Konrad Pauli «Nur eine Katze»

Die nicht mehr junge Katze gehörte, sozusagen als Stammgast, zur Metzgerei Schori. Zum Betteln war sie zu vornehm, dafür sass sie vormittags beinahe stundenlang vor, will sagen neben der Tür – denn sie hatte gelernt, keinem Kunden ein Hindernis zu sein. Sie sass da und wartete. Sie wartete auf das Stückchen Fleisch, das ihr irgendmal vor die Pfoten gelegt wurde. Ging man an der Metzgerei vorbei – mit Sicherheit war sie da. Sie liess sich streicheln, sie war hier zu Hause. Einmal schaffte sie es gar in die Quartierzeitung. Nun kannte sie jedes Kind, jetzt war sie ein Star ohne Allüren. Nach über hundertjährigem Familienbetrieb hat die Metzgerei Schori nun die Pforten geschlossen. Davon weiss die Katze noch nichts. Wie gewohnt steht sie – ein Vorbild an Geduld – vor der Tür, aber bald scheint sie zu spüren, dass hinter geschlossenen Storen die alte Ordnung nicht bloss ins Wanken geraten war, sondern die endgültige Veränderung eingeleitet hat. Ungläubig harrt sie aus. Sie geht zwar weg, kommt auf Umwegen aber wieder zurück – noch kann sie nicht fassen, was man ihr angetan hat. Doch die Storen knattern nicht mehr hoch. Kein Lichtblick ins Innere. Keine Verheissung, auf deren Erfüllung zu warten sich lohnt. Noch wärmt die Herbstsonne. Streichelt im Vorbeigehen ein Kind die Katze, knistert ihr Fell. Aber die warmen Tage sind gezählt. Ob die Katze aus der Heimatlosigkeit herausfinden wird, ist ungewiss.

 

Atempause

Regelmässig kurz vor Mittag macht der alte, bauchstarke, indes rüstige Mann Pause vor dem Eingang zur Coop. Es steht da ein Metallgestell, vollgestopft mit einem Dutzend Besen. Auf diesem Gestellrand thront breitbeinig, wie angeklebt, der stattliche Mann – umrahmt vom Kranz der neuen Besen. Man möchte ein Foto machen, scheut sich aber davor, möchte den Mann auch nicht um Erlaubnis bitten, denn er kann im Laden auch mal mit den Armen rudern, sich Platz verschaffen und lautstark alle Hindernisse verfluchen. Man lässt ihn also dort sitzen und das Büchsenbier geniessen – wie eine Trophäe hält er es in der Hand. Man wagt nicht einmal den Augenkontakt, leicht erlebt er Solches als Provokation. Über den Rollator gebeugt steht heute ein Altersgenosse bei ihm – und der Biertrinker fasst, so als stehe er auf grosser Bühne, ein leises Votum seines stillen Gastes zusammen: Ja, das waren noch Zeiten, früher, als wir noch Zeit hatten.

 

Atempause II

Eine Atempause. Doch wofür ist sie zu nutzen? Womit sie füllen? Ist’s ein Zwang, ein Naturgesetz gar, dem Nützlichkeitsgedanken nachzuhängen und eine womöglich harmlose Leere füllen zu müssen? Käme man sich allenfalls abhanden? Was verlöre man im Verpassen, im Liegenlassen? Stets hat man eine Ahnung davon, könnte gar Manches aufzählen. Zu erledigen ist Vieles.  –  Erledigen? Muss getan sein  –  aber nicht alles passt in diese Kategorie, diese Schachtel. Was aber ist ausserhalb? Da rumort das Ungewisse, nicht hurtig Benennbare. Ahnungen, vage Vorsätze zuhauf. Aber halt. Es fällt zu leicht, im Wolkenkuckucksheim alles Diffuse bloss anzuhäufen.
Besser, man hält sich ans Konkrete. Was da ist im Augenblick: Herbstblätter scherbeln dürr über den Asphalt, es ist, als wollten sie ihn ritzen; mit einigen inszeniert der Wind einen kreisrunden Tanz. Ein Paar- oder Gruppentanz, rasch wieder auseinander gerissen. Zwei kleine Mädchen auf Minifahrrädern wehren sich kreischend, aber entzückt gegen die Kippgefahr der Böen. Ein Hund jagt einem flüchtenden Ahornblatt nach. Soldaten mischen ihre Tenü-Tarnfarben ins Herbstliche. Die dünnen Wolken wissen nicht, wohin sie ziehen sollen. Mit den immensen Auswahlmöglichkeiten können sie vorerst wenig anfangen. Dass die Böen bodenwärts ziehen, will wenig heissen. In Minuten kann sich Vieles ändern. Vorerst aber tragen die Passanten ihre Jacken und Mäntel offen. Ein Milan fliegt wie noch nie so niedrig über die Dächer. Hinter Wolkenschleiern erbleicht das Sonnenlicht. Nicht lange lässt die Dämmerung  auf sich warten. Womöglich ist bei solchem Verweilen wenig gewonnen, aber kaum etwas verpasst worden.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen „Ein Heldenleben“, „Seit jeher unterwegs“, „Marcos Blicke in Seeland“, Weitergehen“ und „Ein Romantiker in nüchterner Zeit“ (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).