Rede zu der Eröffnung der 40. Solothurner Literaturtage Judith Keller

Sehr geehrte Anwesende, die heute Abend hier zusammen gekommen sind zur Feier des vierzigjährigen Jubiläums der Solothurner Literaturtage. Ich wurde gefragt, wie sich das Schreiben, das Erzählen für mich, heute, im Jahr 2018 anfühle, was das Erzählen für mich bedeute. Darüber musste ich lange nachdenken und muss es noch weiterhin tun.
Ich bin der Meinung, dass wir, wie zu jeder anderen Zeit schon, auch im Jahr 2018 erzählt werden, und zwar nicht besonders gut. Doch nachdem ich das gesagt habe, bin ich schon nicht mehr sicher, ob es noch stimmt, was ich gesagt habe, es kommt mir bereits veraltet vor. Darum beginne ich noch einmal. Ich bin der Meinung, dass wir, und sicher geschah auch das schon lange zuvor, aber mir scheint, es ist mehr geworden, im Jahr 2018 weniger erzählt als errechnet werden, und auch das nicht besonders gut. Denn wir finden uns zwar als Resultat einer Rechnung wieder, aber wir sind darin nicht aufgegangen. Wir gehen nicht auf. Es ist darum eine Sprache vonnöten, und ich finde, eine literarische, um diese Rechnung, die nicht aufgeht und deren Resultat wir sind, ins Erzählen zu übersetzen.

Welche Rechnungen erzählen die Resultate? Stimmen die Rechnungen? Oder stimmen sie nicht, weil es darin an Stimmen fehlt?

Erst durch das Suchen nach den Bedingungen, die zu den Resultaten führten, kann in den Blick geraten, womit nicht gerechnet wurde. Und dies finde ich eine Aufgabe der Literatur: Erzählen, womit nicht gerechnet wurde. Erzählen, womit nicht gerechnet werden kann. Erzählen, was sich unter den Wörtern regt. Ich brauche meine ganze Fantasie dafür, mir vorzustellen, was das ist.

Aber was wäre das für ein Erzählen, das so etwas kann?

Was gibt es? ist die Frage dieses Erzählens, so glaube ich, und es ist sich nicht sicher, was es gibt. Aber es erzählt, dass es mehr gibt, als es erzählen kann. Es wäre ein Erzählen, das zuhört und sicher ist, dass es mehr gibt, als es hört. Ich glaube, dass Schreiben eine Form eines solchen Zuhörens ist.

Zum Beispiel höre ich die Schwäne in der Schwanenbucht in der Nähe vom Bellevue in Zürich. Ich weiss nichts von ihnen, aber ich schaue ihnen oft zu.

In diesem Moment kommen sie zur Bucht. Wer ist hier „sie“? Ich nenne sie Peli und Vera, es sind zwei in diesem Moment erschöpfte Frauen und sie haben an diesem Tag schon viel erlebt. Sie kommen zur Bucht, in der die süchtigen Schwäne unruhig die Nacht verbracht haben auf dem Kies oder auf den flachen und erhobenen Steinen nah am See. Unzählbare Schwanschaften drängen sich aneinander. Federn und Kot sind überall verstreut, verrenkte Hälse liegen auf Federkörpern, schwarze Schwanenfüsse suchen Halt. Ein gedämpftes Schnattern rollt durch die Menge, an einigen Stellen ist es dichter, an anderen ganz ruhig, doch dort, wo es ruhig ist, bewegen sich die Schnäbel ohne Ton. Blauweiss leuchten die Federn aus der grauen Dämmerung heraus. Irgendwo scheint es sie immer zu zwicken, ein plötzliches Zucken geht durch die Gefieder, sie graben mit den Schnäbeln nach und fischen etwas aus sich heraus, das niemand sieht. Sie haben Konflikte, innerliche Knöpfe, vielleicht haben sie einen Mangel, sagt Peli oder sagt Vera und sie setzen sich auf ein paar Ufersteine und schauen den Schwänen zu. Sie haben heute viel erlebt und der Text ist noch nicht zu Ende. Wir sind immer noch da, sagt Vera dann. Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommen soll, sagt Peli. Man kann sich immer nur wenig vorstellen, sagt Vera. Aber warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn.

Warte nur, im Nachhinein ergibt alles Sinn, sagte mir kürzlich ein Freund, als etwas nicht eintraf, wie ich es wollte. Das ist die Hoffnung des Erzählens, dass am Schluss alles in einem Sinn mündet, und dennoch muss es ohne diese Hoffnung auskommen, dieser Hoffnung gegenüber misstrauisch sein, denn erzählen ist Sinn stiften, wo es keinen gibt. Die Schwäne helfen mir, wenn ich sie lange genug anschaue, wieder nichts mehr über sie zu wissen, die Hoffnung auf Sinn gleichzeitig aufzugeben und doch zu hegen. Sie helfen mir auch, nicht zu viel zu erfinden. Denn ich glaube, ich muss mich an das halten, was da ist. Denn auch wenn ich erfinde, schützt es mich nicht davor, die Welt so zu erfinden, wie sie schon ist. Und trotzdem bin ich sicher, dass die Welt neu erfunden werden muss – und zwar mit dem, was ist.

Judith Keller wurde 1985 in Lachen am Zürichsee geboren und lebt heute in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung „Wo ist das letzte Haus?“ bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem „New German Fiction“ Preis ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Die Fragwürdigen».

Wolfgang Hermann „Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald“ Gedichte, Limbus

In Bernsteinlicht eingefangene Momente, Augenblicke. Wer Wolfgang Hermanns Gedichte liest, erinnert sich an sich selbst, an Vertrautes, wird überrascht von der Klarheit seines Sehens. Wolfgang Hermanns Lyrik ist klar, bildreich, grosse Sprachkunst in leisen Tönen.

Bei Romanen ist es ein schlechtes Zeichen, wenn ein Buch lange liegen bleibt, wenn das eingeschobene Lesezeichen nur ganz langsam nach hinten rutscht, wenn es zuweilen unter anderen Büchern verschwindet, wenn man es nur ganz kurz in die Hand nimmt, abends vor dem Schlafen, das Buch in den Händen auf die Decke sinkt, nicht weil ich mich dem Schlaf ergebe, sondern weil ich zwischen letztem Gedicht und dem Wegdriften in den Schlaf dem nachhängen will, was der Dichter in sanften Tönen in die Stille zeichnete.

Reif und prall das leben im quellenden Gras
auf dampfenden Wiesen
unterm langsamen Sommerlicht
Hauch zwischen den Dingen
Hauch im Baum
Hauch um Tor und Tisch
auch mich durchfliesst Hauch
öffnet in mir eine Hand
ist es das, das Älterwerden 

Als ginge man in tiefer Freundschaft zusammen mit Wolfgang Hermann durch die Landschaft. Eine stille Zwiesprache mit einem Dichter, der mich sehend macht. Keine verkopfte, verquere, schwer entschlüsselbare Lyrik. Keine Ausschweifungen, sondern schlichte Konzentrate.

Tief drang ich in den Wald
mir gingen Augen auf und unter
in der Tasche mein Schlüssel
ich vergass ihn
vergass mein Leben in der Stadt
war nur Hauch nur
ein Schlüssel in meiner Tasche.

Zarte Sprachgebilde eines Dichters, der in die Dinge hineinsieht, durch sie hindurch, der sich in die Zeit ziehen lässt, weit hinter die Oberflächlichkeit sieht. Ich las die Gedichte laut, manche immer wieder, die einen anderen Ohren vor, um nachzuprüfen, wie tief die Sprache dringt. Und manchmal spüre ich auch den Schmerz, das Erspüren des Verlusts.

Der Tod errichtet eine Mauer, damit wir auf ihr
balancieren.

Versuche über die Mauer des Todes zu springen.

Die Stimmen der Nacht sind ohne Körper. Sie
sind Schmetterlinge der Nacht, leichter als das
Geflecht der Luft.

… und so ganz nebenbei: Wunderschöne Bücher, auch die Erzählbände von Wolfgang Hermann, aus dem Limbus Verlag von Bernd Schuchter und Merle Rüdisser in Innsbruck!

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).

Webseite des Autors

Webseite des Verlags

Titelfoto: Sandra Kottonau

André David Winter „Immer heim“, edition bücherlese

Bilder, die sich einbrannten. Zu einen das grossformatige Bild „Die Lebensmüden“ von Ferdinand Hodler in der Pinakothek in München. Zum andern die Schlussszenen im Film „Das gefrorene Herz“ mit dem Schauspieler Sigfrid Steiner, der als Korber in Schnee und Eis seine Ruhe findet. André David Winter schrieb mit seinem Roman „Immer heim“ eine Geschichte aus der Vergangenheit, über alte Menschen, „Verwärchete“, die ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben.

Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat von Novalis „Wohin gehen wir? Immer heim.“ und auf den letzten Seiten angefügt: „Ein grosser Dank geht an Otto S. und René F. für ihre wertvollen Erinnerungen. „Immer heim ist ein Buch der Erinnerungen. Zurückgesetzt in eine Zeit, die längst vergangen scheint, von Menschen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts gross wurden. Ein Erinnerungsbuch an Schicksale, die noch viel fester mit der Natur und den Mühen der Arbeit verflochten waren, ein Erinnerungsbuch zwischen dem verklärten Blick eines Ankerbildes und der entblössenden Strenge eines Ferdinand Hodlers.

Joseph Bitzi wird nach einem Leben als Knecht vom Hof der Mugglis gegen seinen Willen ins Heim geschickt. Dem Jungbauer war der knorrige, eigenwillige Knecht mehr Last als Kraft und so schnell entsorgt. Aber was tut ein Mann, der ein Leben lang mit seinen Händen anpackte mit einem verordneten Leben im Ruhestand? Unter all den anderen Alten, die nur noch warten, auf das nächste Essen, die Schwester, den Besuch, die Nacht, den Schlaf, den Tod? Einer von denen werden, die sich abgefunden haben und vor sich hin dämmern?

Joseph bäumt sich auf. Er hat einen Plan. Nachdem er ein Leben lang einstecken musste, soll das letzte Stück nach seinem Sinn verlaufen. Er, den man nicht erst jetzt nicht mehr will, bäumt sich auf, stellt sich quer.

“Manchmal fragte er sich, ob nicht alle, die hier wohnten, weggeworfen worden waren wie er.“

Aus dem Aufbäumen des ausrangierten Knechts wird eine richtige Bewegung. Der stumme Alfred, sein Zimmergenosse, den Parapluie, der einst als Schirmflicker von Haus zu Haus hausierte, die böse Anni, die uralt noch immer nachts im Traum schreit aus Angst, ihr Mann komme sie holen, oder Rottannli, den ehemaligen Knecht und Melker, der von Stimmen heimgesucht wird und am liebsten sein Leben mit Feuer löschen würde. Sie alle wachen noch einmal auf, ergeben sich nicht.

“Ihr müsst uns beschäftigen, sonst beschäftigen wir euch.“

Auch Geld hilft ihm, Geld, von dem er wusste, das nie gebraucht wurde, das versteckt auf dem dahinsiechenden Hof liegt, auf dem er zur Welt kam, Geld, das ihm Kraft und Macht geben würde, auch über die Lästerer im Gasthaus im Dorf, die nur darauf warteten, ihn noch einmal und noch einmal mit ihrem Lachen durch den Dreck zu ziehen.

Joseph, dem es in seinen unglücklichen Liebesgeschichten nie gelang, sich als der zu zeigen, der er war, der als Knecht immer Knecht blieb, mischt als „Verwärcherter“ ein Altenheim auf. Mag sein, dass die Szenerie manchmal hart an der Grenze zur Glaubwürdigkeit schrammt. Aber genau das darf Literatur. Literatur muss nicht abbilden, darf Geschichten erzählen. Und André David Winter tut dies mit kräftigen Farben und klaren Strichen.

André David Winter liest am 30. November 2018 an einer „Ofenlesung“ im Haus der Schriftstellerpaars Michèle Minelli und Peter Höner in Iselisberg bei Frauenfeld TG. Weitere Informationen folgen!

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete er auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle und in einem rumänischen Kinderheim. 2008 erschien sein Roman „Die Hansens“ im Bilger Verlag, 2012 folgte „Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben“. In der edition bücherlese erschien 2015 der Roman „Jasmins Brief“.

Titelbild: „Die Lebensmüden“, 1892, Ferdinand Hodler, Ausschnitt

Sven Recker „Fake Metal Jacket“, Nautilus

Während die Wirklichkeit tobt, trübt sich der Blick in das Antlitz dieser Wirklichkeit immer mehr. Staatsoberhäupter entkräften Tatsachen mit dem Aufschrei „Fakenews“. Zeitungsleser und Nachrichtenagenturen tappen im Nebel von Verunsicherung und permanenter Behauptung. Wo man einst Wahrheit zu finden glaubte, grassiert der Zweifel. Sven Reckers zweiter Roman «Fake Metal Jacket» beschreibt die Entgleisungen eines jungen Journalisten, der es mit der Wahrheit nicht so ernst nimmt. Ein Roman über die kalte Schnauze eines Journalisten, dem es nur um das perfekte Bild geht.

Sven Recker weiss, wovon er schriebt. Er war Journalist und bildet solche aus, bewegt sich in Gebieten, die Krisen viel unmittelbarer angebunden sind, als wir in Mitteleuropa, die, wenn überhaupt, höchstens mit den Auswirkungen zu kämpfen haben.

Larsen produziert News. Aber mit der Nachprüfbarkeit seiner Meldungen von den Fronten der Aktualität nimmt es Larsen nicht so genau. Nichts, was er schreibt, ist grundsätzlich erfunden. Aber nichts, was er schreibt, entspricht nur annähernd den Tatsachen. Alles ist irgendwie wahr und doch erfunden, inszeniert. Larsen weiss, was die Redaktionen mögen, was am ehesten den Weg auf Titelseiten findet. Larsen illustriert das, was Medien und Konsumenten erwarten; Bilder, die bestätigen, die anrühren, die die perfekte Geschichte erzählen. «Der Schein mag trügen, aber er scheint.»

Angefangen hatte es in Lybien. «Es wurde geschossen, aber schlimm war es nicht. Es gab wenig zu tun, aber wenn doch, dann ganz viel. Endlich ein historischer Or. Das Internet kollabierte, der Strom fiel aus, mindestens zehn Mal am Tag.» Dann hatte er zu aller erst Internet und damit die Möglichkeit, auch als erster seine Schlagzeilen in die Welt zu schicken. Hauptsache Schlagzeilen, Hauptsache das Soll erfüllt. Und wenn man dann auch noch entsprechend Kohle damit macht, heiligt der Zweck die Mittel. Larsen ist erfolgreich, wird bewundert, gefeiert, aufs Podest gehoben, bis man ihn mit dem ersten Fehler, der sich fünfstellig auswirkt, wie eine heisse Kartoffel fallen lässt. Mit der Bitte eines Bauern, endlich mit dem Filmen in der Grube aufzuhören, doch endlich über die wirklichen Probleme zu schreiben, z. B. über das Gesocks, das sich im ganzen Land breit macht, beginnt Larsens Konstrukt auch in seinem Innern zu wackeln.

Und mit dem Wunsch, eine junge Frau aus den Wirren des Nahostkrieges zu «befreien», nun endlich mit dem richtigen Berichten zu beginnen, reitet sich Larsen in eine Geschichte, bei der ihn die Wahrheit und die Realität an Wände ketten. Larsen, der das Leben als eine einfache Gleichung sieht, muss sich eingestehen, dass nichts so ist, wie er es sich denkt. Von Einfachheit keine Spur mehr.

Ein kleines Interview mit Sven Recker:

So wie ihr Roman sich mit „Fake-news“ beschäftigt, ist es die Geschichte eines Mannes, der auf einem einmal eingeschlagenen Weg nicht mehr zurück kann und will. Zum einen, weil er für minimalen Aufwand maximalen Erfolg generiert, weil die „Sache“ zu lange gut geht, zum andern weil er sich selbst versichert, doch eigentlich bei der Wahrheit zu bleiben, Kopien der Wahrheit zu produzieren. Ist Journalismus ein Beruf, bei dem Moral eine besondere Rolle spielt oder hängen wir Informationskonsumenten dem Idealbild des heldenhaften Enthüllungsjournalismus nach?
Journalisten haben ihrem Publikum gegenüber die Verantwortung, es möglichst ausgewogen zu informieren. Moral ist mir in diesem Zusammenhang ein zu großer Begriff. Idealerweise entsteht so ein Vertrauensverhältnis zwischen Medienproduzent und Medienkonsument, vereinfacht gesagt, der Leser einer Lokalzeitung fühlt sich durch die Berichterstattung seines Heimatblattes gut informiert. Soviel zum Idealzustand. Derzeit lässt sich allerdings in zahlreichen Ländern beobachten, dass das Vertrauen des Publikums in die Medien nachlässt. Alle Gründe hierfür aufzuzählen würde an dieser Stelle zu weit gehen. Ein Grund, der auf den zweiten Teil Ihrer Frage anspielt, ist, dass sich viele Journalisten, wie Larsen, in den sozialen Medien inszenieren und andauernd zu allem möglichst pointiert Stellung beziehen. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Tweets und Posts fast ausschließlich Meinungsbeiträge sind. Wie aber soll der gleiche Journalist, der kurz zuvor auf Twitter den Beitrag eines Politikers wohlwollend oder ablehnend kommentiert hat, danach möglichst ausgewogen darüber informieren? Klar, die unterschiedlichen, journalistischen Formate, Kommentar, Bericht, Hintergrund gab es schon immer und wurden auch früher schon oft von ein und demselben Journalisten verfasst. Die Reihenfolge, beziehungsweise Gewichtung, war nur anders. Gross aufgemacht wurde der Bericht/Hintergrund, der Kommentar war die Spalte nebendran. Heute kommt oft erst die Meinung auf den sozialen Medien, dann der ausführlichere Bericht.

Peter Larsen lässt sich instrumentalisieren. Zuerst von seinem Erfolg, der Dynamik, die das scheinbar raffinierte Spiel als Reporter an der „Front“ entwickelt, später von einer Gegenseite, mitten im Nahostkonflikt, mit der Waffe an der Stirn. Ist ihr Buch auch der Versuch zu zeigen, in welches Dilemma Berichterstattende unweigerlich geraten? Wie schwierig oder gar unmöglich es ist, neutral, unvoreingenommen, objektiv zu sein?
Na ja, gegen Instrumentalisierung kann man sich als Journalist wehren. Ein Dilemma ist das nicht, das ist eine Frage der Haltung. Eine objektive Realität gibt es nicht, die Wahrnehmung der Welt setzt sich immer zusammen aus eigener Erfahrung, Bildung, familiärem oder religiösem Hintergrund sowie den eigenen Zielen. Es geht also um eine möglichst ausgewogene Berichterstattung, nicht um eine objektive, denn an diesem Anspruch kann man nur scheitern.

Der Besuch der AfD-Politiker in Syrien und ihr anschliessender Appell an die Öffentlichkeit und die Politik, die Syrer in Deutschland doch wieder in ihr „Heimatland“ zurückzuschicken, denn das Land brauche sie für den Wiederaufbau, zeigt doch, wie sehr man sich von Eindrücken, Begegnungen, Einstellungen beeinflussen lässt? Wer sagt dem einfachen Bürger, der Leserin in der warmen Stube zuhause, wessen Sicht man trauen kann?
Im Falle Syriens ist es in der Tat schwierig ein allgemein gültiges Bild zu zeigen. Jeder, der dort hingeht, läuft Gefahr von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert zu werden. Die AfD-Politiker sind brav in die Falle getappt, die ihnen das Regime von Assad gestellt hat. Nicht, dass es die Wirklichkeit, die sie gesehen haben nicht gibt. Aber den Preis, den viele Syrer dafür bezahlen müssen, sahen sie nicht und wollten ihn wahrscheinlich gar nicht sehen, da die Agenda der AfD, nämlich Syrer zurückzuschicken, so schön zu dem Bild passt, das Assad von Syrien zeigen möchte. Wem man bei der Berichterstattung über Syrien trauen kann? Generell noch immer den deutschsprachigen Qualitätsmedien sowie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das Problem ist allerdings, dass es aus Sicherheitsgründen in Syrien für ausländische Journalisten fast unmöglich ist, alle Konfliktparteien- und Regionen zu besuchen. Hinzu kommt die Fokussierung auf aktuelle Militäraktionen, so dass über die Jahre hinweg der Eindruck entstanden ist, ganz Syrien würde in Schutt und Asche liegen. Die AfD hat versucht, diese Informationslücke zu nutzen.

Sie schulen neben ihrer Arbeit als Schriftsteller und Journalist künftige Journalisten in Libyen, Ägypten, Tunesien, Irak, Sudan, Sri Lanka und Ruanda vor Ort aus. Lauter Regionen, in denen es kocht und brodelt. Geht es dabei nur um das Handwerk oder spielt auch ein Funken „Mission“ mit?
Kommt darauf an, was Sie mit Mission meinen. Die Vermittlung von journalistischem Handwerk ist Grundlage. Im größeren Sinne geht es aber immer darum, ein journalistisches Verständnis zu vermitteln, dass die Konflikte in den jeweiligen Ländern eher befriedet als verstärkt, also beispielsweise Hate-Speech-Artikeln entgegenzuwirken, indem man Journalisten die Grundlagen des Kommentars vermittelt. In einigen Ländern, Sri Lanka beispielsweise, ist bereits der Ansatz unserer Trainingsmaßnahmen ein Beitrag zur Versöhnung, in dem wir dort singhalesische und tamilische Journalisten nicht nur zusammenbringen, sondern sie auch beim gemeinsamen Verfassen von Beiträgen begleiten und unterstützen. In Sri Lanka hat es fast zwei Jahre gebraucht, dass der Dialog zwischen tamilischen und singhalesischen Journalisten einigermaßen funktioniert.

Zur Wahrheit, auf den Boden der Realität, kommt Larsen erst auf den Dächern von Damaskus. Mit Zucker und Peitsche, während nicht weit von seinem „Gefängnis“ Bomben hochgehen und Schüsse peitschen. Es ist nicht die freiwillige Umkehr, die Einsicht. Erst die Not, lebensbedrohliche Not und die Enttäuschung darüber, sich masslos getäuscht zu haben, zwingen Larsen zur „Umkehr“. Muss ein Journalist mehr Gutmensch sein als andere?
Nein! Siehe Hans Joachim Friedrichs: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache, dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazu gehört.“

Vielen Dank!

«Fake Metal Jacket» lässt einem nach der Lektüre mit einer ordentlichen Portion Verunsicherung zurück. Dieser fast kindliche Reflex, dass alles wahr sein muss, was man sieht, ist mit einem Mal pulverisiert. Ein schonungsloses, entlarvendes Buch – ein wichtiges Buch!

Sven Recker wurde 1973 in Bühl/Baden geboren und lebt in Berlin. Er arbeitete mehrere Jahre lang als Journalist, bevor der ab 2002 einige Zeit als Not- und Katastrophenhelfer in Krisenregionen reiste. Seit 2009 schult er zudem Journalisten aus Libyen, Ägypten, Tunesien, Irak, Sudan, Südsudan, Sri Lanka und Ruanda vor Ort.
2015 las er mit einem Auszug aus seinem Debütroman »Krume Knock Out« bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

„Ein Maximum an Bedeutung, aber ein Minimum an Form“

Zwei Höhepunkte an den 40. Literaturtagen in Solothurn waren aus meiner Sicht die 81jährige Anna Felder, die den Schweizer Grand Prix Literatur 2018 erhielt und die noch ganz junge Judith Keller, die mit ihrer ersten Geschichtensammlung «Die Fragwürdigen» längst nicht nur mein Herz rührt und meine Seele erquickt.

Anna Felder, die Tessinerin, die in Aarau lebt, hat nicht nur immer noch ein helles, offenes Gesicht. Sie besitzt ein helles, offenes Bewusstsein, ist eine stille und äusserst feinfühlige Beobachterin, die die Kostbarkeiten des Moments in literarische Bilder zu fassen vermag. Kleinsttragödien, die immer ein Spiegel von Grossem sind, Schöpferin von Texten, die allein durch den Klang der Assoziation eine Richtung geben können. Geschichten, die in Fragmenten aus der Stille steigen, die durchaus das Potenzial zu vielen hundert Seiten hätten. Anna Felder spürt der Kraft der Möglichkeiten nach, spielt mit der Imagination, nimmt sich dem Kleinen, Zarten an.
Wichtiger als Handlung ist ihr die Situation, alles, was aus der Vergangenheit in den einen Moment hineinwirkt. Ihre Geschichten im schmalen Band „Circolare“ sind Momentaufnahmen, langsam gewachsen, auch im Schreiben. Sie schreibt zuhause zu Beginn stets von Hand mit dem Blick in den Garten des Nachbarn. Ihr Papierkorb steht neben dem Stuhl, nicht nur um Sätze wegzuwerfen, sondern auch um nach ihnen zu suchen, wenn das Weggeworfene doch das Richtige war. Worte sind Schlüssel zu unendlich vielen Geschichten, einer Fülle an Leben. Momente, die mit Leben aufgeladen sind. Sie schreibt Geschichten, um Fragen ihres Lebens zu beantworten, im Wissen darum, dass stets neue Fragen entstehen, Fragen nie wirklich beantwortet sind.
Und ganz besonders erwähnenswert ist, dass die Geschichten in „Circolare“ äusserst sorgfältig übersetzt sind, nicht von ihrem Klang, ihrer Melodie einbüssen durch die Übersetzungen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch. So sehr sich Anna Felder für die Kehrseiten der Menschen interessiert, so sehr bemüht sich Anna Felder um die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks. Grosse Literatur einer ganz bescheidenen, aber grossen Dichterin.

In der Kürze und Prägnanz mit einander verwandt und doch weit weg von Anna Felder sind die Geschichten der jungen Judith Keller. Einer Frau, die auf der Bühne ihre Geschichten aus einem rot gefütterten Hut fischt, zieht die aus einem Zauberhut, wägt ab, „wirft“ sie den Zuschauern zu, tief in den dunkeln Raum, einzelne Sätze wie Aufforderungen an das Publikum. Geschichten, die ins Lachen branden, ein Lachen, das bleibt, noch lange nachhallt. Judith Keller scheint in einem unendlichen Reservoir an Geschichten wühlen zu können. Ganz im Gegensatz zu Anna Felder sind es aber nicht unbedingt Beobachtungen an den Menschen, sondern an der Sprache, an Redewendungen, die ihr entgegenspringen, zum Beispiel bei der Lektüre der Zeitung, abstrakte Bezeichnungen, unbeabsichtigte Metaphern, schräge Momente in absoluter Normalität. Geschichten, die feststellen und im Moment ihrer Feststellung kippen. Judith Keller nimmt den Blick von aussen, auch jenen von Tieren, sei es auch nur eine Taube. Der Humor ihres Erzählers liegt nicht in der Pointe, sondern im Grad der Wiedererkennung des Lesers, der Zuhörerin.
Judith Keller ist eine Zauberin. Sie zaubert Geschichten her, so leicht, als wäre es keine Anstrengung, sie zu schreiben, ihnen nachzugehen, als wären sie immer zufällig da, bei ihr, wo sich die Geschichten materialisieren. Die Geschichten passieren sie. Sie, die im schwarzen Kleid mit weissen Tupfen, den roten, samtigen Schuhen und den roten mit einem schwarzen Band über dem Kopf zusammengebundenen Haaren auf der Bühne zaubert. Judith Keller, eine Gschichtenmagierin – bezaubernd!

Die Solothurner Literaturtage waren auch in ihrer 40. Ausgabe ein strahlendes Ereignis. Organisiert von Beseelten, die es schafften, jenen Geist des Aufbruchs in die Gegenwart hinüberzuführen. Die Solothurner Literaturtage sind weit mehr als eine Leistungsschau. Für drei Tage wird die kleine Stadt an der Aare zu einer grossen Stadt der lebendigen Literatur.

Judith Keller „Die Fragwürdigen“, Der gesunde Menschenversand

In ihrer ersten Buchveröffentlichung zeigt die junge Schweizerin ein ganz besonderes Geschick, die Perspektive des Sehens zu verändern. Wenn man den Geschichten der jungen Judith Keller eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Geschwätzigkeit. Judith Kellers Geschichten sind Konzentrate, Sprachkunstwerke, die gleichermassen überraschen wie bezaubern. Eine literarische Entdeckung!

Zusammen mit den Autorinnen und Autoren Franz Hohler, Judith Keller, Thomas Flahaut, Alexandre Hmine und Jessica Zuan eröffneten die 40. Literaturtage in Solothurn ihr Jubiläumswochenende. Das literarische Schwergewicht Franz Hohler zusammen mit vier jungen Schreibenden aus den vier Sprachregionen der Schweiz.

Judith Keller nimmt das Wort beim Wort, nimmt es wörtlich. So wie sich andere der Metapher verschreiben, spürt sie dem Wort nach. Eine Handvoll ihrer Geschichten beginnt mit «Eine weit hergeholte Frau…». Meist tragen die Menschen in ihren Kurz- und Kürzestgeschichten Namen, ganz gewöhnliche, vielleicht etwas altmodische, im Kontrast zu ihrer Erzählweise, oder ausgefallene wie Nepomuk. Judith Keller wirft einen Blick in fremdes Leben, gibt dem Leben einen Namen oder lässt es bleiben, wenn der Moment mehr zählt als die Person, um die sich die Sätze schlaufen. Kurze Geschichten, in die man einsteigt und ganz unverhofft wieder aussteigen muss. Geschichten die auftun und nichts klären. Aber mit aller Deutlichkeit bewusst machen, dass selbst der schnelle Blick, diese eine Schlaufe um ein Leben, alles andere als einfach und einfältig ist. Es spiegelt sich Leben mehrfach in einem einzigen Satz. Es fächert sich auf. Manchmal nur als sprachlicher Schnappschuss, ein ander Mal als Bildfolge, aus Zusammenhängen sprachlich extrahiert, um sie mit dem Leben von Leserinnen und Lesern in neue Konstellationen zu bringen.

Keine Papiere
Esperance ist vor ein paar Jahren in einem Boot übers Meer geflohen. Sie ist nicht ertrunken. Aber jetzt lebt sie untergetaucht.

Judith Keller gibt dem Normalen intensive Farben, dem Farbigen Klarheit, auch wenn nicht die Deutung im Zentrum steht, sondern die Ahnung dem Genuss genügt. Sie schreibt kühn und so gar nicht in der Tradition der «Geschichtenerzähler» mit Mahnfinger und moralischer Motivation. Vielleicht bilden Franz Hohler und Judith Keller bei der Eröffnungsfeier der 40. Literaturtage in Solothurn mit Absicht ein «Erzählerpaar» der Gegensätze. Nicht nur, was ihr Alter betrifft. Der schon zu Lebzeiten zur Erzählerlegende gewordene Franz Hohler und die junge Judith Keller, die sich nur schwer in eine Schublade einordnen lässt.

Scheu
Amalia kennt den Vorwurf, sie sei arbeitsscheu. Es liegt ihr aber daran festzuhalten, dass die Arbeit ebenfalls scheu sei. Die Arbeit komme entweder gar nicht oder nur zögerlich auf sie zu, um dann gleich wieder zu verschwinden.

Mag sei, dass auch Judith Kellers Geschichten zuweilen einen moralischen Hintergrund besitzen. Aber diesen bette ich als Leser selbst unter den Text. Judith Keller setzt nichts vor, mahnt nicht, spiegelt nicht einmal mit Metaphern. Ihre Sprachkunst liegt in der Reduktion auf die Worte selbst, den Satz, der bezaubert, die Melodie, die mich betört. Judith Keller gibt dem Wort zurück, was Fakenews entwenden.

Judith Keller schreibt ganz in der Tradition Grosser, nicht zuletzt Mani Matters. Eindeutig, zweideutig, vieldeutig. So wie der grosse Berner Troubadour erzählt Judith Keller eindeutig und weckt vieles. Ich staune. Ich blicke mit den Geschichten Judith Kellers durch ein Kaleidoskop der Sprache, werde von Vieldeutigkeit überrascht und mit Sprachkunst überzeugt.
Franz Hohler und Judith Keller sind so etwas wie die Exponenten einer Kunst, die an den beiden ihre Vielfalt zeigt, wie viel sie miteinander verbindet und wie weit sie sich voneinander unterscheiden, wie viel sie verbergen und offenbaren, wie sehr sie schmeicheln und sich zieren.

Krieg
Er erklärt ihnen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er erklärt innen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er versucht es noch einmal. Sie verstehen ihn nicht. Weil er den Krieg nicht erklären kann, muss er zurück in den Krieg. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Im Flugzeug ist gerade noch ein Platz frei.

Unbedingt lesen und entdecken!

Ein kleines Interview mit Judith Keller:

Sie erzählen Geschichten in einer ganz eigenen Art und Weise. Es sind nicht einfach Erinnerungen, Episoden, „Geschichten, die das Leben schrieb“. Viele Ihrer Geschichten lesen sich wie „Negative“ (Fotografie), die den Blick auf eine Situation verändern, mein Auge, meine Wahrnehmung verunsichern. Wie werden Ihre Geschichten zu so kraftvollen Miniaturen?
Ich glaube, ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt.

Sie nehmen das Wort beim Wort. Es liegt viel mehr Gewicht auf der Bedeutung eines einzelnen Wortes als auf dem Transport eines Geschehens. Sind sie eine Wörtersammlerin?
Ja, ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss.

Der Umstand, das „Die Fragwürdigen“ beim Verlag „Der gesunde Menschenversand“ herauskommt, erscheint fast logisch. Da treffen sich zwei! Kein anderer Verlag hätte besser zu Ihren Texten gepasst. Ihre erste Erzählung „Was ist das letzte Haus“ erschien als E-Book beim überaus renommierten Verlag Matthes & Seitz Berlin. Öffnen sich die Türen so leicht?
Nein, ich habe viele Absagen bekommen für die kurzen Texte bei anderen Verlagen. Ich hatte sie auch schon vor ein paar Jahren dem gesunden Menschenversand geschickt, aber damals gab es einfach keinen Platz für neue Autorinnen und Autoren. Ich bin darum auch sehr froh, dass es jetzt geklappt hat, gerade bei diesem Verlag.

Ihre Geschichten liessen mich zuweilen stolpern, öffneten sich oft erst beim zweiten Lesen. Sie schreiben alles andere als Nabelschauen, scheinen stets für ein Publikum zu schreiben. Ihre Geschichten brauchen das Gegenüber. Testen Sie die Wirkung Ihrer Texte?
Ja, ich lasse sie oft ein paar Tage oder Wochen liegen und lese sie dann noch einmal wie eine fremde Leserin. Da spüre ich dann, ob es funktioniert oder nicht. Und dann gebe ich sie natürlich auch anderen zu lesen. Aber es kann schon auch vorkommen, dass ich nicht mehr weiss, ob es nur bei mir oder auch bei anderen funktioniert.

Dass Sie an der Seite von Franz Hohler, einem der Grossen der CH-Literatur die 40. Solothurner Literaturtage eröffnen, ist von der Festivalleitung her mit Sicherheit ein klares Signal, nicht nur für die Mehrsprachigkeit unseres Landes, die Vielfalt, sondern für die Qualität ihres Schreibens – und für mich keine Überraschung. Trifft sich dort auf der Bühne Tradition und Aufbruch?
Da kann ich leider zu wenig darüber sagen, weil ich die Texte der anderen nicht kenne. Ich glaube aber, dass sie genau so etwas wollen.

1985 in Lachen, am Zürichsee geboren, lebt Judith Keller in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.

(Ich danke dem Verlag «Der gesunde Menschenversand» für die Erlaubnis, aus Judith Kellers Buch «Die Fragwürdigen» drei Geschichten einfügen zu dürfen.)

Titelfoto: Sandra Kottonau

Hansjörg Schneider „Kind der Aare“, Diogenes

Ein Unikat der CH-Literatur feierte im März seinen 80.! Zu seinem Geburtstag macht er seinen Leser*innen und mir seine Autobiografie „Kind der Aare“ zum Geschenk. Zum ersten Mal begegnete ich Schneiders Werk, als man 1981 (Ich war 19!) den Fernseher ausschaltete, als bei der Ausstrahlung des Theaterstücks „Sennentuntschi“ nacktes Fleisch und rohe Lust unübersehbar wurden. Ich ging zu Bett, meine Lust auf Hansjörg Schneider aber war geweckt! 

In seiner unaufgeregt erzählten Autobiografie schreibt der mit seinen Hunkeler-Krimis zur Krimi-Ikone gewordene Schriftsteller und Dramatiker von seiner Kindheit und Jugend in der sanften Landschaft der Aare bis zu seinen Grosserfolgen mit der Figur Hunkeler, die mit dem 2015 verstorbenen Schauspieler Mathias Gnädinger zu einer Identifikationsfigur wurde.

„Ich habe geschrieben, was ich schreiben wollte.“

Warum sich 340 Seiten antun, wenn seine Prosa und Theaterstücke mitreissend und entlarvend sind und keiner Erklärung bedürfen? Hansjörg Schneiders Leben als mittlerweile längst etablierter Schriftsteller verlief alles andere als geradlinig. Wer den Autor schon einmal getroffen hat oder gar mit ihm zu tun hatte, ahnt, wie wenig sich dieser um Konventionen und Schein schert. Hansjörg Schneiders Auftreten ist direkt, eigenwillig, durchaus schüchtern und manchmal gut schweizerisch hölzern. Seien es die obligaten Bauernhemden ohne Kragen oder Schuhe mit Klettverschluss, träfe Sprüche oder die kantigen Figuren, die er mit seinen Geschichten lebendig werden lässt. So wenig, wie sich Hansjörg Schneider um Künstlichkeit bemüht, so sehr ist sein Schreiben Resultat genauer Beobachtung und erfrischender Bodenhaftung. Und noch viel mehr!

“Ich bin stets ohne Sauerstoff getaucht. Ich brauche kein Hilfsmittel ausser der Brille, ich war mir Fisch genug.“

Hansjörg Schneider ist ein Mann des Wassers. Vielleicht ist mir deshalb keines seiner Werke so sehr in Erinnerung geblieben und eingeritzt wie der Roman „Das Wasserzeichen“. Die Geschichte von Moses Binswanger, der mit einer kiemenartigen Öffnung zur Welt kommt und sich immer wieder wässern muss. Die Geschichte eines schwierigen Lebens unter Menschen, vor denen sich Moses immer mehr zurückziehen muss. Erst recht, als die Liebe die Frauen mit ihm ins Wasser zieht.

So wie der Autor aus dem Land der Aare kommt, jenem Fluss, der bei  Zusammentreffen mit dem Rhein seinen Namen verliert, obwohl sie meist mehr Wasser mit sich führt als ihr „Bruder“, so ist sein Schreiben und seine Herkunft mit dem Wasser verbunden, seien es die „Wasserzeichen“ in meinem Lieblingsroman oder die am Rhein spielenden Hunkeler-Krimis.

In seiner mit Witz und Schalk geschriebenen Autobiografie erzählt Hansjörg Schneider nicht nur von seinem Werdegang, sondern auch von den kleinen und grossen Demütigungen eines Schreibenden, der in keine Schublade passt, sich nicht in die Reihe der Intellektuellen einschleichen will und Theater schreibt, die sich keiner Modeströmung unterwerfen. Dass er damals mit seinem Theaterstück „Sennentuntschi“ einen Mehrfachskandal auslöste, zuerst im Theater und später im Fernsehen, ist nicht das Ergebnis eines wirklichen Skandalstücks, sondern der allgemeinen Prüderie.

Hansjörg Schneider, der früh seine Mutter verlor und sich einer übermächtigen Vaterfigur zu stellen hatte, der mit seiner Frau seine grosse Liebe fand und sie durch Krankheit und Tod wieder verlieren musste, erzählt aus seinem Leben, breitet nicht aus, wühlt nicht in Wunden, auch wenn der Zorn zuweilen aufblitzt. „Kind der Aare“ ist eine Hommage an eine verschwundene Welt. Das Schicksal aller, die alt werden und dabei nichts von ihrem scharfen Blick einbüssen. Bei der Lektüre fast schwarz-weiss, mit viel Bakelit und Stimmen und Bildern, die auch zu meinen Erinnerungen gehören. Hansjörg Schneider schlägt an und es schwingt mit.

Hansjörg Schneider liest anlässlich der 40. Ausgabe der Solothurner Litereraturtag an der Aare, seinem Fluss. Das Literaturfest findet vom 11. bis 13. Mai statt.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und einer Dissertation unter anderem als Lehrer, als Journalist und am Theater. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel und im Schwarzwald.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Michael Hugentobler „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“, dtv

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert „verabschiedet“ sich Hans Roth aus dem schweizerischen Schöndorn, um 1898 als Louis de Montesanto in London weltberühmt zu werden mit seiner sensationellen Lebensgeschichte. Michael Hugentobler zeichnet aber nicht einfach die Lebenssituationen eines Sonderlings nach. Er stellt Fragen, die nicht nur der Literatur gestellt werden, sondern dem Leben, der „Wahrheit“.

1898 tauchte in London ein Mann auf, der dort eine absurde und bizarre Geschichte erzählte, wie er dreißig Jahre lang unter Aborigines in Australien gelebt habe. Sein Reisebericht wurde unter dem Titel ›Adventures of Louis de Rougement‹ sogar zum Bestseller. Michael Hugentobler schreibt in einem Interview, wie er den Mann sofort ins Herz schloss. «Nicht weil er ein Lügner war, lügen kann jeder, aber nicht jeder kann mit so viel Phantasie lügen.»

In seinem Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erfindet Michael Hugentobler die Geschichten von Louis, der sich in seinem Roman «de Montesanto» nennt, neu. Die verrückte Lebensgeschichte eines kleinwüchsigen Wallisers, der in seiner Heimat nichts zustande bringt, zuerst bei einem Pfarrer Asyl erhält und dort «die Kunst, Wörter zu schreiben und sie zu lesen» zu lieben beginnt. Damals noch Hans Roth reist der junge Mann aber bald weiter, treibt sich während Jahren durch Dörfer, mal als Erntehelfer, Sattler, Tischlergehilfe oder Kartoffelschäler in einem Keller. Von vielen ge-hänselt treibt es ihn immer weiter, bis er in den Dienst der Schauspielerin Emma Campbell tritt, die ihn mit nach Paris nimmt, bis Hans unter dem Triumpfbogen die «Erleuchtung» kommt und er sich zu Louis de Montesanto macht.

Louis wird Butler eines Schweizer Bankiers und später Bediensteter von Sir William Stevenson, einem britischen Gouverneur auf einer Reise nach Australien. Aber dort wächst die Gewissheit, er würde so sein Leben damit verbringen, anderen zu dienen. Dies sei eine Form der Sklaverei, auch wenn sie bequem sei und ihn sättigte. Es treibt ihn weiter, zusammen mit seinem Colt Dragoon. Louis der Montesanto wird glückloser Kapitän auf einem Perlenfischerboot, strandet und verliert sich an der Küste Australiens, wo er von Aborigines «aufgenommen» wird und Jahre bei ihnen verbringt. Louis wird Vater zweier Kinder, verlässt die Ureinwohner genauso wie seine Familie, seine Kinder und landet irgendwann ausgezehrt und mit wilden Abenteuergeschichten in der Londoner High society, die nur darauf wartet, bis erkaltete Sensationen durch neue ersetzt werden.

Im zweiten Teil des Buches macht sich die Tochter Old Lady Long auf die Suche nach dem Grab ihres Vaters Louis de Montesanto, trifft ihren Bruder in einem mit Efeu überwachsenen Haus. Eine Suche nach einer Familie.
Und viele Jahre später ein Schweizer Journalist, aber nicht wie Old Lady Long mit einem Plan, sondern einem «unbestimmten Gefühl folgend».

Louis de Montesantos einziger Besitz, sein einziges Kapital, sind seine Geschichten, die er mit Phantasie aufzublasen weiss. Während 1898 die London Times titelt: Die Sensation des ausgehenden Jahrhunderts – 30 Jahre unter Wilden!, macht sich Louis auf den Weg vor die ehrwürdige Royal Geographical Society, um vor ihr zu sprechen und seine zum Bestseller gewordene Lebensgeschichte den Fragen der Wissenschaft auszusetzen. Es kommt zum Eklat und Louis verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. So sehr ihm eine ganze Welt zu huldigen scheint, so tief ist der Fall zurück in die Armut.

«Louis» oder Der Ritt auf der Schildkröte» ist eine Ikarus-Geschichte. Beispielhaft für viele, die sich im Laufe der Geschichte zu nahe an die verschiedensten Sonnen wagten, um gnadenlos abzustürzen. Über eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen lechzt, nach ihr geifert. Beim Erwachen aber spuckt man jene aus, demütigt sie ebenso, wie man sie fliegen liess. Dabei erzählte Louis eigentlich nur Geschichten, genau jene, die die Gesellschaft hören will.

Mein Interview mit Michael Hugentobler:

In Gesprächen um die Qualität einer Romans muss ich immer wieder eine Lanze brechen, dafür, was die Literatur darf. Sie darf erfinden. «Lüge» wird zum
Programm. Ausgerechnet in der Literatur traut man dem Buch nicht, wenn es an Glaubwürdigkeit zu verlieren scheint. So wie bei einem Film «nach einer wahren Begebenheit» suggeriert wird, dort bilde man die Wahrheit ab, prüft man Literatur wie Zeitungen nach ihrem Wahrheitsgehalt. Ihr Protagonist scheitert daran genauso wie Beispiele aus der Gegenwart. Brechen Sie eine Lanze?
Ich entschied mich bei Louis bewusst gegen die Reportage, die sich an die Wahrheit hält – und für den Roman, der Erfindung zulässt. Was mich an Louis fasziniert, ist seine feuerwerksartige Phantasie, und dafür ist die Fiktion die spannendere Form. In einer Reportage hätte das platt gewirkt, im Roman aber wird das Explosive spürbar. Ich verstehe natürlich, wenn sich Leser fragen, was nun wahr sei und was Erfindung – aber meiner Ansicht nach ist diese Frage irrelevant, denn ein Roman ist ein Kunstwerk und hat sich nicht an der Wahrheit zu messen. Ich habe Louis’ ohnehin schon erfundenen Namen nochmals neu erfunden, um genau das zu suggerieren.

Da zieht einer aus, aus der Enge der Schweiz, aus der Vor- und Fremdbestimmung hinaus ins Abenteuer. In ihrem Roman wird Louis de Montesanto auch zu einem Prediger der Bescheidenheit, gegen den Besitz, gegen Geld und Ballast, zu einem, dem schlussendlich niemand mehr zuhört. Wie weit ist ihnen «Verzicht» angesichts dessen, was uns in den Medien vor Augen geführt wird, Herzenssache?
Louis wird zwischen diesen zwei Polen hin und her gerissen: zwischen der Armut auf der einen Seite und dem Prunk auf der anderen Seite – bis es ihn schier zerreisst. Dass er Bescheidenheit predigt, zeigt sein Mass an Freiheit auf. Er ist ein unglaublich freier Mensch, der tut, was sich die meisten von uns nicht trauen würden: Den Namen ablegen etwa. Oder die eigenen Charaktereigenschaften ablegen und die Charaktereigenschaften des Gegenübers annehmen. Ich habe eine sehr ambivalente Beziehung zu Louis, gewisse Seiten an ihm kann ich nicht ausstehen. Andere bewundere ich sehr, zum Beispiel den an Askese grenzenden Verzicht – aber ich persönlich bin nicht so.

Ihr Roman ist eine «Ikarus-Geschichte». Wehe dem, der sich zu nahe an die Sonne wagt. So hoch hinaus, so tief der Fall. Und trotzdem lechzt die Gesellschaft heute genauso wie die Londoner Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert nach Sensationen, nach Menschen, die es wagen, Menschen, die ausbrechen, Menschen, die Sensationen verkörpern. Eigentlich wird Hans Roth alias Louis de Montesanto abgestraft für seinen Mut, seine Phantasie und seine Kompromisslosigkeit. Braucht die Gesellschaft nicht einfach doch nur die Bestätigung, dass Bravheit und Rechtschaffenheit das Mass aller Dinge sind?
Natürlich werden die Braven und Biederen immer die Frechen und Mutigen bewundern, sie beim Versagen aber gnadenlos abstrafen. Anders könnte die Gesellschaft wohl nicht funktionieren, sonst würde dieses fragile Gebilde zusammenbrechen. Seltsamerweise aber bleiben über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hauptsächlich jene in Erinnerung, die einst ausbrachen und Gefahr liefen, sich lächerlich zu machen. Odysseus zum Beispiel, oder Gilgamesch. Vielleicht braucht es diese Reibung, damit Funken sprühen und die Menschheit weiterbestehen kann.

Sie waren selbst lange Zeit in den verschiedensten Gegenden der Welt unterwegs. Ein Reisender mit Stift und Papier. Ist es heute nicht viel schwieriger zu reisen? Auf der einen Seite unendlich viel bequemer, aber fast nicht mehr wirklich hautnah, sich wirklich vom Bekannten entfernend?
Während den 13 Jahren, die ich unterwegs verbrachte, gab es einen ungeheueren technologischen Fortschritt. Auf meiner ersten Reise rief ich alle paar Wochen nach Hause an, aber danach hatte ich keinerlei Kontakt mehr zur Schweiz oder zu Europa. Ich stieg in einen Nachtbus und hatte keine Ahnung, wie es dort aussieht, wo ich an nächsten Morgen aussteigen werde. Ich kam als komplett Fremder in einer fremden Umgebung an – ein Gefühl, das ich über alles lieben lernte. Auf einer der nächsten Reisen richtete ich mir eine E-Mail-Adresse ein, und darauf kamen Tripadvisor, Google Earth, Facebook, noch im kleinsten Kaff konnte man ein Hotel mehrere Tage im Voraus reservieren und virtuell durch die Strassen der Ortschaft gehen. Ich urteile nicht darüber, welche Form des Reisens nun besser oder schlechter ist. Aber ich bin froh, dass ich nicht im 19. Jahrhundert unterwegs war. Allein das Fehlen von Penicillin hätte mich wohl sehr früh das Leben gekostet.

In einem Interview erzählen Sie, dass sie eigentlich die Lebensgeschichte ihrer Tante Mary zu einem Roman verarbeiten wollten. Waren Sie auf ihren Reisen auf den Spuren ihrer Tante? Wird aus der Absicht nun doch noch ein Buch? Oder warten Sie neben ihrer journalistischen Arbeit erst mal ab, bis jemand die Filmrechte kauft?
Mary ist ein Stoff, den ich seit vielen Jahren mit mir herumtrage und dem ich auch das eine oder andere Mal hinterher reiste. Ich würde die Geschichte lieber heute schreiben als morgen, aber die richtige Stimme habe ich leider noch nicht gefunden. Niemand kann wissen, was weiter mit Mary passiert.

Vielen Dank für das Interview! (Die Illustrationen stammen aus dem 1899 erschienen Buch «The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself», mit freundlicher Genehmigung des Verlags dtv)

Michael Hugentobler liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn aus seinem fulminanten Erstling, der mehr als nur nacherzählt. Michael Hugentoblers Roman sprüht vor Fabulierlust, zeichnet mit satten Farben und entlarvt eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen giert.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. ›Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte‹ ist sein erster Roman.

Webseite des Autors

Spezielle Webseite des Verlags

Titelfoto: Louis de Rougement: Der Mann, durch den diese Geschichte inspiriert wurde.

David Signer „Dead End“, lector books

David Signer schont mich nicht. Jede seiner acht Erzählungen ist ein Sinkflug in unbekannte Tiefen. Entgleisungen, die nicht aufzuhalten sind. Derart authentisch geschrieben, dass nie die Frage auftaucht, ob es möglich wäre. Der Erzählband „Dead End“ ist eine literarische Achterbahn, mit erstaunlichem Zug geschrieben, sprachlicher Hochgenuss, wahrhaft mitreissend!

Wenn im Frühling die Liste der Eingeladenen zu den Solothurner Literaturtagen erscheint, liest als erstes die blanke Neugier, welche Namen einem im vergangenen Lesejahr entgangen sind. (Und jedes Jahr auch die Überraschung darüber, dass erwartete Namen ausbleiben.) Bei David Signers gewichtigem Erzählband „Dead End“ gelang die Leseüberraschung total. Da schreibt eine unverbrauchte Stimme mit Leidenschaft und grossem Können. Da bricht eine untypische Schweizer Stimme ins Grossräumige auf, auch wenn sich Schauplätze im Bekannten verorten lassen. Da versteht es einer, mit einer ungeheuren Sogwirkung Extremsituationen zu beschreiben, die sich wie Alpträume anfühlen.

Christian Hartmann erhält einen Brief von einer Anwaltskanzlei aus Spanien. Man bittet ihn nach Valencia, um dort sein Erbe anzutreten. Eine Kassette, über deren Inhalt man keine Angaben machen könne, die man aber persönlich abzuholen habe gegen eine Kaution in fünfstelliger Höhe. Christian Hartmann ist mit Recht vorsichtig. Weiss er doch, wie gerne sich mit der Sehnsucht und Gier des Menschen krumme Geschäfte machen lassen. Mit aller Vorsicht und Skepsis nimmt er Kontakt auf und fliegt dann doch nach Spanien, immer mit dem sicheren Gefühl, das Heft sicher in der Hand zu haben, die Zügel jederzeit herumreissen zu können, sich nicht einwickeln zu lassen. Aber ich als Leser ahne es, leide mit bis zum bitteren Ende.

Mirko und Fred fahren nach Berlin. Sie wollen abtauchen in eine lange Kette angesagter Clubs, allen voran das Berghain, ein mächtiger Koloss mitten in Berlin, abtauchen mit Hilfe von Ecstasy und Koks, tief in die Unterwelt des Menschen, vorbei an Figuren und Fratzen, die an eine Geisterbahn erinnern. So tief und so plausibel, dass man sich beim Lesen die Augen reibt, erst recht ein Landei wie ich. Fred auf der Suche nach einem Mädchen – eine Geschichte, eine Stimme, die es so, wie sie in seiner Erinnerung feixt, hineinzieht in diese krasse Welt der Extreme.

Arthur, der vierzigjährige Soziologe, eine Mischung aus ewigem Student und Yuppie, nie wirklich in der universitären Hierarchie durchgestartet, in seiner Beziehung und seinem Beruf dauernd auf der Kippe zwischen Genügen und Ungenügen, verfängt sich in den Wirren von Widersprüchen. Ein anonymer Anruf denunziert ihn bei seiner Frau, er habe eine Freundin, treffe sich mit ihr, belüge sie. In seinen hilflosen Versuchen der Rechtfertigung verheddert er sich immer mehr und immer tiefer, bis sich die Schlingen so fest zusammenziehen, dass der Fall unweigerlich, unaufhaltsam, unvermeidlich wird.

David Signer bewegt sich in seinen Erzählungen dort, wo niemand hingeraten will. In einer Sprache, die mich überrascht und überzeugt. In einer Leichtigkeit, die mich mehr an angelsächsische Literatur erinnert, als an sonst mehr nach innen gerichtete deutsche Literatur. Erfrischend, vielversprechend!

Und wenn man sich akustisch noch mehr in die Geschichten vertiefen will, bietet der Salis Verlag auf deiner Webseite den entsprechenden Soundtrack!

David Signer liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn vom 11. bis 13. Mai. Ich freue mich sehr auf diesen Auftritt. Literatur mit Sound und Groove!

David Signer, geboren 1964, ist promovierter Ethnologe. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Der Bild- und Textband „Grüezi – Seltsames aus dem Heidiland“, in Zusammenarbeit mit Andri Pol, erschien 2006, seine Romane „Keine Chance in Mori“ und „Die nackten Inseln“ 2007 und 2010 bei Salis. David Signer ist Afrika-Korrespondent der NZZ und lebt in Dakar.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Hans Joachim Schädlich «Felix und Felka», Rowohlt

Rom 1933. Felka Platek (1899) und Felix Nussbaum (1904), beide junge Künstler, sind Gäste in der Villa Massimo, die im gleichen Jahr von Reichspropagandaminister Josef Goebbels besucht wurde, um unmissverständlich klarzumachen, wem Kunst und Kultur in den kommenden tausend Jahren zu dienen hatte.

Als ein anderer deutscher Maler, ebenfalls Gast in der Künstlervilla in Rom, Hans Hubertus von Merveldt Felix Nussbaum in seiner Verachtung vor Zeugen mit Fäusten niederschlägt, braucht es keine Interpretation, um die Zeichen der Zeit zu verstehen. Felix und Felka sind Juden – und Rom und Italien mit Benito Mussolini ein Bruderstaat Nazideutschlands.

Nicht nur für die beiden jungen Künstler beginnt eine unruhige, ungewisse Zeit, eine ungewisse Reise durch Europa, eine Reise, die immer mehr zur Flucht wird. «Felix und Felka» ist der Roman einer Emigration, die es nicht schafft, den Abstand zum Bösen, zum Schrecken, zum Tod genug gross werden zu lassen. Der Roman einer Flucht nach innen, den Kampf gegen immer unmöglicher werdende Sachzwänge, die das Paar aber immer näher aneinander schweisst.

Hans Joachim Schädlich erzählt fast nur in direkter Rede, gibt seinem Roman dadurch etwas dokumentarisches. Man glaubt während des Lesens je länger je intensiver, die Stimmen der beiden zu hören. Das Geschehen, das Erzählen ist auf das Wesentlichste konzentriert. Was wie Szenen chronisch aneinandergereiht ist, sind Schlaglichter in ein aufgeschrecktes Leben zu zweit, dessen Enge und Düsterniss immer aufsässiger werden.
Das Buch ohne Schutzumschlag, in goldfarbenes Leinen gefasst und schwarz geprägtem Titel ist wie eine mit Seiten gefüllte Gedenktafel wider das Vergessen. Genau jetzt, wo sich vom Volk gewählte Politikerinnen und Politiker um historische Verantwortung drücken, Argumentationen selbst im deutschen Bundestag immer mehr jener von damals ähneln, in Europa, wo Fremdenfeindlichkeit und Abschottung zu Eckpfeilern von Politik werden und sich kaum mehr jemand traut, offen  Opposition zu ergreifen, weil man Wählerstimmen verlieren könnte, in einer Zeit, in der ganze Städte in Deutschland im Würgegriff Rechtsradikaler zittern, ist ein solches Buch wichtiges Mahnmal. Auch wenn es von jenen Blinden nicht gelesen wird.

Felix und Felka waren aufstrebende Künstler. Beide starben 1944 in den Gaskammern von Auschwitz. 1942 festgenommen wie Verbrecher, verraten von einem jüdischen Kollaborateur, vernichtet wie Hunderttausende anderer, die es aus meist ganz profanen Gründen nicht geschafft hatten, ihr Deutschland «rechtzeitig» zu verlassen.

«Felix und Fleka» ist mit grössmöglicher Sachlichkeit erzählt. Ihrer beider Odyssee von Rom über Paris und Ostende nach Brüssel ist die eine rast- und aussichtsloser Flucht zweier Menschen, die es wie viele andere nicht fasssen konnten, was mit und in ihrer Heimat geschieht. Alles in ihrem Leben ordnete sich zweier Bewegungen unter; der Flucht und ihrer Kunst. Alles, wonach der Mensch heute zu streben scheint; Genuss, Wohlstand, Sicherheit und Selbstbestimmung war für Juden und andere Volks- und Glaubensgruppen damals, vor nur einem Menschenleben, schlicht inexistent.

Als Ende September die deutsche Wehrmacht Polen überrannte, die Heimat Felkas, die wenige Monate zuvor Felix geheiratet hatte, spricht aller Schmerz aus ganz wenig:
«Es ist Krieg, Felka!»
«Mein armes Polen.»
«Mein verfluchtes Deutschland!»

Zu hoffen ist, dass Stimmen wie jene von Hans Joachim Schädlich in den Fluten von Oberflächlichkeit und gedrucktem Schrott die ihnen gebührende Aufmerksamkeit finden!

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Zuletzt veröffentlichte er die Novelle «Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.» und den Roman «Narrenleben» – «ein historisches Panorama von vibrierender Intensität» (Deutschlandradio Kultur). Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.