Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Dem kleinen Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht.

Wer bei «Literatur am Tisch» mit Jens Steiner bereits um 18 Uhr dabei sein will, sollte das Buch gelesen haben und sich unter sekretariat@bodmanhaus.ch anmelden. Die Platzzahl ist beschränkt!

Ob es die Autoposer sind in Hamburg oder Rorschach; vielleicht manifestiert sich auch in ihrem Verhalten die Lust nach Allmacht, nach unbegrenzter Kraft. Vielleicht auch ein bisschen bei all jenen, die sich eine Drohne anschaffen und irgendwo am Stadtrand mit zaghaften Flugversuchen beginnen; Verborgenes sehen, grenzenlosen Ein- und Durchblick. Bei all jenen, die sich ihr Brenn- und Vergrösserungsglas mit YouTube zu Nutze machen, denen man nichts mehr zu erklären braucht, weil sie die Allmacht ihres Wissens wie einen schwarzen Sack über die Welt stülpen.

Toni Manfredi wohnt in der 18. Etage in einem Hochhaus in Bethlehem. Dieses Bethlehem liegt nicht im Westjordanland, sondern im Westen Berns, eine Beton gewordene Ausgeburt der Nachkriegszeit. Toni lebt allein, seit seine Mutter gestorben ist. Und obwohl er schon eine ganze Weile in Rente ist und seine Mutter nicht mehr da, ist alles so geblieben, auch wenn das eine oder andere liegen bleiben darf. So wie die Holzspäne seiner Schnitzereien. Wenn er sich ein weiteres Mal an die heilige Familie macht, mit Ochs und Esel begonnen und final auf den Höhepunkt zusteuernd, wenn er sich an Maria mit dem Kindlein macht. Aufregen ist nicht seine Art. Aber er spürt sehr gut, dass sich da etwas zusammenbraut. Toni spürt das kommende Verderben. Auch wenn sein verkorktes Leben eines voller Fehltritte und Versäumnisse war. Ihm macht niemand mehr etwas vor. Nicht nach dem Banküberfall in Romanshorn, der Schiesserei in der Autobahnraststätte Würenlos und dem Verkehrschaos auf der Autobahn, nachdem bündelweise Banknoten auf die Fahrbahn flogen und der Verkehrsfluss zum Erliegen kam.

Auch Raffi spürt das, der Junge, der abhaut und den Weg der beiden kreuzt, die die Banknoten auf die Fahrbahn streuten. Er hat eine Mission. Er ist ein Abenteuerbeobachter, ein Nichtvergesser. Der Waldläufer und die Indianerin, bei denen er mit einem Mal auf der Rückbank des gestohlenen Autos sitzt, werden zu Figuren dessen, was ihm endlich die Welt erklären soll.
Regina taugt dazu nicht. Regina ist seine Mutter, eine, die nie Zeit hat, sich überall engagiert und nirgends richtig dabei ist. Nicht einmal als Mutter. Denn sie merkt erst nach zwei Tagen, dass der Inhalt des Kühlschranks unberührt bleibt und Raffis Bett kalt. Die Suche beginnt erst, als Raffi sich im Schweif des Waldläufers und der Indianerin eingerichtet hat. 

„Die Gegenwart hat sich darauf spezialisiert, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn sie dann merkt, dass der Elefant alles zertrampelt, ist es längst zu spät.“

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche, 2020, 240 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7160-2790-5

Auch Jacques Rance spürt es, der alte Mann in seiner Villa über dem Genfersee, von den eigenen Kindern ebenso vergessen wie von der Geschichte. An den einen Tagen schafft er es noch von einem ins andere Zimmer, an anderen nicht einmal aus dem Bett. Einzig seine Haushälterin ist noch da. Die letzte in einer ganzen Reihe. Er hasst sie. So wie das Leben, das sich nicht mehr in Ordnung organisieren lässt. Trotz der Versuche, trotz seines Geldes, trotz aller Zahlungen. Er hat vor einer Weile einen Brief geschrieben. Aber weil ihn auch seine Erinnerung verlässt, weiss er nicht einmal mehr an wen und worum es ging. Er weiss einfach nur, dass es sein letzter Versuch war, Ordnung in sein Leben zu bringen.

So wie Martin versucht, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zum Beispiel mit einer Einkaufstour ins nahe Ausland. Nach Konstanz. Shoppen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Weg vom Chaos, das sich in seinem Leben auszubreiten beginnt. Bei der Arbeit, den Blicken auf den gespannten Stoff der Neuen im Büro. In der Familie, in der er seinen Sohn in einem ungewollten Moment in Frauenkleidern erwischt. In dem Moment, als sein Chef ein unerwartetes Mitarbeitergespräch einfordert. Und erst recht seit sich eine Blase in sein Gesichtsfeld drängt, ein undefinierbares Etwas, das ihm die Klarsicht raubt. Etwas ganz links, das immer zerspringt, wenn er danach sehen will.

Jens Steiner beginnt seinen Teppich von den Rändern her zu knüpfen. Vieles fügt sich erst mit fortschreitender Lektüre zusammen, Entscheidendes erst auf den letzten Seiten. Alles hängt mit allem zusammen. Zerrt man am einen Strang, wickelt sich die Schlaufe um einen andern. Und wie schon in seinen vorangegangenen Romanen webt Jens Steiner subtile Gesellschaftskritik und beissenden Witz in sein Erzählen. Ich liebe Jens Steiners Art zu erzählen. Er fordert mich heraus und nimmt mich gleichzeitig mit. Er spiegelt das Leben, aber spielt nicht mit mir als Leser. Und wenn er seinen Roman dann auch noch im meiner unmittelbaren Umgebung spielen lässt, von Romanshorn über Weinfelden in der Ostschweiz, am Würenloser Fressbalken und den Wohntempeln in Bethlehem vorbei bis in die nach Wohlstand stinkenden Hänge über dem Genfersee durch die ganze Schweiz zieht, bekommt die Lektüre noch eine Würze mehr.

Köstlich!

© privat

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Arche Literatur Verlag erschien 2017 sein Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» sowie 2018 der Kurzgeschichtenband «Weihnachten könnte so schön sein».

«Das Gleichgewicht der Welt», Kurzgeschichte von Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser

Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Schreiben nichts mehr beweisen müssen, weder mit einer Story, die sich in ihrer Mehrschichtigkeit überschlägt, noch in der Dramaturgie, die sich in konstruierter Spannung verheddert und schon gar nicht in Sachen Sprache, Sound und Bildern. Monika Helfer kann es, absolut überzeugend, so leichtfüssig, als wäre Schreiben ganz einfach.

Schon der Titel „Die Bagage“ ist ein Glücksgriff. Bagage ist das Gepäck, das man mit sich herumschleppt, jenes auf Reisen, jenes in seinem Leben. Das Gepäck, das einem zuweilen durch sein Gewicht, seine Last, seine Grösse niederdrückt, bremst, fesselt. Gepäck, das man nicht einfach zurücklassen kann, selbst wenn es das scheinbar Einfachste wäre. Gepäck, das mit seinen Riemen und Schnallen tiefe Schrunden in Haut und Fleisch reisst, Wunden, die nie heilen können, immer schmerzen, nie loslassen.
Bagage ist aber auch ein abschätziger Begriff für eine Randgruppe. Einst waren es die Tschinggen, die italienischen „Gast“-arbeiter, heute sind es Flüchtlinge, Randständige, die, die nicht dazugehören, die das Bild einer harmonischen Gesellschaft, des sozialen Friedens zu stören scheinen.

In Monika Helfers Roman schimpft man aber die Leute ganz hinten im Tal, die Armen, jene, deren Leben nur aus Überlebenskampf, Arbeit, Sorgen und Not besteht „Bagage“. Jene, die von den Auswirkungen des ersten Weltkriegs bis in den Hungertod getrieben werden, obwohl und gerade wegen immer unmenschlicher werdender Mühsal.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie erzählt sie ganz einfach. Schlicht, ohne fabrizierte Dramatik, ohne Verklärung, ehrlich. Die Geschichte strahlt derart viel Authentizität aus, ohne sich dafür verbürgen zu müssen, soviel Nähe zu den Ereignissen vor hundert Jahren, soviel Empathie zu den Personen, dass mich die Lektüre phasenweise fast schmerzt. Es ist eine Geschichte der Ausgrenzung, der alltäglichen menschlichen Gemeinheiten, der Deformationen in Zeiten des Umbruchs, des Niedergangs, des Krieges. Wie ausgerechnet dann, wenn der Staat vom heroischen Mut, von der selbstlosen Aufopferung seiner KämpferInnen spricht, die Menschlichkeit in den Fronten hinter dem Krieg zusammenbrechen kann. Wie die Möglichkeiten der Mächtigen und die Ohnmacht der Armen und Vergessenen ein Vakuum schaffen, in dem weder die Gesetze des Staates noch die der Menschlichkeit eine Rolle spielen.

„Die Bagage“ ist die Geschichte von Maria und Josef. Josef Moosbrugger wird 1914 in den Dienst des deutschen Kaisers einberufen. Der Sieg in diesem Krieg soll sicher und schnell sein. Maria Moosbrugger, die Grossmutter der Erzählerin, bleibt nicht nur mit ihrer Familie, den Kindern, Hof und Haus, sondern mit ihrer Schönheit ungeschützt zurück. Zwar verspricht der Bürgermeister, ein Geschäftsfreund von Josef, dem Soldaten auf seine Frau aufzupassen, aber nur um ihr ungestört und ungeniert Avancen zu machen, zu Beginn mit Geschenken und Charme, dann immer zudringlicher. Die Schönheit Marias, die eigentlich ein Geschenk sein sollte, wird zur Stigmatisierung. Ein ganzes Dorf traut ihr ein lasterhaftes Leben zu, obwohl Maria zuhinterst im Tal in dem kleinen Gehöft alle Hände voll zu tun hat im Kampf ums nackte Überleben ihrer vielköpfigen Familie.

Eines Tages aber klopft ein Mann an die Tür Marias. Ein Mann aus dem Norden, einer der Hochdeutsch spricht, ein Georg aus Hannover. Einer, der es nicht unbeobachtet schafft, an den Tisch der gebeutelten Familie zu gelangen, er ebenfalls in Not, aber mit Galanterie und offenem Herzen. Und als Maria Monate nach einem Fronturlaub ihres Mannes zeigt, dass sie schwanger ist, zerreisst sich ein ganzes Dorf den Mund darüber, wer alles möglicher Verursacher sein könnte. Allen voran der Pfarrer, der sein Gift von der Kanzel spuckt und in einem regelrechten Überfall das Kreuz von der Wand bei Maria reisst.

Als der Krieg vorbei ist, Josef als ein anderer von der Front zurückkehrt, aus dem Blitzkrieg eine infernale Niederlage wurde, ein Kaiserreich sein Ende fand, der Bürgermeister nur noch Büchsenmacher Fink ist, ist Grete da, die Mutter der Erzählerin. Ein ruhiges, braves Kind. So schön wie die Mutter. Josef aber, noch immer in der Seele verwundet, misstrauisch und launisch, misstraut auch dem Kind. Grete sein Kind? Er schaut dem Mädchen kein einziges Mal in die Augen, spricht es nicht an und nennt es in Gegenwart anderer nur „Balg“.

Monika Helfer war irgendwann einmal im Kunsthistorischen Museum in Wien und sah dort die Bauernbilder von Pieter Breugel dem Älteren: Kinder wie Erwachsene, nur kleiner. Die gleichen ernsten Gesichter, nur kleinere. „Die Bagage“ ist eine Stimme, die eine Welt auftut, die Jahrhunderte weit weg scheint. Aber sie wird dann wiederkehren, wenn sich in der Geschichte der Menschheit erneut Abgründe auftun werden.

Ein Roman, ganz leise erzählt, aber mit dröhnendem Widerhall!

Der mit 15 000 CHF dotierte Solothurner Literaturpreis 2020 geht an Monika Helfer: «Ihre Figuren zeichnet ein um keine Konvention bekümmertes Selbstbewusstsein aus, eine Ehrlichkeit der Emotionen und der Haltung», so die Jury, bestehend aus Nicola Steiner (Vorsitz), Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart. «Ihr souveräner Umgang mit Sprache, der alle Stilregister beherrscht, macht Monika Helfers Bücher und Figuren für uns Lesende so einprägsam und nachvollziehbar.»

Interview mit Monika Helfer

Sie verarbeiten, beschreiben viel Persönliches, lassen mich als Leser in Ihre Geschichte schauen. Und auch wenn eine Schriftstellerin alle Freiheiten der Fiktion besitzt, macht es nicht den Anschein, als hätten Sie viel entfremdet. Auch der frühe Tod Ihrer Tochter ist wieder ein Thema. Etwas, was mich als Vater von Kindern berührt. Ist die Monika Helfer vor der Veröffentlichung von „Die Bagage“ eine andere Monika Helfer gewesen? Oder verändern das Schreiben, Stoffe, die so nahe an der eigenen Geschichte sind, nicht sowieso?

Für mich dauert die Wahrheit in meinem Roman maximal zehn Zeilen lang, dann galoppiert die Phantasie in die Geschichte, hält inne bei dem Unglück mit Paula, jedes Mal, ob ich will oder nicht, die Fiktion rettet mich und macht mich mutig.

Ihr Roman ist die Geschichte einer Familie am Rand, wörtlich. Ihr Roman ist aber auch ein Roman über Zeiten des Zusammenbruchs, Umwälzungen. Wie sehr jene, die schwach und angreifbar sind, in Zeiten der Unsicherheit zum Freiwild werden. Wir leben hundert Jahre nach den von Ihnen beschriebenen Geschehnissen wieder in einer Zeit, in der die Welt an vielen Orten aus den Fugen gerät. Und wieder sind es die eh schon Schwachen, die am meisten zu leiden haben, vergessen werden, sich selbst überlassen sind. Schmerzt sie die Erfahrung des Lebens nicht manchmal?

Lebenserfahrung bedeutet Freude und Schmerz, sich zu erinnern ist das Suchen nach Fetzen, die dann zusammengenäht ein Stück Stoff ergeben, der wiederum zum Roman wird.

Ihre Grossmutter Maria, ihre Mutter Grete – Sie und auch ihre Tochter. Ein Frauenbuch. Ihre Grossmutter versinnbildlicht das Leben vieler Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert; ungeschützt der männlichen Willkür ausgeliefert. Mag sein, dass wir es im begonnenen 21. Jahrhundert viel weiter gebracht haben. Aber von Gleichstellung kann noch immer keine Rede sein. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Kampfes um Privilegien. Ist es nur die Lust, eine Geschichte zu erzählen oder schwingt da auch Ihre Art der Kampfansage mit?

Ein Frauenbuch zu schreiben, ist für mich nahe liegend und notwendig, Gleichstellung rückt näher, aber nie will ich den Kampf darum aufgeben.

Was hielt Menschen, Frauen wie Ihre Grossmutter Maria Moosbrugger am Leben? War es einzig die Pflicht als sorgende Mutter. Der Glaube an einen Platz im Himmelreich konnte es unmöglich sein.

Die Sorge, der Stolz, die Kraft, dem Leben zu trotzen, geschehe was wolle, das hielt meine Grossmutter aufrecht.

Sie schreiben und ihr Mann Michael Köhlmeier schreibt. Beide sind Sie gefragte und preisgekrönte Schriftsteller. Wie weit beeinflusst das Schreiben des einen jenes des anderen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier wären nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wohl kaum jene, die sie geworden sind ohne die/den andere(n).

Ich sage immer wieder zu meinen Kindern, wählt einen Partner, der euren Ambitionen nahe steht, ein Glück für mich, mit einem Schriftsteller zusammen zu sein. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne den Einen ist der Andere allein.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, darunter: «Kleine Fürstin» (1995), «Wenn der Bräutigam kommt» (1998), «Bestien im Frühling» (1999), «Mein Mörder» (1999), «Bevor ich schlafen kann» (2010), «Oskar und Lilli» (2011) und «Die Bar im Freien» (2012). Im Hanser Kinderbuch veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann Michael Köhlmeier «Rosie und der Urgroßvater» (2010). Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur und 2020 mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet. Mit dem Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede» (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

Beitragsbild © Isolde Ohlbaum

Evelina Jecker Lambreva «Niemandes Spiegel», Plattform Gegenzauber

Sonnenaufgang

Winde fegten dich hinweg,
Regenschauer verwischten deine Spuren.
Die Zeit – dieses einsame Meer – riss dich entzwei
und schleppte dich fort
aus dem Fegefeuer meiner Erinnerungen.
Jetzt frag ich mich,
ob es dich überhaupt je gab
oder ob ich dich mir ausdachte
trotzig,
als meine Träume Fleisch wollten,
mein Fleisch nach Liebe schrie – und einem Weg,
als ich zuende träumte
die Einsamkeit des Vogels am frostigen Himmel
und in deinen Augen sah, wie die Sonne aufging.

 

Rückkehr nach Elena

Meine Heimatstadt, in der ich aufwuchs,
mich verliebte, liebte, in der mein Lachen
wie ein Wasserfall vom Hügel herab über die Plätze rann,
kennt mich nicht mehr.

Stumm geworden ist der schmale Bach,
ein alter Nachbar lächelt von der Todesanzeige,
auch die Eingangstüre vor mir schweigt,
der kleine Balkon, auf dem Efeu rankt.

Wann ist diese Welt nur so verödet,
die noch gestern aus vollem Halse zur Gitarre sang?
Oder ist es nur die Hölle, als Fremder heimzukehren
und Tod lebendig als Erinnerung zu erfahren?

 

Niemandes Spiegel

Ich möchte niemandes Spiegel sein,
obwohl ich ständig jemandem den Spiegel vorhalte.

Ich möchte kein Wächter von Illusionen sein,
obwohl ich stets die eigenen wahre,
– wenigstens bis sie mich im Korridor erschrecken
und ihren wahren Namen verraten.

Ich möchte nicht der beißende Rauch
über dem fälschlich angezündeten Strohbündel sein,
obwohl meine Fußsohlen angeschmort sind
und ich schon einer Feuertänzerin ähnele.

Ich will auch kein Haustierchen sein –
keine faule Katze, kein Kanarienvogel im Käfig
und kein Fisch in der Aquariumslandschaft.
Doch wenn ich mich einmal nicht erkennen sollte,
dann ist ganz sicher der Spiegel daran schuld.

 

Meine Mutter

Meine Mutter –
eine mitternächtliche Geige,
die den Mond zum Schlafen bringt.

Meine Mutter –
eine wütende Sense im Sommer,
wenn der Klee seine Blätter entfaltet.

Meine Mutter –
die harte Hand des Lebens,
die mich über knarrende Stege führt.

Meine Mutter –
eine Trauerweide über dem Fluss:
ihre Augen laufen aus,
dem Wind hinterher
mit dem geschulterten Bündel Erinnerungen.

Meine Mutter –
eine Begonienblüte,
die ihren Kopf hängen lässt im Herbst,
wenn die Schwalben fortfliegen.

Meine Mutter . . . Wer ist diese Frau?

 

Ausgedachte Welt

In ihr werde ich dich verstecken,
damit du mir öffnen kannst,
wenn die da draußen
mir blutige Wunden schlägt
wie das zu klein gewordene Schuhwerk
die Füße eines Mädchens, das
partout nicht groß werden will . . .
Eine Linde will ich dir pflanzen,
Jasmin und Flieder,
dir eine Sonne gebären,
eine Quelle dir weinen
in der Abenddämmerung,
wenn der Tag seine eisernen Tore
hinter meinem Rücken zuschlägt,
der Regen seine Metallzapfen
in mein Gesicht bohrt,
wenn mich ganze Scharen ersticken
mit ihrer selbstzufriedenen Ausdünstung
nach Wohlstand und Erfolg,
wenn ich mich frage,
ob ich noch ich bin
und du noch auf mich wartest
in meiner ausgedachten Welt
in der ich dich unbedingt
eines Tages verstecken will,
damit du mir in Erinnerung rufst,
dass es mich noch gibt.

 

(alle Gedichte aus «Niemandes Spiegel»)

Evelina Jecker Lambreva «Niemandes Spiegel» Gedichte (bulgarisch-deutsch), Übersetzung aus dem Bulgarischen von Evelina Jecker Lambreva und Thomas Frahm.
Chora Verlag, 2015, 156 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-929634-65-5

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband „Niemandes Spiegel“ sowie der Erzählband „Unerwartet“ vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: „Vaters Land“ (2014) und „Nicht mehr“ (2016), «Entscheidung» (2020)

Rezension «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch

Rezension «Entscheidung» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Alexander Jecker

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay

Dass sich Beziehungen mit den Jahren abnützen können, die Frische verloren geht und mit der Ansammlung von Konflikten die Brüchigkeit zunimmt, dass sich Beziehungen manchmal entzweien, in Scheidung geraten, wissen wir zur Genüge. Aber wenn Mann oder Frau mit einem Mal ausbricht, am Morgen die Schlüssel nimmt und verschwindet, für immer, ist es viel mehr als eine Trennung allein.

Sind Maria und Herwig noch immer ein Paar? Als ihre Ehe noch jung war, reisten sie durch Griechenland, schlugen ihr Zelt an einer einsamen Bucht mit türkisblauem Meer auf, liessen sich vier Wochen im Lauf der Gestirne und dem Rhythmus der Gezeiten treiben, tranken geharzten Wein, sangen in die Nacht, rauchten Haschisch und liebten sich jede Nacht. Erst als der Wunsch nach einem Kind zum Zwang, eine Fehlgeburt zur Katastrophe wurde, die Nähe im Bett zu sich wiederholenden Versuchen mit ungestillter Absicht, begann sich die Liebe zu verhärten, legte sich Eis zwischen sie, wurden die Distanzen unüberbrückbar. Doch man richtete sich ein. Maria betrog Herwig, Herwig betrog Maria. 

Bis Maria aus einer Laune Herwigs Mobilphone in die Hand nimmt und die Nachricht einer anderen sieht, sie sei schwanger. Maria packt einen Rucksack mit dem Nötigsten und Herwig wundert sich noch am Morgen, dass Maria so ganz gegen ihre Gewohnheit auch ihm einen Kaffee auftischt, dass sie mit Sommerkleid, hohen Schuhen und Rucksack die Wohnung verlässt. Maria fährt zur Arbeit auf die Bank, wo sie ihrem Chef, dem man ihr vor die Nase gesetzt hatte, mit Schwung den Dienst quittiert, nachdem sie sich ihren Teil der Finanzen gesichert hatte, besteigt den Volvo ihres Mannes und fährt los, Richtung Süden. „Mit fünfundfünfzig Jahren wollte sie sehen, ob das Leben für sie noch etwas anderes bereithielt, als im Schlamm dieses trüben Karpfenteichs auf die monatliche Fütterung zu warten.“

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay, 2020, 304 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-552-05972-6

Während Herwig nicht weiss, wie ihm passiert und er sich an die Normalität seines Lehrerberufs klammert, dann auch noch sein Vater mit einem Leichenwagen aus dem Altenheim türmt und bei ihm in der Wohnung auftaucht, in der nicht zu verheimlichen ist, dass Maria abgehauen ist, kurvt Maria durch ein neues Leben. Sie fährt gen Süden, zum Meer, trifft Lisa eine junge Frau, mit der sie Monate verbringt, trifft einen Musiker, Fischer, Pilger und Mönche. Und je weiter sie sich örtlich von ihrem alten Leben wegbewegt, umso mehr löst sich die innere Verkrampfung, die latente Wut, der Knoten in ihrem harten Bauch.

Irgendwann meldet sich die Polizei bei Herwig. Man habe seinen Volvo in Saloniki gefunden. Nachdem es für Herwigs Vater Grund genug ist, sich zu zweit auf den Weg zum Auto und vielleicht zu einer Spur der Vermissten zu machen, kurvt noch ein Gespann Richtung Süden, ohne zu ahnen, wie nahe sich die Wege der vielfach Suchenden geraten.

„flüchtig“ sind sie alle und immer wieder. In Hubert Achleitners Roman ist alles in Bewegung. Frauen verflüchtigen sich, Normalität verflüchtigt sich, Sicherheiten. Maria kommt schon nicht wie andere Kinder zur Welt, sondern hoch oben über dem Tal in einer Gondel, mitten im Sturm. Man tauft sie Eva Maria Magdalena mit der Bitte um Beistand. Aber der verflüchtigt sich. Maria lernt Herwig kennen, wird schwanger; das Familienglück verflüchtigt sich. Die Liebe, die Leidenschaft verflüchtigt sich, auch jene im Beruf. Bis der einzige Weg, der einzige Ausweg die Flucht ist. Nicht die Flucht vor Herwig, nicht die Flucht vor einem verkorksten Leben, sondern die Flucht vor sich selbst. Etwas, was wohl jeder Mensch mehr oder weniger oft als Gedanke oder Wunsch mit sich herumträgt; weg, alles stehen und liegen lassen. Und während Herwig in ein Doppelleben flieht, Herwigs Vater vor dem langsamen Wegsterben, Wegdämmern im Altersheim flieht, flieht Maria in eine offene Zukunft, verschwindet, verflüchtigt sich.

„flüchtig“ ist vieles; ein Familienroman, ein Eheroman, ein Roadtripp, ein Findungsroman und mit Sicherheit auch eine Liebesgeschichte. Ein Roman mit kernigen Sätzen, überraschenden Wendungen und einer grossen Portion bissiger Klugheit. Und: Der Musiker Hubert von Goisern hat auch als Schriftsteller Hubert Achleitner Sound im Ohr!

© Konrad Fersterer

Hubert Achleitner, bekannt als Hubert von Goisern, wurde 1952 in Bad Goisern geboren. Er gilt als prononciertester Vertreter der «Neuen Volksmusik» und Erfinder des sogenannten «Alpenrock». Seine Interpretation alpenländischer Musik ist stilübergreifend und inspiriert von anderen Kulturen. Die «Linz Europa Tour 2007-2009» gilt bis heute als eines der grössten grenzübergreifenden Musikprojekte unserer Zeit. «flüchtig» ist sein erster Roman.

Webseite Hubert von Goisern

Beitragsbild © Stefan Wascher

Franz Hohler «Fahrplanmässiger Aufenthalt», Luchterhand

Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.

Viele Geschichten aus seinem neuesten Erzählband sind auf Lesereisen weit weg und ganz nah entstanden; Sarajevo, Odessa, Kiew genauso wie Hessental, Appenzell und Tübingen. Begegnungen mit Menschen und Orten, Situationen und der Geschichte – und immer mit sich selbst. Franz Hohler ist kein Stänkerer, kein Meckerer, kein Sezierer und schon gar kein Analyst. Er richtet den Blick auf die Welt und beschreibt sie so, wie sie ihn erreicht, wie er ihr gegenübersteht, nach fast achtzig Jahren Leben und einem übergrossen Mass an Wohlwollen und Respekt. Er zeigt, was Weltanschauung bedeuten kann, wenn sie durchsetzt ist von Liebe und Empathie. Und immer, wie für einen Bühnenmann wichtig, voller Einsichten, Witz und tiefgründigem Humor; was das Alter und Altern mit einem macht, wenn einem die Endlichkeit nicht mit Schrecken in die Glieder fährt, sondern mit einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt. Eine Dankbarkeit, die nicht ausgesprochen werden muss, die aber in seinen Geschichten, seinen Erzählungen überdeutlich wird. 

Franz Hohler «Fahrplanmäßiger Aufenthalt», Luchterhand, 2020, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87639-9

Manchmal sind es nur Augenblicke, Momentaufnahmen, ausserplanmässig, wenn ein Zug im Nirgendwo 15 Minuten stehen bleibt und Franz Hohler in der Viertelstunde Suche nach einer heissen Tasse Tee mit dem Schrecken des 20. Jahrhunderts konfrontiert wird. Oder in der Stadt Odessa am Schwarzen Meer im Süden der Ukraine, wo er an einem Literaturfestival eingeladen unweigerlich mit dem Krieg konfrontiert wird, genauso wie am Maidan-Platz in Kiew, oben die Fotos jener, die bei den Unruhen im Winter 2013/2014 umgebracht wurden, darunter Einkaufsmeile mit Hochglanz und Überfluss, Begegnungen in einer zerrissenen Gesellschaft. 

Oder in Kenia, wo einer der Söhne eine Kenianerin heiratete und sich Franz Hohler mit einem Mal in seiner Funktion als Stammesältester bewusst wird und der künftig bei Langstreckenläufen nicht mehr mit derselben Vergeblichkeit auf einen schweizer Triumph hoffen muss.
Es sind bei aller Überraschung, die der Autor noch immer zu erzeugen weiss, wenn es um Pointen und Wendungen geht, noch immer die ganz typischen Hohler-Geschichten. Wer den Autor jemals auf der Bühne, bei einer Lesung, im Radio oder im Fernsehen hörte, wird beim Lesen den Sound seiner Stimme mitschwingen hören und staunen, mit wieviel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit er zu erzählen und zu schildern weiss. Nie verkopft, untermalt mit sanfter Moral, im Licht seiner ganz eigenen Freundlichkeit.

Wenn es Geschichten gibt, mit denen auch Erwachsene einschlafen wollen, dann sind es die Geschichten von Franz Hohler, die unbedingt eine Weile auf dem Nachttischchen liegen müssen!

«Schreiben ist eine Lebensform.»
Interview mit Franz Hohler

Nicht wenige von deinen Geschichten handeln vom Tod. Wenn du von deinem Vater erzählst, der 101 wurde, als er starb und dir im hohen Alter noch das Gefühl überliess, Vollwaise zu sein, ein Gefühl, dass jede(n) beschleicht, wenn Mutter und Vater gegangen sind. Oder bei all den Reisen in Länder, die durch Krieg und Unruhen mit dem Alp von Mord und Misshandlung gepeinigt sind. Ist es im Umgang mit Sterben und Tod immer jene Ruhe und Gelassenheit, die du und dein Schreiben ausstrahlen oder mischt manchmal nicht doch ein bisschen Angst mit?
Selbstverständlich habe ich Angst vor dem Tod, fast mehr vor dem Tod der anderen als meinem eigenen. Den Tod als Begleiter unseres Lebens wahrzunehmen und zu beschreiben, macht wohl gelassener als ihn totzuschweigen. 

Du bist ein grosser Erzähler. Wer dir irgendwann einmal zuhören kann und darf, dem wird diese Sprachreise unvergessen bleiben. Kein Wunder füllen sich Säle, wenn sich Franz Hohler ankündigt. Aber du bist weit mehr als ein Unterhalter, denn in deinen Geschichten mischt auch eine politische Überzeugung, einiges an Moral und ein festes Rückgrat mit. Deine Haltung in der aktuellen Flüchtlingsfrage ist unüberhörbar. Beschleicht dich zuweilen nicht die Resignation?
Doch, täglich. Gestern lagen in meinem Briefkasten 10 Bettelbriefe, in Worten zehn, von lauter Organisationen, die versuchen, unsere Welt zu verbessern. Alle leisten gute Arbeit. Die weltweite Bekämpfung der Armut macht, wenn man den Statistiken der Weltbank trauen darf, Fortschritte, die des Hungers auch, aber es wachsen auch die Rüstungsausgaben, es wächst überhaupt der ganze Problemberg, an dessen Fuss wir uns sehr klein und ohnmächtig vorkommen. Doch als denkende Menschen haben wir gar keine Wahl: Wir müssen uns auf die Seite des Lebens schlagen, täglich. Der Gesang der Amseln und das Lachen der Kinder helfen mir dabei.

Wenn ich mir den Reisenden Franz Hohler vorstelle, dann ist er immer ein Wanderer, ein langsam Reisender, der beobachtet, sinniert und schaut. Wenn du von Odessa, Kiew, Kenia und Moskau erzählst, fällt es mir beinahe schwer, mir einen Franz Hohler vorzustellen, der sich durch ein Gate ins Flugzeug kämpft und nach drei Stunden aus der Druckkabine steigt, in einem anderen Land. Wie sehr schmerzt die Anpassung an den Takt der Zeit?
Das Flugzeug besteige ich nur für die fernen Ziele, und jedesmal bin ich beeindruckt, dass Fliegen möglich ist und dass man derartige Distanzen in so kurzer Zeit zurücklegen kann und freue mich darüber. Allerdings beginnen sich die Länder auch immer mehr zu gleichen, und das schmerzt eigentlich mehr als die leichte Erreichbarkeit. Im «Carrefour» von Abu Dhabi findet man das ganze Sortiment der «Ricola»-Täfeli, in den Warenhäusern von Krasnojarsk wetteifern Hugo Boss und H&M um die Kundschaft, und österreichische Schneekanonen machen die Skipisten befahrbar.

Du veröffentlichst seit 50 Jahren fast ausschliesslich beim Luchterhand Verlag, einem Verlag, der sein Antlitz in diesen fünf Jahrzehnten stark veränderte. Dass ein Schriftsteller einem Verlag über so lange Zeit treu bleibt, ist immer seltener, genauso selten wie Paare, die fünf Jahrzehnte beieinander bleiben. Ist Treue ein Lebensprinzip? Und wie sehr rettet es dich?
Mein Deutschlehrer Ludwig Storz, mit dem ich ein Leben lang befreundet blieb, sagte einmal den schönen Satz: «Ich bin für lange Freundschaften gemacht.» Das gilt auch für mich. Je mehr mein Vorrat an Zukunft schmilzt, desto kostbarer werden die Verbindungen zu Menschen, die über lange Zeit Bestand hatten. 

Mit meinem Verlag bin ich durch etliche Ups and Downs gegangen und habe mich immer fürs Bleiben entschieden, auch wenn heute niemand aus der Crew von 1970 mehr dabei ist. In den letzten Jahren sind dort meine gesammelten Erzählungen («Der Geisterfahrer»), meine gesammelten kurzen Texte («Der Autostopper») und meine gesammelten Gedichte («Sommergelächter») herausgekommen. Das empfinde ich als eine Art Ernte. 

„Ich bin gerne Dichter“, steht ganz am Schluss des Buches. Du scheinst auch nicht den Willen zu bekunden, dich „pensionieren“ zu lassen, wie andere SchriftstellerInnen, die das Schreiben irgendwann einstellen, wie zum Beispiel Philipp Roth, der sich eines Tages „vom Schreiben zurückzog“. Was bedeutet das Schreiben für dich über meine Annahme hinaus, dass es längst Lebensnotwendigkeit in mehrfacher Hinsicht geworden ist?
Schreiben ist eine Lebensform. Ein Chefarzt eines Spitals wird mit 65 pensioniert, auch psychologische Praxen haben eine Altersgrenze. Diese Menschen hatten Freude an ihrer Tätigkeit, und auf einmal dürfen sie sie nicht mehr weiter ausüben, das fällt den wenigsten leicht. Dass ich niemanden zu fragen brauche, ob ich mich noch vor mein Laptop setzen darf, empfinde ich als grosses Privileg, und damit aufhören kann ich, wann ich will. Oder muss.    

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Franz Hohler liest aus «Fahrplanmässiger Aufenthalt»

«Enten» Kurzgeschichte von Franz Hohler 

Webseite des Autors

Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand

Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.

Gastbeitrag von Cornelia Mechler

Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt. 


Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4

Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung…
Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»

Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird. 


Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.

«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.

© Peter von Felbert

Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter von Felbert

Oskar Roehler «Der Mangel», Ullstein

Oskar Roehlers neuer Roman ist sperrig, kantig, und gerade deshalb so empfehlenswert. Er erzählt anders, vielleicht so, wie man das von einem Filmemacher erwarten würde, der seine Geschichte nicht „einfach“ erzählen will, denn seine Bilder schwirren an der Grenze zwischen Realität und Bildern, die von traumatischer Tiefe sind. 

Zugegeben, ich kannte Oskar Roehler nicht, wohl aber einen seiner Filme; „Die Unberührbare“ mit der unvergesslichen deutschen Filmikone Hannelore Elsner. Hätte der Klappentext des Buches nichts von Oskar Roehles Filmschaffen erzählt, wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen, es mit einem Filmemacher zu tun zu haben. Und um noch einmal etwas zuzugeben; Ullstein zählt nicht unbedingt zu meinen Jagdgründen. Aber wie sehr ich mich täuschen kann. Oskar Roehlers eigenwilliger Roman ist ein ungeschliffener Diamant. Ungeschliffen deshalb, weil er sich erfrischend vom Mainstream unterscheidet, weil die Art seines Erzählens eine Unversöhntheit an den Tag legt, die den Roman quer stehen lässt. Er will nicht verstehen, nicht besänftigen, nicht erklären oder ergründen, aber aufreissen und hineinleuchten, selbst wenn die Scheinwerfer die Farben verzerren, Tiefen verschieben.

Oskar Roehler erzählt vom Deutschland seiner Kindheit, den beginnenden 60er-Jahren, als sich die klaffenden Wunden des letzten Krieges zu schliessen begannen (auch wenn der Eiter darunter nicht verschwand!), alles mit dem Aufschwung mitgerissen wurde, Eigenheime aus dem Boden schossen, ein Auto zum Lebensinhalt werden konnte und die hierarchisch, autoritäre Ordnung ins Schwanken geriet.

Oskar Roehler «Der Mangel», Ullstein, 2020, 176 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-550-20038-0

Eine Gruppe Kinder wächst am Rande eines Dorfes auf, einer schnell hingebauten Siedlung oben auf der „Hut“, einer ewigen Baustelle schlecht gebauter Häuser, in denen die Feuchtigkeit die Wände niemals trocknen lässt. Einem Dorf, das die Zugezogenen mit Argwohn beäugt, das Kreuz am Eingang des Dorfes nicht nur Furcht einflössen sollte, sondern mit aller Deutlichkeit zeigen, wer schon immer da in diesem Dorf das Sagen hatte. Noch sind die Neubauten nicht ans Stromnetz angeschlossen, obwohl die gigantischen Masten in Sichtweite stehen. Die Väter sind an der Arbeit und wenn sie abends nach Hause gehen, dann sind sie müde und wie ihre grau gewordenen Ehefrauen damit beschäftigt, die Familie dorthin zu führen, wo Kühlschrank, Fernseher und Auto endlich zu den Insignien von Wohlstand und kleinem, persönlichen Endsieg werden müssen.

Selbst als man das Dorf zwingt, eine Schule zu erbauen, bleiben Alteingesessene und Neuzugezogene getrennt. Aber die Kinder auf der „Hut“ sind mehrfach getrennt; abgetrennt vom Dorf, von einem Nichtzuhause in Familien, die alle Energie dazu verwenden, am Wohlstand einer neuen Welt teilzuhaben. Die Kinder rotten sich zusammen und erklären den Nachbar Behrend mit seiner Bibliothek zur Leitfigur ihrer Existenz. Einer Existenz, die Kunst zum Fixstern werden lässt und sich Lichtjahre davon entfernt, eine gesicherte Existenz in der örtlichen Sparkasse zu beginnen. Eine Existenz, die den Mangel, die Armut zum Programm macht, entgegen aller Strömungen und Errungenschaften einer prosperierenden Gesellschaft. 

„Der Mangel“ ist ein Roman des Widerstands. Gegen Väter mit blitzblanken Hemden, gegen Bausparverträge, gegen ein Vertreter-Leben (in mehrdeutiger Hinsicht!). Und doch erzählt Oskar Roehler von allem anderen als Heldentum. Die Gruppe Kinder wird älter. Dichtung, Wahrhaftigkeit und Kunst brachten Armut und Hunger, hinterlassen eine Mischung von Ängsten und tiefem Trotz.
Oskar Roehler erzählt nicht nur, was ihm durch Erinnerung und Vernunft geblieben ist. Was er erzählt, ist durchsetzt von Bildern, die wie Träume, Alpträume anmuten. Von einer Kindheit weit weg von jeder Idylle und Geborgenheit, den Massstäben der Gegenwart. Von apokalyptischen Szenarien eines Sechsjährigen, der die Welt als Grube mit lehmig, glitschigen Wänden erinnert, dem schon die frühe Kindheit ein Kampf ums blosse Durchstehen und Überleben war.

Oskar Roehles Roman „Der Mangel“ tut weh und das ist gut so. Weh, weil das, was erzählt mit dem Massstab der Gegenwart kaum zu ertragen ist, weil die Gefühle der Lesenden kippen zwischen Abscheu und Faszination.

Ein Bilderrausch!

© Nadine Fraczkowski für INTERVIEW

Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Sein bislang erfolgreichster Film war «Die Unberührbare» mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle, in dem Roehler die letzten Jahre im Leben seiner Mutter erzählt. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichnet. Unter dem Titel «Herkunft» veröffentlichte er 2011 einen autobiografisch geprägten Roman, den er unter dem Titel «Quellen des Lebens» (2013) auch verfilmte. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

Beitragsbild © Gerald von Foris

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso

Was aus einer Begegnung werden kann, beweist der Gedichtband „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“. Hussein Bin Hamza, syrischer Dichter und eine der bedeutendsten poetischen Stimmen seines Landes, traf an den Heidelberger Literaturtagen 2018 auf die Autorin, Veranstalterin und heutige Verlegerin Monika Lustig. Der Beweis dafür, dass Literaturtage und -festivals nicht einfach Ansammlungen von Veranstaltungen sind, sondern Orte schöpferischer Begegnungen, weit über Kulturen hinaus.

Hussein Bin Hamza lebt derzeit in Hannover im Exil, weit weg von seiner Heimat, in der Krieg, systematische Verfolgung und Terror noch immer Alltag sind. Auch wenn das Land, der Despot, Vertriebene und Gebliebene aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerutscht sind. Es sind Hunderttausende geflohen. Viele von ihnen mit Schlauchbooten übers Meer. Tausende von ihnen haben ihre Flucht mit dem Leben bezahlt. Alle bezahlen sie mit unauslöschlichen Erinnerungen, mit Gefühlen der Einsamkeit und der Sehnsucht nach einer Heimat, die in Trümmern liegt.

Im Gedicht Grenzöffnung beschreibt Hussein Bin Hamza genau das, und doch ganz anders als ich es erwartet hätte.

Grenzöffnung

Wären wir doch bloss im Asyl unserer Träume geblieben
Hätten uns vorgetastet, mit verbundenen Augen
als jagten wir verstreuten Sternen nach
klopften an unsichtbare Türen
Wären wir bloss in fernen Wäldern durch den Schlamm gerobbt
samt unserem Gepäck, randvoll mit Kleidung und Erinnerung
Hätten wir bloss nicht unsere Vergangenheit ins Meer geworfen
um die Schlepperboote zu erleichtern
Wären wir doch dichtgedrängt wie Sardinen in der Büchse
in Turnhallen und Klassenzimmern geblieben
die in den Sommerferien als Unterkünfte dienten
Hätten die Zeitungen und Nachrichtensendungen bloss keine Fotos von uns verbreitet
fiel doch ohnehin keinem auf, dass die Ertrunkenen
gar nicht mit auf dem Bild waren
Wären wir doch nie gezwungen gewesen, neue Sprachen in den Mund zu nehmen
die schmeckten wie Gerichte, die wir als Kinder nicht mochten
Hätten wir doch bloss nicht alles hinter uns gelassen
nur um eine neue Einsamkeit zu erdulden
Wären wir doch Flüchtlinge im eigenen Land
und nicht dort und nicht hier geblieben
hätten wir weiterhin den verstreuten Sternen nachgejagt, wie Blinde
und an unsichtbare Türen geklopft
Hätten die bleiernen Erinnerungen uns doch in die Tiefe gezogen
noch bevor wir das Ufer erreichten
Wären wir doch bloss hängengeblieben
zwischen dem, was wir zurückliessen
und jenen neuen Träumen, die wir unbeholfen verfolgten
Hätten sie doch nie die Grenzen für uns geöffnet!

ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود

ليتنا بقينا لاجئين داخل أحلامنا القديمة
نتقدّم بعيونٍ معصوبة
كما لو أننا نطاردُ نجوماً منثورة أمامنا
أو كأننا نطرق أبواباً غير مرئية
ليتنا لم نلوّث ثيابنا بوحل الغابات الأجنبية
ليتنا لم نجرجر حقائبنا المتورّمة بالثياب والذكريات
ليتنا لم نرْمِ ماضينا في البحر كي تخفّ حمولتنا في قوارب المُهرّبين
ليتنا بقينا مكدّسين كأسماك السردين 
في المعسكرات وصالات الرياضة ومدارس الصيف الفارغة
ليت الصحف ونشرات الأخبار لم تنشر صورنا 
التي لن ينتبه أحد أنها لا تضمُ من غرقوا منا
ليتنا لم نُجبر على مضغ لغاتٍ جديدة طعمُها يشبه الطبخات التي كرهناها في طفولاتنا
ليتنا لم نترك كل شيء خلفنا
واستدرنا لنواجه
معاً وعلى حِدة
عزلاتنا الجديدة والشاقة
ليتنا بقينا لاجئين لدى أنفسنا
 ليتنا بقينا لا هنا ولا هناك
نطارد كالعميان نجوماً منثورة أمامنا
أو نطرق أبواباً غير مرئية
ليت ذكرياتنا الثقيلة أغرقتنا قبل أن نصل إلى الشواطئ
ليتنا بقينا عالقين
بين ما تركناه
وما ركضنا خلفه كالعدّائين الهُواة
ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود.

Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer», Edition Converso, 2020, 98 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-9819763-6-6

Was sich in seinen Wiederholungen wie ein flehentliches Gebet liest, ist die Zusammenfassung all jenen Schreckens, durch das Elend von Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit nie zu tilgen ist. Hätten und Wären werden zu Peitschenhieben auf die eigene Haut und zeigen die Lähmung, nachdem man sich in existenzieller Bedrohung zwischen zwei Übeln entscheiden musste, im Wissen darum, dass man den anderen Weg immer als Vorwurf seiner selbst hören wird. Hussein Bin Hamzas Gedicht ist schonungslos, wütend und doch nur eine Anklage gegen sich selbst, das eigene Dilemma. Kein Rundumschlag, keine Anklage gegen die Welt, die zuschaut. Aber Hussein Bin Hamza nimmt mich mit, nimmt mich ganz nah an seinen Schmerz. Einen Schmerz, der mir unmöglich gleichgültig sein kann. Einen Schmerz, der sich durch seine Gedichte auffächern muss, damit er zurück in die Köpfe und Herzen der Verschonten kommt.

Ein anderes, immer wiederkehrendes Thema in den Gedichten ist die Einsamkeit. Das Getrenntsein von Heimat und nicht zuletzt von sich selbst.

Einsamkeit

Jeden Tag gehe ich
von zu Hause zur Arbeit
von der Arbeit wieder nach Hause
Ich bin ein alter Bus
der durch die grosse Stadt kurvt
doch Fahrgäste sitzen keine darin
nur meine Einsamkeit fährt er spazieren
vertreibt sich die Zeit mit ihr
von Haltestelle zu Haltestelle.

وحدة

كلّ يوم
من البيت إلى العمل
ومن العمل إلى البيت
أنا حافلةُ نقلٍ هرمة
في هذه المدينة الكبيرة
ولكنها خالية من الركاب
إنها فقط
تُنزّهُ وحدتي
وتلهو بها بين مكانينْ.

Einsamkeit ist zum dauernden Begleiter geworden. Eine Einsamkeit, die sich wie eine fremde Haut anfühlt, die einem distanziert von dem, was geblieben ist. Die Lakonie, mit der Hussein Bin Hamza darüber schreibt, offenbart die Tiefe der Zerrissenheit. Der Schalk darin die Weisheit des Dichters, sich von diesen Gefühlen nicht auffressen zu lassen. Hussein Bin Hamza lädt nicht ab, er zeigt mir Unabänderliches, dem er sich stellt, von dem er sich nicht schlucken lässt.

Ein anderes Themenfeld in „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“ sind die Gedichte über das Schreiben selbst.

Verlorene Gedichte

Viele Gedichte habe ich geschrieben
Auf die Rückseite von Strom- und Telefonrechnungen
auf Bank- und Schulgeldquittungen
auf Papierschnipsel, die mir in den Hosentaschen zerkrümelten
auf Tischkanten und auf Stühle
auf die freien Ränder von Zeitungen und Büchern
Auf Theater- und Kinokarten
Viele Gedichte habe ich geschrieben
Und sie hätten mich zu einem grossen Dichter gemacht
Wären sie nicht alle verlorengegangen
Alle ausser diesem hier.

قصائد ضائعة

كتبتُ قصائدَ كثيرة
على قفا فواتير الهاتف والكهرباء
على إيصالات البنك والأقساط المدرسية
على قصاصاتٍ احتفظتُ بها وتهرَّأت في جيوبي
على أطراف الطاولات والكراسي
على الهوامش الشاغرة في صفحات الجرائد والكتب
على تذاكر المسرح والسينما
كتبتُ قصائد كثيرة ربما كانت ستجعلُ مني شاعراً عظيماً
ولكنّي أضعتُها
هذه القصيدة
نَجَتْ.

Hussein Bin Hamza musste neu beginnen, vieles, fast alles zurücklassen. Hussein Bin Hamza hat eine lange Spur hinter sich gelassen, eine Spur, die sich verloren hat. Hussein Bin Hamza schreibt immer und von sich selbst, dass er in ein Haus geboren worden sei, „in dem das geschriebene Wort grösste Wertschätzung, fast heilige Verehrung erfuhr“. Aufgewachsen in einer Welt, in der das Buch schon immer ein Fluchtpunkt gewesen war und nun, nach der Flucht nach Deutschland der Beginn einer „neuen“ Existenz auf den Trümmern des Verlorenen.

Ich wünsche dem Dichter viele neue LeserInnen und Leser, denen er wie mir die Tür zu einer andern Welt öffnete. Einer Welt, die mitten unter uns Verschonten existiert.
Und ich wünsche dies auch der neu gegründeten Edition Converso, die sich mit ihrem Bestreben, den Kulturen rund ums Mittelmeer über die Nationen hinaus Gehör zu verschaffen und sich dabei viel vorgenommen hat.
(Die arabischen Gedichte sind auch im Buch den deutschen Übersetzungen von Günther Orth gegenübergestellt. Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diese veröffentlichen zu dürfen.)

Übersetzung des Gedichts im Titel:

Vergangenheit

Unsere schwere Vergangenheit
zieht uns unter Wasser, noch bevor wir die Küste erreicht haben
Wir Syrer.

© Hussein Bin Hamza

Hussein Bin Hamza wurde in einer kurdischen Familie im syrischen Al-Hasaka geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten poetischen Stimmen seiner Generation in der arabischen Welt. An der Aleppo University studierte er Wirtschaft. 1995 zog er nach Beirut und arbeitete als Redakteur und Kritiker für führende libanesische Zeitungen und veröffentlichte kritische Artikel über Lyrik, Prosa, Theater und Kunst. Er leitete den Verlag des Instituts für irakische Studien.

Günther Orth geboren 1963 in Ansbach, studierte Islamwissenschaft, Geografie und Soziologie in Erlangen. Er promovierte zur modernen Literatur des Jemen und war Dozent für Übersetzung und Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Universitäten. Er übersetzt Literatur aus dem Arabischen ins Deutsche und arbeitet als Konferenzdolmetscher. Orth lebt als Dozent, Dolmetscher und Übersetzer für Arabisch in Berlin.

Thomas Sandoz «Apollo», Plattform Gegenzauber

Chères amies, chers amis de Mars et environs,

J’ai perdu une balle de golf le printemps dernier et serais très heureux si vous acceptiez de m’aider à la retrouver. Elle a disparu à proximité des collines de Fra Mauro où nous avions aluni en février dernier. Mon ami Edgar D. Mitchell qui faisait quelques pas en ma compagnie ne m’a pas été d’un grand secours et c’est pourquoi je me tourne aujourd’hui vers vous. Ce n’est pas simplement une question sentimentale. Certes, j’avais promis à mon père de faire un petit geste pour lui, grand pour l’histoire de notre noble sport. Mais l’administration de la NASA me réclame cette balle – à tort puisque je l’ai achetée moi-même chez Britroy, un commerce fort avenant situé sur Lexington Avenue. Vous connaissez l’esprit étriqué de nos fonctionnaires, impossible de les raisonner, d’autant plus que la presse s’acharne sur le coût de notre mission. La Nation devrait être heureuse que nous soyons revenus sains et saufs malgré les nombreuses pannes auxquelles, comme nos prédécesseurs, nous avons dû faire face. On m’a déjà demandé le club bricolé pour l’occasion, mais j’ai souhaité faire don de mon fer 6 à des amis véritablement connaisseurs (rassurez-vous, pas à ces Ecossais de la Royal & Ancient Golf Club de Saint Andrews qui soutiennent que j’ai fauté en négligeant de ratisser le sol lunaire après mon coup).

Récupérer cette balle me ravirait et me consolerait des railleries dont je fais l’objet depuis mon retour. Il est vrai que mon premier tir n’est pas parti à des miles et des miles. Mais avez-vous déjà essayé de slicer hors de l’atmosphère? Même que, empêtré dans ma combinaison, j’ai failli m’étaler dans le sable. Ai-je mérité pour autant d’être traité de Bibendum jouant au croquet? Que les hommes sont injustes…

Merci par avance pour votre précieux soutien.

Sincèrement,
Votre dévoué Alan B. Shepard
Chef du Bureau des astronautes
23 décembre 1971
ps : J’offre une bonne récompense.

TS, 2007, rév. 2020

Thomas Sandoz «Ruhe sanft», übersetzt von Yves Raeber, die Brotsuppe, 136 Seiten, CHF 25.00 und Euro 22.00, ISBN 978-3-03867-010-0

Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance« (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).
Die Übersetzung von »Même en terre« ist unter dem Titel «Ruhe sanft» im verlag die brotsuppe erschienen. Übersetzt hat Yves Raeber.

Rezension von «Ruhe sanft» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Pablo Fernandez

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein

Eine Frau alleine in ihrer Wohnung, dem letzten Rückzugsort in einer Zeit, in der alles zerbricht, was einmal zu ihrem Leben gehörte. Nicht bloss Familie und Beziehungen, sondern eine ganze Welt. Frankreich bricht ab in einer Diktatur, in ein Land, dass sich der Geschichte verweigert und aus Menschen bloss noch Existenzen macht.

Cécile Wajsbrot schrieb keine chronologische Geschichte. Sie nimmt mich mit in ein dystopisches Paris, in die klein gewordene Welt einer Schriftstellerin, die von rätselhafter Seite her aufgefordert wird, einen „Soundblog“ zu führen. So erzählt die Protagonistin keine Geschichte, auch nur stückweise ihre eigene. Sie schildert eine Realität, die in vielen Belangen nur wenig entfernt von der Wirklichkeit zu sein scheint. In Coronazeiten erst recht.

„Wir dachten … Wir glaubten … Wir träumten …“

In Frankreich gab es umwälzende politische und gesellschaftliche Veränderungen. In einem Frankreich, das nicht in ferner Zukunft liegt, eher in unmittelbarer Gegenwart. In einem Frankreich, einem Europa, das in vielen Belangen schon die Neigung zeigt, sich in eine beängstigende Zukunft zu begeben, eine Zukunft der totalen Kontrolle, einer Zukunft ohne Vergangenheit, in eine Zukunft, in der Kultur zur blossen Unterhaltung degradiert wird, man in Konzert- und Opernhäusern nur noch Operettenhaftes zeigt, Bücher nur noch lauwarme Unterhaltung bieten und man alles dem Erdboden gleich macht, was älter als ein Jahrzehnt ist.

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein, 2019, 229 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3610-0

Die Protagonistin ist einsam geworden, mäandert, philosophiert und schweift gedanklich in einer Welt herum, die sie sich mit niemandem mehr zu teilen traut, ausser mit dem anonymen Kanal eines Soundblogs. Eine Frau, die dem nachtrauert, was einst das Leben ausmachte. Erinnerungen an eine Zeit, in der einst die Literatur der Leuchtturm der Gesellschaft war. Jener Turm, der vor den Untiefen in stürmischen Zeiten warnt. In einem Land, einer Stadt, die sich einst als Nabel der Welt, der Kultur, des Fortschritts, der Wissenschaft und der Eroberung verstand. In einem Land, einer Stadt, in der alles flach geworden ist, alles in Angst und Dunkelheit versinkt.

„Was nicht weitergetragen wird, gibt es irgendwann nicht mehr.“

Cécile Wajsbrot stellt sich in „Zerstörung“ aber nicht nur Fragen, sondern stellt sich selbst in Frage. „Zerstörung“ ist nicht das Protokoll einer äusseren Zerstörung, sondern jener gegen innen, gegen das eigene Selbst, gegen das Bewusstsein, ein Stück in einer Geschichte, in der Geschichte zu sein, wirksam zu sein bis in die Zukunft. Sie schreibt von einem Land, das Leck geschlagen mit Seitenlage sinken wird, auf dem die Menschen aber immer noch zur Musik tanzen. Über einen Staat, der das reine Vergnügen verordnet hat nach dem Motte „Lacht und vergesst, wir kümmern uns um alles Übrige“.

Schreiben und das stille Sprechen ist das einzige, was der Protagonistin geblieben ist. In einer Welt, in der Toleranz auf der Strecke geblieben ist, sich abschottet, sowohl gegen innen wie gegen aussen. „Zerstörung“ ist eine Analyse dessen, was einer Gesellschaft blüht, die nur noch ihren Hunger nach Unterhaltung stillen muss. Einer Gesellschaft, in der das Denken und Handeln nicht im plumpen Protest stecken bleibt und mit Engagement verwechselt wird. „Zerstörung“ bietet 230 Seiten gesellschafts- und kulturpolitischen Zündstoff, ohne je platt oder plakativ zu sein.
Cécile Wajsbrot untergräbt mein Denken, mischt sich ein bis in die scheinbaren Tiefen meiner Sicherheit.

Ein Buch wie ein mahnender Monolith!

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften «Autrement», «Les nouvelles Littéraires» und «Le Magazine littéraire». 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin.

Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman «Kirio» stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.

Beitragsfoto © imago image / Christian Thiel