Mathijs Deen «Unter Menschen», mare

Noch ist der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt. Das müsste sich mit seinem Roman «Unter den Menschen» ändern, weil in einer Art und Weise erzählt wird, die in Sprache, Konstruktion, Inszenierung und Intensität gleichsam betörend und bestechend wirkt. Der Roman erinnert an den grossen Gerbrand Bakker mit seinem Meisterwerk «Oben ist es still».

Irene hat auf eine Annonce von Jan reagiert. Nur nicht mit ihrem richtigen Namen. Sie nennt sich Will, hat es auch mit anderen Namen an Jans Anschrift adressiert probiert. Aber Jan will Will. Weil es nach dem plötzlichen Tod von Jans Eltern zu ruhig auf dem Hof hinter dem Deich geworden ist.
Irene will eine Welt, die ihr entglitten ist, hinter sich bringen, will vergessen. Und Jan weiss, dass er es in den langen Wintern erst recht nicht aushalten wird, wenn ein Gegenüber genauso fehlt wie eine Aufgabe auf dem Hof.

Ich führte mit Mathijs Deen ein Interview:

Ein Fleck am Meer, hinter einem Deich. Zwei Menschen versuchen es. Der Deich schützt und ermöglicht das Leben am Meer. Die Routine, das Gewohnte schützen Jan – und Lügen Wil, die eigentlich Irene heisst, vor Konfrontationen in ihrem Leben. Ist es die Angst vor dem, was da ist, was nicht zu leugnen wäre, wie das Meer hinter dem Deich? „Unter den Menschen“ klingt als Titel wie der zweite Teil des Unausgesprochenen; Einsamkeit unter den Menschen, Missverständnisse unter den Menschen, Stille unter den Menschen… Kann man jemand anderen jemals verstehen?

Die Idee für die Kulisse des Romans ist entstanden, als ich als Radiojournalist viel im Norden des Provinz Groningen herumgereist bin und die isolierten Bauernhöfe am Deich in den Poldern liegen sah. Ein Kollege machte in dieser Zeit ein Interview mit einen Ehepaar, das viele Jahre in so einem isolierten Haus unter dem Deich gewohnt hatte, jetzt aber in ein Seniorenheim gezogen war. Er hat sie gefragt, wie sie beide auf das Leben zurückschauten, und da hat der Mann geantwortet, er vermisse das Meer, und die Frau antwortete, sie vermisse das Land. Ihr ganzes Leben lang hatten die beiden in die andere Richtung geschaut.
So einen Startpunkt in so einer offenen Kulisse, das fand ich schön. 

Da brauen sich Stürme zusammen, solche, die aus der Vergangenheit nie ganz vergessen und überwunden wurden, Stürme über dem Meer, Stürme zwischen dem Mann und der Frau. Stürme, die ausbrechen und wieder abflauen. Wussten Sie während des Schreibens immer, wohin Sie die Geschichte trägt.

Jan nähert sich den Problemen des Lebens von der Tradition heraus, Wil vom Willen heraus. Jan strebt nach Kontinuität, Wil nach einem Neuanfang.
Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, wusste ich nicht, wie es enden würde. 

Jan und Irene sind Archetypen. Irene versucht, wonach sich viele sehnen; einen klaren Bruch, einen Neuanfang. Und Jan ist der, den erst ein Sturm aus den gewohnten Bahnen reissen kann. Wollten Sie die Extreme aneinander „austesten“?

Ich wollte tatsächlich «die Extreme aneinander austesten», wie Sie observiert haben. Nach und nach lernte ich, Jan und Wil zu lieben, natürlich weil sie beide einen Teil meiner Persönlichkeit repräsentieren: ein innerer Kampf zwischen ‹wer ich bin›, und ‹wer ich sein möchte›.
Wenn am Ende des Buches die Natur selbst das Ruder übernimmt und ein Kind geboren wird, kommen die beiden für einen Moment zusammen. Für Jan bedeutet es, dass er Wil akzeptieren muss, wie sie ist (Irene), und für Wil bedeutet es, dass sie akzeptieren muss, dass es Momente gibt, in denen sie die Kontrolle verliert. Vielleicht überflüssig zu sagen: Wil auf niederländisch bedeutet auch: Wille. Und Irene bedeutet Frieden.
Der Schnee macht die beiden Welten diesseits und jenseits des Deiches gleich.

„Unter den Menschen“ ist ein Kammerspiel; mehr oder weniger zwei Akteure, wenig Kulisse, dafür viel Horizont. Kein Wunder soll ein Film daraus werden. Sie kennen den Ort hinter der Düne genau, ebenso die Menschen, die Gegensätze zwischen Unberechenbarkeit und Gleichförmigkeit, sei es in der Kulisse oder beim Personal. Wo lag der Ursprung dieses Buches?

Dass Sie Jan und Wil als Manifestationen von Unberechenbarkeit (Wil/Meer) und Gleichförmigkeit (Jan/Land) charakterisieren, ist eine tolle Beobachtung. Ein isoliertes Haus in einer Umgebung, wo zwei sich ausschliessende Welten koexistieren, aber dennoch streng getrennt sind. Der Deich trennt die beiden Welten, ermöglicht jedoch gleichzeitig, dass sie zusammenleben. Die ideale Kulisse für eine Geschichte, in der zwei Menschen versuchen, sich mit dem Leben und miteinander abzufinden.

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, stellte sich genau jenes Glücksgefühl ein, worauf ich beim Lesen stets hoffe. Ich war da, liess die Geschichte und die Protagonisten nicht gerne ziehen, bin Teil des Geschehens geworden, habe mich von Sprache, Stimmung und Bildern betören und bewegen lassen. Vielleicht liegt es daran, dass Sie mit „kleinen“ Gesten Grosses erzählen, dass nicht alles ausgemalt wird, Leerstellen bleiben. Haben Sie nicht Angst, dass der Zauber bei einer Verfilmung verloren gehen könnte?

Ich habe mir vorgenommen, mich nicht einzumischen. Für mich sind ein Buch und ein Film zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich weiss schon jetzt, dass der Regisseur die Geschichte in eine ganz andere Kulisse verschieben will, und Jan und Wil etwa andere Berufe bekommen. Ich bin gespannt. Ich kenne die Regisseurin und ich habe Vertrauen in sie. Grossartig, dass aus meinem Buch eine neue Geschichte entstehen kann. «Unter den Menschen» schreiben hat mich gelehrt, dass es kein Problem ist, wenn man die Kontrolle verliert. Dass da sehr schöne neue Dinge entstehen können.

Leben ist das permanente Zugeständnis, die Kontrolle zu verlieren. Ist die Geschichte, der Roman ein Bild ihrer eigenen Sehnsüchte und Ängste?

Sie fragen nach meinen eigenen Sehnsüchten und Ängsten. Man kann immer eine Menge darüber sagen, aber oft weiss der Schriftsteller selbst auch nicht, aus welchem dunklen Keller die Sätze ins Licht klettern. Was entsteht, ist eine Geschichte, die auf eigenen Beinen stehen kann.
Es hat mir gefallen, dass Jan einfach er selbst bleibt, und in seiner Beziehung zu Wil einfach seiner Erziehung, seiner Herkunft, seiner Empathie und seinen Wünsche vertraut. Aber ich glaube, dass es in mir einen unruhigen und rebellischen Kern gibt, der eher Wil ähnelt. Was die vergebliche Suche nach dem Kern der eigenen Persönlichkeit angeht, und die ständigen Versuche, sich mit dem immer mitreisenden Unglück und Ängsten zu versöhnen, bin ich Wil ähnlich.

Lesen Sie dieses Buch. Es wird lange nachklingen!

Mathijs Deen, geboren 1962, ist Schriftsteller und Radioproduzent. Zu den von ihm veröffentlichten Büchern zählen Romane, Kolumnensammlungen und ein Band mit Kurzgeschichten. Unter den Menschen erschien erstmals 1997 und wurde 2016 in einer überarbeiteten Fassung als Wiederentdeckung gefeiert, in deren Zug auch die Filmrechte verkauft wurden.

Der Übersetzer Andreas Ecke, 1957 in Wuppertal geboren, studierte Germanistik, Niederlandistik und Musikwissenschaft und arbeitete viele Jahre als Buchhändler. Er übersetzte u. a. Bücher von P. F. Thomése, Geert Mak, Cees Nooteboom, Otto de Kat und Gerbrand Bakker ins Deutsche. Für seine Übersetzung des Romans Oben ist es still von Bakker erhielt er 2010 den Else-Otten-Übersetzerpreis, 2016 den Europäischen Übersetzerpreis. Ecke lebt in Bonn.

Webseite des Autors (holländisch)

Hansjörg Schertenleib «Der Stich»

Er sitzt allein an einem Tisch im Biergarten und versucht, sich mit der Hitze zu arrangieren. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, lehnt er sich auf dem Stuhl zur Seite und legt die rechte Hand auf den Stamm des Baumes, dessen Blätterdach das Abendlicht filtert. Die vernarbte, stellenweise von tiefen Rissen aufgesprengte Rinde des Baumes fühlt sich an wie die Haut eines uralten Tieres, fällt ihm ein. Er riecht an seinen Fingern und denkt seltsamerweise an Rossseich. Greift Wind in die Äste, blitzen Lichtsicheln über die Tische, das Kies, und die Gesichter der Gäste. Rossseich! Was für ein Wort, er hat es lange nicht mehr gedacht. Er reagiert hektisch, ja panisch auf die Wespen, die über den Gastgarten herfallen, nervös auf- und absteigen, hektisch Runden fliegen, Achten, Ellipsen, oder wie schwankende, schwere Transporthubschrauber an seinem Tisch auftauchen und nicht einmal mit wedelnden Händen vom Kurs abzubringen sind. Gelegentlich schliessen sich die Wespen zu Kampfgeschwadern aus vier, fünf Insekten zusammen, die im Verbund anfliegen, vor seinem Gesicht in der Luft stehen bleiben und nur in die Höhe steigen, abdrehen und ein anderes Glas, einen anderen Teller anfliegen, wenn er mit beiden Händen fuchtelt und laut schimpft. Die Gelassenheit, die Wespen nicht zu beachten, geht ihm ab.  Es gibt nicht viele Tiere, die er nicht mag: Schlangen, Aale, abgerichtete Hunde, Wespen.

Von seinem Tisch geht der Blick über ein aufgebocktes Boot hinweg auf einen Kanal, auf dem manchmal, geräuschlos wie in einem Traum, Paddelboote vorbeigleiten. Am Himmelsausschnitt über seinem Kopf jagen Schwalben, das flaschengrüne Wasser des Kanales spiegelt Büsche, Bäume. Ein Junge steht unter einem Baum am Ufer des Kanals und drischt mit einem Stecken auf die Blätter eines herunterhängenden Astes ein, um sie zu zerfetzen. Warum steht er nicht auf und greift ein? Weil er keine Lust hat auf eine Auseinandersetzung mit dem Mann, wohl der Vater des Jungen, der auf der Treppe sitzt, die zum kleinen Bootshafen des Hotels führt, raucht und das Kind stolz anlächelt. Eine Krähe stösst ihre knarzenden Rufe aus, in irgendeinem der Bäume über ihren Köpfen, höhnisch, anklagend, ein Verbündeter im Geäst? Er lebte mehr als zwanzig Jahren in Irland und hat gelernt, Landsleute treffsicher zu erkennen. Um zu wissen, dass das Paar, es sitzt zwei Tische entfernt von ihm, wie er aus der Schweiz stammt, müsste er deshalb gar nicht hören, welche Sprache sie sprechen. Er bräuchte dem Mann also nicht zuzuhören und tut es doch. Wie viele Männer aus seiner alten Heimat sich doch über ihre Zeit im Militär definieren! Das Gesicht des Mannes strahlt, die Episode aus seiner Rekrutenschule, wie viele Jahre mag sie zurückliegen?, macht sein Gesicht frisch, der schön geformte Mund der Frau dagegen wird schmal, wird Strich. Der Mann, er scheint von Satz zu Satz jünger zu werden, erzählt von einer Velofahrt, die seine Kameraden und er in der drittletzten Woche der Ausbildung durchzustehen hatten, hundertachtzig Kilometer auf dem schweren Waffenrad, ohne Licht, ohne Lärm, die dreissig Kilogramm des Sturmgepäcks am Rücken, Rad an Rad über den Julier, ohne den Hintern aus dem Ledersattel zu heben, denn das war streng verboten. Als sie endlich auf der Passhöhe ankommen, befiehlt ihnen der Major, abzusteigen. Der Russe, behauptet er grinsend, hat Nägel gestreut, was die todmüden Rekruten um die herbeigesehnte Talfahrt betrügt, da sie ihre Velos, um den imaginierten Nägel zu entgehen, den langen Weg talab schieben müssen. Der Mann hat sich ins Feuer geredet, das Gesicht der Frau verrät, sie hat die Erinnerung zu oft gehört, um Bewunderung oder wenigstens Interesse zu heucheln. Der Mann räuspert sich, wirft die Stoffserviette auf den Tisch, steht abrupt auf und verschwindet mit steifem Gang in der Gaststube. Die Welt, sie ist ein Jammertal, denkt er und sieht die Rekruten vor sich, die die Phantasie ihres Majors verfluchen und sich doch danach richten, indem sie verstohlen nach Nägeln Ausschau halten. Die Hitze, die wie eine Glocke über dem Spreewald steht, zwänge meine früheren irischen Nachbaren in die Knie, weiss er, und greift nach der Serviette, um sich den Schweiss von den Unterarmen zu wischen. Dass sich eine Wespe in der Serviette verbirgt, begreift er erst, als er damit über die linke Ellbeuge streicht: es ist mehr als vierzig Jahre her, seit er das letzte Mal von einer Wespe gestochen worden ist; der jähe Schmerz schlägt die Brücke in seine Jugend. Der Stich brennt wie Feuer, wird zündrot, schwillt aber bloss leicht an. Ist er allergisch? Er zerdrückt die Wespe mit der Serviette, beugt den Arm, auf, zu, auf zu, bemüht, ruhig zu atmen und auf keinen Fall in Panik zu geraten. Die Frau am Nebentisch sieht ihn aufmerksam an und gibt seinen Blick erst frei, als er beruhigend lächelt und den Kopf schüttelt. Damals hat er jedenfalls nicht allergisch auf den Stich reagiert; er war barfuss über die Wiese hinter dem Elternhaus seiner Mutter im Salzkammergut gegangen, in der, von Vogelschnäbeln malträtiert, von Wespen umschwirrt, Birnen lagen, und mit dem linken Fuss auf eine Wespe getreten. Er hatte über die Wiese gehen wollen, um Helga zu küssen, das erste Mal überhaupt ein Mädchen zu küssen, Helga, das Nachbarmädchen, das im Dämmerlicht des Schopfes auf ihn wartete, in dem sein Onkel nach Schichtende in der Saline Liebes- und Jagdszenen in Knöpfe und Gürtelschnallen aus Hirschgeweihen schnitt. Helga, das Mädchen, das bellend und abgehackt lachte, als amüsiere es sich über etwas, das überhaupt nicht lustig war, Helga, das Mädchen, das seinen gestochenen Fuss massierte, bevor sie ihm beibrachte, wie man küsst, richtig küsst, auch wenn man sich nicht liebt, Helga, die mit 22 Jahren unter den Zug ging, hundert Meter vom Bahnhof in Bad Ischl entfernt, Helga mit den Sommersprossen und den dicken gelben Zöpfen, nach denen er griff wie nach Seilen, weil sie ihm den Halt gaben, den er sonst nirgends fand. Er hat den süssen Moderduft der faulenden, gärenden Birnen in der Nase, den der Wind nachts in sein Schlafzimmerchen unter dem Dach trug, das er mit seiner Schwester teilte, spürt den damaligen Stich in der Fusssohle brennen, während er den Stich in der Armbeuge, den er eben erhalten hat, massiert. Er glaubt, Helgas Lippen zu spüren, beschliesst, ein weiteres Glas von dem Grauen Burgunder zu trinken und schliesst die Augen, um in der Vergangenheit zu weilen, bis der Kellner an seinen Tisch tritt.

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Rezension mit Interview von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Delphine de Vigan «Loyalitäten», DuMont

Delphine de Vigan erzählt jenen Teil des Lebens, der schmerzt. Und dabei schont sie weder sich selbst noch den Leser. Man kann Delphine de Vigans neusten Roman als eine verwobene Geschichte derer erzählen, die sich in entgegengesetzten Loyalitäten unentwirrbar verstricken. Oder aber man liest ihren Roman als gesellschaftlichen «Klimabericht», wie sich Wolken und Stürme zusammenbrauen, die sich die Gesellschaft selbst einbrockte.

Théo ist 12, ein guter Schüler, still, zurückhaltend, unauffällig. Er trifft sich mit seinem einzigen Freund Mathis, manchmal in einem Versteck unter einer Treppe im Schulhaus, manchmal bei Mathis zuhause oder irgendwo in den Regionen der Grossstadt Paris, die sich der Kontrolle entziehen. Sie trinken. Flaschenweise. Immer mehr. Trinken, bis ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, bis sie sich im Dämmerzustand von Rausch und Beinahebewusslosigkeit von all den Zwängen und Klammergriffen befreien können. Théo Eltern sind getrennt, entzweit. Seine Mutter eingespannt in ihren Beruf, ihr schlechtes Gewissen und die Angst, dass alles zu kippen droht. Sein Vater lebt abgeschottet in seiner Depression in seiner vermüllten Wohnung in einem Hochhaus in der gleichen Stadt. Arbeitslos geworden, aus dem Tritt geraten ringt er seinem Sohn, der jede zweite Woche bei ihm verbringt, das Versprechen ab, seiner Ex nichts von seinem Niedergang, seinem Elend, seiner Ausweglosigkeit erzählen, aus Angst, damit das Sorgerecht zu verlieren.

Théo lebt viele Leben. Das des perfekten Sohnes und Schülers, das des Verbündeten seines Vaters. Das des letzten Rettungsankers im kaputten Leben eines Ausgestossenen. Das eines braven Verbündeten einer Mutter, die vom Vater nicht einmal den Geruch in den Kleidern des Sohnes erträgt. Das des Wissenden, Weiler genau spürt, wie sehr seine Mutter unter dem Druck ihres Lebens zu schwanken beginnt. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Mathis macht mit, trinkt mit. Auch er Opfer im Grabenkrieg seiner Eltern. Einer Familie, die sich hinter einer wohlgehüteten Fassade versteckt, alles tut, damit die stinkenden Geheimnisse nicht ans Licht geraten. Mathis will weder seine Eltern noch seinen Freund verlieren, spürt aber ganz genau, dass der Abgrund an beiden Fronten unaufhaltsam auf ihn zurast. Nur zu gerne würde sich Mathis seiner Mutter anvertrauen. Aber er weiss, dass dann Welten einstürzen, seine Freundschaft in Gefahr ist. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Und Helène, die junge Lehrerin der beiden Freude, der das Verhalten der beiden immer mehr Rätsel aufgibt, lässt sich zu Spekulationen hinreissen, spürt, dass etwas geschieht, was schlecht ist, was aufzuhalten wäre. Sie, die als Kind von ihrem Vater misshandelt und gedemütigt wurde, die sich geschworen hat, nicht und niemals wegzuschauen. Sie, deren Blick durch die eigenen Biographie geschärft ist, die Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen. Sie setzt sich ein und damit aus, eckt an, verteilt sich in ihrem ungebrochenen Eifer, droht alles aufs Spiel zu setzen, an ihrem Kampf zu zerbrechen. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Was mit Théo und Mathis geschieht ist Spiegel der Gesellschaft. Immer früher werden Sucht- und Betäubungsmittel aller Art zu ständigen Begleitern, auch bei Kindern. Die Lust, Grenzen auszuloten mag eine Ursache sein. Aber als Erklärung taugt «Grenzerfahrung» nicht. Théo zerstört sich.

Delphine de Vigan beschreibt Enge, manövriert mich als Leser in eine Atmosphäre der psychischen Gewalt, die selbst die Autorin während des Schreibens zu überraschen schien, wie sie an einer Lesung im Literaturhaus Zürich erklärte. «Brutal und banal.» Scheidungskinder, die in Extremsituationen stehen, nur schon dann, wenn Elternteile verbal über den jeweils anderen herziehen, die sie als Kinder beide lieben wollen (und müssen). Delphine de Vigan schürt nicht in Gefühlen, auch nicht in jenen des Lesers. Sie ist Seismographin, Stimmengeberin jener, denen die Lautstärke und Kraft fehlt.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension von «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

Angelika Waldis «Ich komme mit», Wunderraum

Als ich dieses Buch Anfang November kaufte meinte die Buchhändlerin: Sie werden sehen, das wird Ihr Buch des Jahres 2018, worauf ich entgegnete, ich lasse mich gerne überraschen aber eigentlich hätte ich meine Wahl bereits getroffen …

Eine Buchbesprechung von Elisabeth Berger, gehalten am 10. Dezember im «Tröchneturm» in St. Gallen, am Bücherabend am Kamin

Ein Leben-bejahendes Buch für jung und alt, in einer ganz jungen Sprache.
Wir lernen Lazar Laval kennen, genannt Lazy, Student und Vita, um die 70.
Die beiden wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus und machen sich manchmal Gedanken. Vita etwa, wenn sie die roten Turnschuhe vor der Tür stehen sieht. Lazy, wenn er der etwas schrägen Alten von oben wieder einmal begegnet.
Vita hat irgendwann das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, weil die roten Turnschuhe wochenlang unverändert dastehen. Und so erfährt sie, dass Lazar immer wieder ins Spital muss, weil er Leukämie hat. Nun macht sich Vita noch mehr Gedanken. Ihr Helferinstinkt regt sich. Lazar ist zeitweise so schlecht unterwegs, dass er Vitas Fürsorge immer mehr zulässt. Von den gelegentlichen Wurstbroten anfänglich, geht er später regelmässig bei ihr essen. Und als es noch mehr bergab geht mit ihm, bekommt er das Zimmer von Vitas Sohn Moritz, der in Australien lebt und sich selten meldet. Die beiden reden und schweigen zusammen, können lachen, sich auch in Ruhe lassen und entwickeln ein Art Wortspielerei beim Philosophieren darüber, was Leben eigentlich ist.

Als es Lazy immer mieser geht, sagt er irgendwann: «Wenn die nächste Chemo nichts bringt, dann hau ich ab.» – und Vita sagt: «Ich komme mit.»
Vor der endgültigen Abreise findet Vita, sie könnten aber vorher nochmals richtig verreisen. Und weil Lazy fasziniert ist von allem, was sehr alt ist (weil er es selber nie werden wird, wie er vermutet), geht die Reise in die Türkei zur ältesten Tempelanlage der Welt (Göbekli Tepe), erbaut vor mehr als 11’000 Jahren (7000 Jahre älter als Stonehenge und die Pyramiden von Giseh).
Die Reise ist schwierig. Einerseits hat Lazy eine Begegnung, die ihn wieder Leben spüren lässt, andererseits macht sein Körper immer weniger mit. Und wieder zuhause wollen sie eigentlich das geplante Vorhaben umsetzen … eigentlich …

Trotz der Thematik ist das Buch zu keinem Moment schwer, was am lockeren, aber zu keiner Zeit oberflächlichen Schreibstil liegt. Und am ganz überraschenden Schluss.

Gastbeitrag von Elisabeth Berger

Angelika Waldis liest aus «Ich komme mit» am 18. Februar um 20 Uhr in der Kellerbühne St. Gallen.

© Peter von Felbert

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen.

Webseite der Autorin

Katrin Seddig «Das Dorf», Rowohlt

Sechs Wochen Sommerferien für die 12jährige Jenny, ein unsäglich langer Sommer für den 17jährigen Schulabbrecher Maik, ein Sommer zum Vergessen für Arno, der mit seiner Familie weg aus der Stadt aufs Land zog, aufbrechende Sommerhitze für Helmut, der längst kein Bauer mehr ist, aber mit eiserner Hand Leben an sich fesselt, auch das der wilden «Nackten» – und vielleicht der letzte Sommer für Ingetraut, die Alte.

Es ist flimmernd heiss im Dorf. Eine Strasse zerschneidet die Siedlung, das was von ihr übrig geblieben ist, ein paar Häuser, kein Geschäft mehr, keine Schule, kein Gasthaus, in dem man sich trifft. Diejenigen, die schon lange im Dorf wohnen, sind alt geworden. Und jene, die jung sind, gehören irgendwie nicht dorthin. Weder die Verlorene mit ihrer Tochter Jenny, auch nicht Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern. Auch Maik nicht, der in seinem Zimmer auf dem Bett liegend die Decke studiert oder mit dem Mofa ziellos in der Gegend herumfährt. Endzeitstimmung ohne die Geschehnisse in eine Dystopie zu transformieren. Katrin Seddig schafft es von der ersten Seite ihres neuen Romans «Das Dorf» die Szenerie in einen unsichtbaren Vulkan zu setzen. Als würde der Boden unter den Geschehnissen mit jeder Seite mehr beben und dampfen.

Jenny ist kein Kind mehr. Aber auch von niemandem der Erwachsenen ernst genommen. Im Dorf lebt niemand mit Kindern, ausser die Neuen in einem der Reiheneinfamilienhäuser, die sich aber nie zeigen. Da ist nur Maik, fünf unendlich lange Jahre älter, das Tor zu einer Welt, auf die Jenny aufspringen will, einer Welt, vor der sich Maik fürchtet. Es wird eine Freundschaft, die in den Augen der Erwachsenen keine sein darf. Welcher 17jährige gibt sich schon ohne Absichten mit einer 12jährigen ab. Aber genau das will Maik. Maik hat keine Absichten, gar keine, hängt in seinem Leben, zwischen nichts und den vorwurfsvollen Kommentaren seiner Mutter. Sie beide, Jenny und Maik, entfliehen dem, was an ihnen klebt, einem Leben, das sie nicht teilen möchten.

Im gleichen Dorf lebt Ingetraut, lebt noch, denn sie weiss, dass es nicht mehr lange dauern kann. Sie wartet auf ihre Erlösung, glaubt, dass Maik ein wichtiger Teil davon sein wird, ihr Erlöser, ihr Jesus. Denn im Dorf hockt der Wahn. In Helmut, dem brutalen Bauer, der seine Tochter Elke einsperrt, die wilde «Nackte», die auf ihren Liebsten wartet, den Albaner, den Arno in einem Geschäft an Helmut vermittelte, für das Stück Land, auf dem das Leben von Arnos Familie zur Ruhe kommen soll. Aber der Albaner ist weg, verschwunden.

Es kocht und brodelt. Man liest «Das Dorf» im Wissen um die drohende Katastrophe. Eine der Qualitäten des Romans ist seine Unvorhersehbarkeit. Man spürt die Hitze, das Böse im Verborgenen, den Dampf in den Rissen der Oberflächlichkeit. Ein Buch der Gegensätze, der Pole. Hier das Zarte einer Freundschaft zweier, die sich im Dazwischen von Kindheit und Erwachsenen bewegen, dort das Brutale hinter den Mauern des Festgefahrenen, Unumstösslichen.

Ein Interview mit Katrin Seddig:

Was reizte Sie am Schauplatz Dorf? Das leer gewordene Schulhaus, trüb gewordenen, ausgeräumte Schaufenster, Fässer und Autoreifen in Hinterhöfen, verschrobenes Personal und himmelschreiende Gegensätze?

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen und weiß, wie sich Dorfstrukturen mit der Zeit verändert haben. Auch in meinem Dorf gibt es keinen Dorfladen mehr, keine Poststelle, keinen Gottesdienst. Dennoch gibt es in mir und auch in vielen anderen eine Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Natur. Es ziehen ja auch viele wieder auf das Land, die vorher in urbanen Strukturen gelebt haben und jetzt ausdrücklich das Gegenteil suchen. Daraus ergibt sich wieder eine neue Änderung der dörflichen Strukturen. Vereinzelt kehrt ja sogar Altes zurück, es werden Genossenschaftsläden gegründet, zum Beispiel. Das Thema hat mich einfach persönlich beschäftigt. Und dann eignet sich so ein Setting natürlich gut für eine Geschichte. 

Auf der einen Seite die 12jährige Jenny, ein Mädchen voller Energie und der 17jährige Maik, eingepackt in ein Leben ohne Perspektiven. Auf der anderen Seite die Alten, Verwundeten, in sich und Situationen Gefangenen. Lieben Sie es, Gegensätze aufeinander prallen zu lassen? Der Roman als Experimentierfeld?

Natürlich. Es ist ja wichtig, wenn man etwas herausarbeiten will, dass man eine Art Reibung erzeugt. Daran, an diesen Funken, lässt sich ja, sozusagen, die Wahrheit erahnen.
In dem Fall von Maik und Jenny schien es mir notwendig, Jenny als so einen offenen, willensstarken Charakter zu erschaffen, um den Altersunterschied zu dem lethargischen Maik auszugleichen. Ein voll im Leben stehender Maik hätte sich wohl kaum zu einer Freundschaft mit einer Zwölfjährigen hinreißen lassen.

Foto © Carina Middendorf

Ingetraut, nur „die Alte“ genannt, sieht im 17jährigen Maik, der mit seinem Mofa und Jenny auf dem Sozius durchs Dorf brettert, ihren Jesus, den Erlöser, was er dann auch irgendwie wird. Wenn auch weniger Er- als Auslöser. Braucht es Katastrophen, um einem Geschehen eine wirkliche Wendung zu geben?

Es braucht jedenfalls Auslöser, und das kann vielleicht auch ein unverhofftes Glück sein. Warum soll sich etwas ändern, wenn sich nichts ändert? Natürlich könnte sich auch ein kleines Unglück auf einen Haufen weiterer kleiner Unglücke häufen, und dann, irgendwann, explodiert das Ganze. Das ist auch eine Lösung. Aber Katastrophen eignen sich gut, um die Geschichte in Gang zu bringen, in extremen Situationen zeigen sich die Menschen etwas mehr. 

Im Dorf wohnt seit kurzem auch Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern in einem frisch gebauten Einfamilienhaus. Weggezogen von der Stadt, in der er sich gefangen fühlte, in der Hoffnung, aus seinen mehr oder weniger illegalen Geschäften dereinst aussteigen zu können. Er verheddert wie fast alle im Dorf in Ausweglosigkeit. In Ihrem Roman „Das Dorf“ bleibt auch vom Ideal „Familie“ nicht viel übrig. Warum?

Zum einen ist es eine Beobachtung, die ich mache, und die ich umsetze. Anscheinend funktioniert das nicht mehr, wie es Jahrhunderte funktioniert hat. Oder vielleicht hat es vor allem so funktioniert, wie bei einem Vertrag, an dem man festhielt. Heute hält man nicht mehr an Vielem fest und das ist auch ein Problem. Auf der anderen Seite, und ich finde, das wird im Buch auch deutlich, finden sich zarte „Wahlverwandtschaften“ zusammen. Maik und Jenny und die Alte, das wäre so eine kleine Familie, die sich aus Neigung zusammenfindet. Und auch Jenny findet ja wieder zur Mutter, ihrer winzigen Ursprungsfamilie,  zurück, aber freiwillig und aus echten Gefühlen heraus. Wir haben uns ja nun mal entschlossen, unseren Gefühlen den Vorrang vor Verträgen zu geben. Da müssen wir dann halt auch sehen, wie wir in unserer Gesellschaft damit umgehen und ob wir damit glücklich werden können.

Menschen scheitern an ihren Lebensträumen. Das Mädchen Jenny ist voll von Lebensträumen. Ihr heftigster; nie so wie Mutter werden. Sind Lebensträume in „fortschreitendem Alter“ gefährlich? Wäre es nicht viel besser, sich all ihrer zu entledigen, um jeden Tag wie Maik neu zu erfinden.

Lebensträume können sehr gefährlich sein. Sie sind ja auch oft Illusionen über die eigenen Möglichkeiten. Die Frage ist sehr schwierig, und ich fürchte, ich kann sie nicht beantworten. Das ist ja die große Frage danach, wie man leben soll. 

Foto © Heike Blenk

Katrin Seddig, geboren 1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: «Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern.» 2012 erschien «Eheroman», zu dem «Der Tagesspiegel» meinte: «Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht»; 2015 der Roman «Eine Nacht und alles». Für ihre Erzählungen erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg.

Webseite der Autorin

… und was für ein Cover! Wer sich im Netz nach der Schöpferin umsieht, den Namen Oriana Fenwick eingibt, wird überrascht sein:

kombinatrotweiss.de, eine Webseite, auf der Illustrator*innen ihre Arbeiten präsentieren

Webseite der Illustratorin Oriana Fenwick

Beitragsbild © Oriana Fenwick (mit freundlicher Genehmigung der Illustratorin)

Lieber Wolf Haas

Ich lief in Zürich der Limmat entlang und sah in Eile diesen Mann, den ich kannte. Ich war schon ein paar Schritte weiter, als es mir in die Erinnerung schoss. Das waren Sie, Wolf Haas, von dem ich eben ein weiteres Buch gelesen, über den ich mich gerade eben im Zug mit einem Freund unterhalten hatte. Ich ging die paar Schritte zurück und schaute durch die grosse Fensterfront. Sie sassen in einem tiefen Sessel, schauten in ihr Mobilephone. Auf dem Tischchen vor ihnen stand ein halb volles Glas Fruchtsaft. Oder zumindest sah es alkoholfrei aus. Ich zögerte einen Augenblick, entschied aber, dass es keiner dieser endlos vielen Augenblicke werden sollte, die ich in meinem Leben unter dem Titel „Ich hätte es tun sollen“ abbuche. Ich betrat das Lokal, überhörte den Gruss der jungen Frau hinter der Theke und stellte mich vor Sie. Ich grüsste Sie mit Namen, wollte die Reaktion prüfen, meine letzten Zweifel beseitigen, sieht doch jemand, den man sonst nur aus Interviews auf dem Bildschirm oder aus Reihe 28 bei einer Lesung in einem riesigen Saal kennt, in der eigenen Realität entscheidend anders aus. Sie hoben den Kopf, grüssten zurück und ich sagte meine Sätze, wie sehr ich ihr Buch mag, wie sehr ich ihr Schreiben bewundere und wie tief ich mich vor ihnen verneige. Sie lächelten, nahmen die Huldigung wie einer entgegen, der sich noch immer wirklich freut, was wiederum mich freute. Ich zog mich wieder zurück, liess sie wieder allein in Zürich an der Limmat, bei einem Fruchtsaft und ihrer Verbindung in den Äther.
Ich war unterwegs ins Literaturhaus, ein paar Blocks weiter. Delphine de Vignan las. Jetzt im Nachhinein frage ich mich, was geworden wäre, wenn ich noch ein paar Bissen Mut mehr gehabt hätte, wenn ich sie frech gefragt hätte, ob ich mich für ein paar Minuten hätte zu ihnen setzen dürfen. Ich tat es nicht, das war gut. Sie schenkten mir einen Blick, ihre Überraschung und ihre Freude. Und einen Augenblick, den ich wohl noch einige Male erzählen und ausschmücken werde, bis er eine Erinnerung wird, jener Moment, als ich Wolf Haas in Zürich traf.

Lieber Herr Frei-Tomic,
vielen Dank für Ihre Nachricht an Wolf Haas, die wir dem Autor weitergeleitet haben. Herzliche Grüße, der Verlag

Lieber Wolf Haas,
«Junger Mann» ist, was man von einem Haas erwartet. Er muss etwas anders sein, als alles andere, was man liest; der Schauplatz normaler, der Witz direkter,  die Pointen schlagender, das Personal in seiner Art so bieder, dass es einem im Kleid der 70er Jahre schon wieder schräg erscheint. «Junger Mann» ist ein echter Haas; mit Schalk erzählt, so gekonnt konstruiert, als würden Sie einfach bloss aus Ihrem Leben erzählen. Ein Buch, das nach seiner Verfilmung schreit, das im besten Sinn unterhält, ohne nie auch nur einen Hauch Oberflächlichkeit zu verströmen.

Ein Junge wächst auf, wo die High Society ihre Ruhe in grossen Häusern sucht und alle andern sonst nur weg wollen. Und wer es nicht schafft, hofft auf die Wende nach der Ausbildung oder das Geschäft mit denen, die in den Ferien in den grossen Häusern leben. Der Junge macht einen Ferienjob an der Tankstelle, nach einem Beinbruch von allzu viel tröstender Schokolade aufgequollenen einen orangen Overall gezwängt. «Danke Fräulein», piesackt man ihn. So wie Tscho in seinem Truck, wenn der Junge auftankt und das Insektenmassaker von der Frontscheibe putzt. Tschö hat eine Freundin, eine Frau, Elsa, die dem Jungen nach winterlichem Frontscheibenkratzen wie eine Erscheinung unauslöschlich ins Herz schiesst. Aber er, der Junge, von dem Sie, Herr Haas, bei Interviews verraten, dass einiges von Ihnen in der Geschichte steckt, in seiner Speckhülle vom Glück abgetrennt, bleibt weggeschlossen, irgendwie vom Leben abgetrennt. Also beginnt er zu fasten. Und so wie die Kilos schwinden, nimmt ihn das Leben im Dorf immer mehr mit, bis ihn Tscho heisst, in den Truck zu steigen. Er brauche ihn, den Gescheiten, als Dolmetscher. So wird der zweite Teil Ihres Romans ein Roadtripp. Tscho braucht seinen Begleiter aber nicht, um an der Grenze zu dolmetschen. Der Junge soll aber durchaus vermitteln, schlussendlich sogar mit einer Knarre in der Hand.

Lieber Herr Haas, Sie erzählen Geschichten, die anrühren, ohne je kitschig zu sein. Mit Ihrer unverwechselbaren Art des Humors entgehen Sie allen Untiefen der Rührseligkeit. Wer «Junger Mann» gelesen hat, mag Sie noch mehr als zuvor, denn Sie schneiden nie auf, nie. Auch nicht, wenn Sie vor vollem Saal hunderte von Begeisterten verzücken.

Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Seine Brenner-Krimis erschienen ab 1996 in acht Bänden, zuletzt «Brennerova» (2014). Der Roman «Das Wetter vor 15 Jahren» erschien 2006, «Verteidigung der Missionarsstellung» 2012 bei Hoffmann und Campe. Wolf Haas lebt in Wien.

Beitragsbild © Josef Perndl

Konrad Pauli «Nur eine Katze»

Die nicht mehr junge Katze gehörte, sozusagen als Stammgast, zur Metzgerei Schori. Zum Betteln war sie zu vornehm, dafür sass sie vormittags beinahe stundenlang vor, will sagen neben der Tür – denn sie hatte gelernt, keinem Kunden ein Hindernis zu sein. Sie sass da und wartete. Sie wartete auf das Stückchen Fleisch, das ihr irgendmal vor die Pfoten gelegt wurde. Ging man an der Metzgerei vorbei – mit Sicherheit war sie da. Sie liess sich streicheln, sie war hier zu Hause. Einmal schaffte sie es gar in die Quartierzeitung. Nun kannte sie jedes Kind, jetzt war sie ein Star ohne Allüren. Nach über hundertjährigem Familienbetrieb hat die Metzgerei Schori nun die Pforten geschlossen. Davon weiss die Katze noch nichts. Wie gewohnt steht sie – ein Vorbild an Geduld – vor der Tür, aber bald scheint sie zu spüren, dass hinter geschlossenen Storen die alte Ordnung nicht bloss ins Wanken geraten war, sondern die endgültige Veränderung eingeleitet hat. Ungläubig harrt sie aus. Sie geht zwar weg, kommt auf Umwegen aber wieder zurück – noch kann sie nicht fassen, was man ihr angetan hat. Doch die Storen knattern nicht mehr hoch. Kein Lichtblick ins Innere. Keine Verheissung, auf deren Erfüllung zu warten sich lohnt. Noch wärmt die Herbstsonne. Streichelt im Vorbeigehen ein Kind die Katze, knistert ihr Fell. Aber die warmen Tage sind gezählt. Ob die Katze aus der Heimatlosigkeit herausfinden wird, ist ungewiss.

 

Atempause

Regelmässig kurz vor Mittag macht der alte, bauchstarke, indes rüstige Mann Pause vor dem Eingang zur Coop. Es steht da ein Metallgestell, vollgestopft mit einem Dutzend Besen. Auf diesem Gestellrand thront breitbeinig, wie angeklebt, der stattliche Mann – umrahmt vom Kranz der neuen Besen. Man möchte ein Foto machen, scheut sich aber davor, möchte den Mann auch nicht um Erlaubnis bitten, denn er kann im Laden auch mal mit den Armen rudern, sich Platz verschaffen und lautstark alle Hindernisse verfluchen. Man lässt ihn also dort sitzen und das Büchsenbier geniessen – wie eine Trophäe hält er es in der Hand. Man wagt nicht einmal den Augenkontakt, leicht erlebt er Solches als Provokation. Über den Rollator gebeugt steht heute ein Altersgenosse bei ihm – und der Biertrinker fasst, so als stehe er auf grosser Bühne, ein leises Votum seines stillen Gastes zusammen: Ja, das waren noch Zeiten, früher, als wir noch Zeit hatten.

 

Atempause II

Eine Atempause. Doch wofür ist sie zu nutzen? Womit sie füllen? Ist’s ein Zwang, ein Naturgesetz gar, dem Nützlichkeitsgedanken nachzuhängen und eine womöglich harmlose Leere füllen zu müssen? Käme man sich allenfalls abhanden? Was verlöre man im Verpassen, im Liegenlassen? Stets hat man eine Ahnung davon, könnte gar Manches aufzählen. Zu erledigen ist Vieles.  –  Erledigen? Muss getan sein  –  aber nicht alles passt in diese Kategorie, diese Schachtel. Was aber ist ausserhalb? Da rumort das Ungewisse, nicht hurtig Benennbare. Ahnungen, vage Vorsätze zuhauf. Aber halt. Es fällt zu leicht, im Wolkenkuckucksheim alles Diffuse bloss anzuhäufen.
Besser, man hält sich ans Konkrete. Was da ist im Augenblick: Herbstblätter scherbeln dürr über den Asphalt, es ist, als wollten sie ihn ritzen; mit einigen inszeniert der Wind einen kreisrunden Tanz. Ein Paar- oder Gruppentanz, rasch wieder auseinander gerissen. Zwei kleine Mädchen auf Minifahrrädern wehren sich kreischend, aber entzückt gegen die Kippgefahr der Böen. Ein Hund jagt einem flüchtenden Ahornblatt nach. Soldaten mischen ihre Tenü-Tarnfarben ins Herbstliche. Die dünnen Wolken wissen nicht, wohin sie ziehen sollen. Mit den immensen Auswahlmöglichkeiten können sie vorerst wenig anfangen. Dass die Böen bodenwärts ziehen, will wenig heissen. In Minuten kann sich Vieles ändern. Vorerst aber tragen die Passanten ihre Jacken und Mäntel offen. Ein Milan fliegt wie noch nie so niedrig über die Dächer. Hinter Wolkenschleiern erbleicht das Sonnenlicht. Nicht lange lässt die Dämmerung  auf sich warten. Womöglich ist bei solchem Verweilen wenig gewonnen, aber kaum etwas verpasst worden.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen „Ein Heldenleben“, „Seit jeher unterwegs“, „Marcos Blicke in Seeland“, Weitergehen“ und „Ein Romantiker in nüchterner Zeit“ (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Ich lade Sie ein: Mit Hansjörg Schertenleib an einem Tisch!

Am Mittwoch, den 13. Februar liest und diskutiert Hansjörg Schertenleib mit Gästen am Esstisch an der St. Gallerstrasse in Amriswil über seine Novelle «Die Fliegengöttin». Bei Wein, Käse, Brot und mehr sind sie herzlich eingeladen, mit dem Autor über sein Buch, das Schreiben, Literatur und das Leben als Schriftsteller zu diskutieren. Für 30 Fr. ist Ihnen ein ganz besonderer Genuss gewiss.

Der Abend beginn um 19 Uhr. Eine schriftliche (info@literaturblatt.ch) oder telefonische Anmeldung (071 695 36 69) ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich. Der Abend schliesst spätestens um 21.30 Uhr. Vorteilhaft für ein gutes Gespräch; Sie haben «Die Fliegengöttin» gelesen!

«Die Fliegengöttin» bewegt. Hansjörg Schertenleib bewegt. Ein alt gewordenes Paar kämpft sich nach vielen gemeinsamen Jahren durch den Alltag. Er von Zweifeln und Schuld getrieben, sie eingeschlossen in ihre Krankheit. Er an seinen Grenzen, sie verloren weit über Grenzen hinaus. Hansjörg Schertenleib schrieb keine Novelle um die Krankheit Alzheimer, sondern um einen Mann, der an sich und seiner Situation zu zerbrechen droht.

Es geschah schon öfters, dass ich mit meiner Frau bei einem Spaziergang darüber sprach, was mit uns geschehen wird oder würde, wenn jemand von uns beiden erkrankt oder sterben wird. Etwas, was nicht einfach Möglichkeit ist, sondern irgendwann Tatsache wird.

Eilis und Willem sind seit vielen Jahrzehnten ein Paar, gemeinsam alt geworden, nachdem die Kinder aus dem Haus ausgezogen waren. Willem kam als junger Mann in Irland mit dem Schiff an Land, hat ein Leben hinter sich gelassen, eine schwangere Frau, eine Geschichte, die er mit niemandem teilte. Er lernte Eilis kennen, eine Frau, die ihn mit ihrer Bestimmtheit bezauberte, mit der Art, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Es kamen Kinder, Arbeit, Aufgaben, bis Willem erneut gezwungen war, sich mit quälenden Realitäten auseinanderzusetzen, diesmal ohne äussere Flucht, dafür umso mehr mit einer inneren.
Eine Tochter stirbt und ein Sohn stellt sich verkrusteten Konventionen entgegen. Dem einen hat er nichts entgegenzusetzen, dem andern verschliesst er sich, trotz dargebotener Hand seines Sohnes. Willem beginnt sich treiben zu lassen, lässt sich auf eine Beziehung mit der Frau seines besten Freundes ein. Und nun im Alter, nach dem gegenseitigen Versprechen, sich nicht mit einer Krankheit alleine zu lassen und dem anderen ein unwürdiges Dasein zu ersparen, ist Willem allein. Neben Eilis, die sich durch Alzheimer fast ganz aus ihrem Körper verabschiedete. Er spürt seine aufkommende Härte, dass ihm auch hier die Kraft fehlt, zu seiner Realität zu stehen. Wie damals, als er eine Schwangere sitzen liess, wie bei seiner Tochter, die er sterben lassen musste, wie in der verschütteten Beziehung zu seinem Sohn, der Lüge in seiner Liebe zu Eilis und einem Versprechen, dem er nicht standhält.

Eilis und Willems Ehe ist wie ein Haus mit vielen Zimmern. Ein Haus mit Zimmern, die unwiederbringlich geschlossen und verloren sind, ein Haus, aus dem Willem immer mehr verdrängt wird.

Hansjörg Schertenleib Novelle ist von so ergreifender Zartheit und Klarheit, dass man während der Lektüre zum Atemholen gezwungen wird. Hansjörg Schertenleib leuchtet in die Tiefen Willems, beschönigt nicht, obwohl in vielen seiner beschriebenen Szenen genau die Zartheit schimmert. Hansjörg Schertenleib leuchtet nicht aus, lässt Schatten im Verlaufe der Geschichte noch grösser werden, lässt offen, deutet nur an. Es sind die Szenen zwischen Eilis und Willem, die Dialoge, die keine wirklichen mehr sind, die Berührungen, die im Nichts verlaufen, die leeren Gesten, die leeren Sätze von Eilis genauso wie von Willem. Ich als Leser spüre die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung in Willems Situation, ohne dass ich während des Lesens mit in die Tiefe gezogen werde. Es ist die Art des Schreibens, Hansjörg Schertenleibs Sprache, die das verhindert, all die überaus starken Szenen, die ein Vielfaches von dem erzählen, was geschrieben steht.

Ein Interview mit Hansjörg Schertenleib:

Ein Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau bei sich zuhause behält, gegen den Rat fast aller, weil sie sich einst ein Versprechen gaben. „Fliegengöttin“ ist eine Liebesgeschichte über Grenzen hinaus, ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe bei aller Bürde und ein Buch über die Macht des Versprochenen. Sind Versrechen nicht längst antiquiert?Versprechen sind in der Tat antiquiert. Ich bin aber ein altmodischer Autor (und Mensch…) der grossen Wert legt auf Begriffe wie ‹Loyalität›, ‹Moral›, ‹Ehrlichkeit›. Ich mag keine Menschen und keine Erzählfiguren, die sich vor Verantwortung drücken.

Willem und Eilis sind Jahrzehnte zusammen, haben Stürme überlebt, selbst den Tod der einen Tochter. Alzheimer ist Hein Sturm, sondern eine langsam werdende, ewig dauernde Flaute. Wer lange mit jemandem zusammen ist, wer in Partnerschaft alt wird, muss sich irgendwann der Tatsache stellen, dass jemand unheilbar krank werden könnte, der eine zuerst stirbt. Warum glaubt der Mensch, sich den Fragen des Sterbens verschliessen zu können?
Weil der Mensch in der Regel die Tendenz hat, Problemen aus dem Weg zu gehen. Literatur darf dies nicht. Sie muss sich den Problemen stellen, muss sie verhandeln und in Geschichten verwandeln. Wobei es mir gerade bei existenziellen Problemen sehr wichtig ist, das Schwere leicht zu machen und zum Schweben zu bringen. Was im Fall meiner Novelle ‹Die Fliegengöttin› eine nicht eben einfache Aufgabe war. Ich will die Leserschaft mit einem guten Gefühl aus dem Text entlassen, ohne jedoch schön zu malen und Problemen aus dem Weg zu gehen.

Sie schreiben sich ganz nah an das Paar Eilis und Willem. Es ist unvermeidlich, dass ich als Leser glauben muss, sie wären tatsächlich Zeuge gewesen. Es sind die beschriebenen Gesten und vor allem die Dialoge mit der an Alzheimer erkrankten Ehefrau, die die Novelle in anrührender Zärtlichkeit so sehr authentisch machen. Alzheimer ist viel mehr als bloss ein Aufhänger in einer Geschichte um Liebe und Freundschaft. Kann man seinen Personen in einem Roman als Schriftsteller auch zu nahe treten?
So man als Autor seine Figuren mit Respekt behandelt, kann man ihnen nicht zu nahe treten, nein. Wobei es in meiner Arbeit immer auch um die nötige Distanz geht – diese zu finden und dennoch Nähe zu schaffen, ist eine der Schwierigkeiten, die sich am Schreibtisch stellen.

Sie beweisen sich in allen Ihren Büchern als Meister der „Beziehungs-inszenierung“. Es sind nie Nabelschauen. Die Personen werden nie nackt, keine geozentrierte Reflexion. Sie reduzieren das Personal Ihrer Bücher auf das Minimum, auch das, was erzählt werden muss. Wirkt die Landschaft Ihres Schreibortes in Irland?
Selbstverständlich hat mich die Landschaft Irlands – oder Donegals, um genau zu sein – beeinflusst, was meine Sprache, meinen Satzbau, meinen Duktus und den Rhythmus meiner Sätze betrifft. Nach 22 Jahren Irland bin ich nun freilich weitergezogen. Neuer Schreib- und Denkort ist die kleine Insel Spruce Head Island an der US-Ostküste Maines. Auch diese Landschaft wird mein Schreiben ohne Zweifel entscheidend beeinflussen.

Willem trägt viel Schuld mit sich, ungeteilte Schuld. Eine schwangere Frau, die er einst sitzen liess, eine Verantwortung, vor der er floh. Den einen Sohn, dessen Neigungen er nicht akzeptieren will und kann. Seitensprünge mit der Frau seines Freundes. Und mit der Krankheit seiner Frau, bei der er dieser eine Versprechen einzulösen hätte, sein Unvermögen, sein Zögern, die Blicke seiner Frau. Wie entscheidet der Schriftsteller, wie viel er in ein Buch „einpacken“ kann?
Das entscheide nicht ich, der Autor, das entscheidet die Geschichte, die ich erzähle. Handlungen der Figuren müssen motiviert werden, damit sie für die Leserschaft nachvollziehbar sind. Allerdings ist es wichtig, eben diese Handlungen nicht zu stark zu motivieren, da sonst die Gefahr des ‹Holzschnittes› besteht und komplizierte Vorgänge, und das sind alle Vorgänge zwischen Menschen, zu sehr zu vereinfachen. Auch hier muss die richtige Mischung gefunden werden. Was bedeutet, das ich nach der 1. Fassung in den folgenden 2. und 3. Fassungen in erster Linie streiche, streiche, streiche.

Ich danke Hansjörg Schertenleib für das Interview.

© Milena Schlösser

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Perikles Monioudis «Robert Walser», Deutscher Kunstverlag

Robert Walser (1878 – 1956) ist unbestritten einer der Grossen in der Schweizer Literatur. Die Verehrung für ihn und sein Werk mag auch ein klein wenig im Wunsch nach Wiedergutmachung liegen einem Mann, einem Künstler gegenüber, den man zeitlebens nicht erkannte, dessen grosse Literatur sich nicht verkaufen liess, schon gar nicht in seinem Heimatland. Einem Mann gegenüber, der sich in der zweiten Hälfte seines Leben fast ganz in sich selbst zurückzog.

Robert Walser stirbt am Weihnachtstag 1956 78jährig auf einem einsamen Spaziergang im Schnee. Einsam. Fast vergessen. Obwohl er in renommierten deutschen Verlagen seine Romane («Fritz Kochers Aufsätze» bei Insel, «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten» bei Cassirer) veröffentlichte, obwohl einmal Feuilletonist in fast allen grossen literarischen Zeitschriften, gelobt von Hermann Hesse und Franz Kafka, hatte man den stillen Schreiber fast vergessen.

Glücklicherweise besann man sich, wenn auch viel zu spät. Und dass es heute in Bern ein sehr umtriebiges Robert-Walser-Zentrum gibt, zeigt, wie gross, tiefgründig und vielgestalt der Kosmos Robert Walser ist. In seinem «geistigen Exil» in der Heilanstalten Waldau und schon zuvor in Bern begann Robert Walser winzig klein auf alle mögliche Zettel, Karten und Blätter zu schreiben. Seine «Mikrogramme» entstanden, die man erst nach dem Tod Robert Walsers ernst nahm; kleine Texte, Gedichte und ganze Romanentwürfe. Auch ein Zeichen seines Rückzugs, seiner Enttäuschung. Genauso wie seine Neigung, seine Schmerz mit Alkohol zuzudecken.

Robert Walser wuchs in der Enge des Kleinbürgertums in Biel auf, als siebtes von acht Kindern. Das Glück meinte es mit der Familie nicht gut; sozialer Abstieg, Sorgen um Sorgen, Depressionen der Geschwister, Selbstmord seines Bruders. Robert Walser wird Kommis (kaufmännischer Angestellter) in einer Bank, träumt von einer Schauspielerkarriere, die ihm versagt bleibt. Er beginnt zu schreiben. Sein erstes Buch erscheint im renommierten Insel Verlag in Berlin. Aber niemand kauft, niemand liest das Buch. Robert Walser verliert sich in der Grossstadt, kehrt zurück in die Enge eines Büros, schreibt weiter.

Robert Walser beginnt sich erst recht zurückzuziehen, als auch die weiteren Bücher nicht die erhoffte Aufmerksamkeit erreichen. Auch sein Beziehungsnetz ist klein und fragil. Sein Bruder Karl, der an den Bühnen Berlins ein gefragter Bühnenbildner, Maler und Illustrator wird, heiratet und scheint weniger Zeit zu haben. Frauenbekanntschaften sind schwierig. Alles Motive in seinen Texten.

Perikles Monioudis nähert sich mit viel Respekt und sehr behutsam der zerbrechlichen Figur Robert Walser, einer Figur, die sich in vielen seiner Lebensphasen allzu leicht dem heutigen Verständnis entzieht. Man spürt Monioudis› Verehrung für den grossen Schweizer, ohne dass er Robert Walser mit verklärtem Blick betrachten würde. Perikles Monioudis ruft in Erinnerung, was in einer Zeit, in der das Allerneuste das Neuste jagt, in der auch im Literaturgeschäft Sternchen viel zu schnell verblassen und man auf Klappentexten über Superlativen strauchelt, kaum mehr Platz hat: Da schrieb einer «Kleiner», der Grosses schuf, einer, den man übersah und überhörte.

Das Buch aus dem Deutschen Kunstverlag gehört zu einer ganzen Reihe überaus attraktiver Bände quer durch die Literatur: Marcel Proust, Else Lasker-Schüler, Selma Lagerlöf, Kurt Vonnegut… Ein idealer Einstieg oder Wiedereinstieg in die Werke grosser Literaten.

Robert Walser in Berlin, um 1907, © Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern

Ein kleines Interview mit Perikles Monioudis:

In diesem Buch über Robert Walser wird nichts darüber verraten, warum gerade sie der sind, der dieses schreibt. Wie kam es dazu?
Ich wurde direkt vom Verlag angefragt, ganz ohne Agentur. Das Angebot ehrte mich, denn für die Reihe schreibt die Crème des deutschen Feuilletons. Für mich stand von Anfang an fest: ich verfasse keine sekundärwissenschaftliche Arbeit, sondern ich schreibe über Walser entlang dessen, was mich und alle anderen Literaten mit ihm verbindet, nämlich entlang des – wie ich es nenne – poetischen Instinkts. So habe ich Fakten zu Leben und Werk Walsers zum Teil gänzlich anders gewertet und gewürdigt als seine früheren Biografen, die erstens weit weg vom literarischen Schreiben als Lebensinhalt und Mittel der Lebensführung entfernt waren und zweitens Walser mangels anderer Möglichkeiten über ihren eigenen Kamm scherten, ihn also über ihre eigene Lebensauffassung sich zurechtschrieben und als armen, verkannten Tropf stilisierten. Dabei suchten sie Walser über weniger wichtige Momente wie etwa das vielzitierte Dienen zu fassen. Das ist kein guter Ansatz. Walser war zu seiner Berliner Zeit der bestvernetzte Schweizer Schriftsteller. Er war stolz – und er hatte jeden Grund dazu. Ich bin glücklich darüber, dass die Walser-Forschung heute neu aufblüht, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler nehmen sich Walsers Leben und Werk wunderbar innovativ und substantiell an. Walser wird erstmals sehr breit gelesen – auch im Ausland, wie die vielen neuen Übersetzungen zeigen.

Was liegt ihnen ganz speziell an der Figur Robert Walser?
Er suchte den Erfolg in Berlin mit aller Kraft, aber er blieb ihm versagt. Er versuchte, sein Schicksal zu zwingen. Wir wissen aus der griechischen Tragödie, dass man das nicht tun sollte, man darf sein Schicksal nicht zwingen, denn die Strafe folgt auf dem Fuss. Spass beiseite: Walser ertrug es nicht, keinen Publikumserfolg zu haben, obwohl doch für praktisch alle massgeblichen Literaten und Kritiker seiner Zeit sein Talent unbestritten war. Er schämte sich, er machte sich unsichtbar, so peripher wie möglich, auch vor sich selbst. Alles, was er in Berlin und anschliessend – vor seinem literarischen Verstummen – in der Schweiz wollte, war ein Ort, an dem er schreiben konnte. Der Ort wechselte häufig. Viele halten das an sich für wichtig und veranstalten etwa in Bern Spaziergänge zu den Wohnungen Walsers. Das ist grober Unfug. Walser folgte seinem poetischen Instinkt, er war kein Zirkustier, das man über seine «Unstetigkeit» zu fassen und auszustellen versuchen sollte. Zum Glück ist da als Korrektiv das Walser-Zentrum in Bern, das auch vor Ort eine vorzügliche Arbeit leistet.

Robert Walser, Spaziergang in Gais, 16.4.1956 (Karfreitag)
Foto: Carl Seelig, © Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern

Ich las das Buch von „Wanderungen mit Robert Walser“ von Carl Seelig wie die Bücher Robert Walser schon als Student. Ihre Wirkung war fast noch stärker als jene der Bücher von Hermann Hess. Was wäre mit Robert Walser und seinem Nachlass passiert, hätte es Carl Seelig nicht gegeben?
Walser wäre uns ohne Seelig bestimmt ein ganz dickes Buch mit sieben Siegeln statt wie heute ein etwas weniger dickes Buch mit sieben Siegeln geblieben. Sie dürfen dabei aber nicht vergessen, dass Walser alles dafür getan hat, ein solches zu sein. Er verwischte seine Spuren, setzte falsche, wollte seine Nachwelt narren. Das ist ihm – nicht nur zu Lebzeiten – auch geglückt.

Erinnern Sie sich an Ihre erste „Begegnung“ mit Robert Walser?
In der Kantonsschule brachte uns unser Deutschlehrer die Werke Walsers richtig nahe. Meine grüne Walser-Gesamtausgabe aus jener Zeit ist von Eintragungen übersäht … ich habe sie aufbewahrt. Daneben stehen Bände der ersten Walser-Gesamtausgabe aus dem Kossodo-Verlag. Ich hatte Helmut Kossodo, den Berliner Verleger mit Westschweizer Wohnsitz, in den frühen Neunzigerjahren kurz vor seinem Tod in Genf noch besuchen dürfen.

Perikles Monioudis, geboren 1966 in Glarus, hat rund zwanzig literarische Bücher veröffenticht, zuletzt die Romane «Frederick» (dtv Hardcover, 2016) und «Land» (dtv, 2017). Er wurde u.a. mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, dem Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbands und zuletzt mit dem Glarner Kulturpreis ausgezeichnet.

Ich danke ganz speziell dem Robert-Walser-Zentrum für die beiden von ihnen zur Verfügung gestellten Bilder!

Webseite von Perikles Monioudis

Robert Walser Zentrum

Ich danke Perikles Monioudis für das Interview.

Beitragsfoto © Keystone / Robert Walser-Stiftung

Zaza Burchuladze «Touristenfrühstück», Blumenbar

Georgien war Gastland an der Frankfurter Buchmesse 2018. Über Gäste spricht man nicht schlecht. Aber wenn man den Gesprächen mit dem georgischen Schriftsteller Zaza Burchuladze im Netz folgt, dann wird klar, wie dieses Land am Schwarzen Meer, zwischen Russland und der Türkei eingekeilt, von innen und aussen zerbröselt wird. In „Touristenfrühstück“, vom Verlag als Roman bezeichnet, erzählt Zaza Burchuladze von diesem „Zerbröselungsprozess», nicht nur in seinem Heimatland, sondern als Folge auch ihn ihm selbst.

„Vielleicht werde ich damit leben müssen. Vielleicht ist das meine Prüfung. Vielleicht bin ich verdammt, Tbilissi in mir herumzutragen wie einen Flaschengeist.»

Zaza Burchuladze, der in Georgien als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren gilt, musste sein Land 2014 verlassen, nachdem ihm offen mit dem Tod gedroht und er auf der Strasse verprügelt wurde. Seither lebt der Autor in Berlin. Seine Bücher werden in seinem Heimatland öffentlich verbrannt.

In seinem 2017 ebenfalls bei Blumenbar veröffentlichten Roman «Adibas» erzählt Zaza Burchuladze vom «Fünf-Tage-Krieg» 2008 mit Russland. Während der Himmel über der georgischen Stadt Tiflis von russischen Kampfjets zerrissen wird, vergnügt sich die Mittel- und Oberschicht ausgiebig und ausgelassen. «Es wird gevögelt, gekokst, es wird gelebt, gefeiert, aber wenig nachgedacht.» Ein Bild, das sich nicht nur in Georgien zeigt. Während man anderorts verhungert, verdurstet, während selbst Kinder ertrinken und vergessen werden, verglüht und verraucht hier schnell, was an gewissen Tagen mediales Entsetzen hervorbringt.

Zaza Burchuladze lebt in Berlin, im Ungewissen darüber, ob er je in sein verlorenes Georgien zurückkehren kann. Zaza Burchuladze ist voller Zweifel darüber, dass seine Sprache «klebrig, pampig, wie Beton geworden ist. Sie fliesst nicht mehr so wie früher.» Zweifel darüber, nicht mehr zu wissen, für wen er schreibt.

«Natürlich bin ich nicht der einzige, der die Vergangenheit in sich und mit sich herumschleppt wie eine Flaschenpost auf offener See, wobei es fraglos ist, dass die darin enthaltene Nachricht keinen allgemeinen Wert hat.»

Als Leser begleite ich in «Touristenfrühstück» den Autor auf seinen Gängen durch Berlin, in seinem Alltag in einer Stadt, die ihm die Entfernung zu seiner Heimat unsäglich unendlich scheinen lässt, ein ander Mal nur durch Oberflächlichkeiten verborgen. Auf dem Weg zu seinem Arzt zur Interferonbehandlung von Hepatitis C, in Deutschland durch Kassen finanziert, in Georgien ein Grund, die Existenz zu verlieren. Zum Treffen mit seinem Verleger, der den Zweifel schürt, ans Bett seines Kindes, das eine Geschichte erzählt bekommen will, das unbekannte Begriffe wie glänzende Kiesel mit nach Hause bringt. Ein Leben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Sehnsucht, Bitterkeit und verblassenden Träumen, aufgerieben in Gegensätzen.

«Vielleicht spiele ich hier mit Allgemeinplätzen, aber das Fazit ist doch, dass der ‹homo civis› hier in Berlin nur in besonderen Ausnahmefällen gegen die Ordnung verstösst, wir Georgier aber nur in besonderen Ausnahmefällen die Ordnung einhalten.Wenn keines von beiden eine Perversion ist, muss es eine Frage der Ehre sein»

Dass auf dem Buchdeckel «Roman» geschrieben steht, muss nach «Adibas» eine verkaufstechnische Notwendigkeit gewesen sein, Strategie des Verlags, um den Sog des einen Buches ausnützen zu können. «Touristenfrühstück» ist ein Berlin-Tagebuch, ein Buch der Auseinandersetzung, der Konfrontation. Ein Buch, das es mir zu Beginn schwer machte, bis der Autor zu meinem Begleiter wurde und mich neugierig auf «mehr» machte.

© Ira Koklozin

Zaza Burchuladze, 1973 in Tbilissi geboren, übersetzte Fjodor Dostojewski und Daniil Charms ins Georgische. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Für seine Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet. Bei Blumenbar erschien 2015 sein Roman »adibas«, der von der Stiftung Buchkunst zum »schönsten Buch des Jahres« gewählt wurde. 2017 folgte sein Flucht- und Heimatroman „Touristenfrühstück“, für den er 2018 mit dem Brücke-Berlin-Preis ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Sandra Kottonau