «Dankbarkeiten» (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier, arbeitete als Sprachlehrerin, als Übersetzerin im Generalsekretariat des EG-Ministerrats und übersetzt seit 1997 Literatur, u. a. von Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Theresa Révay, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.

Beitragsbild © Francesca Mantovani Editions Gallimard

Alex Capus «Susanna», Hanser

Alex Capus ist längst eine Institution. Mag sein, dass ihn der Erfolg seiner Bücher bei den einen suspekt macht. Vielleicht ist es die scheinbare Leichtigkeit seines Erzählens, vielleicht die Tatsache, dass in seiner Sprache die Lust und nicht der Kampf die Töne bestimmen. 

„Susanna“ ist Alex Capus nicht über den Weg gelaufen. Sie wurde ihm zugetragen bei einem der regelmässigen Treffen mit seinem Freund Patrick Tschan, mit dem sich Capus regelmässig zu Pizza und Wein trifft. Bei einer Lesung in St. Gallen erzählte Capus, dass es immer wieder vorkomme, dass ihm Geschichten zugetragen werden, von denen andere überzeugt sind, es verstecke sich eine Perle in der Schale. Dieses eine Mal aber blieb eine solche Geschichte hängen. Die Geschichte einer Frau, die aus dem starren Gefüge einer pietistischen Frömmigkeit ausbrechen musste, die schon im 19. Jahrhundert ihr Leben in ihre eigenen Hände nahm, die stets jene kleine Lücke zur Freiheit offen lassen wollte, die es braucht, um an Selbstbestimmung zu glauben. Die Geschichte einer Frau, die sich den meisten Konventionen ihrer Gegenwart widersetzte und die bis an die Ränder der damals bekannten Welt getragen wurde, genau dorthin, wo staatlich institutionalisierte Unmenschlichkeit einem ganzen Volk die Freiheit entriss, bis zur Begegnung mit dem grossen Häuptling Sitting Bull.

Vor ein paar Jahren flimmerte mit „Die Frau, die vorausgeht“ ein Film über Leinwände und Bildschirme, der die Geschichte einer Catherine Weldon erzählte, die 1889 ins Dakota-Territorium reiste, um dort den Lakota-Häuptling Sitting Bull zu treffen und zu malen, ein Film in romantisch verklärter Hollywoodmanier, der mehr ausklammert, als dass er erzählt. So wie es Sitting Bull gab, der nach dem Sieg der Indianer 1876 am Little Bighorn in Indianershows wie ein wildes Tier in der westlichen Welt vorgeführt und 1890 feige umgebracht wurde, so gab es auch jene Frau – Catherine Weldon, die als Susanna Faesch 1844 in Basel geboren wurde. Susanna Faeschs Mutter, die wie ihre Tochter jenen Stachel der Freiheitsliebe stets in sich trug, entfloh mit der Tochter der Enge einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Ehe und trat eine Reise ins Ungewisse, in jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite des Ozeans an. Dort heiratete sie erneut, begann eine leidlich erfolgreiche Karriere als Porträtmalerin, um wie Jahre zuvor ihre Mutter dereinst ihre Koffer zu packen, um erneut jene Reise ins Ungewisse anzutreten, zusammen mit ihrem Sohn und der Idee, dort im Westen des Kontinents jene Freiheit zu finden, nach der sie ein Leben lang suchte, für die sie sich ein Leben lang einsetzte.

Alex Capus «Susanna», Hanser, 2022, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-446-27396-2

Zu Beginn des Romans wird uns von der fatalen Begegnung der kleinen Susanna mit dem Wilden Mann erzählt, einer Kultfigur, die in einem Basler Brauch vom Schiff ans Ufer springt, wilde Tänze aufführt und durch die Stadt zieht. Susanna gerät in den Griff des Wilden Mannes und wehrt sich, in dem sie durch die Maske des Mannes mit dem Finger in sein Auge sticht. Ganz am Schluss des Romans findet die stets Suchende Sitting Bull, die Verkörperung des Wilden Mannes, eine Begegnung, die das Herz der Malerin ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Ein historischer Stoff, vielleicht sogar eine Korrektur jenes schmächtigen Films. Aber Alex Capus Intension war es nicht, historischen Stoff nachzuerzählen, schon gar nicht die Begegnung zwischen einer Basler Malerin und eines Sioux Häuptlings, der zur Ikone eines drangsalierten Volkes wurde. „Susanna“ ist ein vielschichtiges Porträt einer Frau und ihrer Zeit. Mit der Freiheit eines Schriftstellers hätte Alex Capus von der Härte eines pietistischen Elternhauses erzählen können, vom leidvollen Kampf einer Frau, die ihren Weg gehen will, von den Mühen einer Porträtmalerin in einem Amerika, das von den Wellen des Fortschritts und der Technisierung überspült wird, vom Freiheitsdrang einer Frau, die sich nicht beugen lassen will. All das schien Alex Capus nur nebensächlich zu interessieren. „Susanna“ ist das feinsinnige Porträt einer suchenden Frau in einer Zeit, in der Frauen auf beiden Seiten des Ozeans nur wenig Spielraum gegeben wurde.

Und „Susanna“ ist ein Fest des Erzählens. Vielleicht ist Alex Capus jüngster Roman einer seiner stärksten. Capus muss nichts mehr beweisen. Er kann es. Es ist schlicht ein Genuss, wenn er sich mit grossem sprachlichem Gestus in eine Szenerie hineingibt, wenn er Blicke offenbart, wenn durch sein Erzählen jene Weisheit spricht, die aus all den Begegnungen von Mensch zu Mensch, seien es auch jene in seiner Bar, die Vielfarbigkeit des Menschseins zeigen. Da wird eine Geschichte erzählt, eine gute Geschichte. Aber was mich viel mehr überzeugt, ist die Art seines Erzählens. Da schreibt einer, dem ein vielstimmiges Orchester zur Verfügung steht, dem ich mit Verzückung lausche, sei es nun im Stillen bei der Lektüre mit den cineastischen Bildern, die aufsteigen oder wenn der Schriftsteller in seiner unnachahmlichen Art hinter einem Stehtischchen steht und vor Publikum erzählt.

„Susanna“ ist Genuss pur.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, studierte in Basel Geschichte und Philosophie und lebt heute als freier Autor in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem viele weitere Bücher, Kurzgeschichten, Romane und Reportagen folgten. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller führt Alex Capus in Olten die Galicia-Bar, die längst zu einem überregionalen Kulturort wurde.

Beitragsbild © Beni Blaser

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Peter Henning «Bis du wieder gehst», Luchterhand

Was braucht es, um mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen? Wie kann man einer Mutter, die ohne ein Wort in ein bereitstehendes Taxi steigt und nicht mehr wiederkehrt, verzeihen? Damals als Vierjähriger oder im Angesicht des Todes als Erwachsener? Peter Henning schrieb mit biographischen Bildern einen bewegenden Roman über den Versuch des Verstehens.

Als die Mutter für lange Zeit aus seinem Leben verschwand, war Heinrich Kaplan vier. Eine Nachbarin fand den kleinen Jungen, der sich mit einer Decke und Spielsachen in der Badewanne verkrochen hatte, tags danach. Kaplan wuchs im Heim auf, eine Zeit bei seinen Grosseltern, wurde Antiquar, lernte Martha kennen und arrangierte sich mit einem Leben, das schlecht begonnen hatte. Zwar gab es dann und wann Berührungspunkte, aber da die Mutter in den letzten zehn Jahren geschwiegen hatte, spielten Gedanken an sie schon lange keine Rolle mehr. Umso überraschender der Anruf aus einem Krankenhaus: Seine Mutter war mit Herzstillstand auf dem Bahnhof zusammengebrochen und lag im Koma auf der Intensivstation. Man habe bei ihr seine Nummer gefunden und den Hinweis, bei einem Notfall nach ihm zu rufen.

Kaplan hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Die Tatsache, dass er mit Martha eine Frau gefunden hatte, die ihm fast alles bedeutete, schien ihn mit seiner Vergangenheit versöhnt zu haben. Eine Tatsache, die mit dem Telefonat zerbröselte, erst recht als er am Bett auf der Station stand, mit einer Frau konfrontiert, die nur noch schwaches Abbild davon war, was er an Erinnerungen mit sich getragen hatte. Kaplan entscheidet sich, sieben Tage lang zu bleiben, in der Wohnung seiner Mutter, das Gefiert einer Frau, die sich bereits aufgegeben hatte. Eine Wohnung ohne Spiegel.

Peter Henning «Bis du wieder gehst», Luchterhand, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87692-4

Peter Hennings zarter Roman widmet sich der Zersetzung jener Bilder, die wir uns automatisch machen, wenn uns schlüssige Informationen zu einem klaren Bild fehlen. Letztlich ist jedes Bild, das wir uns von jemandem zusammenschustern, ein Bild aus Versatzstücken. Aber wenn sich die Erinnerung mit Schmerz, mit Verwundungen koppelt, wenn man vieles an der eigenen Biographie an einer Vergangenheit entschuldigt, die Jahrzehnte im Halbdunkel stand, dann ist nicht verwunderlich, dass mit unfreiwilligen Konfrontationen Bilder auftauchen, die sich mit der fixen Kulisse eines Lebens nicht vertragen.

Nebst der ein Leben lang nagenden Frage, warum die Mutter ihn verlassen hatte, was passiert sein musste, dass jener Schritt für die junge Frau damals der einzig gangbare Ausweg sein konnte, tauchen mit einem Mal Menschen und Bilder auf, die Kaplan dazu zwingen, sich mit dem eigenen Leben, seinen Erinnerungen, seinen Erklärungen auseinanderzusetzen. Kaplan lernt den Nachbarn seiner Mutter kennen, eine alte Freundin seiner Mutter, die Dinge erzählt, die Kaplan erst verdauen muss – und Fetzen einer schrecklichen Kindheit, Erklärungen dafür, dass seine Mutter ein Leben lang nicht bloss auf der Flucht, sondern auf der glücklosen Suche nach Liebe war.

„Bis du wieder gehst“ erzählt vom langen Abschied, letztlich vom Versuch einer Versöhnung. Der Roman ist keine Abrechnung, viel mehr der Versuch einer Annäherung. Peter Henning erzählt behutsam. Sein Protagonist muss sein Leben neu ordnen, denn je tiefer er in das Leben seiner Mutter leuchtet, desto klarer wird, dass nicht nur er das Opfer war, sondern Opferrollen oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Er springt ins Wasser und rettet letztlich sich selbst.

Peter Henning, 1959 in Hanau geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller und Journalist in Köln. Seit 2015 unterrichtet er zudem als Lehrbeauftragter der Universität Köln Kreatives Schreiben. Seine literarische Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert. Zuletzt erschien sein Roman «Die Tüchtigen» im Luchterhand Literaturverlag.

Beitragsbild © Marie Rauch

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling

Jetzt, da Annie Ernaux den Nobelpreis erhielt, ist die Patina, die autofiktionales Schreiben für die einen angesetzt zu haben schien, mit einem Mal weggewischt. In „Schwindel“ schreibt sich Hélène Gestern aus dem Taumeln heraus, weil das Verlassen worden sein ein ganzes Leben in Schieflage brachte. „Schwindel“ macht schwindlig!

Das Buch ist klein und schmal, passt in eine Jackentasche. Ich lese es am See bei Wind und es ist, als ob die Frau auf dem Cover, die schräg im Wind zu stehen scheint, die Haare wie eine Fahne hinter sich trägt, die inmitten entwurzelten Grünzeugs steht, vor einer hohen grauen Mauer, jenen Wind, der bei mir allerhöchstens säuselt, um ein Vielfaches potenziert ertragen muss. Es ist, als ob das, was ich in meinem Leben immer wieder als Verlust von Liebe hinnehmen muss, in und an diesem Buch als Tragödie der Zerstörung wütet. 

Die allergrösste Tragödie des Buches ist nicht die Zerstörung der Liebe, sondern die Tatsache, dass sie unauslöschlich geblieben ist, dass die Erzählerin sie noch immer spürt, trotz aller erlebter Grausamkeiten und Erniedrigungen. Alles, wovon Hélène Gestern erzählt, hat eine riesige Wunde aufgerissen, die nicht heilen will, die die Erzählerin wie ein verstecktes Mahnmal mit sich herumtragen muss, das die Gegenwart abdunkelt, den Schmerz permanent spüren lässt.

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling, 2022, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 96 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-89561-344-9

„Schwindel“ ist kein Buch für LeserInnen mit ähnlich offenen Wunden. Nichts für all jene, die sitzengelassen und hingehalten wurden, denen mit falschen Versprechungen ein Teil ihres Lebens verhindert wurde, die Gefühle mit sich tragen, die sich kaum kontrollieren lassen. „Schwindel“ ist das Protokoll eines Verlusts. Wie man sehenden Auges über den Abgrund hinaus in die Tiefe stürzt. Wie alles mitgerissen wird. So wie die Liebe, die Leidenschaft alles über die Massen in Sphären der Glückseligkeit entrücken kann, so kann das Verlassenwerden, der Verlust von Hoffnung und Vertrauen alles in die Gegenrichtung reissen, bis, wie auf dem Cover des Buches, alles niedergerissen ist bis auf Erinnerungen zwischen Schmerz und Wehmut.

„Man kann sich erst von der emotionalen Erinnerung lösen, sie tilgen, den Hunden zum Frass vorwerfen, wenn man sich bis zum bitteren Ende mit ihr auseinandergesetzt hat.“

Hélène Gestern erzählt von einer Frau, die einen Mann kennen und lieben lernt. Was sich zu Beginn wie Reisen ins Glück anfühlt, wird zu einem jahrelangen Ringen, einem nicht enden wollenden Schmerz, einer Geschichte, in der alle Logik ausgehebelt zu sein scheint. Der Mann ist verheiratet, Vater und als Geschäftsmann viel unterwegs, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. So wie die Frau lange Wege auf sich nimmt, kreuz und quer durch ganz Europa fährt um einige Stunden mit jenem Mann zu verbringen, so schleift der Mann die Frau in einer Spur aus Zweifeln, Verletzungen, Missachtung und Narzissmus hinter sich her. Selbst nach einer ersten Trennung, die nur oberflächlich ist, kommt es fast ein Jahrzehnt später, die Gefühle der Frau für den Mann waren nie erloschen, zu einem umso leidenschaftlicheren Aufflammen der Hoffnung, der Liebe, der Leidenschaft, nur um kurze Zeit später alles endgültig in Trümmern zu sehen.

„Schwindel“ ist ein Buch des Schmerzes. Nie aber ein Buch des Selbstmitleids. Die Erzählerin scheint ein Buch lang eine Erklärung zu versuchen, eine Erklärung, um die sie kämpft und ringt. „Schwindel“ ist ein Versuch der Einordnung, weil das, was mit ihr geschah und geschieht, letztlich unerklärbar bleibt. Es ist, als ob diese Stimme mir gegenüber sitzt, ihre Hände auf die meinigen legt, um mir zu bedeuten, bitte nur zuzuhören – und erzählt.
Liebe ist ein Gefühl, ein Zustand, der sich uns entziehen kann. Die Erzählerin ist nicht geheilt, die Wunde noch immer da, selbst die Liebe noch. Und alles korrespondiert, geht mit einer solch intensiven Sprache einher, dass mich die Lektüre schwindlig macht.

Ich schiebe das Buch ins Regal mit dem Gefühl, an etwas ganz Besonderem teilgenommen zu haben.

Hélène Gestern wurde 1971 geboren, ist Schriftstellerin und lehrt an der Universität von Lorraine Literatur. Sie befasst sich intensiv mit der Geschichte der Fotografie und den Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. Ihre Bücher erscheinen in vielen verschiedenen Sprachen, ihr Roman «Der Duft des Waldes» wurde von Patricia Klobusiczky und Brigitte Grosse ins Deutsche übersetzt und war ein grosser Erfolg. Gestern lebt in Paris und Nancy.

Patricia Klobusiczky, 1968 in Berlin geboren, hat in Düsseldorf Literarisches Übersetzen studiert und ist seit mehr als 25 Jahren in der Branche tätig. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, Autoren der klassischen Moderne wie Jean Prévost oder Henri-Pierre Roché oder Zeitgenössisches, beispielsweise Romane von Marie Darrieussecq, William Boyd oder Petina Gappah

Beitragsbild © Philippe Matsas

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», Bilger

Vor 200 Jahren und mehr gab es viele Gründe, warum man sich gezwungen sah, seiner Heimat, der Schweiz den Rücken zu kehren und auszuwandern. Nicht immer waren es wirtschaftliche Gründe. So wie bei Eugènie und Frederick, die ihr Glück auf der Krim zu finden hofften.

„Kretainismus“ war vor 200 Jahren der Sammeltopf für all jene geistigen und körperlichen Behinderungen und Missbildungen, die man damals infolge Jodmangels und fehlender Hygiene nicht in den Griff bekam. Der Patriziersohn Frederick Zen Zaenen, der in den 80ern des 18. Jahrhunderts im Wallis zur Welt kommt, leidet an dieser Krankheit, ist von schwächlicher Konstitution und hat einen Kropf, ein grosses Geschwulst am Hals. Damals war diese Krankheit nicht unüblich. Das Glück von Frederick Zen Zaenen aber war, dass er einer wohlhabenden und einflussreichen Familie entstammte, die ihn nicht einfach dahinsiechen liess, sondern den werdenden Mann nach Leukerbad zur Kur schickte und ihm dort eine Magd, Fräulein Eugènie, zur Seite stellte.

Eugènie und Frederick verlieben sich. Frederick weiss, welches Glück ihm mit dem Bauernmädchen widerfährt, muss aber hinnehmen, dass ihn seine Familie ächtet und verstösst, als sie erfährt, dass Frederick und Eugènie zur Familie werden. Obwohl Frederick an der Seite seines gestrengen Vaters in dem im Rhonetal grassierenden Krieg zwischen Napoleon ergebenen Truppen und dem katholischen Oberwallis zieht, ist der Bruch in der Familie irreparabel. Fredericks Schicksal wird zu einer ersten Reise, denn es gibt nur zwei Dinge, die ihm zu einem Zuhause werden können, Eugènie mit den Kindern und die Musik. Aber weder die Familie noch die Musik werden zu einem sicheren Hafen. Nicht zuletzt darum, weil Eugènie alles andere als eine dienstbeflissene und ergebene Magd ist und obwohl von niederem Stand alles daran setzt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie lässt sich in Yverdon zur Hebamme ausbilden, zieht mit ihrem Kind in die Fremde und lernt dort nicht nur das Handwerk der Geburtshelferin, sondern die Freiheiten einer sich von den kirchlichen Zwängen emanzipierten Gesellschaft. Weil Eugènie zurück im Wallis sich nicht von ihren aufmüpfigen, antiklerikalen Ideen distanziert, sieht sich die noch junge Familie gezwungen der Enge ihres Heimatkantons den Rücken zu kehren. Sie lassen sich von den Versprechungen einer Kolonie auf der Krim anwerben und eine zweite Reise beginnt.

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Bilger, 124 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03762-102-8

Frederick findet in seiner neuen Heimat gar eine Orgel. Aber das so leidenschaftlich begonnene Glück beginnt zu schwinden. Nicht nur die Orgel, die er im Hafen einer Krimstadt günstig erstehen konnte, bringt er kaum zum Klingen, auch seine Liebe zu Eugènie, die nun Evgenia heisst, verliert an Farbe und Kraft. Und als ihm Eugènie, die im zaristischen Gesundheitswesen schnell Karriere macht, unterbreitet, dass sie ins ferne Petersburg zu ziehen gedenkt und Frederick ahnt, dass es nicht nur ihr Handwerk ist, dass sie in die Ferne zieht, beginnt sein Stern zu sinken, während der Ihrige zusammen mit ihrem Sohn in für damalige Verhältnisse schwindelerregende Höhen steigt. Eugènie wird Hebamme der Zarenfamilie, Othmar, Eugènie und Fredericks Sohn ein erfolgreicher Arzt. Während Frederick sein Leben an einem Strick beendet, reüssiert Eugènie in der Fremde und schüttelt alles ab, was sie an ihre eigene Herkunft erinnert.

Raymond Vouillamoz’ Debüt ist realistische Fiktion. Feminismus ist keine Erfindung der Neuzeit. Es gab sie immer, die Frauen, die nicht für Gesetz nahmen, was ihnen Tradition und Patriarchat vorsetzten. Auch die Tatsache, dass es lebensgefährlich sein kann, für Gleichberechtigung einzustehen, hat sich nicht wirklich verbessert. Während sich selbst Europa, die westliche Welt noch immer schwer tut, aus einem Geschlechterdenken herauszutreten, werden anderorts Frauen von bärtigen Männern wie Vieh behandelt. Trotz Fiktion ist dieser Roman ein Stück erfrischende Realität, auch wenn das, was von Frederick übrig bleibt, an einem starken Ast einer Linde baumeln muss.

Raymond Vouillamoz wurde 1941 in Martigny im Kanton Wallis geboren. Nach dem Studium wurde er Journalist und Filmkritiker in Neuenburg. 1966 machte er ein Regiepraktikum bei Claude Goretta im TSR und schloss seine Ausbildung mit zwei Kurzfilmen ab. Seit 1970 drehte er zahlreiche Reportage, adaptierte Theaterstücke fürs Fernsehen und drehte Fernsehfilme. 1980 wurde er Chefproduzent für Fernsehfilme, 1990 Programmdirektor bei France 3. 1993, wieder in der Schweiz, war er bis 2003 Programmdirektor beim TSR. 2005 kehrte er in seinen Beruf als Filmregisseur zurück und wurde von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. 
Raymond Vouillamoz wurde im Herbst 2022 in Zürich mit dem Literaturpreis der Stiftung Kreatives Schaffen im Alter ausgezeichnet.

Barbara Heber-Schärer, geboren 1945, lebt in Basel. Sie arbeitet seit 1990 als Lektorin und Übersetzerin, unter anderem von Emmanuel Bove, Paul Ricœur, Joseph Szapski, Leslie Kaplan, Claude Lanzmann und Michèle Desbordes.

Pia Troxler «Jubiläum», Vicon Verlag, Gastbeitrag

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Jubiläum oder Das Ende der Scham
Eine Gastkritik von H. S. Eglund, Berlin.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage: So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?
Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen, stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste. Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Grossholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht. Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Pia Troxler «Jubiläum», 328 Seiten, Vicon Verlag, 2022, ISBN 978-3-9525294-7-8

Die Scham überwinden

Neben Grossholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte. 
Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Grossholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Grossholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Grossholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiss Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heissen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiss Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.
Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.
Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine grosse Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Grossholz ausserhalb aller Normen.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.
Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Grossholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.
War gar nicht nötig. Dass Grossholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schliesslich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.
Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.
Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Pia Troxler, geboren in Luzern, Autorin, Soziologin, Schreibcoach, lebt in Zürich, von 1997 – 2005 in Leipzig. Sie arbeitete u. a. als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, leitete von 2012 – 2021 einen Literaturtreff und unterrichtet privat und an Festivals Kreatives Schreiben. In der Literatur ist sie auf Prosa und Dramatik spezialisiert. Sie hat den Erzählband «Die Verwünschung» publiziert. «Jubiläum» ist ihr Romandebüt.

H. S. Eglund lebt als Publizist in Berlin, er war früher Reporter für «Der Tagesspiegel», «Frankfurter Rundschau» und «Die Zeit». Heute ist er Fachjournalist und Autor mehrerer Bücher. Sein letzter Roman «Nomaden von Laetoli» ist 2021 erschienen.

Website der Autorin Pia Troxler.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8 – «Literatur am Tisch»!

Ich mag eigenartige Bücher. Der zweite Roman nach „Leo war mein erster“ reizte meine Neugier fast bis zur letzten Seite aus. Was will mir ein Roman sagen mit einem Lenz in roten Jeans, Black und Red, zwei aufreizend gekleideten Begleiterinnen und einem orangen Lamborghini mit angehängtem Wohnwagen? Regula Wenger verpackt die Frage nach dem Sinn in einen schrägen Roadtrip.

Lenz ist 45 Jahre alt. Die Betonung liegt auf den drei betonschweren Buchstaben ALT. Von Frühlingsdüften keine Spur mehr. Lenz Leben ist in der Tristesse parkiert, auf einem sperrigen Gamersessel und reichlich Bier in Griffnähe. Selbst seine Kinder und seine Frau schaffen es nicht, das parkierte Leben wieder in Fahrt zu bringen, dieses im Schlick festgefahrene Auslaufmodell. Lenz hat das Aufschieben längst zu seinem Programm erklärt, seine Träume beerdigt, nicht aber seine Frau und seine Freunde. 

Es ist, als ob der Zwist mit seinem Freund Finn, der die beiden vor einem Jahr im Streit auseinanderbrachte, etwas in Lenz blockiert hätte, was kein Rütteln und Schütteln mehr in Fahrt brachte. Finn und er waren beste Freunde. Bis Finn sein halbes Bier im Streit stehen lassen musste, weil Lenz ihn aus seinem Haus jagte. Lenz ist mit leckem Tank parkiert. Nicht nur seine Frau, auch seine Freunde wissen, dass Lenz nur mit List aus seiner Lethargie zu katapultieren ist. Deshalb legen sie alle zusammen und schenken ihm einen Tripp mit jenem Auto, das als Modell auf seinem Regal steht, zusammen mit zwei Frauen, die aus Teufels Küche entsprungen scheinen: Black und Red.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8, 2022, 240 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-85990-464-4

Auch wenn der Tripp nicht jener ist, den sich Lenz zu Beginn erhofft, denn die beiden Frauen lassen ihn aus versicherungstechnischen Gründen nicht ans Steuer und setzen ihn, weil ihm die Beine auf dem schmalen Rücksitz (auch der Lamborghini ist nicht genau der, der auf dem Regal unter Staub begraben liegt) einschlafen, in den engen kleinen Wohnwagen, der doch eigentlich nichts am Heck eines Sportwagens verloren hat. Auch die beiden Frauen halten sich in dieser Woche streng an einen Fahrplan, zaubern einen Gutschein nach dem andern aus ihren engen Ausschnitten und konfrontieren Lenz mit einer ganzen Reihe von skurrilen Situationen, als wäre Don Quichotte für einmal nicht mit einem lahmen Gaul unterwegs.

Regula Wengers wilde Geschichte erinnert an Fellini, David Linch und ein wenig Heinz Rühmann. Auch ihr zweiter Roman hat in der Schweizer Literaturszene kaum Verwandte. Als ob Regula Wenger einen Ton treffen würde, Bilder evozieren kann, die an Leichtigkeit, Heiterkeit, subtilem Humor ihres- und seinesgleichen suchen. Zugegeben; der Roman verunsichert, nicht nur inhaltlich, weil er sich wie ein Rätsel liest, sondern auch in seiner Konstruktion. Denn es braucht die sieben Tage Schöpfung, um dem „armen“ Lenz zu zeigen, wie er zurück ins Paradies findet. „Lamborghini Görlz“ ist eine köstliche Parabel mit viel Witz und einem übervollen Mass an Schrägem. So viel, dass der sperrige Wohnwagen den schnittigen Lamborghini manchmal zu überholen droht. „Lamborghini Görlz“ ist der quicklebendige Beweis dafür, dass sich Literatur nicht zwangsweise in Selbstzerfleischung und raumgreifender Ernsthaftigkeit suhlen muss.

Vielleicht ist „Lamborghini Görlz“ auch ein modernes Märchen, von einem Mann, den man wie Hans im Glück auf eine lange Reise schicken muss.

Regula Wenger wuchs im Laufental im Kanton Baselland auf (früher Bern). Heute lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Texterin, veröffentlichte Kolumnen und Kurzgeschichten. Ihr Romandebüt «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag, der 2021 seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, in vier Auflagen erschienen. Neu ist es bei edition 8 erhältlich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Roland Schmid

Hanna Sukare «Rechermacher», Otto Müller Verlag

„Rechermacher“ ist ein Roman über vier Generationen, ein ganzes Jahrhundert. Über eine Familie, die es im Krieg zerriss, die bis in die Gegenwart unter dem Schatten einer Vergangenheit im Dunkeln leidet. Hanna Sukare versteht sich nicht als Chronistin, aber mit Sicherheit als Archäologin der Zeit. „Rechenmacher“ ist der Versuch, mit Poesie nach Versöhnung zu suchen.

Was wissen Sie von Ihren Grosseltern? Oder Ihren Urgrosseltern? Wissen Sie mehr als Name und Beruf? Letzthin war ich bei einem Freund, der mir bei meinem Besuch in seinem „Familienhaus“ anhand von Bildern und Gegenständen von seiner Familie bis zurück ins 16. Jahrhundert erzählte. Bestimmt verbergen sich auch hinter den Geschichten seiner langen Ahnenreihe Geheimnisse. Aber wie kein anderes Ereignis zerreisst ein Krieg die glatten Oberflächen der Zeit. So wie sich in den Generationen nach dem 2. Weltkrieg das Schweigen über Familien legte, weil man sich von all dem Schrecken, dem grossen Irrtum lossagen wollte. „Schwamm drüber.“

Maia besucht ihre Mutter. Aber ihre Mutter ist nicht zuhause. Nicht einmal eine Nachricht, ein Zeichen ist zu finden. Nur ein paar Kleider und der Laptop der Mutter fehlen. Nach ersten Sorgen erreicht sie ein Brief ihrer Mutter. Sie habe sich auf eine Reise begeben und wisse nicht, wann sie zurückkommen werde. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Nelli, ihre Mutter, hat sich auf eine Reise begeben, eine doppelte Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise an Orte, die ihr etwas zurückgeben sollen von dem, was noch vor ihr verborgen ist, wovon sie spürt, dass es ein Teil ihrer selbst ist, all die Leerstellen, all die Geheimnisse.

„Die Wahrheit ist eine Zumutung.“

Hanna Sukare «Rechenmacher», Otto Müller Verlag, 2022, 212 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-7013-1296-2

Auch Maia macht sich auf die Suche, findet in der Wohnung ihrer Mutter Hinweise darüber, welche Richtung die Mutter bei ihrer Suche nach sich selbst eingeschlagen haben musste. Die Suche nach der Familie Rechermacher, ihrem Vater und ihrem Grossvater, nach Vevi, Nellis Mutter, die ins Wasser ging.
Hanna Sukare schrieb eine Familiengeschichte, aber das nur nebenher. Hanna Sukare schreibt über die Wunden und die Sehnsucht, diese Wunden zu schliessen. Sie schreibt über die Suche all jener Leerstellen und schwarzen Löcher, die bis in die Gegenwart ins Leben nachfolgender Generationen hineinwirken und sie nie so gedeihen und wachsen lassen, wie es ihnen möglich wäre, wären diese Mühlsteine nicht.

Es ist die Geschichte von August Rechermacher, einem ungeliebten Sohn, aufgewachsen während des Säbelrasselns des 1. Weltkriegs. Von einem, der zum blossen Dienen gehalten und erzogen, in der Schule zum dummen August wird. Der in Pferden die einzigen Geschöpfe findet, die etwas zurückgeben, die auf seine Zuwendung, seine Liebe reagieren. Sein Händchen für Pferde bleibt niemandem verborgen. Bei Verwandten wird er Knecht und irgendwann Dragoner mit bunter Uniform und klaren Aufgaben, für die er Anerkennung bekommt, endlich zu einem wird, vor dem er sich selbst nicht mehr zu schämen braucht. August ist angekommen. Er liebt seine Tiere, seine Aufgabe und lernt gar eine junge Frau kennen. Aber in den Vorbereitungen der neuen Machthaber, mit dem Wechsel von den Dragonern zur Wehrmacht, dem bunten Tuch zum grauen Einerlei muss sich August entscheiden. Entweder heiratet er die schwangere Genoveva, Vevi, oder er zieht für seine neuen Herren in den Krieg. August entscheidet sich gegen die Familie, auch gegen das Kind, das seinen Vater nie wirklich kennen lernt.

Was aus August in den Wirren des Krieges wurde, was der Krieg aus dem willigen Diener machte, erzählt „Rechermacher“. Von den nie vernarbten Wunden bis in die Gegenwart. Von der bleiernen Schleppe des Schweigens. „Rechermacher“ ist weder Rache noch Wiedergutmachung. Dieser Roman ist das, was Hanna Sukare mit all ihren Romanen tut: Sie rüttelt wach. Sie mahnt uns, die Geschichte ernst zu nehmen. Sie mahnt uns, unsere Kinder zu denkenden Wesen zu formen, etwas, was im Wort „Er-ziehung“ fehlt.

Hanna Sukare liest aus «Rechenmacher» am Mittwoch, den 11. Januar 2023 im Literarischen Club, Hottingersaal, Gemeindestrasse 54, 8032 Zürich

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend übt sie meistens in Wien. 2016 wurde der Roman «Staubzunge» mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet. Ihr 2018 veröffentlichter Roman «Schwedenreiter» wurde für den Literaturpreis der Europäischen Union 2019 nominiert. Das Buch behandelt Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus in Goldegg im Pongau.

Beitragsbild © Milan Böhm

Eine pralle Literaturlandschaft Spanien in einer leeren Landschaft – Literaturtage Zofingen – Rückblick

Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.

Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.

Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.

Ray Loriga mit «Kapitulation», Dolmetscherin Daniela Dias und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart
Ray Loriga «Kapitulation», Culturbooks, 2022, aus dem Spanischen von Alexander Dobler, 200 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-95988-155-5

Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.

José Ovejero mit «Aufstand», Moderatorin Monika Schärer
José Ovejero «Aufstand», Edition Nautilus, aus dem Spanischen von Patricia Hansel, 328 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-96054-296-4

Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation:
„…Papa, noch hast du Zeit:
Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst;
leg den Vampirumhang ab;
setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“
José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.

Elena Medel «Die Wunder», Suhrkamp, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 2022, 221 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43028-6

„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt.
Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere.
Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.

Elena Model mit «Die Wunder»
Vincente Valero «Krankenbesuche», Berenberg, 2022, aus dem Spanischen von Peter Kulten, 107 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-949203-39-8

Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza.
Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet.
Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute.
„Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.

Miqui Otero «Simón», Klett-Cotta, 2022, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 448 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98074-5

Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet.
Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist.
Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen.
„Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.

Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.

Rezension «Singe ich, tanzen die Berge» von Irene Solà