Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand

Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.

Gastbeitrag von Cornelia Mechler

Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt. 


Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4

Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung…
Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»

Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird. 


Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.

«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.

© Peter von Felbert

Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).

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Beitragsbilder © Peter von Felbert